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Björnstjerne Björnson Gesammelte Werke in Fünf Bänden;
Erster Band
Björnstjerne Björnson
The Project Gutenberg eBook, Björnstjerne Björnson Gesammelte Werke in
Fünf Bänden; Erster Band, by Björnstjerne Björnson, Edited by Julius Elias
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Title: Björnstjerne Björnson Gesammelte Werke in Fünf Bänden; Erster Band
Author: Björnstjerne Björnson
Release Date: July 16, 2004 [eBook #12921]
[Updated July 18, 2004]
Language: German
Character set encoding: ISO-646-US (US-ASCII)
***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK BJöRNSTJERNE BJöRNSON
GESAMMELTE
WERKE IN FüNF BäNDEN; ERSTER BAND***
E-text prepared by Juliet Sutherland and Project Gutenberg Distributed
Proofreaders
BJOERNSTJERNE BJOERNSON GESAMMELTE WERKE IN FUENF BAENDEN
EINZIGE AUTORISIERTE DEUTSCHE VOLKSAUSGABE
ERSTER BAND
GEDICHTE UND ERZAEHLUNGEN
HERAUSGEGEBEN VON JULIUS ELIAS
1911
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Livros Grátis
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INHALT
VORWORT
GEDICHTE[1]:
[1] Die Gedichte mit B sind von _Max Bamberger_, die mit F sind von
_Ludwig Fulda_, die mit Mj sind von _Claere Mjoeen_, die mit Mo sind
von _Christian Morgenstern_ und die Gedichte ohne Zeichen sind von
_Roman Woerner_ uebersetzt.
Nils Finn
Lied der Jungfrauen (B)
Die Taube (B)
Vaterlandsweise (Mo)
Ein Lied fuer Norwegen (Mo)
Norwegens Antwort auf die Reden im schwedischen Ritterhaus
Johan Ludvig Heiberg (B)
Das Meer
Allein und in Reue
Die Prinzessin
Vom Monte Pincio (F)
Ach, wuesstest du nur! (F)
Die Engel des Schlafes (B)
Das Maedchen am Strand (F)
Heimliche Liebe (Mo)
Olav Trygvason (Mo)
Seufzer (F)
An ein Patenkind
Bergliot (Mj)
An meine Frau (Mo)
In einer schweren Stunde (F)
Frida (Mo)
An Bergen (Mo)
P.A. Munch (Mj)
Koenig Friedrich der Siebente (B)
Als Norwegen nicht helfen wollte (B)
An den Danebrog (Mj)
Der Norroenastamm (F)
Gesang der Puritaner
Jagdlied (B)
Taylors Lied
Hochzeitslied I. (F)
Lektor Thasen
Auf einer Reise durch Schweden (Mo)
Stelldichein (F)
Lied des Studentengesangvereins (Mj)
An den Buchhaendler Johann Dahl (Mj)
Die Spinnerin (B)
Die weisse und die rote Rose
In der Jugend (Mj)
Das blonde Maedchen (Mo)
Mein Monat (Mo)
Hochzeitslied II. (F)
Norwegisches Seemannslied (Mo)
Halfdan Kjerulf (Mj)
Vorwaerts (Mo)
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Wie man sich fand (Mj)
Norwegische Natur (F)
Ich reiste vorueber
Mein Geleit (F)
An meinen Vater (F)
An Erika Lie (Mj)
An Johan Sverdrup (Mj)
Das Kind in unsrer Seele (F)
Der alte Heltberg
Fuer die Verwundeten (Mj)
Land in Sicht
An H.C. Andersen
Bei einer Ehefrau Tode (Mo)
An der Bahre des Kirchensaengers A. Reitan (Mj)
Das Lied (F)
Auf N.F.S. Grundtvigs Tod
Aus der Kantate fuer N.F.S. Grundtvig (Mj)
Bei einem Fest fuer Ludv. Kr. Daa (B)
Nein, wo bleibst du doch?
Weckruf an das Freiheitsvolk im Norden--Der "vereinigten Linken"
Offne Wasser
Freiheitslied--An "die vereinigte Linke" (B)
An Molde (Mj)
Die reine norwegische Flagge (Mj)
An den Missionar Skrefsrud in Santalistan
Post festum (B)
Romsdalen (Mj)
Holger Drachmann (F)
Wiedersehen
Des Dichters Sendung (B)
Psalmen (F)
Frage und Antwort
Wecklied an die norwegische Schuetzengilde (Mj)
Arbeitermarsch (B)
Der Zukunft Land (Mj)
Ein junges Voelkchen kerngesund (Mj)
Norge, Norge (F)
Meistern oder gemeistert werden
Im Walde (F)
Der siebzehnte Mai (Mj)
Frederik Hegel (Mj)
Unsere Sprache (Mo)
In die Sammlung seiner "Gedichte" hat Bjoernson aus den Erzaehlungen und
Dramen eine Reihe von Liedern uebernommen, die hier mit den Stellen, wo
sie in der vorliegenden Ausgabe zu finden sind, verzeichnet werden
sollen:
Synnoeves Lied (Mo)
Der Fuchs und der Hase (F)
Lied der Mutter (Mo)
Das Boecklein (Mo)
Das Lied vom Schneider Nils (Mo)
Venevil (Mo)
Ueber die hohen Berge (Mo)
Der sonnige Tag (Mo)
Ingerid Sletten (Mo)
Der Baum (Mo)
Der Ton (Mo)
Lockruf (B)
Abendstimmung (Mo)
Marits Lied (B)
Lieb' deinen Naechsten
Oeyvinds Lied (B)
Liebeslied (F)
Berglied (F)
Die erste Begegnung (F)
Morgengruss
Vaterlandsweise (Mo)
Frederik Hegel (F), Band III.
Wann wird es Morgen (Mj), Band III.
Kares Lied (Mo) ("Sigurd Slembe"'2, A. III, 1. Sz.), Band IV.
Ivar Ingemundsens Lied (ebda.'3 A. II, 1. Sz.), Band IV.
Magnus der Blinde (B) (ebda.'3 A. III, 1. Sz.), Band IV.
Suende, Tod (Mo) (ebda.'3 A. III, 4. Sz.), Band IV.
Sie haben einander gefunden (F) (D. Koenig, 3. Zwischenspiel), Band IV.
ERZAEHLUNGEN:
Thrond (1856)
Die gefaehrliche Freite (1856)
Synnoeve Solbakken (1857)
Arne (1858)
Ein froehlicher Bursch (1859)
Der Vater (1859)
Das Fischermaedel (1868)
* * * * *
VORWORT
Nicht erst Bjoernstjerne Bjoernsons Heimgang hat den Plan geformt und
gereift, sein Werk in gedrungener Ausgabe dem deutschen Volke
vorzulegen: vielmehr ist das Unternehmen einem seiner letzten und
eigensten Wuensche entsprungen. Am Entwurf noch hat er so eifrig und
entschieden mitgearbeitet, wie er alles ergriff, was der Bestaetigung
seiner feurigen Persoenlichkeit dienen konnte. Bjoernsons Todestag (26.
April 1910) jaehrt sich, da dieses Gegenstueck der volksmaessigen
Ibsenausgabe ans Licht tritt, und der Herausgeber kann ein Gefuehl der
Wehmut nicht unterdruecken, dass der Dichter die Verwirklichung dessen
nicht mehr gesehen hat, was wir gemeinsam ersonnen haben.
Die "Gesammelten Werke" sollen nichts anderes als eine Auswahl,
allerdings im weitesten Wortsinne, bieten, eine Auswahl, die Bjoernsons
Lebensarbeit in ihren wesentlichen und bleibenden Bestandteilen
erschoepfend zusammenfasst. Hierdurch unterscheidet sie sich von der
bekannten Unternehmung des Langenschen Verlages, die, ohne sich als eine
eigentliche Gesamtausgabe zu charakterisieren, Dichtung an Dichtung,
Buch an Buch in Einzelbaenden reiht. Der von Bjoernson befuerwortete
Gesichtspunkt war: in eine Volksausgabe aus dem gewaltigen Korpus seiner
literarischen Wirksamkeit das aufzunehmen, was im kuenstlerischen und
geistigen Dasein seiner Nation wie der modernen Voelker ueberhaupt Epoche
gemacht hat, mit besonderer Beruecksichtigung der Arbeiten, die in seinem
eigenen Leben Epoche machten, d.h. als Dokumente seiner menschlichen und
dichterischen Entwicklung gelten koennen. Ein zwiefacher Massstab also:
der kulturgeschichtliche und der autobiographische. So ergaben sich auf
natuerliche Art drei Gruppen: die Sammlung der "Gedichte", die aus seinem
Gesamtwirken geschoepften, unmittelbaren lyrischen Zeugnisse eines
Persoenlichkeitswachstums; die grossen und kleinen Erzaehlungen, sowie die
beiden weltumspannenden Romane; zehn Schauspiele, die als die
wichtigsten Leistungen sowohl seiner romantisch-nationalen Dichtung als
auch seiner Gesellschaftsdramatik gelten koennen: sie fuellen zwei Baende
aus, waehrend die Gedichte und Prosastuecke in drei Baenden vereinigt
werden. Innerhalb dieser einzelnen Abteilungen herrscht eine
chronologische Ordnung, die nur einmal unterbrochen wird, um den dritten
Band, durch die Verkoppelung der voluminoesen Romane, zum Schaden des
stofflichen Gleichgewichts, nicht allzusehr anschwellen zu lassen.
Die kuenstlerische Aufgabe, die dieses Werk darbot, haette ohne das
verstaendnisvolle Entgegenkommen des Verlages A. Langen kaum erfuellt
werden koennen; wir schulden seinen Vertretern nicht geringen Dank: sie
haben uns alles zur Verfuegung gestellt, was den Wert und die Fuelle
dieser Ausgabe steigern konnte. Die Texte selbst waren den Grundsaetzen
der Interpretation unterworfen, die das Ibsenwerk als Massstab gesetzt
hat: einen ebenso formkraeftigen, wie sprachlich reinen und alles
Charakteristische treu und doch frei wiedergebenden deutschen Ausdruck
anzustreben. Ob dies Ziel erreicht ist, unterliegt nicht unserer
Entscheidung. Die "Gedichte" gingen ohne wesentliche Aenderungen aus der
Langenschen Sammlung in unsere Ausgabe ueber, nur mit dem Unterschied,
dass einerseits eine, uebrigens kurze Reihe von Poesien ausgelassen ist,
die in engstem Sinne "Gelegenheitsdichtungen" sind, und andrerseits--um
doppelten Abdruck zu vermeiden--28 Lieder in der Sammlung selbst
unterdrueckt wurden, weil sie spaeter in den Prosastuecken und Dramen als
lyrische Intermezzi wiederkehren: nach dem uebersichtlichen Tableau des
Inhaltsverzeichnisses zum ersten Bande sind sie unschwer aufzufinden.
Als massgebender Originaltext wurde die elfbaendige Volksausgabe "Samlede
Vaerker" (Kopenhagen, Gyldendal) bestimmt. Die Uebersetzungen der
Prosawerke sind durch eine grundlegende Revision und vielfache
stilistische Umformung der aelteren Ausgaben entstanden; hier ist, unter
der ruehrigen Mitwirkung von _Elsa Glawe_, _Gertrud J. Klett_ und _Max
Bamberger_ eine Arbeit geleistet worden, die als neu und selbstaendig
anzusprechen ist. Damit wird das Verdienst zumal Claere Mjoeens, unserer
lyrischen Mitarbeiterin, die besonders fuer die vier reichen Baende der
"Gesammelten Erzaehlungen" auf der ersten Etappe der deutschen
Bjoernsonpropaganda Wesentliches geleistet hat, durchaus nicht
beeintraechtigt. Von besonderer Bedeutung wurde es fuer die Neugestaltung
der Texte, dass _Ludwig Fulda_ seine feine und starke Verskunst in den
Dienst unserer Sache stellte. Von ihm stammen die lyrischen
Nachdichtungen in den Erzaehlungen "Arne" und "Das Fischermaedel", soweit
die Fassungen nicht durch die Sammlung der "Gedichte" vorgeschrieben
waren. Er hat hier und in vielen anderen Winkeln unseres verzweigten
Baus ein Interesse bezeugt, so hilfreich und tatkraeftig, dass wir uns ihm
zu dauernder Dankbarkeit verpflichtet fuehlen.
Von _Ludwig Fulda_ stammt ebenfalls die deutsche Form der lyrischen
Zwischenspiele und eingestreuten Lieder im Drama "Der Koenig", waehrend
man _Roman Woerner_ fuer die nachschaffende Uebertragung des Versstuecks
"Sigurds erste Flucht" ("Sigurd Slembe", 1. Teil) verbunden ist.
Die neue und von allen Vorbildern unabhaengige Uebersetzung der zehn
Prosadramen hat sich _der Herausgeber_ allein vorbehalten. Er traegt auch
die zusammenfassende Studie ueber Bjoernson--das Werk und den
Menschen--bei, die im fuenften Bande die Ausgabe abschliesst.
Die "Gesammelten Werke" Bjoernsons sollen nicht in die Welt ziehen, ohne
dass in dankbarer Gesinnung der wertvollen Unterstuetzung gedacht waere,
mit der _Halvdan Koht_, _Kr. Collin_, _W.P. Sommerfeldt_, _Max
Bernstein_, _Max Dreyer_ und die Universitaetsbibliothek zu Kristiania in
so mancherlei Beziehungen das Werk gefoerdert haben. In der Frage des
Korrekturlesens erwies sich, wie so oft schon, _Theodor Poppe_ als
taetiger Freund.
Berlin, 13. Maerz 1911.
Julius Elias.
* * * * *
GEDICHTE
* * * * *
NILS FINN
(Aus dem Drama "Hinke-Hulda")
Und der kleine Nils Finn wollte flugs ueber Land;
Doch sein Schneeschuh, der hielt nicht, so oft er ihn band.
--"Das ist schlimm!" sagt' es drunten.
Nils stiess mit dem Fusse: "Wo bist du denn--du?
Verdammter Kobold! nun lass mich in Ruh'!"
--"Hi--ho--ha!" sagt' es drunten.
"Da siehst du ein Hexenstueck!" schrie Nils und hob
Seinen Stab und schlug in den Schnee, dass es stob.
--"Hit--li--hu!" sagt' es drunten.
Ein Fuss stak im Schnee; mit kraeftigem Zug
Riss Nils daran, bis er hintueber schlug.
--"Zieh doch fest!" sagt' es drunten.
Nils weinte und stampfte und stach und hieb--
Und sank immer tiefer, je toller er's trieb.
--"Das ging gut!" sagt' es drunten.
Und die Birken, die tanzten, es bogen sich krumm
Vor Lachen wohl hundert Tannen ringsum.
--"So bekannt?!" sagt' es drunten.
Und es lachte der Berg, dass der Schnee nur so flog;
Nils ballte die Faust und schwor, dass er log.
--"Nun gib acht!" sagt' es drunten.
Und der Schneehang gaehnte, der Himmel fiel ein;
Nils dachte: nun schluckt er mich auch mit hinein.
--"Ist er weg?" sagt' es drunten.
Zwei Schneeschuhe ragten und sahen umher,
Aber sahen nicht viel; denn da war nichts mehr.
--"Wo ist Nils?" sagt' es drunten.
LIED DER JUNGFRAU
(Aus dem Drama "Hinke-Hulda")
Guten Morgen, Sonne in gruenem Laub!
Jugend strahlst du dem Schluchtengrunde,
Laecheln seinem finstern Munde,
Himmelsgold dem Allweltenstaub!
Guten Morgen, Sonne auf ragendem Schloss!
Lockst seine Jungfraun aus den Hallen;
Leuchtsternlein zuende den Herzen allen,--
Klaere das Leid, das der Nacht entspross.
Guten Morgen, Sonne am Felsengrat!
Licht gib den Fluren, soweit sie sich strecken;
Lass deine Waerme sie baden, sich recken
Dem Tage entgegen, der dort naht!
DIE TAUBE
(Aus dem Drama "Hinke-Hulda")
Eine Taube sah ich zittern
In eines Sturmwirbels Toben;
Sie ward von Ungewittern
Jaeh ueber die Hochflut gehoben.
Ich hoerte sie nicht klagen,
Nicht stoehnen und nicht flehen,--
Die Schwingen fuehlt' sie versagen,
Da musste sie untergehen.
VATERLANDSWEISE
(1859)
Es reckt sich ein Land in den ewigen Schnee,
Von Sagen umrauscht wie vom Donner der See.
Wohl traegt es dem Landmann nur kaerglichen Lohn,
Doch ist es geliebt, wie die Mutter vom Sohn.
Sie nahm auf den Schoss uns, dieweil wir noch klein,
Und weihte uns fromm in ihr Sagabuch ein.
Wir lasen--. Das Auge ward feucht und gross.
Die Alte sass laechelnd und nickte bloss.
Wir sprangen zum Fjorde, wir schauten gebannt
Den Bautastein, der da seit Urzeiten stand;
Sie stand da, noch aelter, und traeumte stumm,
Und Steingraeber lagen im Kreis ringsum.
Sie nahm bei der Hand uns und fuehrt' uns gemach
Zum Steinkirchlein schlicht unters niedrige Dach,
Wo demuetig beugten die Vaeter ihr Knie,
Und muetterlich sprach sie: tut ihr wie sie!
Sie deckte die bergschroffen Haenge mit Schnee,
Sie krauste mit Sturmfaust den Spiegel der See,
Sie gab ihren Soehnen des Schneeschuhes Hast
Und rief ihre Soehne zu Ruder und Mast.
Sie rief ihre Toechter in Reih' und in Glied
Und hiess sie uns spornen mit Laecheln und Lied.
Sie selber hielt auf dem Sagathron Wacht
In ihrem Mantel aus Nordlichtpracht.
Da scholl ein Vorwaerts durch Norwegen hin
In Vaeterzunge, mit Vaetersinn!
Fuer Freiheit und nordische Art hurra!
Und rings von den Bergen kam's wieder: hurra!
Da ging der Begeistrung Lawine zu Tal,
Da straffte sich jegliche Sehne zu Stahl,
Da stand ueber Gipfeln ein flammendes Haupt,
Des Blick uns nun ewig die Ruhe raubt.
EIN LIED FUER NORWEGEN
(1859)
Ja, wir lieben diese Feste,
Wie sie, flutbedraeut,
Ihrer Berge Stamm und Aeste
Wind und Wolken beut.
Lieben ihre tausend Huetten,
Ihres Meeres Zorn,
Und, den kein Meer kann verschuetten,
Ihrer Saga Born.
Harald hat ihr Volk verflochten,
Dass kein Feind sie zwang,
Hakon hat fuer sie gefochten,
Waehrend Oejvind sang.
Olav malt' auf ihre harte
Stirn ein Kreuz von Blut,
Sverre brach von ihrer Warte
Romas Uebermut.
Bauern ihre Aexte schliffen,
Wo ein Feind sich wies;
Tordenskjold mit seinen Schiffen
Ihn wie Spreu zerblies.
Weiber sah man kuehn sich einen
Mit der Maenner Hauf;
Andre konnten nichts als weinen;
Doch die Saat ging auf!
Waren unser auch nicht viele,
Waren doch genug,
Als das Land stand auf dem Spiele,
Da die Stunde schlug.
Lieber mocht's in Flammen stehen,
Eh' es kam zu Fall;
Denkt nur dessen, was geschehen
Einst in Fredrikshall!
Tragen galt es Not und Plage,
Gott verstiess uns ganz;
Doch in schlimmster Drangsal Tage
Glomm der Freiheit Glanz.
Das gab Kraft fuer alles Schwere,
Hunger, Krieg und Pest,
Gab dem Tod selbst seine Ehre--
Und dem Zwist den Rest.
Unser Feind zerbrach den Degen,
Auf fuhr das Visier:
Brueder flogen sich entgegen;
Denn das waren wir!
Schamrot eilten wir hernieder
Uebern Oeresund:
Und da schlossen wir, _drei Brueder_,
Einen ewigen Bund.
Volk Norwegens, deinem Gotte
Dank' in Huett' und Haus!
Liess dich werden nicht zum Spotte,
Sah's auch duester aus.
Muettersorgen, Vaeterstreiten,
Durch Geschlechter hin,
Wusst' Er still zum Ziel zu leiten:
Unsres Rechts Gewinn.
Ja, wir lieben diese Feste,
Wie sie, flutbedraeut,
Ihrer Berge Stamm und Aeste
Wind und Wolken beut.
Und wie Vaeterkampf beschieden,
Freiheit ihr und Macht,
Ziehn auch wir fuer ihren Frieden,
Wenn es gilt, auf Wacht.
NORWEGENS ANTWORT
(auf die Reden im schwedischen Ritterhaus 1860)
Hoerst, jung Norge, du mit Schweigen,
Was der Schwede sagt?
Siehst du's aus der Tiefe steigen,
Wo der Grenzfels ragt?
Schatten sind's gefallner Ahnen,
Die da winken, die da mahnen,
Wenn der Hohn den Streit entfacht,
Die da fordern treue Wacht.
Hoer' den Schweden, hoer' ihn grollen:
Norges Flaggenrot,
Das aus Wunden reich gequollen
Einst bei Magnus' Tod;
Das ob Haldens Zinnen schwebte,
Adlers Kraft zum Sieg belebte,--
Durch dies Rot im Flaggenfeld
Sei sein Blau und Gelb entstellt.
Hoer' den Schweden: nichtig seien
Norges Ruhm und Glanz;
Ehre sollten wir entleihen
Seinem Strahlenkranz.
Ruhmlos, eignen Herd zu schuetzen!
Ziehn wir denn hinab nach Luetzen,
Schleppen auch im Wanderschritt
Urahns alten Armstuhl mit.
Lasst ihn stehn. Der "duerftige Krempel"
Wird von uns verehrt;
Seines Alters wuerdiger Stempel
Macht ihn doppelt wert.
Drinnen sass durch lange Zeiten
Mancher, gross in Rat und Streiten,--
Sverre und sein Heldenschlag,--
Der wohl hier noch spuken mag.
Hoert den Schweden: nur _sein_ Ringen
Haette uns befreit,
Beissen koennten Schwedenklingen
Noch in heutiger Zeit!
Duenkt uns das wohl sehr gefaehrlich?
Vorsicht raten wir ihm ehrlich;
Will er sprengen unser Tor,
Fallen einige zuvor.
Hoert doch nur: wir waren Knaben,
Ihm gehorsam-still
Mit der Schleppe nachzutraben
Stets, wohin er will.
Hei, was sagten wohl dem Kecken
Christie und die alten Recken,
Stuenden die, das Schwert gewetzt,
Noch beim Werk auf Ejdsvold jetzt?
Gross war Schweden oft im Prahlen,
Wir, wir waren klein;
Galt's mit Eisen zu bezahlen--
Nun, wir hieben drein.
Wessel und Norwegens Knaben,
In dem Kutter nur, die haben
Schwedens Flaggschiff unverzagt
Uebers Kattegatt gejagt.
Lasst den Schwedenadel schwingen
Karls des Zwoelften Hut!
Mit ihm raten, mit ihm ringen
Wir, ihm gleich an Mut.
Will er Streit vom Zaune brechen,
Wird ein Torgny fuer uns sprechen--:
Einst dann ueberm Norden loht
Unsrer Flagge Freiheitsrot.
JOHAN LUDVIG HEIBERG
(1860)
Nun geleiten sie zum Grabe
Ihn, den alten, muntren Gaertner;
Nun gehn Kinder mit der Gabe,
Die sein eigen Beet ihm zog.
Nun steht jener Garten offen,
Drin er unterm Baum gesessen;
Nun sucht unser Blick betroffen,
Ob er dort nicht fuerder sitzt.
Leer der Platz. Im schwarzen Kleide
Wandelt eine Frau jetzt einsam
Dort umher in stillem Leide,
Wo sein helles Lachen klang.
Die als Kind erstaunt, voll Sehnen
Durch das Gitter draussen blickte,
Dankt mit grossen, schweren Traenen
Nun, dass ihr der Einlass ward:
Maerchen-, Saga-, Geistesflammen
Rauschten um ihn her im Laube;
Leise schwebt sie, sucht zusammen
Jeden Funken fuer ihr Weh.
Einstmals drang er fern zur Weite,
Dieser alte Herr, der muntre;
Wer gelauscht an seiner Seite,
Hat so manches wohl gelernt.
Denn ihn fuehrten Leben, Schriften
Auf zu dem, was wenige schauen;
Kaum ein Platz in Geistestriften,
Der nicht seine Spuren weist.
Schutz war er in Mannesjahren
Allem Grossen, allem Schoenen,
Und den stillen Sternenscharen
Folgt' er dann im Gang zu Gott.
Denkt ihr noch, die alt nun worden,
Wie die "Neujahrs"-Glocken droehnten?
Wie sie Kaempfer rings im Norden
Sammelten der grossen Zeit?
Denkt ihr noch an ihn, der sprengte
Frisch voraus mit hellem Hornruf
Und das Niedre abseits draengte,
Dass dem Grossen frei die Bahn?
Kinder, Faunen als Begleiter,--
Lachen, Geistesspiel und Traenen,--
Hinter ihm der Freiheit Scheiter,
Langsam aus sich selbst entflammt.
Worten kam der Ruhe Segen,
Toenen kam der Herzensfrieden;
Maechtig fuhr es allerwegen
Durch das Land wie Ahnungschor.
Schutz war er in Mannesjahren
Allem Grossen, allem Schoenen,
Und den stillen Sternenscharen
Folgt' er dann im Gang zu Gott,
Oder ging in Nordens Garten,
Wie ein alter, muntrer Gaertner,
Saat der Ewigkeit zu warten,
Die des Volkes Lenz ihm gab.
Bald voll Ernst und bald voll Laune,
Pflanzte er und rueckte hoeher,--
Sass dann abends, wo die braune
Buche gab der Seele Licht.
Nun steht jener Garten offen,
Drin er unterm Baum gesessen,
Nun sucht unser Blick betroffen,
Ob er dort nicht fuerder sitzt.
DAS MEER
(Aus "Arnljot Gelline")
Meerwaerts verlangt es mich, ja zum Meere,
Das fern dort ruhsam rollet in Hoheit.
Nebelgebirge, lastende, tragend,
Wandert es ewig sich selbst entgegen.
Lind senkt sich der Himmel, hell ruft die Kueste,
Es kann nicht weilen, es kann nicht weichen.
Klagend waelzet es seine Sehnsucht
In Sommernaechten, in Winterstuermen.
Zum Meere verlangt mich, ja zum Meere,
Das fern dort erhebet die kalte Stirne.
Siehe, die Welt wirft darauf ihren Schatten
Und spiegelt fluesternd hinab ihren Jammer.
Aber warm und lichtsanft streichelt's die Sonne
Und spricht ihm munter von Lebensfreuden.
Eisig, schwermuetig-ruhig doch immer
Versenkt es den Trost und versenkt es die Trauer.
Der Vollmond saugt--, der Sturm reisst es an sich,
Doch kein Griff packt, und die Wasser stroemen.
Hinabwirbelt Tiefland, Berge hinschmelzen:
Zeitlos bespuelt es der Ewigkeit Ufer.
Was es erfasst, geht mit ihm die Wege;
Was einmal sinket, das steiget nimmer.
Kein Bote naht, kein Schrei wird vernommen,
Und der Wogen Sprache kann niemand deuten.
Zum Meer hinaus, weit hinaus zum Meere,
Das Versoehnung nicht kennt eines Wellenschlags Dauer!
Allem, was seufzet, ist es Erloeser,
Doch weiter schleppt es das eigne Raetsel.
Fuehl' seinen seltsamen Pakt mit dem Tode:
Ihm alles zu geben--sich selbst nur nimmer.
Mich fuehrt, o Meer, deine grosse Schwermut
Und streift zu Boden die matten Plaene
Und laesst entfliegen die bangen Wuensche:
Dein kalter Atem kuehle die Brust mir!
Und der Tod mag folgen, auf Beute lauern:
Wir wuerfeln ums Leben noch ein Weilchen!
Noch reiss' ich Stunden weg deiner Raublust,
Unterm Drohblick des Zornes die Flut durchschneidend,
Du sollst nur bauschig fuellen mein Segel
Mit deinen sausenden Todesorkanen,
Nur eilender trage der Woge Rasen
Mein kleines Fahrzeug zu stillen Wassern.
Ob einsam und duester auch am Steuer,
Verlassen von allen, gestundet vom Tode,
Wenn fremde Segel von ferne winken
Und andere naechtens vorbei mir streichen:
Den Unterton zu belauschen der Stroemung
--Des Meeres Seufzer, wenn Atem es holet--
Und der Welle Kleingang gen das Gebaelke
--Des Meeres Zeitvertreib in der Schwermut.
Da spuelen die Wuensche langsam hinueber
In der Allnatur meerestiefe Schmerzen,
Und der Nacht und des Wassers rauher Anhauch
Ruestet fuers Reich des Todes die Seele.
Dann kommt der Tag! Und in weiten Bogen
Aufspringt der Mut zum Lichte, zur Woelbung
Das Schifflein schnauft und legt seine Seite
Mit Wollust hinab in die kalten Wogen,
Und der Bursch erklettert den Mast mit Singen,
Das Segel zu richten, auf dass es schwelle,
Und die Gedanken, wie muede Voegel,
Doch ruhlosen Fluges, umschwaermen die Raaen...
Ja, ja, zum Meere! Dahin zog Vikar!
Gleich ihm zu segeln, gleich ihm zu sinken
Im Vordersteven fuer Koenig Olav!
Mit dem Kiel zerteilen das kalte Bedenken,
Doch Hoffnung haschen vom leisesten Lueftchen.
Mit des Todes Finger hinten am Steuer,
Mit des Himmels Klarheit vorn ueber den Bahnen!
Und dann einmal, in der letzten Stunde,
Zu fuehlen, die Naegel loesen sich langsam,
Und es drueckt der Tod auf das Plankengefuege,
Dass vom Kiel die erloesende Flut heraufschwillt!
Dann hingestreckt in den feuchten Segeln
Und still hinueber ins ewige Schweigen.--
In grossen, mondscheinklaren Naechten
Strandwaerts roll' meinen Namen die Woge!
ALLEIN UND IN REUE
(An einen abgeschiedenen Freund)
Ich hab' einen Freund, im Grauen der Nacht
Hoer' ich oft seinen Gruss: Gott mit dir!
Wenn die Lichter sterben, mein Sinn nur wacht,
Dann tritt er am liebsten zu mir.
Er hat kein Wort, das mich kraenken will,
Denn er selbst kennt Suende und Leid.
Er heilt mit Blicken und wartet still,
Bis ich ausgekaempft meinen Streit.
Und schafft mir Kummer, was ich getan,
So bekennt er sich selbst dazu.
Er fasst meinen Glauben so handweich an,
Und bringt den Schmerz zur Ruh.
Stieg jubelnd die Hoffnung--er folgte ihr,
Und verzagte nicht, wenn sie sank.
Jetzt wieder--mild steht er neben mir--:
Mein Aufschwung werde sein Dank!
DIE PRINZESSIN
Prinzesschen sass hoch in der Jungfernbastei,
Ein Buerschlein ging unten und blies die Schalmei.
"Du Kleiner, was blaest du am Abend?--sei still!
Das haelt meine Seele, die fortfliegen will
Mit der Sonne dort."
Prinzesschen sass hoch in der Jungfernbastei,
Das Buerschlein blies laenger nicht auf der Schalmei.
"Du Kleiner, so blase, was schweigst du denn still?
Das traegt meine Seele, die fortfliegen will
Mit der Sonne dort."
Prinzesschen sass hoch in der Jungfernbastei,
Das Buerschlein nun wiederum blies die Schalmei.
Sie weint in den Abend und seufzet vor Qual:
"O sagt doch, was fehlt mir?--Mit einem Mal
Ist die Sonne fort."
VOM MONTE PINCIO
Der Abend bricht an, die Sonne steht rot,
Von Strahlen entlodert der Himmelsbogen;
Lichtsehnender Glanz in unendlichen Wogen
Verklaert das Gebirg' wie ein Antlitz im Tod.
Es flammen die Kuppeln; doch mehr im weiten
Die Nebel, die schwarzblaue Felder umbreiten,
Ruhn drueber gleichwie das Vergessen zuvor:
Dies Tal deckt tausendjaehriger Flor.
Abend so rot und warm,
Laermenden Volkes Schwarm,
Glutende Hornmusik,
Blumen und Feuerblick!--
Rings stehen in stummen Marmor gebannte
Heroen der Vorzeit, kaum gekannte.
Wie Opferdampf in erroetender Luft
Hat Vespergelaeut' die Schwingen entfaltet;
Die heilige Daemmrung der Kirchen waltet,
Gebete zittern in Wort und in Duft.
Hell gluehn die Sabiner, die lichtumflirrten,
Es blitzt die Campagna von Feuern der Hirten,
Und Romas Lichter, sie glitzern sacht
Wie Sagen durch der Geschichte Nacht.
In den Daemmerschein
Steigen Raketen hinein;--
Froehlicher Menschen viel
Lachen beim Morraspiel,
Und jeder Gedanke versucht in Toenen
Und Farben sich mit dem All zu versoehnen.
Das Licht unterlag in lautlosem Kampf;
Es woelbt sich der Himmel in stahlblauem Dunkel,
Entlockt seinen Tiefen der Sterne Gefunkel,
Die Erde versinkt in Nebel und Dampf.
Nun wendet sich stadtwaerts der Augen Flug:
Dort naht mit Fackeln ein Leichenzug;
Er sucht die Nacht; doch der Lichtglanz mag
Ihm Hoffnungen zuwehn vom ewigen Tag.
Zechen und Moenchsgesang,
Tanz, Mandolinenklang
Werden betaeubt zugleich
Kraeftig vom Zapfenstreich;--
Durch pochender Traeume lebendiges Schwanken
Mitschimmert das Taglicht im Gedanken.
Still wird es; der Himmel, noch dunkeler blau,
Laesst unter seinen unendlichen Raeumen
Sowohl von Vergangnem wie Kuenftigem traeumen--
Unsicheres Blinken im bruetenden Grau.
Doch geben wird Roma das Flammenzeichen,
Weit sichtbar rings in Italiens Reichen:
Mit Glockengelaeut' und Kanonengedroehn
Aufschwebt die Erinnrung zu neuen Hoehn!--
Koestlich tut Saengermund
Hoffnung und Glauben kund,
Bringt einem jungen Paar
Staendchen zur Laute dar.
Die staerkere Sehnsucht ruht suess im Hafen;--
Die mindere laechelt und will nicht schlafen.
ACH, WUESSTEST DU NUR!
Ich darf dich zu sprechen mich nimmer getraun,
Du wagst nicht, zu mir herunterzuschaun;
Doch seh' ich dich immer am Fenster stehen,
Muss immer dort auf und nieder gehen.
Dann schleicht mein Denken auf heimlicher Flur
Und wagt nicht zu folgen der eigenen Spur!
Ach, wuesstest du nur!
Als festgewurzelt ich Wache hier stand,
Hast oft du sproede dich abgewandt;
Doch seit ich seltner den Weg genommen,
Nun duenkt mich, du wartest auf mein Kommen.
Zwei Augen, sie flechten die Angelschnur;
Weh dem, der ihren Zauber erfuhr!
Ach, wuesstest du nur!
Ja, wenn du ahntest, du Engelsgesicht,
Dass ich hier unten ersann ein Gedicht,
Das just auf Fluegeln wollte gelangen
Dorthin, wo du stehst in lieblichem Prangen!
Doch hoerst du ihn nie, den verstohlenen Schwur.
Leb' wohl; dir laechle des Glueckes Azur!
Ach, wuesstest du nur!
DIE ENGEL DES SCHLAFES
Als rosig das Kind
In Schlummer fiel,
Nahten ihm Engel
Mit Lachen und Spiel.
Und die Mutter stand vor ihm, als es erwachte:
"Wie schoen mein Kleines im Schlafe lachte!".
Zu Gott ging sie bald,
Weg gab man das Kind;
Einschlief's in der Fremde,
Vom Weinen schier blind;
Doch Kosen und Mutterwort hellten die Raeume:
Denn die Engel lachten ihm kindliche Traeume.
Heran waechst das Kind,
Die Traene erstarrt;
Einschlaeft's mit Gedanken;
Die lasten so hart!
Doch nicht weichen die Engel, sie scheuchen die Sorgen:
"Schlafe! Im Frieden des Schlafs geborgen!"
DAS MAEDCHEN AM STRAND
Sie ging am Strande so jung dahin,
Sie dachte an nichts in ihrem Sinn.
Da kam ein Maler geschritten heran,
Der im Schatten sodann,
In des Meeres Bann,
Den Strand und sie zu malen begann.
Langsamer im Kreise ging sie dahin;
Ein einziger Gedanke, der lag ihr im Sinn:
Sie dacht' an das Bild auf der Leinewand,
Wo sie selber stand,
Sie selber am Strand,
Und im Meer mit dem Himmel gespiegelt sich fand.
Es trieb, es zog ein Traum sie dahin;
Sie dachte an vieles in ihrem Sinn:
Weit, weit uebers Meer und doch so nah
Zum Strand, den sie sah,
Zum Mann allda--
Ei, was fuer ein sonniges Wunder geschah!
HEIMLICHE LIEBE
Er sass im Winkel allein;
Sie schwang sich lustig im Reihn.
Sie scherzte, sie lachte
Mit einem, mit zwein...
O, dass sie ihm das tun musste!
Doch niemand war, der davon wusste.
Sie hofft' auf den Abend ein Wort.
Er sagte Lebwohl und--ging fort.
Sie weinten, ein jedes,
Sie hier und er dort,
Ob eines Lebens Verluste.
Doch niemand war, der davon wusste.
Er sah von der Erde ein Stueck.
Doch Heimweh trieb ihn zurueck.--
Sein Bild war geblieben
Ihr einziges Glueck,
Bis dass sie zu Gott gehen musste.
Doch niemand war, der davon wusste.
OLAV TRYGVASON
Weiss von Segeln die Nordsee blitzt;
Hoch am Steuer im Morgen sitzt
Erling Skjalgsson von Sole,--
Spaeht uebers Meer gen Daenemark:
Wo bleibt Olav Trygvason?
Sechsundfuenfzig fuellten den Plan,
Harrende Drachen; gen Daenemark sahn
Sonnbraune Mannen;--da scholl es:
"Wollte der Orm nicht kommen?
Wo bleibt Olav Trygvason?"
Doch als beim nahenden Morgengraun
Noch kein Mast am Himmel zu schaun,
Schwoll der Ruf wie ein Sturm an:
"Wollte der Orm nicht kommen?
Wo bleibt Olav Trygvason?"
Stille, stille zur selben Stund
Alle standen: von Meeres Grund
Stieg's empor wie ein Seufzen:
"Laengst ist der Orm genommen,
Tot liegt Olav Trygvason."
Alle hundert Jahre seither
Raunt um Norwegens Schiffe das Meer
Dumpf in mondigen Naechten:
"Laengst ist der Orm genommen,
Tot liegt Olav Trygvason."
SEUFZER
Abendsonnenfunkeln
Nie durch meine Scheiben bricht,
Auch die Morgensonne nicht;--
Stets bin ich im Dunkeln.
Sonne, sprich, wann gleitet
In die Kammer mir dein Schein?
Faellt kein Strahl ins Herz hinein,
Das im Finstern streitet?
Meinem Kindersehnen,
Morgensonne, bist du gleich;
Wenn du spielst so rein und weich,
Quellen mir die Traenen.
Abendsonnenfrieden,
Ach, du gleichst des Weisen Ruh;
Meinem Fensterlein wirst du
Kuenftig sein beschieden.
Morgensonnenklingen,
Ach, du bist die Phantasie,
Die der Welt Verklaerung lieh.
Koennt' ich dich erringen!
Abendsonnenmilde,
Du bist mehr als Weisheitsruh',
Christenglaube bist mir du:
Leucht' auf mein Gefilde!
AN EIN PATENKIND
(1861)
Mit einem Album von Bildnissen aller derer, die in seiner Geburtsstunde
die Gedanken formten in der Welt des Geistes und der Politik.
Hier beschau' dir die Konstellation im Bilde--
Unter ihr ist dein Lichtlein erglueht!--
Die Sternenschar, die im Himmelsgefilde
Des Gedankens nun strahlet und sprueht.
Was kuenden sie dir? Wir wissen es nicht.
Deinem Weg, dem noch dunklen, vorleuchtet ihr Licht,
Deiner harrend, ihr Geistesglanz nimmt dich in Pflicht.--
Erst lass sie dich fuehren,
Doch trenne dich dann,--
Musst tasten und spueren
Dich selber voran.
BERGLIOT
(In der Herberge)
Nun wird Koenig Harald
Wohl Tingfrieden geben;
Denn Ejnar sammelte
Fuenfhundert Bauern.
Die Burg umschliesset
Ejndride, der Juengling,
Dieweil sein Vater
Redet zum Koenig.
Nun hoffe ich, Harald
Bedenkt, dass Ejnar
Zween Koenige schon
Fuer Norge gekueret--
Und schenkt uns Versoehnung
Auf Grund der Gesetze;
So war sein Geluebde,
Heiss wuenscht es das Volk.
Wie auf den Wegen
Sandwolken stieben,
Und Laerm wacht auf!--
Schau' nach, mein Knappe.
--Es war wohl der Wind nur!
Denn unwirtlich ist's hier
Am offnen Fjord
In den niedren Bergen.
Seit frueher Kindheit
Kenn' ich die Staette;
Der Wind hetzt die grimmen
Hunde hierher.
--Doch tausendstimmig
Entfacht sich Getoese,
Durch Stahlklang wachsend
Zu kampfroter Flamme.
Ja, das ist Schildlaerm!
Und sieh, welch Staubmeer,
Speerwogen turmhoch
Um Tambarskelve.
In Not ist Ejnar!--
Treuloser Harald.
Deinem Tingfried entsteigen
Die Totenvoegel.
Fahrt zu mit dem Wagen.
Ich muss zum Kampfe,--
Jetzt muessig sitzen,--
Nicht um das Leben!
(Auf dem Wege)
O Bauern, bergt ihn
In schirmendem Kreise!
Ejndride, nun schuetze
Den alten Vater!
Baut ihm eine Schildburg
Und reicht ihm den Bogen;
Mit Ejnars Pfeilen
Pfluegt ja der Tod!
Und du, Sankt Olav!
O denk deines Sohnes,
Und bitte fuer Ejnar
In Gimles Hallen.
(Naeher)
Kampflose Mengen-- ...
In wirrem Draengen...
Gleich Wellen,
Den schnellen,
Zum Strande nun fliehn
Mit bebenden Knien
Und starren zurueck.
Verliess uns das Glueck?
Mit trauernden Zeichen
Halten die Scharen;
Sie pflanzen die Lanzen
Im Kreis um zwei Leichen.
Und Harald darf fahren?
Welch dumpfes Gedraenge
Beim Tinghause dort!
Stumm wendet die Menge
Sich schaudernd fort.
_Wo ist Ejndride!_----
Angstvolle Blicke,
Wohin ich sehe,
Wollen mich meiden...
Nun weiss ich's, wehe,
Tot sind die beiden.
----Platz. Ich muss sehen.
Weh mir, sie sind es.
Konnt' es geschehen?
Ja, sie sind es.
Gefallen ist Nordens
Herrlichster Helde,
Norriges bester
Bogen zerbarst.
Gefallen ist Ejnar
Tambarskelve,
Der Sohn ihm zur Seite,--
Ejndride.
Ermordet im Finstern,
Er, der dem Magnus
Mehr als ein Vater,
Knuds, des Reichen,
Soehnen ein Freund.
Meuchlings ermordet
Der Schuetze von Svolder,
Der springende Loewe
Der Lyrskogheide.
Tueckisch geschlachtet
Der Bauern Haeuptling,
Der Troender Heide
Tambarskelve.
Mit weissen Haaren
Den Hunden zur Beute,--
Der Sohn ihm zur Seite,
Ejndride!
Auf, auf, ihr Bauern, er ist gefallen.
Doch er, der ihn faellte, er lebt.
Kennt ihr mich nicht? Bergliot,
Tochter des Hakon von Hjoerungavaag:
Nun bin ich Tambarskelves Witwe.
Euch rufe ich an, Heerbauern,
Mein greiser Mann ist gefallen.
Seht, seht, hier ist Blut auf dem bleichen Haar.
Auf euer Haupt moeg' es kommen,
Wenn es erkaltet, eh' ihr es raecht.
Auf, auf, Kriegsheer, es fiel euer Feldherr,
Euer Stolz, euer Vater, eurer Kinder Wonne,
Eurer Kinder Maerchen, eures Landes Held,--
Hier liegt er, gefallen. Und ihr wolltet ihn nicht raechen?
Meuchlings ermordet, im Koenigshause,
Im Tinghaus, dem Hause des Rechtes ermordet,
Ermordet vom obersten Manne des Rechts!
Des Himmels Blitz zermalme das Land,
Laeutert sich's nicht in der Lohe der Rache!
Stosst die Langschiffe ab!
Ejnars neun Langschiffe liegen ja hier,
Lasst sie die Rache zu Harald tragen.
O stuendest du hier, Hakon Ivarson,
Stuendest hier auf der Hoehe, mein Blutsfreund,
Nicht erreichte den Fjord dann Ejnars Moerder,--
Nicht muesst' zu euch, Feigen, ich flehn!
O Bauern, hoert mich, mein Mann ist gefallen,
Meines Denkens Hochsitz durch fuenfzig Jahre!
Zermalmt, zerbrochen, und ihm zur Seite
Der einzige Sohn, ach! all unser Hoffen!
Leer ist es nun zwischen diesen zwei Armen--
Kann ich betend sie je noch erheben?
Wohin auf Erden soll ich mich wenden?
Zieh' ich von hinnen zu fremden Staetten,--
Sehn' ich mich heim, wo wir beide gewandelt.
Aber wende ich mich heimwaerts,--
Ach! sie selbst vermisse ich dann.
Odin in Walhall darf ich nicht suchen;
Den verliess ich ja schon in der Kindheit.
Und der neue Gott in Gimle?----
Der hat mir ja alles genommen!
Rache?--Wer spricht von Rache?--
Kann Rache meine Toten erwecken?
Kann sie mich waermen, wenn froestelnd ich bebe?
Gibt sie mir traulichen Witwensitz,
Trost einer Mutter ohne Kind?
Geht mit eurer Rache! Lasst mich in Frieden!
Legt ihn auf den Wagen, ihn und den Sohn,
Kommt, wir geleiten sie heim.
Der neue Gott in Gimle, der fuerchterliche, der alles nahm,
Lasst ihn auch Rache nehmen; denn die versteht er,
Fahrt langsam! Denn so fuhr auch Ejnar immer,--
Und wir kommen frueh genug heim.
Nicht springen die Hunde heut freudig herbei,--
Sie winseln und heulen mit haengendem Schwanz.
Im Stalle spitzen die Pferde die Ohren,
Froh der Stalltuer entgegenwiehernd,
Lauschend auf Ejndrides Stimme.
Doch nimmer ertoent sie mehr,--
Und nimmermehr Ejnars Schritt im Flur,
Der allen kuendet: steht auf, ihr Leute,
Jetzt kommt euer Haeuptling!
Die grossen Stuben will ich schliessen,
Fortschicken all unsre Leute;
Vieh und Pferde will ich verkaufen,
Von hinnen ziehn und einsam leben.
Fahrt langsam!
Denn wir kommen frueh genug heim.
AN MEINE FRAU
(Mit einem Satz roemischer Perlen)
Nimm diese Perlen!--als spaeten Reim
Auf die, so geschmueckt einst mein Jugendheim!
Der tausend Stunden stilles Glueck,
Da du drin geatmet, es blieb zurueck
Ein Haufe Perlen schimmernd hell,
Die der junge Gesell
Um die Brust sich hing
Und ums Haupt sich band--
Dass aller Welt zu lesen stand,
Von wem sein Herz und Geist erst rechte Zier empfing:
Von ihr, die ihre Liebe um sein Leben wand!
IN EINER SCHWEREN STUNDE
Wohl dem, der ernster Faehrnis
Dankt seiner Kraft Bewaehrnis:
Je ferner das Ziel,
Desto schwerer das Spiel,
Doch herrlicher auch das Gelingen!
Zerbricht dein Stab in Stuecke,
Und wird aus Freundschaft Tuecke,
Ei, das geschieht,
Damit man sieht,
Du brauchest keine Kruecke.
Wen Gott auf Erden
Allein gestellt,
Dem wird er selbst zur Stuetze werden.
FRIDA [Symbol: gestorben]
Frida, ich wusste, du wolltest nicht leben.
Blossen Gedanken schon war es gegeben,
Dich zu entgeistern, als waeren in ihnen
Engel erschienen.
Wie deine Augen, die staunenden, klaren,
Fern dann und fremd allem Irdischen waren:
Da wuchs die Schwinge, die nach deinen Tagen
Fort dich getragen.
Sprachest du, fragtest du, ward mir oft bange;
War's doch, als ob Blick und Stimme verlange,
Dir einen Schatz der Erkenntnis zu zeigen,
Der mir nicht eigen.
Sprangst du, wie eben der Schulbank entronnen,
Flog dein Gelock wie ein wehender Bronnen;
Lachtest du, tat sich der Himmel auf, strahlend
Ueber dein Strahlen.
Oder wie konntest du bitter dich graemen!
Alles zerfloss gleich zu Schatten und Schemen,
Chaos ward, wie vor des Ewigen Werde,
Himmel und Erde.
Da, o, da sah ich: dein Glueck, deine Schmerzen
Fanden nicht Raum mehr im irdischen Herzen.
_Dort_ winkte Weite!--Doch _hier_ blieb ein Schweigen
Wunderlich eigen.
AN BERGEN
Wie du dasitzt stumm,
Hochgebirg ringsum,
Meer um deinen Fuss und vor dir deine Schaeren,
Sinnest du wohl auf
Saga, deren Lauf
Noch einmal die Welt erstaunen soll!
Stadt, dir selber treu,
Bergen, "niemals neu",
Unverwuestlich, echt, wie deines _Holberg_ Laune.
Vormals Koenigswacht,
Spaeter Handelsmacht,
Sitz sodann des ersten Freiheittings!
Wie die Sonne oft
Hell und unverhofft
Deinen Dunst durchbrach und deine Regenschleier,
Kamst du uns mit Rat
Oder rascher Tat,
Wann uns Nacht am dunkelsten umfing.
Tief aus Volkesgrund,
Witzig, kerngesund,
Sprossten da Gedanken, stand uns eine Kunst auf,
Trotzig, blaugeaeugt,
An der Brust gesaeugt
Deiner duestern, maechtigen Natur.
Deine Berge kahl
Malte unser _Dahl_,
Traeumend wandelte an deinem Strand _Welhaven_,
Und auf deiner Flut
Kreuzte hochgemut
_Ole Bull_ vor Flaggen aller Welt.
Deine Nordsee wacht
Treulich deiner Macht,
Und durch deine blauen Fjorde, wie durch Adern,
Stroemst du Glueck in dein
Nordisch Land hinein,--
Stadt durch Vorzeit reich, an Zukunft reich!
P.A. MUNCH [Symbol: gestorben]
(1863)
Viele Formen hat das Grosse.
Er, der von uns ging, er trug es,
Wie wir einen Zweifel tragen,
Der den Schlaf uns raubt, doch endlich
Offenbarung uns gewaehret,--
Wie ein hoeheres Sehvermoegen
Leidend ueber Unsichtbares,--
Einen Flug durch schwere Arbeit
Vom Gedachten zum Gewissen,
Vom Gewissen zum Geahnten,
Der in ruhelosem Draengen,
Gotterfuellt und ewig wechselnd
Unsre Welt im Sturm durchkreuzet,
Ihrer Zweifel und Gedanken
Last ihr von den Schultern nehmend,
Und sie abwirft, und sie aufhebt,
Nimmer matt--doch ewig rastlos.
Still! Nur ein einziger Zufluchtsort
Wusste ihn sanft zu versoehnen:
Seiner Familie lichtmilder Hort,
Schmeichelnd in Farben und Toenen.
Spann ihn sein Weib mit dem Zauberspiel
Unter der Birken Schleier
Mitten in duftender Blumen Gewuehl
Ein in des Walddomes Feier,--
Kamen die Toechter dann lieblich und leis
In ihrer Unschuld Klarheit,
Faechelten Kuehlung der Stirne heiss,
Sprachen von kindlicher Wahrheit,--
War er bald mitten in Spiel und Lied
Zaertlich von Toenen umfangen,
Wolken zerrannen, und hoch im Zenit
Jubelnd Millionen sangen.
Doch wie in des Herbstes stiller,
Traumhaft schwerer Abenddaemmrung
Wetterleuchten die Gedanken
Schreckhaft auf Gewitter lenket,--
Oder wie ein Schlag im Boote,
Das in stiller zarter Mainacht
Schlaefrig zwischen Felsen gleitet,--
Nur ein einziges leises Plaetschern,--
Doch das Echo jagt es weiter,
Jagt's von Fels zu Fels, die Drossel
Flattert auf, es kreischt das Birkhuhn,
Lauschend hebt das Reh sein Koepfchen,
Steine rollen, wach wird alles:
Hunde heulen, Glocken gellen,
Weckend all des Tages Laermen,--
Also koennt' ihm ein Erinnern,
Daunweich nur im Spiel gefallen,
Wecken der Gedanken Heerschar.
Und dann jagte es durchs Weltall,
Und dann flammt's in seiner Seele,
Doch es ward zu Licht fuer andre.
Rassenursprung, Wortverzweigung,
Namenquell, Gesetzverwandtschaft,
Gross und Klein in gleichen Qualen,
Gleichen Zweifeln jagt zum Ziele.
Wo nur Steine andre sahen,
Sah er's glitzern, sah er's funkeln,
Sprengte er den Schacht zum Bergwerk.
Und wo andre vor dem sichern
Funde des Jahrhunderts standen,
Griff ihn Zweifel, und er wuehlte
Tag und Naechte bis zum Grunde,
Grub--und sah den Fund versinken.
Doch es liess sein rastlos Wollen,
Das so vielen Kraft gespendet,
Oftmals uebers Ziel ihn schiessen.
Klarheit, die er aendern schenkte,
Trog ihn selbst als neue Ahnung.
Darum: wo er schon gewesen,
Kehrte er nur ungern wieder.
Stoff so oft wie Arbeit wechselnd,
Floh er vor dem eignen Denken.
Das Gedachte aber hielt ihn,
Folgte, wuchs gleich einem Brande,
In Brasiliens Wald geschleudert,
Prasselnd vor der Windsbraut fliehend.
Wo kein Menschenfuss gegangen,
Frass sich's Weg fuer Millionen.
Nordens Reich streckt seinen Busen
In des Eismeers frostige Nebel,
Finsternis der Wintermonde
Lastet schwer auf Meer und Bergen.
Und den Landen gleich, erstreckt sich
Auch des Volkes tiefste Wurzel
Weit hinein in Nacht und Nebel.
Doch wie durch die Nacht ein Leuchtturm,
Doch wie Nordlicht durch Polarnacht
Blinkte leuchtend sein Gedanke.
Zaertlich wie nach seines Vaters
Angedenken frug er eifrig,
Forschend nach des Volkes Wegen.
Namen, Graeber, rostige Waffen,
Steine brachten ihm die Antwort.
Ueber Asiens Urwaldberge,
Wuestensand und oede Steppen
Sah er Karawanenspuren
Unterm Moder von Aeonen
Heimatsuchend nordwaerts deuten.
Wie einst sie den Fluessen folgten,
Folgte ihnen all sein Denken,
Das so reich ins Weltall stroemte.--
Sieh, es war ja nur Versoehnung,
Was sein rastlos Schaffen wollte,
Doch die fand er nicht;--statt dessen
Fand er neue Wunderdinge,
--Ganz wie jene Alchymisten,
Die im Suchen nach dem Golde
Zwar nicht Gold, doch Kraefte fanden,
Die noch heut die Welt bewegen.
Tief im Grunde barg sein Wesen
Eine Kraft des Gegensatzes,
So dass Toene, angeschlagen
Von des Nordens hehrer Saga,
Mild harmonisch weiterklangen
In der Sehnsucht nach dem _Sueden_.
Und es war des Auges Flamme,
Des Gedankens Blitz verwandt dem
Feuer des Improvisators
In dem heissen Land der Trauben.
Und sein leichter Stimmungswechsel
Und der Feuergeist, der Frondienst
Tat den lieben langen Winter,
Doch die Frucht oft spielend wegwarf,--
Jener unermessene Reichtum,
Drin Gedanken, Launen, Toene,
Leid und Wonne, Ernst und Frohsinn
Unaufhoerlich glitzernd spielten,--
Das war wie ein Tag im Sueden.
Eine Reise war sein Leben
Unaufhaltsam drum gen Sueden,
Durch das Nebelland des Ahnens,
Aus dem Dunkeln in das Klare,
Aus dem Kalten in das Warme,--
Und sein Wirken war die Bruecke
Ueber Berg und Meeresstroemung.
----O, und dann des Glueckes Stunde,
Da mit Weib und Spielgefaehrten,
Seinen kindlich frischen Toechtern,
Er dort stand, wo Abendsonne
Kapitol und Forum gruesste,--
Wo aus tiefem Grund der Weltstadt
Weisheit und Erkenntnis sprudeln;---
Wo jetzt Klarheit, aetherreine,
Die Jahrtausende erleuchtet,
Die zur Ruhe hier gegangen;--
Wo dem Forscher aus dem Norden
War, als sei er allzulange
Irr im Nebel nur gerudert
Auf den tiefen, breiten Fjorden;--
Stand, wo Tote ihre Graeber
Sprengen und als Zeugen schreiten
In der schweren Marmortoga;
Wo die Goettinnen von Delos
In die Freskensaele tanzen
Wie einst vor zweitausend Jahren;--
Wo der Erde wachsend Werden
Pantheon und Kolosseum
Stolz in ihrem Schosse bargen;--
Wo ein Hermes dort am Eckstein
Cato wuerdig schreiten sah als
Pontifex im Priesterzuge,--
Nero als Apollon schaute,
Opferrauchumhuellten Wahnes,--
Gregor schaute, zornig reitend
Als der Geisterscharen Herrscher
Ueber alle Erdenreiche,--
Cola di Rienzi schaute,
Huldigend der Freiheitsgoettin
Bei des Roemervolkes Jauchzen,--
Sah der Kirche Geistesfuersten,
Leo, sich statt Christus waehlen
Aristoteles und Plato;--
Sah dann die katholische Kirche
Staerkre Zeiten neu errichten,
Bis der Franzmann sie zertruemmert,
Und _Natur_ zur Gottheit wurde,--
Sah aufs neu' die alten Frommen
Dann in Prozessionen wallen
Mit dem Lamm als Weltbeherrscher!--
All das sah der kleine Hermes
Dort am Eckstein hinterm Tempel,
Und es sah der nordische Weise
Ihn und seine Visionen.--
--Ja, als er in der Geschichte
Hehrer Klarheit Rom erblickte,
Und sein Auge sinnend streifte
Abendsonnumflammte Hoehen,--
Flossen seiner Sehnsucht Strahlen
Ueber in entzueckte Ahnung.
Und--er sah in eine Kirche,
Groesser als der Dom des Weltalls,
Und ein Friede sank hernieder,
Ueber alles Jetzt erhaben.--
Und als er zum zweiten Male
Dorthin kam, durch langer Tage
Mueh' und Fleiss--als gaelt's Erloesung,--
Da ging Gott ihm selbst entgegen,
Fuehrte ihn hinauf und sagte:
"_Friede mit dir, du bist Sieger!_"
Doch zu uns, die klagen wollten,
Wandte Gott sich um und sagte:
"_Wenn ich rufe, wer darf sagen,_
_Der Berufne sei nicht fertig?_"
_Er, der stirbt, er war hier fertig!_
Sieh, das glauben wir im Schmerze.
Und dass Er, der allen Forschern
Jene Ruhelosigkeit gegeben
(Die Kolumbus trieb und Newton),
Weiss, wann Ruhe kommen soll.
Aber jenen Geistesscharen,
Die verklaert zur Heimat wallen,
Blicken starr wir nach und fragen:
Wer soll abermals sie sammeln?
Denn, wenn er den Kriegspfeil schnitzte,
Stroemten sie von allen Laendern:
Schweden, Daenemark und England
Und von Frankreich her zusammen;
Uebers Meer die Schiffe flogen
Seinem Banner rasch entgegen.
Die gewaltige Koenigsflotte
Lag vor Anker hier am Strande,
Und es ward uns zur Gewohnheit,
Sie zu sehn und zu befragen
Nach Eroberung und Fahrten.
Was sie uns gewann, bleibt ewig.
Doch sie selbst darf nun zur Heimat.
Fest vereint, sehn wir entschwinden
Ueberm Meer das letzte Segel,
Wenden uns und fragen leise:
Wer wird abermals sie sammeln?
KOENIG FRIEDRICH DER SIEBENTE [Symbol: gestorben]
(1863)
Nun schied unserm Koenig ein wahrer Freund!
Und es senkt bei dem Schlag
Sein Banner der Norden und folgt vereint
Am Begraebnistag.
Doch, Daenemark! dein sind die tiefsten Schmerzen:
Nun brach dir das waermste, das groesste der Herzen,
Nun brach deine beste
Landesfeste,
Nun dehnt sich ein Schrei ob des Koenigs Tod
Wie aus tiefster Not!
Ihn, der geboren zu Daenemarks Glueck,
Traf des Todes Los.
Jung stiessen sie ihn vom Hofe zurueck--
In des Volkes Schoss.
Da gedieh er gut und ward eins mit den Scharen
Der Bauern, Matrosen in Lust und Gefahren.
Selbst hat ihm das Leben
Die Schule gegeben--:
Als fertig die Schlinge fuer Daenemark,--
War er lebensstark.
Schnell zeigte sein Geist sich bauerndumm,
Wo ein Kniff sich fand;
Der Verraeter feinste List schlug um
Vor dem schlichten Verstand.
Er kannte ja nur des Volkes Gedanken,
Drum gab er ihm Freiheit sonder Schranken;
Dem Ganzen war hold er--
Nicht teilen wollt' er,
Und hielt eine Rede, nur kurz, die hiess:
"Nicht geschehn wird dies!"
Ein Matrose am Steuer beim Ansturm vom Meer
Standfest und klar!
Groesseres Lob war nicht sein Begehr.
Wir bringen's ihm dar!
Stracks dreht' er das Schiff gen Nordensrunde,
Dem wahren, sicheren Ankergrunde;--
Rings sprach im Reiche
Bald jeder das gleiche:
"So dumm ist der wohl nimmer; seht,
Wie trefflich es geht."
Auf Deck rief er eben die Maenner all:
Sturmsegel gesetzt!
"Land", klang es vom Mast beim Wogenprall
_Jetzt, eben jetzt_,--
Da entglitt das Steuer den treuen Haenden,
Tot sank er hin--das Schiff will wenden...
Wenden? Nimmer!
Sein Kurs bleibt immer;
Ihr kennt ihn, Daenen, Mann fuer Mann,--
Sein Kurs heisst: Voran!
In Reih' und Glied allzeit bereit,
Als Wahlspruch er kor.
Wie ragt' er in ehrlicher Tatkraft weit
Den andern vor.
Sie ernten die Frucht: _geuebte Soldaten_,
Stehn alle, so treu, so erprobt in Taten!
Das Schiff _kann nicht_ schlingern:
In vielen Fingern
Liegt fest das Steuer geborgen an Bord;
Hurra gen Nord!
Nichts andres bleibt jetzt in der Zeiten Drang:
Ausharren voll Pflicht,
Wachthalten im Dunkel, nicht blass, nicht bang,--
Gott ist unser Licht!
Hier ist's dumpf, ist es still, drueckt die Sehnsucht nieder,
Lauscht jeder halb atemlos wieder und wieder,--
Hier sind Wartezeiten,----
Bis die Himmelsweiten
Rosig erhellt uns kuenden: es naht
Der Tag zur Tat!
ALS NORWEGEN NICHT HELFEN WOLLTE
(Osterabend 1864)
Und segelst im Kattegatt du umher
Und durch den Belt,
Du findest die Daenenfregatte nicht mehr
Mit rotweissem Feld;
Hoerst nicht mehr Wessels Stimme beim Klang
Vom Kommandowort,
Nicht hinter dem Danebrog mehr den Sang,
Den frischen, an Bord,
Du hoerst kein Lachen, du siehst keinen Tanz
Unterm Segelweiss,
Um Spiegel und Mast nicht den leuchtenden Kranz,
Der Kuenste Preis.
Denn alles, was unser war, ertrank
Auf dem Meeresgrund,
Jedwedes Erinnerungsbild versank
Im naechtlichen Schlund,--
In der Winternacht, da bei Sturmeswut
Unter Norwegens Strand
Notschuesse krachten und brandende Flut
Tang anwarf und Sand;
Ein Boot fuhr vom Hafen zur Hilfe aus,
Doch wandt' es in Hast,--
Da trieb die Fregatte gen Deutschland hinaus
Mit zertruemmertem Mast!
Da flog unsre Blutsverwandtschaft vom Bord,
Mit Stumpf und Stiel,--
Gepackt, gewirbelt, trieb fluchend sie fort,
Ein Wellenspiel!
Der nordische Leu am Gallion, durch Sturm,
Durch Alter so grau,--
Er ward zerstueckt; ein zerschossener Turm,
Lag das Schiff zur Schau.
Sie flickten es wieder, sie machten es klar
Am deutschen Strand;
Schwarzgelb war die Flagge, es spreizt sich ein Aar,
Wo der Loewe stand.
Wir segeln im Kattegatt; wie leer,
Wie still ist es nun!
Nur ein deutsches Schlachtschiff sahn wir im Meer
Vor Schonen ruhn.
AN DEN DANEBROG
(als Dueppel fiel)
Danebrog, in alten Tagen,
_Schneeweiss, rosenrot_
Sah man, Sohn des Lichts, dich ragen
Ueber Nacht und Not,
Reif wie schwere Fruchtgehaenge,
Hehr wie Heldengrabgesaenge,
Frei, mit Geistes Wandervoegeln
Durch die Welt dich segeln.
Danebrog, ach, heute steigst du
_Todbleich, blutigrot_,
Wund wie eine Moewe neigst du
Dich, verletzt zu Tod.
Heiligen Blutes Purpurlache
Zeugt fuer die gerechte Sache.
Fallend Volk, nun trag die schwere
Kreuzeslast der Ehre!
DER NORROENASTAMM
(4. November 1864)
Es zog Norroenas Soehne
Zum freien Meergestad';
Ihr Ziel war Kampfgedroehne
Und hehre Mannestat.
Ihr Geist, in Surtrs Feuer
Sich senkend wurzelfest,
Trieb Schossen ungeheuer
Zu Ygdrasils Geaest.
Ging zu der Brueder Schaden
Oft jeder eigne Spur,
Gab's auf getrennten Pfaden
Doch _eine_ Ehre nur.
Die Zeit schuf Platz fuer jeden:
Erst Norge, Daenemark;
Kam auch danach erst Schweden,
So wuchs es doppelt stark.
Vom Stern des daenischen Drachen
War Ost und West entbrannt;
Normannengeists Erwachen
Drang bis zum heiligen Land.
Sowie von Sveas Stamme
Die Polnacht ward erhellt,
Gibt Luetzens Siegesflamme
Noch Licht der halben Welt.
Es schweissten harte Tage
Norges und Daenmarks Band;
Den groessern Sinn der Saga
Hat kleine Zeit verkannt.
Dann trat, sich zu verbinden,
Norge zu Schweden hin,
Und nie mehr soll verschwinden
Der Saga groessrer Sinn.
Der Volksgeist birgt im Schosse
Weissagung wundersam:
Die Zukunftstat, die grosse,
Eint den Norroenastamm.
Ein jedes Fest entfache
Des heiligen Schwures Klang:
Fuer unsres Blutes Sache
Sieg und nicht Niedergang.
GESANG DER PURITANER
(Aus dem Drama "Maria Stuart")
Gib mir Staerke, reich' mir Waffen,
Halt meinem Notschrei den Himmel offen!
Herre, ist sie dein, mein' Sach',
Schenk' ihr du den Siegestag!
Stuerz' deine Feinde!
Stuerz' deine Feinde!
Roll' vor dein Zorngewoelk, schmettre hinab sie,
In ihrer Suenden Abgrund begrab' sie,
Seng' ihre Saat,
Zertritt ohne Gnad'!
Dann lass auf schneeweissen Taubenschwingen
Dem Glaeubigen Troestung herniederbringen,
Das Oelblatt des Friedens, der deinem Frommen
Nach der Strafen Suendflut dereinst wird kommen!
JAGDLIED
(Aus dem Drama "Maria Stuart")
Hinter uns steigt Heidedampf,
Heidedampf,
Vor uns fliegt der Falk zum Kampf,
Vor zum Kampf.
Birkenduft erfuellt den Hang,
Fuellt den Hang,
Felswaerts stuermt der Hoernerklang,
Hoernerklang.
Durch die klare Luft dahin!
Durch! Dahin!
Voran eilt sie! Die Koenigin!
Koenigin!
Jagt ihr nach! Hei, Jagd voll Glut!
Jagd voll Glut!
Nach--bis in die Todesflut!
Todesflut!
TAYLORS LIED
(Aus dem Drama "Maria Stuart")
Auf Erden jede Freudenstund
Bezahlest du mit Sorg',
Und wird dir mehr als eine, glaub',
Du hast sie nur auf Borg.
Bald fordert eine Schmerzenszeit
In Seufzern streng zurueck
Fuer jedes Laecheln Zinseszins,
Abschlag fuer jedes Glueck.
Mary Anne, Mary Anne,
Mary Anne, Mary Anne,
Du, haett' ich dich nicht laecheln sehn,
Muesst' ich nicht weinend stehn.
Gott helfe dem, der's nicht vermag,
Zu geben halb sein Herz;
Es kommt die Zeit, sie kommt, da ganz
Er nehmen muss den Schmerz.
Gott helfe dem, der nicht vergisst,
Dass er so froh einst war;
Gott helfe dem, dem alles bricht,
Dem nur der Geist blieb klar.
Mary Anne, Mary Anne,
Mary Anne, Mary Anne,
All, was ich je gepflanzt, erfror,
Nun, da ich dich verlor.
HOCHZEITSLIED
Du standest vorm Altar in weissem Kleide,
Und Ewigkeiten lauschten deinem Eide;
Dein banges Denken schwebte
Um ihren tiefen Grund,
Und was dein Herz durchbebte,
Das betete dein Mund.
Da ward dein Blick von hellem Glanz umwoben,
Denn deine Mutter betete dort oben
Mit dir zugleich.
Nun fuehltest du, die Hand, die dir gegeben,
Festhalten werde sie fuers ganze Leben;
Dir wurde leichter, freier,
Dein Herz schlug nicht mehr bang;
Du sahst durch Traenenschleier
Die Zukunft hell und lang!
Betaut von milden Liebestraenen deuchte
Das Leben dir ein Lenz, der ewig leuchte;
Du fasstest Mut.
Ihm, der die Eltern deinen Kindertagen
Ersetzte, galt es Lebewohl zu sagen.
Sein Werk war nun geschehen:
Du standest froh verklaert
Und, wie's ersehnt sein Flehen,
Warst deiner Mutter wert.
Er sah dein Aug' voll Dank emporgehoben,
Und Dank schien ihm zu toenen von dort oben,
Dank fuer sein Werk.
Von den Geschwistern, denen Kinderpflege,
Selbst Kind, du goenntest, scheiden deine Wege.
Den besten Lohn von allen,
Sie geben heut ihn drein;
Einst in die Wage fallen
Wird er am Tag der Pein!
Dank und Gebet ist deines Gluecks Geleite,
Dank und Gebet sei stetig ihm zur Seite,
Dank und Gebet!
LEKTOR THASEN [Symbol: gestorben]
Von einer Blume las ich einst, die stand,
Bebend und bleich, abseits vom Wegesrand;
Denn der Gebirgsnatur geringe Kraft
Gab sparsam Saft
Und kaum noch Farbe.
Ein Blumenfreund sah sie im Schatten stehn;
Froh brach er aus: du sollst nicht so vergehn!
In sonnenwarmem Grund sollst du hinfort
Ein fruchtbar Lebenswort
Fuer viele werden!
Als er sie samt dem Erdreich hebt und haelt,
Blinkt's seltsam ihm entgegen,--denn ihm faellt
Goldstaub von ihrer Wurzel in die Hand:
Die Blume stand
Auf reichen Gruben.
Von ringsher eilt der Jugend rasche Schar
Zur Wunderstaette--und sie wird gewahr:
Hier liegt des Landes Zukunftsschacht;
Ein Blick in Nacht
Von Gott war die Blume.
Ach, daran dacht' ich, als die Kunde kam--
Als ihn der Herr des Lebens saenftlich nahm
Aus kaltem Felsgrund und des Winters Wehn,
Dort aufzugehn
In ewiger Waerme.
Denn wo sein Sehnen sich hinabgesenkt,
Da blinkt es! Diese Lebenswurzel lenkt
Dem Weisheitshort entgegen, der da reich,
Goldadern gleich,
Ruht in den Tiefen.
Nun, da er fort ist, wird ans Licht gebracht
Die Herrlichkeit, von ihm so treu bewacht.
Gedankenschatz der Vorzeit glaenzt herauf,
Und es blitzt auf
Der Zukunft Reichtum.
Nach dem Metall, ihr Jungen, grabet jetzt,
Des Staub die Blume trug, von Gott versetzt.
--Euch gilt die Botschaft! Schuerft es aus dem Grund!
Ihm ward's nur kund
In Sehnsuchtstraeumen.
AUF EINER REISE DURCH SCHWEDEN
Von Kind auf war ich dir verschrieben,
Denn Groesse lehrtest du mich lieben,--
Und rufe laut als Mann dir zu:
_Des Nordens Sache fuehre du!_
So reich an Land und Gaben bist du,
Doch deines grossen Ziels vergisst du.
Eh' du den Norden nicht geeint,
_Bleibst du dir selber fremd und feind!_
Es webt ein Sehnen und ein Singen
Durch all dein Volk, doch ohne Schwingen.
Wohl stehst du da, vor vielen stark,
Doch deinen Taten fehlt das Mark.
Zu vieles wird von dir begonnen,
Zu viele Kraft zu Wind versponnen;--
An Herzensfuelle mangelt's nicht,
Doch Treue fehlt und Ernst der Pflicht.
Du kannst nicht ohne Kampf gedeihen,
Ein Sinn muss deine Tage weihen,
Ein heldisch Wollen, dass die Welt
Vor Schwedens Namen inne haelt.
Aus Eignem wirst kein Glied du ruehren,
Der Ehre Stern muss dich verfuehren,
Aus Taten wird dir erst und Muehn
Die rechte Freudigkeit erbluehn.
Denn deines grossen Einst Versprechen
Sind allzu strahlend, sie zu brechen.
_So schmiede denn des Nordens Glueck!_
_Er gibt es doppelt dir zurueck!_
Du kannst kein groesser Werk beginnen,
Kein heiliger Gebot ersinnen:
Dies Werk schliesst deine Zukunft ein
Und macht dich aller Suenden rein!
Du Volk von Schwaermern und Propheten,
Du Volk von Traeumern und Poeten!
Der Unkraft laehmend Joch zerbrich!
_Des Nordens Fahne harrt auf dich!_
STELLDICHEIN
Still ist der Abend;
Selbst sich begrabend,
Rollen die Stunden und scheidet das Licht.
Nur die Gedanken
Lauschen und schwanken:
Ob sie heut kommt oder nicht?
Frostiges Daemmern;
Wolken gleich Laemmern
Ziehen vorueber; der Sterne Heer
Zaubert im Glaenzen
Liebe und Lenzen;
Kennt sie den Weg denn nicht mehr?
Sehnsuchtsleise
Unter dem Eise
Seufzt das Meer in wegmueder Ruh.
Schiffe vor Anker--
Ach, und ein Kranker
Fragt: wo verweilest du?
Schneeflocken stieben,
Bergwaerts getrieben,
Maerchenhaft wirbelnd zum dunkelen Hain;
Nachtvoegel schwirren,
Schlagschatten irren;
War das ihr Schritt?--Ach nein!
Bist du so feige?
Sehnende Zweige
Starren von Reif; du wurdest verhext.
Doch ich bin staerker,
Sprenge den Kerker,
Wo du dich traeumend versteckst.
LIED DES STUDENTENGESANGVEREINS
Auf, Brueder, stimmt an ein Lied!
Im Lichtgeleit dahin es zieht,
Hell flammt es in Liebessonne,
Voran eilt des Sieges Wonne,
Und ringsum traeufelt Bluetensaat
Auf junger Willenskraefte Pfad!
Weithin unser Sang schon fuhr,
Und ruhmreich leuchtet seine Spur
In Fahnen und Freundschaftsspenden,
In Kraenzen aus Frauenhaenden,
In Festen voller Jugendschaum,
In Volkes Vorzeit, Volkes Traum.
Nach _Halden_ ging unser Zug,
Die Fahne hing zerfetzt genug;
Sie wehte durch unsre Saenge,
Sie mahnte durch Liederklaenge,
Ergluehend in dem maechtigen Brand
Des Heldentods fuers Vaterland.
Gen _Arendal_ die Sommerfahrt
Zu "Macht und Ruhm", sei treu bewahrt.
Inmitten der Flotte zogen
Wir Saenger auf blauen Wogen
Zu Norges Schiffs- und Handelsflor,--
Da sangen wir den Jubelchor.
In _Bergen_, am Meeresstrand,
Wo Altes sich mit Neuem band,
Von Lurklang die Berge hallen;
Held _Sverre_ lebt noch bei allen;
Doch frisch und voll von Lebenslust
Entstieg das Lied der Volkesbrust.
_Upsala, Kopenhagen, Lund_,
Wie zuendend klingt's aus Herz und Mund!
Da banden wir in Akkorden
Im Dreiklang den ganzen Norden.
In vollem Chor zum Himmel klang
_Norroenastammes Einheitssang_.
Frischauf in die Welt hinaus!
Wo's Echo gibt, sind wir zu Haus.
Im Lied unsre Zukunft winket,
Im Lied die Vorzeit nicht versinket,--
Wir wandern weiter Hand in Hand,
Und singen Sommer unserm Land.
AN DEN BUCHHAENDLER JOHAN DAHL
(Zu seinem sechzigsten Geburtstag)
Herr Wirt, dir sei dies Hoch gebracht!
--"Hurra!"
Doch waehrend wir singen, so gebt fein acht!
--"Ja ja!"
Zuerst muesst von schrecklichen Leiden ihr wissen,
Als in unsern Wirrwarr sein Los ihn gerissen
Zu Adlern und Schaeren,
Zu Wergelands Baeren,
--Au ja!
Er kam als ein unschuldig Laemmelein,
--O je,
So niedlich, appetitlich und sauber und rein
Wie Schnee.
Das koestliche Fleisch liess zu Fuellsel man hacken
Und spaeter in Teig von Herrn Wergeland backen
Und munter zerbeissen,
Die Knochen verschleissen
Im Ramsch.
Doch hei! wie ein Boecklein des goettlichen Tor
Er sprang,
Und stiess ihnen kraeftiglich hinter das Ohr,--
Das klang!
Da schmunzeln die Kerle in vollem Behagen:
"Jetzt hat der Gesell sich zum Bruder geschlagen,"
Und balde war keiner
Beliebter und feiner
Als Dahl.
Das Licht aus der Bude dort konnt' wohl erhellen
Das Land.
Dort hat sich gar mancher zum Spiessgesellen
Bekannt;
Dort machte man Mode und kritische Normen,
Und wollt' ein gut Stueckchen Norwegen formen.
Das wird die Geschichte
Schon bringen zum Lichte
Dereinst!
Fuer das, was du littest, entflammtest und strebtest,
Hab' Dank!
Fuer alle die Kraft, die du freudig belebtest,
Hab' Dank!
Fuer all dein gutmuetig Eifern und Zanken,
Dein goldnes Gemuet, deine Freundschaft, wir danken,
Du seltsamer Falter,
Du Lieber, du Alter,
Hab' Dank!
DIE SPINNERIN
Ach, was fragte er mich,
Eh' er jetzt vom Fenster schlich?
"Du, ein Band, das knuepf' ich still,
An den Tag soll's im April.
Traust du dich?--dann gib mir dein
Gespinst hinein."
Wie soll ich's wohl verstehn?
Wer hat je ihn weben sehn?
Und mein Gespinst so rein,
Will er in sein Band hinein?
Und so eilig webt er's hin,--
Bis--Lenzbeginn?
Und wie lacht' er dabei!
Ach! Stets treibt er Narretei.
Gebe mein Gespinst ich hin,
Ihm, der also leicht von Sinn?--
Fuege du es, Gottes Hand,
Fest zum Band!
DIE WEISSE UND DIE ROTE ROSE
Die weisse und die rote Rose,
So hiessen der Schwestern zwei--ja, so!
Die weisse, die war stumm und still,
Die rote allzeit froh.
Doch umgekehrt ging's seither, ja,
Da kamen die Freier weit her, ja.
Die weisse ward so rot, so rot,
Die rote ward so weiss.
Der, den die rote liebte,
Den wollt' der Vater nicht han, nicht han.
Doch den die weisse liebte,
Den nahm er glattweg an.
Die rote, ach, bleicht in Traenen, ja,
Vor Seufzen, Sorgen und Sehnen, ja.
Die weisse ward so rot, so rot,
Die rote ward so weiss.
Da, Wetter, wird dem Alten bang,
Er rueckt heraus mit: ja doch--ja!
Und Hochzeit gab's mit Sang und Klang
Und Boellerschuss, hurra!
Bald kamen auch Roeschen nun, o ja,--
Roeschen in Struempfen und Schuhn, o ja.
Die der roten waren weiss, doch--hm!--
Die der weissen alle rot.
IN DER JUGEND
Jugendmut,
Jugendmut,
Wie der Falke kuehn und leicht
Hebt er sich im Blau und steigt,
Bis er alle Hoehn erreicht.
Jugendblut,
Jugendblut,
Braust wie Dampf durch Meer und Nacht,
Sprengt das Stromeis, dass es kracht,
Trotzt dem Sturm und jauchzt und lacht.
Jugendtraum,
Jugendtraum,
Schleicht sich wie ein Schelm hinein
In schoen Maegdleins Kaemmerlein;
Aller Duft und Glanz des Lenzen
Seine leichten Wellen kraenzen.
Jugendlust,
Jugendlust,
Sprudelt aus der Felsenbrust,
Schleudert noch im Sturz zum Grabe
Lachend seine Strahlengabe.
Jugendlust,
Jugendtraum,
Jugendblut,
Jugendmut
Streun auf unsern Erdenwegen
Singend ihren goldnen Segen.
DAS BLONDE MAEDCHEN
Ich weiss, sie wird sich von mir wenden,
So scheu, wie je ein Traum entwich--:
Und doch, ich kann nur immer enden:
Du blondes Kind, ich liebe dich!
Ich liebe deiner Augen Traeume:
So weilt auf Schnee der Mondnacht Ruh
Und tastet sich durch steile Baeume
Nur ihr verschlossnen Tiefen zu.
Ich liebe diese Stirn: ein Siegel
Der Reinheit, blickt sie sternenklar
In der Gedankenfluten Spiegel,
Der eignen Fuelle kaum gewahr.
Ich liebe dieses Haar, sich draengend
Aus seines Netzes strengem Band:
Voll kleiner Liebesgoetter haengend,
Verlockt es Auge mir und Hand.
Ich liebe diese schlanken Glieder
Mit ihrem Rhythmus wie Gesang.
Hell klingt des Lebens Wonne wieder
Aus ihrer Pulse dunklem Drang.
Ich liebe diesen Fuss, dich tragend
In deiner Herrlichkeit und Kraft,
Durchs muntre Land der Jugend wagend
Den Weg zur ersten Leidenschaft.
Ich liebe diese Lippen, Haende,
In Amors eifersuechtiger Pacht;
Des Wuerdigsten als Siegesspende
Gewaertig und fuer ihn bewacht.
Ja, schuerze nur die schoenen Brauen
Und wende dich zur Flucht und sprich:
Kein Maedchen duerfe Dichtern trauen.
Ich liebe dich! Ich liebe dich!
MEIN MONAT
Ich lobe mir April,
In dem das Alte faellt,
Das Neue Kraft erhaelt;
Wohl liebt er Friede selten,--
Doch soll wohl Friede gelten?
Nein: dass man etwas will.
Ich lobe mir April,
Weil er, der Stuermer, Feger,
Der Eis- und Herzbeweger,
Weil er, der Kraeftereger,
_Des Sommers Kommen will!_
HOCHZEITSLIED
(Zu Ditmar Meidells Hochzeit, den 21. Juli 1868)
Blick' auf, o Braut, er naht
An Freundeshand zum Buchtgestad',
Ein wenig kahl und traeg',
Doch frisch und herzensreg'.
Hier kommt er treu und grad'--
Der alte braune Kreuzeraar,
Erprobt in Sturmgefahr,
Mit Augen kindlich klar.
Er war ein Bursch so keck,
Lag gern auf seines Boots Verdeck
Und liess vom Wogenschaum
Sich wiegen in den Traum.
Der Segel breite Last
Schlug sonnbeschienen an den Mast,
Und ohne Ruder glitt
Der Kiel im Strome mit.
Doch als er muessig da
Sein Bild im tiefen Blau besah,
Getrieben ward sein Kahn
Zum offnen Ozean.
Hei, wie er munter sprang
Zum Steuer unter Flutgesang;
Die erste harte Not
War ihm wie Morgenrot.
Er kehrte nicht nach Haus,--
Fuhr in der Freiheit Reich hinaus,
Wo alles ringsumher
Unendlich wie das Meer.
Hinaus ins Flutgetos,--
Und ward das Boot auch steuerlos,
Hat kuehne Manneskraft
Ihm doch den Sieg verschafft!
Da draussen stand er frisch;
Ihm wuchs der Mut im Sturmgezisch.
Sein Deck zerbarst; doch ihn
Konnt' es nicht niederziehn.
Nach oben kam er leicht,
Wie uebers Meer ein Vogel streicht,
Dieweil manch stolzes Schiff
Zertruemmert ward am Riff.
Sein Kahn schwamm flott dahin,
Weil ihn gebaut ein freudiger Sinn,--
Der Sturm blieb ohne Macht:
Denn Jugend war die Fracht.
Und ein unbaendiger Klang
Von Schuessen, Feuerwerk und Sang
War immerzu an Bord
Mit Echo ueber Nord.
Ein wenig mued' zuletzt,
Dacht' er der Kindheit sehnend jetzt,
Lag wieder friedlich-mild
Und sah sein Spiegelbild.
Er sah, der Schelm, er sah--
Sein eignes nicht, nein _ihres_ da,
Als seiner Sehnsucht Fund
Laechelnd im Wellengrund.
Zum zweiten Mal zieht aus
Sein Leben in den Wogenbraus,
Und Sturm soll seinem Kahn
Zum zweiten Male nahn!
Zum zweiten, zweiten Mal hinfort
Soll toenen Schuss und Sang an Bord;
Denn diesmal mit ihm faehrt
Der Glaub' an Weibes Wert!
NORWEGISCHES SEEMANNSLIED
(Zu einem Fest norwegischer Seeleute in Stavanger 1868)
Norwegisch Seevolk ist
Ein derber Schlag voll Kraft und List;
Wo Schiffszeug schwimmen kann,
Da ist es vorne dran.
Auf Meerfahrt und zu Haus,
Im Sund und bei den Schaeren draus,
Vertraut es Gottes Schutz
Und beut den Wogen Trutz.
Hier mueht ein Volk sich ab
Fuers Leben ruhlos bis zum Grab,--
Des Todes Sense maeht
Sich Opfer frueh und spaet.
Was Tag um Tag geschieht,
Bewahrt nur selten Wort und Lied,
Und von so manchem Stueck
Kehrt keiner mehr zurueck.
Ja, schlichter Fischer Kiel,
Von Mut und Witz gefuehrt zum Ziel,
Hat Werke viel erschaut,
Die niemals wurden laut.
Und manches Seemanns Haupt
Ward feucht mit Schilf und Tang umlaubt,
Statt dass ihn goldnes Reis
Gekraenzt im Heldenkreis.
Des Olavkreuzes Ruhm
Haett' manches Lotsen Heldentum
Verdient, der Schar um Schar
Gerettet aus Gefahr.
Und manchem Buerschchen auch,
Das heimritt auf der Jolle Bauch,
Stand Vater hoch an Bord,
Gebuehrte wohl ein Wort.
Doch Norges Kueste ist
Des Landes Mutterbrust und misst
Ihm Nahrung zu, wenngleich
Oft Nahrung traenenreich.
Sie huetet und bewacht,
Was ihre Soehne je vollbracht,
Vom grossen Hafurstag
Bis auf das letzte Wrack.
Das fuehlte, wer sein Land
Nach langem Fernsein wiederfand;
Das fuehlte, wer es liess,
Wann er vom Ufer stiess.
Das fuehlten, die weit fort:
Der Heimat Glueck war mit an Bord:
_Der weissen Segel Fleiss_
_Gewann uns Macht und Preis._
* * *
Hurra, wer immer heut
Zur See sich unsrer Flagge freut!
Hurra, der Lotse brav,
Der sie zuerst heut traf!
Hurra, der Fischer, der
Sich rudernd wagt auf Fjord und Meer!
Hurra, im Schaerenkranz
Die Kueste unsres Lands!
HALFDAN KJERULF [Symbol: gestorben]
(1868)
Hart griff der Winter die jungfrohe Kraft,
Doch er griff fehl. Der lenzfrische Saft
Rettete sich in dem leidenden Stamme.
Hochsommer bracht' ihm der Bluetezeit Flamme,
Spaetherbst gab reifender Fruechte Prangen,--
Wenige, doch suess und mit rosigen Wangen.
Sein ward die Frucht--und wird ewig gesaet,
Da, wo man ewig im Sommer steht.
Er allein fand
Leidengebeugt sich an Todesstroms Rand.
Weiter kaempft' er mit Winter und Eis,
Kaempft' um den Sommer, des Saengers Preis,
Kaempfte im Sinken, noch demuetig schoen
In bruenstigem Flehn.
Hat ihn der Sommer auch wirklich gefaellt,--
Jetzt, da man's erntet, das goldene Korn,
Hat er gesiegt; unter Jagdruf und Horn,
Einzugsfeier er haelt.
Er ist der Dichtkunst maechtiges Bild.
Winterlich herb und doch sommerlich mild.
Gleichwie die Luefte in zitterndem Schein,
Rosige Gipfel und laubfrischer Hain,
Baeche, die blumige Wiesen durchgleiten,
Klingen und spielen in Sonnenlichts Saiten,
So soll die Dichtkunst erstehen aufs neu',--
Bleibt sie, selbst fallend, der Sache nur treu,--
Maechtig sich dehnen,
_Bald ist hier Sommer mit Sommers Sehnen._
VORWAERTS
"Vorwaerts! vorwaerts!"
Scholl der Ahnen Losungswort.
"Vorwaerts! vorwaerts!"
Pflanzen wir den Schlachtruf fort!
Was die Sinne flammen, die Herzen glauben heisst,
Auch uns, die Enkel, vorwaerts reisst
In ihrem Geist.
"Vorwaerts! vorwaerts!"
Wer gern haust als freier Mann.
"Vorwaerts! vorwaerts!"
Freiheit ewiglich voran!
Was sie auch an Leiden und Opfern kosten mag,
Wer weiss noch vom empfangnen Schlag
Am Siegestag?
"Vorwaerts! vorwaerts!"
Wer da traut des Volkes Kraft.
"Vorwaerts! vorwaerts!"
Wer am Werk der Vaeter schafft.
Schaetze schlafen tief noch in nordischer Berge Schoss:
Die lege treuer Spatenstoss
Von neuem bloss!
WIE MAN SICH FAND
(Zum Studententag 1869)
Traeume, die zu Traeumen draengen,
Finden bald ihr Reich;
Herzen, die sich suchen, sprengen
Alles lenzstrahlgleich.
Und je tiefre Leiden binden
Ihren jungen Drang,
Desto heller beim Sichfinden
Braust der Jubelsang.
Jeder von den Hochgemuten
Spornt zwar hundert an,
Doch wenn tausend auch verbluten,
Waer's doch nicht getan.
Nein, erst wenn der Volkslenz brausend
Stuermt durch Wald und Land,
Weckend all die Hunderttausend,--
Dann erst man sich fand.
Heil nun Norges jungem Tage,
Fern in Dunst versteckt.
Mit dem Daemmergrauen jage
Weg, was uns erschreckt.
Und des Schlachthorns hohle Lieder,
Traenen, Schmach und Blut,
Die beseelten immer wieder
Uns erst recht mit Mut.
Aus des Volkes Geist und Werken
Waechst er Tag fuer Tag,
Niederlagen ihn nur staerken
Zum Entscheidungsschlag.
Fruehlingsahnen ist entglommen,
Spricht das Jubelwort
Von dem Lenz, der einst wird kommen,
Heil dir, Volk im Nord!
NORWEGISCHE NATUR
(Auf Ringerike waehrend des Studententages 1869)
Wohlauf, ihr Wanderer, singt,
Von Norges Herrlichkeit umringt!
Lasst stille den Ton sich ranken,
Wie Farben vorueberschwanken
Zu Fjord und Strand, Gebirg und Flur
Und Wald im Borne der Natur.
Die Glut in des Volkes Drang,
Die tiefe Kraft in seinem Sang,
Hier hebt sie zu dir die Augen,
Um deine Schoenheit zu saugen,
Und dass du dich vor ihr enthuellt,
Dankt dir ein Blick, von Lieb' erfuellt.
Hier kam die Geschichte zur Welt,
Hier traeumte Halvdan als ein Held.
Er sah in Nebelgestalten
Das ganze Reich sich entfalten,
Und _Nore_ stand und gab ihm Mut,
Und in die Weite wies die Flut.
Hier fuehre des Liedes Chor
Der Heimat ganzes Bild uns vor!
Es brause der Sturm in der Stille;
Ins Milde soll dringen der Wille:
Wenn sich das Land zusammenschart,
Erkennt ein jeder unsre Art.
Was immer als erstes sie will,
Sind hundert Haefen im April.
Da hebt sich das Herz zum Gotte,
Wenn Anker lichtet die Flotte;
Norges Gebete segeln fort
Mit sechzigtausend Mann an Bord.
Schau' felsigen Kuestenhang
Mit Moewen, Walen, Platz zum Fang,
Fahrzeugen im Inselschutze,
Doch Boten im Wogentrutze
Und Garn im Fjord, Schleppnetz im Sund--
Von Rogen weiss den ganzen Grund.
Im wilden Lofotenschwarm
Umschlingt den Fels der Meeresarm;
Die Hoehen haelt Nebel umzogen,
Doch am Fusse keuchen die Wogen,
Und alles dunkelt, schreckt und droht;
Jedoch im Strudel Boot an Boot.
Den Eismeerfahrer dort schau'
Hinziehn durch Schnee und Daemmergrau.
Laut schallen Kommandoworte;
Durchs Eis wird gebrochen die Pforte,
Und Schuss auf Schuss die Seehundsjagd,
Doch Leib und Seele unverzagt.
Dann kommen wird abends zu Gast,
Wo das Gebirgsvolk weilt zur Rast,
Wo Kuehe man melkt auf den Matten
In des draeuenden Felshangs Schatten,
Wo sehnsuchtsbangem Fragelaut
Natur die Antwort anvertraut.
Doch muessen wir weiter im Flug;
Denn unser wartet noch genug,--
Das Bergwerk, drin Erze wuchten,
Die Renntierjagd in den Schluchten,
Der schaeumend weisse Strom, der stolz
Zu Tale traegt des Floessers Holz.
Und weilen wir wieder hier,
Die breiten Doerfer lieben wir,
Wo Bauern in treuem Walten
Hoch unsere Ehre halten;
Von ihrer Ahnen Glanz umloht
War unsres Aufgangs Morgenrot.
Wohlauf, ihr Wanderer, singt,
Von Norges Herrlichkeit umringt!
Uns leiht unser Wirken Fluegel,
Es gruesst uns die Vorzeit vom Huegel,
Und unsre Zukunft werd' erbaut
So stark wie Gott, dem sie vertraut.
ICH REISTE VORUEBER
--Ich reiste vorueber im Morgenrot:
Lautlos ein Hof noch im Lichte ruht,
Und wie die Scheiben brennen in Blut,
Loht auf in der Seele erloschene Glut:--
In Fruehjahrsstunden
Dort war ich gebunden
Von laechelnden Lippen und feinen Haenden,
Und das Laecheln musste in Traenen enden.
Lang, bis der Hof meinem Blicke entschwand,
Schaut' ich hinueber, unverwandt.
Alles Vergangne erglaenzte rein,
Alles Vergessne ward wieder mein:--
Gedanken wandern
Nun auch zu andern
Fruehlingstagen, und Wonnen und Fehle
Wogen vor und zurueck in der Seele.
Freudvoll damals und freudvoll nun,
Schmerzen damals und Schmerzen nun.
Sonne im Tau: wie das funkelt und weint--
Traenen und Laecheln verklaert und vereint.
Wenn Erinnerungswellen
Flutend erst schwellen
Ueber die Seele und ebben dann wieder,
Gruent sie und sprengt die Knospen der Lieder.
MEIN GELEIT
Durch strahlende Wonnen fahr' ich heut
In Sonntagsstille mit Glockengelaeut.
Die Sonne, vom Saatfeld bis zu den Muecken,
Will alles alliebend, allsegnend begluecken.
Ich sehe das Volk in die Kirche wallen,
Hoer' Psalmen aus offener Pforte hallen.--
Sei froehlich! Nicht mir nur galt dein Gruss,
Wenngleich du's nicht merktest mit eiligem Fuss.
Ich habe das herrlichste Reisegeleit--
Zwar birgt es sich listig von Zeit zu Zeit;
Doch sahst du mich Sonntagsfreude bekunden,
So war's, weil mehrere mit mir verbunden,
Und hoertest du meinen gedaempften Gesang,
Sie sassen schaukelnd in jedem Klang.
Mir folgt eine Seele von solcher Macht,
Dass alles sie mir zum Opfer gebracht;
Ja, sie, die lachte, wenn umschlug mein Nachen,
Die nicht gebebt vorm Gewitterkrachen,
In deren weissen Arm ich geruht,
Erwaermt von des Lebens und Glaubens Glut.
Seht, hierin bin ich von Schneckenart:
Ich nehme das Haus mit auf die Fahrt,
Und wer da glaubt, dass die Buerde mich druecke,
Der sollte nur wissen, wie hold es begluecke,
Ein Obdach zu finden, wo himmlisch klar
Sie steht unter lachender Kinderschar.
Kein Denken, kein Dichten hat je ersonnen
So hohe Woelbung, so tiefen Bronnen,
Wie von der himmlischen Liebe der Schein
Hinabdringt bis in die Wiege hinein.
Nie leuchtet und taut dir die Seele so lind,
Wie wenn mit Gebeten du wiegst dein Kind.
Wer nimmer die Liebe gekannt fuer das Kleine,
Dem winkt nicht die grosse, die allgemeine.
Wer nicht sein eigenes Haus kann baun,
Wird auch seine Tuerme zertruemmert einst schaun;
Und zwingt er ganz Europa ins Joch,
Stirbt einsam er auf Sankt Helena doch.
Erbau' dir nur selbst eine Zufluchtsstaette;
Dann weiss auch dein Naechster, wohin er sich rette.
Obwohl von Kindern und Frauen geschaffen,
Birgt diese Festung so starke Waffen,
Dass heil sie bleibt in Kampf und Gefahr
Und Mut verleiht einer ganzen Schar.
Ein einzelnes Heim trug oft ein Land,
Wenn dessen Retter es ausgesandt,
Und wieder viel tausend Heime trug
Das Land erloest aus dem Kriegeszug;
So traegt es auch auf des Friedens Wegen
Den Pulsschlag des Heims in emsigem Regen.
Trotz all dem Feinen im fremden Duft,
Ganz lauter allein ist die Heimatluft.
Nur dort stellt kindliche Wahrheit sich ein
Und wird von der Stirn dir gekuesst der Schein.
Zur Heimat dort oben stehn offen die Tueren;
Denn von dorten kam's, und dahin wird es fuehren.
Du Kirchenpilger, drum freue dich;
Du betest fuer deine, fuer meine ich;
Denn das Gebet laesst uns aufwaerts wandern
Ein Stueck von dem einen Heim zum andern.--
Ihr bieget hinein; im Weiterwallen
Hoer' ich den Psalm aus der Pforte hallen.--
Sei froehlich! Nicht mir nur gilt dein Gruss,
Wenngleich du's nicht merktest mit eiligem Fuss.
AN MEINEN VATER
(Als er Abschied nahm)
Unser Geschlecht sah einstmals stolze Tage.
Noch in geraeumigen Weilern und auf breiten
Gehoeften sitzt es; doch in harten Zeiten
Ward _unser_ Zweig gebeugt in andre Lage.
Nun reckt er wieder sich zum Licht empor,
Und frische Knospen spriessen draus hervor:
Du staerktest ihn; dein Abend sieht aufs neue
Ihn bluehn, gelabt vom Quickborn deiner Treue.
Wie das Geschlecht sich ausruht, um zu steigen
In seines Wesens Tiefe, still geschaeftig
Dort einzusaugen, was erloesungskraeftig
Die reichen Gaben aufweckt, die sein eigen--
So konnt' ich fuehlen noch in dir die Spur
Der dumpfen, ungezuegelten Natur;
Sie war so stark, dass ihre dunklen Maechte
Fortwirken bis zum spaetesten Geschlechte.
Ein Funke fiel hinein vom warmen Herzen
Der Mutter, und der Bund, der euch beglueckte,
Wird, wie er segnend euer Alter schmueckte,
Noch leuchten nach dem Tod mit hellen Kerzen.
Wenn unser Volk einst recht versteht das Bild
Der Heimat, der mein ganzes Dichten gilt,
Des Glaubens und der Liebe stilles Walten,
Dann soll's auch euch fuer immer lieb behalten.
Wird Norges Bauer, wie ich ihn beschrieben
Aus Sagas oder bei des Pfluges Lenken,
Genannt,--muss, Vater, man auch dein gedenken:
Ich ahnt' ihn nur, weil dich ich lieben durfte.
Und wenn das treue Weib, das ich gemalt,
Mit wackrem Mut, von Glaubensglanz umstrahlt,
Von Fraun genannt wird, mag es leicht geschehen,
Dass meine gute Mutter sie erspaehen.
Und nun in Abendrast moegt ihr verweilen
Nach schwerem Tagwerk und nach manchen Plagen,
Moegt euch erzaehlen von entschwundnen Tagen,
Von manchem mueden Schritt die tausend Meilen--
Wie ueber Winterschnee der Sonnenschein
Blickt euch ins Fenster freudiger Dank herein,
Umwebend einstiges Leid mit goldner Huelle,
Und Leben quillt euch aus des Glaubens Fuelle.
Doch niemand ist, der waermer fuer euch betet
Als euer Sohn, den ihr in Angst und Beben
Gehegt vom ersten leisen Fluegelheben,
Fuer dessen Wohl zu Gott ihr taeglich flehtet.
Wisst, wenn das Blut zu wild mir schoss durchs Hirn,
War mir, als ruehrten Haende meine Stirn;
Und pochte Reue still an meine Schlaefen,
War mir, als ob wir uns beim Hoechsten traefen.
Seht, deshalb bitt' ich Gott, mir Kraft zu senden
(Fuers Leben werden wir uns neu begegnen,
Und Scherz wird Hoffnung und Erinnrung segnen),
Um einen heitern Abend euch zu spenden!
O lass die Enkel, wenn dein Arm sie haelt,
Im Abend schaun die morgendliche Welt!
So wird einst troestlich ihnen noch im Sterben
Das Morgenrot die blassen Haeupter faerben.
AN ERIKA LIE
Wer in Toene baende
Nordische Gelaende,
Zeigte nicht nur rauhe Bergeswaende,
Nein, auch ebne Auen,
Die gen Morgengrauen
Glitzerperlen frisch betauen.
Waelder, traumumflogen,
Die in schweren Bogen
Wie ein Meer das Glommental durchwogen,--
Lieblich gruene Weiten,
Die von allen Seiten
Leicht und licht zusammengleiten.
All den feinen, klaren
Reiz uns offenbaren
--Nordlands sonnbeglaenzte Vogelscharen.
Und die Purpurspende
Ferner Nordlichtbraende--
Sieh, das muessen Maedchenhaende.
Deine Haende schlagen
Toene an und jagen
Bilder auf aus langentschwundnen Tagen,
Die in Sehnsuchtstiefen
Unsrer Dichtkunst schliefen,
Bis dann deine Haende wach sie riefen.
Bald in leichten Ringen
Sehn wir blinkend schwingen
Funken, die aus Vaters Frohsinn springen;
Bald erhabnes Schauern,
Heiliges Bedauern
Aus der Mutter Wehmutsauge trauern.
Kinderseele, klinge
Reingestimmt und dringe
Glaeubig durch das Sein und alle Dinge,
Rein wie Melodien,
Festsaalharmonien
Dich, du Kind des Glommentals, umziehen.
AN JOHAN SVERDRUP
Nicht war's zu rauhem Kriegeswerke,
Dass deines Namens Wunderstaerke
Ich mir zum Losungswort erkor.
Kein Gassenkampf kraenkt unser Ohr!
Soll denn der Dichtkunst Opferhain
Gefeit vor Meuchelmord nicht bleiben,--
Ist das das Neue, was sie treiben,
Dann mag ich nicht der ihre sein.
Dann sage ich, wie Ejnar sagte,
Als er um seinen Koenig klagte
Und Harald mit Verheerung droht':
"Ich folge eher Magnus tot
Als Harald lebend;--" ja fuerwahr,
Dann mache ich mein Langschiff klar.
Auch darum senkte nicht vor dir
Mein Lied sein flatterndes Panier,
Weil ich bei dir Erloesung waehnte
Fuer alles, was mein Herz ersehnte.
Nein, wo die _groessten_ Fragen brennen,
Da eben ist's, wo wir uns trennen--
Von des Gedankens Ursprung an,
Bis er sich formt zu Ziel und Plan.
Ich steh' auf Kinderglaubens Grund--
Er muss dem Volk die Freiheit geben,
Durch ihn kann es nach Gleichheit streben,
Nach freier Bruedervoelker Bund.
Wohl heissest du gleich mir ein _Christ_,
Doch ist die Kluft so tief geblieben,
So tief, wie wir _verschieden_ lieben
Dies Land, das uns _gleich_ teuer ist.
Heut moegen wir am Sieg uns freun,--
Das Morgen wird uns neu entzwein.
Doch darum dich mein Sang erkor,
Weil eben das, was uns _jetzt_ gilt,
Von allen dich am staerksten fuellt,
Du haeltst im Kampf es hoch empor.
Wenn graue Nebel uns umschlingen,
Nach Licht das truebe Auge lechzt,
Die Erde schlummermuede aechzt,
Und aengstlich wir nach Atem ringen,--
Dann weicht von dir die Erdenschwere,
Dann regt dein Geist die Donnerfluegel,
Dann packt dein Blitz die Wolkenheere,
Und sonnenklar stehn Berg und Huegel.
Du bist der frische Regenguss
In unsres Alltags traegem Muss;
Du bist die Salzflut, die so wild
In unsre schwuelen Fjorde quillt.
Dein Wort bricht durch wie Bergmannsgaenge,
Wo Erz erglaenzt in Felsenenge;
In deines Seherauges Flammen
Schmilzt Einst und Jetzt in eins zusammen.
Solang' du Sverres Klinge schlaegst,
Macht sie dein Schlachtenhorn erzittern;
Solang' wir dich als Fuehrer wittern,
Du Sieg auf Sieg von hinnen traegst.
Sie weichen unter deinen Hieben,
Verkriechen sich in scheuer Kluft,
Doch frei in des Gedankens Luft
Ist unversehrt dein Haupt geblieben.
Wir lieben deinen Loewenmut,
Der vor der Fahne kaempft voll Glut,
Die Faehigkeit, die unverzagt
Den eignen Stahl zu schmieden wagt,
Die wachsame Verwegenheit
In Not, Verachtung, Krankheit, Leid.
Wir lieben dich, weil alles du
Hingabst fuer uns--Ruhm, Zukunft, Ruh;
Wir lieben dich trotz Hass und Groll:
Du glaubtest an uns allezeit.
Wer wagt's, noch rueckwaerts jetzt zu zeigen?
Nein, aufwaerts Jahr fuer Jahr wir steigen,
Aufwaerts in Freiheit und in Sang
Und froh-norwegischem Eigenleben;
Wer wagt es noch, zu widerstreben
Befreitem hundertjaehrigen Drang?
Kein Zwiespalt mehr um Recht und Macht;
Ob Kriegstumult, ob Friedensstille,
Nur _einer_ Freiheit Ehrenwacht,
_Ein Volk nur und ein einziger Wille._
Der Geist, dem unsres Morgens Graun
Den Traum von freien Goettern brachte,
Der gross von allem Grossen dachte,
Wird nimmer dem Unechten traun.
Der Geist, der Wikingschiffe baute,
Als er dem Koenigswort misstraute,--
Der sich, bedroht, gen Island schwang
Auf Heldenruf und Heldensang,
Im Sturm dann Land und Zeiten nahm,--
_Den_ macht ihr nicht so leicht mehr zahm.
Der Geist, dem einst am Hjoerungsunde
Schlug langersehnter Freiheit Stunde,
Der keines Koenigs Macht gescheut,
Der selbst dem Papstspruch Trotz noch beut,
Der selbst in seiner Schwachheit Stunde
Frei sass auf freier Vaeter Grunde,
Und sich gewehrt mit Mund und Hand,
Wo fremdes Herrentum ihn band,--
Der Wessel fuehrte Hand und Degen,
Der Holbergs Witz zu wetzen wagte
Und der Gedanken Funkenregen
Aus stillem Schlot gen Ejdsvold jagte,--
Der durch des Glaubens Machtgebot
Die Bruecke _ueber_ Odin spannte
Im Baldurmythus auf zu Gott,--
Der Geist, der sich aus tiefem Dunkel
Zu Gimles Klarheit durchgerungen,
Als Papstesspruch wie Moenchsgemunkel
Ihm allerwaerts den Weg verrannte,--
Und abermals dann Brueckenbogen
Zu sonnigen Freiheitshoehn gezogen,
So dass, als rings fuer Luthers Lehre
Des Schlachtfelds Opfer blutig rauchte,
Im Norden, an der Freiheit Wehre,
Nur eine Wand zu fallen brauchte,--
Der Geist, der auch die finstern Stunden,
Da man den Glauben abgeschafft,
Durch Brun und Hauge ueberwunden,
Und der mit unbeirrter Kraft
In pietistischer Nebelnacht
Bei Kerzenschein am Altar wacht,----
Glaubt ihr, den bringt man in die Mode
Durch die neumodische Synode?
Der liesse sich in Stuecke feilen
Und in politische "Kammern" teilen,
Der liesse sich wie Schmugglerwaren
Ueber die Grenze heimlich fahren?
Und _eben jetzt_, da auf den Hoehen
Die Feuerzeichen flammend rauchen,
Da Schulen fuer das Volk erstehen
Und nicht um Platz zu kaempfen brauchen,
Wo Mut und Sinne sich verjuengen,
Dieweil wir hoeren, glauben, singen;--
Jetzt, da mit dumpfen Wetters Macht
Sich Wellen aus der Tiefe heben,
Und drueber hell wie Nordlichtpracht
Der Jugend Sehnsuchtrufe schweben,--
Jetzt, da der Geist allueberall
Die alte, starre Form verschmaehte,
Wo schmetternd mit der Kriegsdrommete
Der junge Wille stuermt den Wall!
Kampfgrosse Zeit! Und wir mittinnen!
Der Erde Groesstes ist's: zu sein,
Wo Kraefte gaerend sich befrein
Und Formen und Gestalt gewinnen;
Von eignen Feuers Ueberfluss
Zu opfern fuer den grossen Guss,
Den Abdruck seiner eignen Form
Zu sehn als der Geschlechter Norm,--
Zu hauchen in den Mund der Zeit
Den Geist, den Gott in uns geweiht.
* * *
Das war's, was ich dir sagen musste,--
Just dir, der wach zu jeder Frist
Die Werkstatt seiner Zeit durchmisst
Und stets, was kommen wuerde, wusste;
Dir, der des Volkes Herz geweiht
Zu diesem neuen Freiheitsleben,--
Und dem dies Volk dafuer gegeben
Sein Schoepfertum samt seinem Leid.
DAS KIND IN UNSRER SEELE
Zum Herrn im Himmelsraume
Blickt auf ein Knabe unschuldstraut,
Wie wenn zum Weihnachtsbaume,
Ins Mutteraug' er schaut.
Doch schon im Sturm der Juenglingsbahn
Trifft ihn der Edenschlange Zahn,
Und seines Glaubens Schranken,
Sie wanken.
Da winkt voll Sonnenschimmer
Sein Kindertraum im Myrtenkranz;
Im Liebesblick malt immer
Sich frommer Himmelsglanz.
Wie einst im Mutterarm so gern,
Preist wieder stammelnd er den Herrn
Und loest sein betend Sehnen
In Traenen.
Wenn dann zum Lebensstreite
Er zweifelnd eilt in jaehem Lauf,
Steht laechelnd ihm zur Seite
Sein Kind und weist hinauf.
Mit Kindern wird er wieder Kind;
Wohin sein Herz auch traegt der Wind,
Gebet wird ihn vereinen
Den Seinen.
Der groesste Mann auf Erden,
Das Kind in sich verlier' er nicht,
Und selbst in Sturmbeschwerden
Erlausch' er, was es spricht!
Oft, wenn ein Kaempe fiel mit Scham,
Das Kind war's, das als Retter kam;
Es laesst von allen Wunden
Gesunden.
Was Grosses ward ersonnen,
Ist Werk des Kinderfreudenstrahls;
Was Starkes ward gesponnen,
Das Kind in uns befahl's.
Was schoenheitsvoll in Herzen fiel,
Lebt in des Kindes Unschuldspiel,
Und Klugheit vollgewichtig
Wird nichtig.
Wohl dem, der sich hienieden
Wert zeigt, im eignen Heim zu ruhn;
Denn dieses nur gibt Frieden
Des Kindes mildem Tun.
Uns alle, die des Lebens Schlacht
Verhaertet hat und mued' gemacht,
Wird Kinderlachens Toenen
Versoehnen.
DER ALTE HELTBERG
Ich besucht' eine Schule--klein, doch geziert
Mit allem, was Kirche und Staat approbiert.
Sie drehte sich fuegsam und honett
In der Staatsmaschine, freilich mit Knarren,
Denn geschmiert wurde selten mit Geistesfett.
Jedoch eine andre gab's dort mit nichten:
Und so mussten wir denn ins Geschirr vor den Karren,
Aber statt zu ziehn--las ich Snorres Geschichten.
Dieselben Buecher, dieselben Gedanken,
Die der Lehrer pflichtschuldigst jahraus, jahrein
In die Koepfe paukt ohne Wanken und Schwanken,
--Denn dies befohlne System allein
Bringt das Amt, nach dem Lehrer wie Schueler nur zielen!--
Dieselben Buecher, dieselben Gedanken,
Die einen machen aus noch so vielen,
Der auf einem Bein seine Lektion absurrt,
Der Tausendsassa, wie ein Ankertau schnurrt!--
Dieselben Buecher, dieselben Gedanken
Von Mandal bis Hammerfest--(ja, wie mit Planken
Umschliesst uns der Staatspferch, darin alle feinen,
Korrekten Leute dasselbe stets meinen!)Die
naemlichen Buecher, die gleichen Gedanken
Sollt' ich schlucken; doch mir widert' der Brei,
Ich trotzt' mit der Schuessel und machte mich frei,
Froh ueberhuepfend der Heimat Schranken.
Was mir draussen begegnet und was ich dachte,
Was die neue Staette mir Neues brachte,
Wo die Zukunft lag,--darauf will ich verzichten,
Um von der "Studentenfabrik" zu berichten.
Baertige Gesellen, oft ueber die Dreissig,
Auf jedes Wort hungrig, bueffelten fleissig
Neben mausigen Buerschlein von siebzehn Jahren,
Die sorglos naerrisch wie Spatzen waren;--
Teerjacken, einst ins Abenteuerland
Keck aus der Schule durchgebrannt,
Dann reuig wieder und sehr erpicht,
Die Welt nun zu sehen im Weisheitslicht;--
Fallierte Kaufleute, die hinterm Pult
Mit den Buechern liebelten, bis die Geduld
Ihrer Glaeubiger riss, und auf Pump jetzt studierten;--
Salonloewen, faule, die hier noch sich zierten!--
Junge, halb ausgebackne Juristen
Und predigtluesterne Seminaristen;--
Kadetten mit Schaeden an Arm oder Bein,
Bauern, denen 's Lernen fiel allzuspaet ein:--
Was andre in fuenf Jahren nicht verschlingen
An Latein, in knapp zweien wollten sie's zwingen.--
Sie hingen ueber die Baenke, lehnten gegen die Wand,
Ein Paar hockt' in jedem Fenster, einer pruefte just am Rand
Eines tintenklecksigen Pultes, ob denn sein Messer schneide.
So fuellten sie die zwei Stuben, zum Brechen voll beide.
Lang und hager, im Halbtraum, auf der aeussersten Linie
Sass vor sich hinbruetend A.O. Vinje.
Angespannt und mager, die Gesichtsfarbe gipsen,
Hinterm kohlschwarz-unmenschlichen Bart Henrik Ibsen.
Ich, der juengste, war damals noch nicht von der Partie,
Bis ein neuer Schub einrueckte mit Jonas Lie.
Doch der Alte, der wackre Chef in dem Loch,
Heltberg war von allen der schnurrigste doch!
In Pelzstiefeln stand er, in Hundefell dicht
Vermummt (denn es beugten ihn Asthma und Gicht,
Den Riesen), doch barg uns die Pelzmuetze nicht
Seine Stirne, das klassische Adlergesicht.
Nun schmerzgekruemmt, nun besiegend, was widrig,
Warf er starke Gedanken--und er warf sie nicht niedrig.
Kam der Schmerz unbaendig und stiess zusammen
Mit dem starken Willen, der Sturm dann lief
Gen den Anfall, sahn wir sein Auge flammen
Und die Haende sich ballen, als schaemt' er sich tief
Jeder Schwachheit. Wie uns da entgegenschlug
Das Grosse im Kampfe! Und jeder trug
Ein Bild mit sich fort jener stuermischen Zeiten,
Da durchs Land gebraust Wergelands wilde Jagd,
Welch ein Spiel der Kraefte im Toben und Streiten.
In der Kraft welch ein Wille unverzagt!
Nun stand er verlassen, der einzige noch,
Vergessen in seinem Winkel--und war ein Haeuptling doch!
Los sprengt' er den Gedanken aus der Schule Zwang und Zucht,
Sein Eigen war die Lehre, seine Fuehrung Geistesflucht,
Persoenlich all sein Wesen: hoechst ungeniert-anarchisch
Risch rasch! ging's in den Text; doch absolut monarchisch
War sein Grimm ueber Fehler;--zwar legte er sich bald
Oder stieg zu einem Pathos von edelster Gestalt,
Das in Selbstverhoehnung sich loeste wieder
Und als Spottregen prasselt' auf uns hernieder.--
So fuehrt' er seine "Horde", so ward im Flug durchbraust
Das klassisch schoene Land,--wo wir verdammt gehaust!
Entsetzt standen Cicero, Virgil und Sallust
Auf dem Forum und im Tempel, rasten wir Wilden just
Vorueber: Hie Tor, hie Odin! ein zweiter Gotenzug,
Der Jupiters Lateiner und die ewige Roma schlug.
Und es war des Alten Grammatik ein Hammer von Zwergen geschweisst,
Wenn er ihn schwang, da spruehte Flammen der nordische Geist.
Doch die neue Barbarenhorde, die hinter ihm jagte dahin,
In Rom sich niederzulassen, hatten sie nicht im Sinn.
Sie wurden nicht "Lateiner", nicht fremden Denkens Knecht,
Sie lernten sich selber kennen auf der Fahrt als Herrengeschlecht.
Des Denkens hohe Gesetze erwies er uns am Worte,
Zu Wundern und zu Taten erschloss er uns die Pforte
Und schaerft' uns, zu erobern, zu stuermen, den Mut,
Was unberuehrt gestanden in altersheiliger Hut.
Als schauten wir Gesichte, in atemloser Haft
Hielt uns des Alten Lehre und mehrte unsre Kraft.
Seine Bilder gaben Nahrung dem jungen Schoepferdrang,
Sein Witz war Staerkeprobe und staehlte zum Waffengang;
Seine Macht war uns die Wage, die Kleines von Grossem schied,
Sein Pathos zeugte vom Kampfe, der im Verborgnen glueht!
Wie sehnte der kranke Kaempe sich aus dem Winkel vor,
Nur einmal der Welt zu zeigen, was sie an ihm verlor,
Wenn er von seinem Besten nur wenigen Schuelern gab.
Tagtaeglich hisst' er die Segel, doch niemals stiess er ab.
Seine Grammatik erschien nicht! Er selbst ging in das Land,
Wo man des Denkens Gesetze nicht mehr in Buecher bannt.
Seine Grammatik erschien nicht! Aber ein Lebenswort,
Bedurft' es der Druckerschwaerze? Es dauerte schaffend fort!
Aus seiner Seele stroemt' es so maechtig, so warm,
Das Leben von tausend Buechern, wie scheint es dagegen arm!
In einer Schar von Maennern, selbstaendig und stark,
Lebt weiter, was ihrem Denken Halt verliehn und Mark.
In der Schule und in der Kirche entfalten sie ihr Wirken,
Im Tingsaal und vor den Schranken, in allen Geistesbezirken,--
Und immer behaelt ihr Walten einen freien, starken Zug,
Seit Heltberg ihre Jugend in reinere Hoehen trug.
FUER DIE VERWUNDETEN
(1871)
Ein stiller Zug bewegt
Sich durch des Kampfs Getoese,
Das Kreuz am Arm er traegt.
Sein Flehn in tausend Zungen klingt,
Und den gefallnen Kriegern
Er Friedenskunde bringt.
Nicht nur auf blutigem Feld
Des Kriegs ist er zu Hause,--
Nein, in der ganzen Welt.
Was in der Welt an Liebe glueht
Aus edlen, guten Herzen,
Andaechtig-still hier kniet.
Es ist der Arbeit Scheu
Vor Kriegesmord, die betet
Um Schutz vor Barbarei,
's sind alle, die das Leid durchwuehlt,
Die ihrer Brueder Qualen
Je seufzend mitgefuehlt.
Es ist das Schmerzgestoehn
Der Kranken und der Wunden,
Der Christen frommes Flehn,
Ist der Verlassnen bleiche Qual,
Ist der Bedrueckten Klage,
Der Toten Hoffnungsstrahl;--
Der Wolken Nacht durchbricht
Als Friedensregenbogen
Des Heilands Glaubenslicht:
Dass ueber Leidenschaft und Streit
Die Liebe triumphiere,
So wie Er prophezeit.
LAND IN SICHT
Und das war Olav Trygvason,
Den sein Kiel durch die Nordsee trug
Heimwaerts zu seinem jungen Reiche,
Wo noch kein Herz fuer ihn schlug.
Scharf spaeht' er aus nach dem Lande:
Dort--sind das Mauern am Meeresrande?
Und das war Olav Trygvason;
Wallgleich hob es sich himmelan;
All seine jungen Koenigswuensche
Wollten zerschellen daran,--
Bis ein Skald, wo der Nebel braute,
Tuerme und blasse Zinnen erschaute.
Und das war Olav Trygvason,
Deucht' ihn nun selbst, dort stiegen auf
Altersgrau ragende Tempelmauern,
Schneeweisse Kuppeln darauf.
Sehnt' er sich, wie sie herueber sehen,
Mit seinem jungen Glauben darinnen zu stehen.
AN H.C. ANDERSEN
(Bei einem Sommerfeste zu seinen Ehren, Kristiania 1871)
Willkommen hier am lichten Sommertag,
Da Kindertraeume heimisch uns geworden
Und bluehen, singen, spiegeln, schweben, fliehn;
Den sie umziehn,
Ein Maerchen ist nun unser hoher Norden
Und nimmt dich an sein Herz zum Weihebund,
Und danket, jubelt, fluestert Mund zu Mund.
Und Engelslaut
Von Kinderherzen traut
Traegt dich empor fuer kurze Frist,
Wo unsrer Traeume Born und Ursprung ist.
Willkommen! Unser ganzes Volk ist jung
Und steht im Maerchenalter noch, dem schoenen,
Das traeumend eine Zukunft wirken kann.
Der geht voran,
Der fuegsam hoert den Ruf des Herrn ertoenen.
Wer Kindes Sehnsucht so wie du verstand,
Botschaft vom Groessten bringt er unserm Land:
Der Zauberstab,
Den Phantasie dir gab,
Hat spielend uns den Weg befreit,
Den wir entgegenwandeln grosser Zeit.
BEI EINER EHEFRAU TODE
Sie kannte des Todes Auge seit jenem dunklen Tag,
Da ihr der Erstgeborne entseelt zu Fuessen lag;
Und als sie's rief zur Mutter, zur fernen, die verschied,
Da folgte ihr dies Auge mit unbewegtem Lid;
Ihr ahnte, als am Grabe sie stand im Trauerflor:
Jetzt trifft es mehr als Einen, jetzt, Leben, sieh dich vor!
Und als ihr Gatte umsank, der starke Mann, da sprach
Sie schmerzlich: O, ich wusste, das Schwerste kaeme noch nach.
Sie dachte, ihn, ihn haette gewaehlt des Schoepfers Grimm,
Und stemmte ihre Haende wider den Boten schlimm
Und wollte mit ihrem Leibe, schwach wie ein Birkenreis,
Ihn schirmen, ihren Helden--und gab sich selbst so preis.
Sie laechelte so selig: ihr Urteil war gefaellt,
Ihr Opfer angenommen,--gerettet war ihr Held.
Bewundrung, Liebe woelbten ein strahlend Sternenzelt
Von Glueck zu ihren Haeupten in ihrer letzten Stund,
Bis schneeweiss sie entschwebte fort in der Engel Rund.
Es zieht solch eine Liebe wohl bis an Gottes Brust
Die Seelen mit sich, die sie umfaengt voll Opferlust.
AN DER BAHRE DES KIRCHENSAENGERS A. REITAN
(1872)
Sein lachend Auge durfte sich
An Land und Himmel weiden;
Denn beider Bildnis in ihm glich
Den ewigen Jubelfreuden.
Als "Quellchen" sprang
Sein Wort, sein Sang
Durch Taeler gruen und eng und lang,
Und fruchtbar spriesst's am Rande.
Beim armen Volk im Winter dann
Da litt er und da fror er.
Und doch stieg als der frohste Mann
Zur Orgel dann empor er.
"Die Achse, seht,
Um die sich's dreht,
Auch durch das aermste Doerflein geht."
So sang vom hohen Chor er.
Ach, und als Krankheit jahrelang
Kam, um sein Lied zu pruefen,
Und all die Kleinen hilflos bang
Zutraulich nach ihm riefen,
Mit leisem Klang
Dem Staub entrang
Sich Aeolsharfen gleich sein Sang
Den dumpfen Erdentiefen.
Sein Leben sagte uns voraus:
Wenn wir uns Gott ergeben,
Dann wird in Kirche, Schule, Haus
Das Volk im Liede leben:
In Volksgesang,
In Lustgesang,
Im Abglanz von des Herrn Gesang
Hoch ueberm Weltenweben.
Mein Land, o denk der Kleinen auch,
Die er ans Herz dir legte,
Und aermer, als ein Rosenstrauch,
Selbst noch im Sterben pflegte.--
Ein Herz wie er
Darf nimmermehr
Dies Land verlassen freudenleer,
Das er so treulich hegte.
DAS LIED
Das Lied hat Leuchtkraft; drum ueber die grauen
Werktage giesst es Verklaerung hin.
Das Lied hat Waerme; drum laesst es tauen
Den Frost und die Starrheit in deinem Sinn.
Das Lied hat Dauer; drum was vergangen
Und was zukuenftig, es flicht's dir zum Kranz,
Entzuendet in dir unendlich Verlangen
Und bildet ein Lichtmeer von Sehnsucht und Glanz.
Das Lied vereint; denn es laesst entschwinden
Den Misston und Zweifel in strahlendem Gang;
Das Lied vereint; denn es weiss zu verbinden
Kampflustige Kraefte in friedlichem Drang:
Im Drang zur Schoenheit, zur Tat, zum Reinen!
Es laedt uns, zu schreiten auf schimmerndem Steg
Stets hoeher und hoeher, empor zu dem Einen,
Das nur fuer den Glaeubigen oeffnet den Weg.
Die Sehnsucht der Vorzeit im Vorzeitsgesange
Glaenzt wehmutsvoll wie der Abendflor;
Die Sehnsucht der Gegenwart halten im Klange
Wir fest fuer der Zukunft lauschendes Ohr.
Es trifft sich im Liede der Lenz der Geschlechter
Und tummelt sein Leben im toenenden Wort;
Die Geister der Ahnen wie mahnende Waechter,
Sie rauschen heut festlich in jedem Akkord.
AUF N.F.S. GRUNDTVIGS TOD
(1872)
Gleichwie der Urzeit Wala hehr
Aufstieg ueber den Wassern der Sagen,
Kuendend, was Himmel verbarg und Meer,
Dann, wieder sinkend hinabgetragen,
Liess die Kunde zu Lehr' und Ehr'
Spaetesten Tagen:
Also liess uns, der unser war,
Schwindend Gesichte, die nicht entschwanden,
Die noch schweben, leuchtend und klar,
Sonnenwolken ob Meer und Landen,
Unsern Ausblick auf tausend Jahr'
Hell zu umranden.
AUS DER KANTATE FUER N.F.S. GRUNDTVIG
(1872)
Sein Lebenstag, der groesste, den Norden je gekannt,
Der mitternaechtigen Sonne war wunderbar verwandt.
Das Licht, in dem er wirkte, von "Gottes Frieden" war,
Das nimmer untersinket, nie neuen Tag gebar.
Im Licht von Gottes Frieden Geschichte er uns gab,
Als Geistesschritt auf Erden, hoch ueber Zeit und Grab.
Im Licht von Gottes Frieden hat er der Vaeter Bahn,
Zur Warnung und als Beispiel, klar vor euch aufgetan.
Im Licht von Gottes Frieden folgt' er mit Wachsamkeit
Dem Volke, wo es baute, der grossen Geister Streit.
Im Licht von Gottes Frieden Aufklaerungsmacht er sah,--
Wo seinem Wort man glaubte, Volksschulen bluehten da.
Im Licht von Gottes Frieden stand fuer ganz Daenemark
Sein Trost, wie eine Schildburg hellschimmernd, trutzig-stark.
Im Licht von Gottes Frieden erobert werden soll
Verlornes und was brach liegt, mit tausendfachem Zoll.
Im Licht von Gottes Frieden steht heut sein Greisentum
Als Amen seines Lebens voll Manneskraft und Ruhm.
Im Licht von Gottes Frieden, wie strahlte er so rein,
Wenn am Altar er schenkte des Herrn Versoehnungswein.
Im Licht von Gottes Frieden gehn ueber Meer und Land
Die Worte und die Psalmen, die er uns hat gesandt.
Das Licht von Gottes Frieden, sein Sonnenstrahlenhort,
Umglaenzte still sein Leben--: so lebt er in uns fort.
BEI EINEM FEST FUER LUDV. KR. DAA
Junge Freunde im innigen Kreis,
Alte Feinde kommen;
Fuehle dich sicher, denn freundschaftsheiss
Sind dir die Herzen entglommen.
Wieder gab's hier einen ernsten Tag,
Wieder schlugst du mit Reckenschlag:
Jeder bekam wie stets seinen Hieb,
Doch jetzt sei lieb!
Nicht mit Hallo und mit Handschuhen nicht,
Noch mit Sektglasklingen,--
"Alter Forscher", herzenschlicht
Wollen wir Dank dir bringen.
Ziehen die Wasser in stillem Lauf,
Steigt unser Lotse selten hinauf,
Tuermt sie zu Wellen des Sturmes Braus,
Segelt er aus!
--Segelt er aus als Bergungspilot,
(Gekannt ist das Auge des Alten),
Lacht in den Bart, wenn ein Wetter droht
Und zagend die anderen halten.
Dank trug er nicht, das weiss ich, nach Haus;
Denn er schimpfte die Schiffer aus,
Wandte den Ruecken, ging heim voll Kraft,
Das Werk war geschafft!
Er hat erprobt, was es heisst, zu gehn
Gehasst, bis die Wahrheit am Tage;
Er hat erprobt, was es heisst, zu stehn
Nach beiden Seiten dem Schlage.
Er hat erprobt, was es kostet an Leid,
Voranzuschreiten seiner Zeit,
Er, den so Hohes wir wirken sahn,
Ward in Bann getan!
Wirst du nicht, Norge, endlich ihr Recht
Jenen Helden gewaehren,
Die mehr vollbrachten, als beim Gefecht
Nachzuhinken den Heeren?
Soll es denn immer so klaeglich gehn,
Wollen wir stets um das Kleine uns drehn,
Stilliegen, spaehn, bis ein Fehler erkannt?--
Nein, Segel gespannt!
Segel zu groessrer Fahrt gespannt,
Wozu uns die Kraefte gegeben--
Leben, dem Alltag nur zugewandt,
Das ist nicht wert, es zu leben;
Leben, dem hoeheren Kampf geweiht,
In Gottvertrauen und Einigkeit,
Von Ehren und Sangesflagge umweht,--
Seht: das besteht!
NEIN, WO BLEIBST DU DOCH?
(1872)
Nein, wo bleibst du doch, du, der besitzet die Macht,
Zu zertreten dies Luegengezwerg,
Das mein Haus mir umlagert und tueckisch bewacht
Jeden Weg, den zum Ziel ich mir ausgedacht,
Und bricht mir nun ein,
Zu belauern voll Hass
Meinen Sinn, zu entweihn
Mir jedes Gelass
Meines traulichen Heims, wo so harmlos ich sass.
Nein, wo bleibst du doch! Jahrelang hat mich der Tross
Besudelt, dem Volk mich entstellt;
Luegennebel umhuellt meiner Dichtung Schloss,
Als lag' da ein Sumpf, dem der Brodem entfloss,
Und ein Halbtier, ein Faun
Bin ich selbst, den mit Graus
Die "Gebildeten" schaun--
Oder ziehn weidlich aus
Zur Hatz auf den Keiler, zum lustigen Strauss.
Wenn ein Buch ich schreibe, "just sieht es mir gleich";
Wenn ich spreche--ist's Eitelkeit.
Wenn ich zimmre und baue fuers Buehnenreich,
Mein Duenkel nur fuehrt jeden Hammerstreich.
Und schlag' ich mich treu
Fuer altheimische Art
Auf der Vaeter Bastei,
Umtobt und umschart,--
Kaempf' ich nur, weil mit Orden zu sehr man gespart.
Nein, wo bleibst du doch, du, der mit eins kann zerhaun
Dies umstrickende Luegengewirr--
Der verjagt aus den Koepfen dies krankhafte Graun
Vor enschlossenem Wollen, begeistertem Schaun--
Und hat Trost fuer den Mut,
Der in Frost und in Nacht
Seine Waffenpflicht tut
Und die Runde macht,
Bis das Heer sich erhebt, wenn der Tag erwacht.
Komm, Volksgeist, du, gottgeboren--entstammt
Dem riesenbezwingenden Tor.
Fahr auf Donnern einher und von Blitzen umflammt,
Dass die Furcht dies Gezuechte zum Schweigen verdammt;
Du kannst wecken im Land
Die schlummernde Kraft,
Du kannst staerken das Band,
Das in Blutsbruederschaft
Uns eint, wo dein Banner je flattert am Schaft.
Hab' Dank, unser Volksgeist!--denk' ich nur dein,
Wird alles zum Nichts, was ich litt.
Deinem Kommen nur weih' ich mich, dir allein,
Deinem Angesicht beug' ich mich, dein, nur dein,
Und erfleh' einen Sang,
Du liedreicher Mund,
Dass in Not und Drang,
In entscheidender Stund'
Ich dir Kaempen erweck' auf der Vaeter Grund.
WECKRUF AN DAS FREIHEITSVOLK IM NORDEN
Der "vereinigten Linken"
(Tirol 1874)
Verachtet von den Grossen, nur von den Kleinen geliebt,
Den Weg geht alles Neue,--sag', ob's einen andern gibt?
Von denen, die schuetzen sollten, verraten und gehetzt,--
Sag', ob je eine Wahrheit sich anders durchgesetzt?
Anhebt es wie ein Sausen im Korn am Sommertag
Und waechst zu einem Brausen hin ueber Wald und Hag,--
Bis es, vom Meer empfangen, in Donnern rollet fort
Und alles ueberdroehnet, dies Wort, dies Losungswort.
Im Gotenkampfe nordwaerts verschlagen wurden wir;
"Leben in Freiheit und Glauben!" ist unser Volkspanier.
Der Gott, der Land und Sprache und alles hat verliehn:
In Werken, die er uns heischet, in Taten finden wir ihn!
Der Vielen und der Kleinen Pflichteifer soll er sehn,
Kampf gilt es gegen alle, die da nicht wollen verstehn.--
Anhebt es wie ein Sausen im Korn am Sommertag
Und geht nun schon als Brausen hin ueber Wald und Hag.
Es wird zum Sturme wachsen, eh's einer noch erkannt,
Mit Donner in seiner Stimme weit ueber Meer und Land.
Ein Volk, dem Ruf gehorsam, ist der Erde groesste Kraft,
Hat je noch Hoch und Nieder geworfen und hingerafft.
OFFNE WASSER
Offne Wasser, offne Wasser!
Sehnsucht,--bange, winterlange,--
Wird nun gar zum heftigen Drange.
Blaut ein Streifchen kaum im Sunde,
Dehnt zum Monat sich die Stunde.
Offne Wasser, offne Wasser!
Sonne laechelt, nascht vom Eise
Schamlos bald nach Prasserweise.
Laesst sie ab: zur Nacht geschwinde
Trotzig haertet's neu die Rinde.
Offne Wasser, offne Wasser!
Sturm muss her!--er kommt, der Wandrer,
Bringt herauf vom Sommer andrer
Freie Wogen, starke Wellen,--
Krach folgt nach und Sturz und Schnellen.
Offne Wasser, offne Wasser!
Wieder Luft und Berg sich spiegelt,
Schiffen ist die Bahn entriegelt:
Botschaft braust herein von draussen--
Kampffroh steuern wir nach aussen.
Offne Wasser, offne Wasser!
Sonnengluten, kuehlem Regen
Jauchzt die Erde nun entgegen:
Seele toenet mit und zittert--
Neugeschaffen, kraftumwittert.
FREIHEITSLIED
An "die vereinigte Linke"
(1877)
Freiheit! bist der Volkskraft Kind,
Zorn und Sang dir Mutter sind!
Kaempenstark als Junge schon
Rangst du frueh um Kampfeslohn;
Warst umkreist allermeist
Von Gesang und Witz und Geist;
Freudig ist dein Tun, voll Macht
So beim Pflug wie in der Schlacht.
Feinde stets und ueberall
Lauerten auf deinen Fall;
Fanden dich zu grob bei Tag,
Fuehrten, als du schliefst, den Schlag;
Banden sacht dich bei Nacht.
Du sprangst auf,--die Fessel kracht...
Weiter schrittst du froh und stark,
Du hast Schwung und du hast Mark!
Wo du wandelst, blueht der Pfad,
Schwillt aus deinem Mut die Tat,
Facht Gedanken deine Glut:
Doppelst Kraft in Hirn und Blut.
Landesrecht ist dein Knecht;
Selber schufst du's, wahrst es echt.
Nicht durch "wenn" und "ach" beschraenkt,
Faellst du jeden, der es kraenkt.
Freiheitsgott, bist Lichtesgott,--
Nicht der Knechte Schreckensgott,--
Liebe, Gleichheit, Vorwaertsdrang,
Fruehlingsbotschaft saet dein Sang.
Freiheitshort! Friedensport
Winkt den Voelkern durch dein Wort:
"Einer nur ist Herre hier;
Keine Goetter neben mir!"
AN MOLDE
Molde, Molde,
Treu wie ein Sang,
Wogende Rhythmen mit lieben Gedanken,
Farbige Bilder, die spielend sich ranken
Um meines Lebens Gang.
Nichts ist so schwarz, wie dein Fjord, wenn er fauchend
An dir vorbeifegt, meersalzig rauchend,
Nichts ist so sanft, wie dein Strand, deine Inseln,
Ja, deine Inseln!
Nichts ist so stark wie dein bergiger Kranz,
Nichts ist so zart wie der Sommernacht Glanz.
Molde, Molde,
Treu wie ein Sang
Summst du auf meinem Gang.
Molde, Molde,
Blumiger Ort,
Haeuslein im Gaertchen, Freunde dort weilen!
Bin ich auch ferne wohl hundert Meilen,
Steh' ich im Rosenschutz dort.
Heiss brennt die Sonne auf Berglands Weite,
Fort muss der Mann zum ernsten Streite.
Sanft nur die Freunde entgegen mir gehen
Und mich verstehen--
Kampf schlichtet einzig der Tod allein,--
Hier sei dem Denken ein heiliger Hain!
Molde, Molde,
Blumiger Ort,
Kindheiterinnerungs-Hort.
Und wenn einmal
Im letzten Kampf ich liege,
Mein Heimattal,
In deinem tiefen Abendrot
Lag meiner Gedanken Wiege,--
Dort nahe ihnen der Tod.
DIE REINE NORWEGISCHE FLAGGE
I
Dreifarbig reines Panier,
Norwegens schwer errungne Zier!
Tors Eisenhammer haelt
Im Bann das christlich weisse Feld.
Und unser Herzensblut
Stroemt hin als rote Flut.
Hoch ueber der Erdenschwere
Du jubelst, in Sehnsucht, zum Meere;
Der Freiheit Lenzkraft gewaehre
Dir Kraft, uns zu speisen Seele und Mund
Fahr hin uebers Erdenrund!
II
"Die reine Flagge ist Torheit",
So raunen die "Weisen" allhier.
Nein, Poesie ist die Flagge,
Und die Toren, ihr Guten, seid ihr.
Es schwingt in der Poesie sich
Der Volksgeist himmelan,
Als Fuehrer geht die Fahne
Ihm unsichtbar lenkend voran.
Und was er erkaempft und errungen,
Und was ihn an Sorgen bewegt,
Das toent jetzt in ewigen Liedern,
Die Flagge den Takt dazu schlaegt.
Wir halten sie hoch, umbrauset
Von Sehnsucht, meersturmgleich,
Von vollen Erinnerungschoeren,
Von Worten, so fluesternd weich.
Sie kann nicht schwedisch plappern,
Wie ein zierlicher Schwadroneur,
Sie kann sich nicht sperren und spreizen,
Drum weg mit der fremden Couleur.
III
Die Suenden, die wir begangen,
Die gab's in der Flagge nicht,
Denn die Flagge das Ideal ist
In ewig harmonischem Licht.
Die besten Taten der Vorzeit,
Der Gegenwart bestes Gebet
Umhuellt sie und traegt sie weiter,
Dass vom Vater zum Sohn es geht.
Traegt es rein und ehrlich
Und nicht mit Versuchers List,
Denn unserem jungen Willen
Sie Fuehrer und Schirmer ist.
IV
"Den Brautring nehmt nicht aus der Flagge",
So rufen sie allerwaerts,
Doch Norge hat nimmer versprochen
Einer andern Braut sein Herz.
Es teilt mit keinem sein Wohnhaus,
Sein Bett, seinen Tisch, seine Ehr',
Sein Braeutigam ist sein Willen,
Selbst herrscht es auf Feld und Meer.
Es ehrt unser Bruder im Osten
Die Kraft, die nach Freiheit ringt,
Er weiss, dass sie alleine
Uns Ruhmeskraenze erzwingt.
Er weiss, warum unsrer Flagge
Der Pomp seiner Farben nicht steht:
Weil unsre eigene Ehre
Uns ueber die seine geht.
Und niemand, der Ehre im Leib hat,
Nennt andre Freundschaft ein Glueck.
Wir opfern ihm gern unser Leben,
Doch von unsrer Flagge kein Stueck.
V
_An Schweden_
Voll Ehrerbietung ich nahe,--
Ich weiss, du traegst hohen Sinn,--
Und lege in schlichten Worten
Vor dich meine Sache hin.
Waerst _du_ der Kleinere, Schweden,
Und juengst erst durch Freiheit beglueckt,
Und trueg' deine Flagge ein Zeichen,
Das dich tiefer und tiefer drueckt,
Und behauptete, du seist der Kleine,
An des Groesseren Tisch gesetzt,
(Denn also deuten die Voelker
Dies Flaggenzeichen jetzt)--
Und waere deine Freiheit
Nicht alt,--nein--wie unsre jung,
Und hundertjaehrige Ohnmacht
In deine Erinnerung
Mit frischen Furchen gegraben
Von altem Unrecht und Blut,
Von ziellosen Sehnsuchtsklagen,
--Ja wuesstest du, wie das tut,
Und solltest dein Volk erziehen
Zu neuer Freiheit Ehr',
Zu neuen Freiheitsgedanken,
Und die Flagge dein Dolmetsch waer',
Ob du dir wohl liessest rauben
Aus der Flagge das eine Feld?
Ob du wohl ertruegst das Zeichen,
Das die Freiheit dir vorenthaelt?
Ob du dir nicht selber sagtest:
"Je aelter des aendern Rang,
Je groesser der Ruhm seiner Farben,
Um so lockender ist sein Sang.
Versuche nicht den, der gefallen
Und der juengst sich erst wieder befreit.
Mit reinen Zeichen deute.
Empor zur Unsterblichkeit."
So spraechest du, alter Recke,
Wenn du wohntest in _unserm_ Land,
Denn dir sind die Pfade der Ehre
Von altersher wohlbekannt.
Seit achtzehnhundertvierzehn
Und bis auf den heutigen Tag,
So oft unsre Freiheitssehnsucht
Qualvoll in Fesseln lag.
Gab es Maenner in deiner Mitte,
Die trotz deiner Halsstarrigkeit
Fuer unsere Sache sprachen,
Wie Torgny in alter Zeit.
VI
_Antwort an den alten Ridderstad_
Im Kampf um die reine Flagge
Schwatzt du von "Ritterpflicht"?
Mein Bester, ich achte dich hoechlich,
Doch wisse, _die_ schert dich nicht.
Denn grade weil uns Verleumdung
Bewirft mit Russ und Dreck,
Ist's "Ritterpflicht", aus unsrer Flagge
Zu wischen den Anfechtungsfleck.
Die _Gleichheit_, die dieser predigt,
Die luegt er mit frechem Gesicht;
Ein grossskandinavisches Schweden,
Das naemlich moegen wir nicht.
Nein, "Ritterpflicht" ist's fuer den Kleinen,
Zu sagen: "ich bin kein Teil,
Ich will das Selbstaendigkeitszeichen
Ganz haben zu eignem Heil."
Und "Ritterpflicht" ist's fuer den Grossen,
Zu sagen: "der falsche Schein
Gereicht mir ja doch nicht zur Ehre,
Der soll meine Waffe nicht sein."
Und "Ritterpflicht" ist's fuer beide,
In streitender Voelker Gemisch,
Zu sein mit gereinigtem Banner
Ein Beispiel, stolz, wacker und frisch.
AN DEN MISSIONAR SKREFSRUD IN SANTALISTAN
Ich ehre dich, weil du, verschmaeht, geschaendet,
Der Stimme lauschend, doch den Sieg errafft,
Und neuer Laestrung Antwort nur gesendet
Mit Wundern deines Glaubens, deiner Kraft.
Ich ehre dich, weil du nur stets geduerstet
Nach Gottes Taten unter Not und Streit;
Du Sohn des Gudbrandstales, geistgefuerstet,
Der Heimat bester Mann in deiner Zeit.
Ich teile nicht dein glaubensstarkes Traeumen,
Das scheidet nicht, wo Geist zum Geist sich kehrt;
Was gross und edel strebt zu hoehern Raeumen,
Verehrt mein Sinn, dieweil er Gott verehrt.
POST FESTUM
Ein Mann, bedeckt mit Schnee und Eis,
Stand einstmals auf am Eismeerstrande,
Da schallte laut durch alle Lande
Des Riesenrecken Lob und Preis.
Ein Koenig klomm zu ihm hinan
Und reicht' ihm gnaedig seinen Orden:
"Den tragen die, die gross geworden!"
"Stopp!" knurrte ihn der Recke an.
Der Koenig wich verbluefft, entsetzt
Zurueck mit baenglichem Gesichte:
"Mein Orden wird nach der Geschichte
Verschmaeht von just den Groessten jetzt.
"Nimm, nimm, mein Lieber; bitte schoen,
Lass mich nicht in der Patsche stecken;
Du wirst mehr Groesse ihm erwecken,
Uns, die ihn tragen, miterhoehn!"
Zu gut war unser Eismeerheld,
Wie oftmals Recken, will mir scheinen;
Die Narren werden sie der Kleinen,--
Er nahm ihn,--Hohngelaechter gellt.
Da krochen alle Koenige hin
Mit ihren Orden, sie zu heben
Und ihnen neuen Glanz zu geben:
Fuer arme Ritter zum Gewinn.
Honny soit ... et caetera--
Bespickt mit Orden stand er da;
Doch groesser ward der Orden keiner,
Der Recke nur verteufelt kleiner.
ROMSDALEN
Komm auf das Deck, der Morgen bricht an,--
Ob ich das Land wohl erkennen kann?
Sieh, wie die Inseln die Koepfe recken,
Frischgruen und felsig; Salzfluten lecken,
Mutwillig plaetschernd, den steinernen Fuss.
Seevoegel flattern mit kreischendem Gruss,
Heben sich, senken sich, geistergleich.
Hier ist ein Reich
Voll Sturmeserinnrung,--ganz fuer sich.
Wir sind auf Fischers gefahrvoller Bahn!
Draussen--erzaehlt der Kapitaen--am Riffe
Draengt sich der Heringsschwarm. Segelschiffe
Schwaermen just eben von dort herein;--
Der Fang war fein!
Wahrlich,--ich habe euch gleich erkannt,
Knorrige Leute von Romsdalland,--
Ja, ihr koennt segeln, wenn es gilt.
Doch halt! Fast entschwand mir das herrliche Bild!
------Beim ersten Blick
Wirft's Blitze zurueck,
So maechtig war's in der Erinnerung nicht.
Wohin auch meine Augen wandern,
Ein Bergesriese ueber dem andern,
Des einen Brust an des andern Lende,
Bis an des Himmels aeusserste Saeume.
Wir harren auf Donner und Weltenende;
Die ewige Stille weitet die Raeume.
Blau sind die einen, andere weiss,
Mit ragenden, hitzigen, eifernden Zacken,
Andere packen
Fest sich beim Arm zu geschlossenem Kreis.
Den riesigen Berg dort heisst man das "Hemd",
Ein Prediger ist er, in hehrer Gemeinde,
Von Groessen der Urzeit, erhaben und fremd.
Was predigt er wohl? Dem Kindheitsfreunde
Tat oft ich die Frage, und immer wieder
Lauscht' ich, in Andacht versunken ganz.
Auf meine Lieder
Faellt majestaetisch sein weisser Glanz.
----Wie gross das ist! Ich werde nicht fertig.
Die groessten Gedanken aus Leben und Sage
Stroemen herbei, meines Winks gewaertig,
Mit all dem Grossen sich eifrig zu messen,--
Dantes Hoelle, indische Sagen,
Shakespearesche Dramen zum Himmel ragen,
Aeschylos' Donnerwolken ziehen,
Beethovens maechtige Symphonien,--
Weiten sich, heben sich, dampfen, strahlen:
--Und schrumpfen zusammen zu Spatzengeschnack
Und Ameisenfleiss;--umsonst euer Plagen!
Es ist, als wollte ein Ballherr im Frack
Die Berge zum Tanze zu bitten wagen.
Versuche sie nicht! Nein, gib dich hin,
Dann wirst du spueren,
Wie all die Grossen zum Groessern dich fuehren.
Beug' dich in Demut; denn wer sie fragt,
Dem sagen sie: _eines_ ist doch das Groesste.
Sieh, wie der Bach durch den Spalt sich nagt;
Und denke, wie einst er vom Urfels sich loeste
Und sich durch Eis und Klippen biss,
Um den Riesenleib zu durchfeilen.
Anfangs ein Ganzes, musst' er sich teilen,
Als sich die Lenzfluten auf ihn ergossen;--
Doch Jahrmillionen verflossen,
Eh' der Gigant zerriss.
Jetzt stampft der Fjord in die Bande hinein,
Luepft den Suedwester mit keckem Grusse.
Wenn sie benebelt vom Kopf bis zum Fusse,
Zwickt sie der Bursch an der Nase gar gern,--
Der Fjord gehoert nicht zu den hoeflichsten Herrn.
Ihm entgegen mit schaumweissem Kuss
Eilen Quelle, Giessbach und Fluss,
Das Laermen der Sippe will nicht enden.
Oftmals treibt's ihm die Bande zu bunt,
Sperrt ihm den Weg, dass er halten muss.
Wie eine Muschel mit nassen Haenden
Nimmt er den ganzen zudringlichen Schwarm
Frisch an den Mund und blaest darauf
Mit Westwindlungen--juchhei, pass' auf!
Dann heult es und tutet's, dass Gott erbarm'.
--Schwarzgrau ein Fjord die Kueste jetzt teilt,
Schnell unser Boot ihn durcheilt;
Giessbaeche donnern zu beiden Seiten.
Am Bergeskamm
Dampfende Regenwolken gleiten,
Voll wie ein Schwamm.
Ob Sonne, ob Sturm--das urewige Streiten.
Das ist des Romsdals trutzig Land!
Jetzt bin ich daheim.
Hier liegt des Volkes tiefster Keim.
Hier hat es Stimme und Herz und Verstand.
Jedweden Mann ich _hier_ richtig deute:
Kennst du den Fjord, so kennst du die Leute.
Wild ist der Fjord in Sturm und Schlacht;
Ein _anderer_ ist er in Sommerpracht,
In Mittsommersonne,
Wenn still er traeumt in seliger Wonne,--
Was er nur sieht,
Innig und warm an sein Herz er zieht,
Spiegelt es, schaukelt es,--
War' es so arm wie das Moos am Fels,
Fluechtig wie Schaumesperlen des Quells.
Sieh, welch ein Glanz! So offen und minnig
Bittet er, bis man ihm gerne entschuldigt,
Was er verbrach und bereute so innig!
Allen den Bergen in Demut er huldigt,
Spiegelt so kosend
Wider im Spiel ihr erhabenes Bild.
--Denken die Alten: er ist doch nicht schlecht;
Frohsinn und Zorn sind sein altes Recht;
Ist reicher als andre, ist nimmer falsch,
Nur ruecksichtslos, launisch und--eben "romsdalsch".
Berge! Ihr wisst das. Ihr kennt das Geschlecht,
Ihr saht sich's plagen,
Kriechend am Felshang, das Wildheu zu schlagen.
Ihr saht es ringen
Beim Fischfang, in Sturmnot, mit wenig Gelingen,
Roden und hauen und pfluegen und pflanzen,
In Moor und Geroell mit den Gaeulen schanzen;
Masslos zu Zeiten,
Trunkene Flegel,
Sich raufen und streiten,
Doch nimmer weichen,--zu Topp die Segel!
Weiler wechseln; doch tief gekerbt
In euch liegt Sehnsucht, die quellenreiche,
Singende Tiefe--die wellengleiche:
Windboenfjord hat den Sinn euch gefaerbt.
Wikinggeschlecht, ich gruesse dein Nest!
Tief liegt dein Grundstein, die Woelbung ist fest,
Sonnennebel erfuellt deine Halle,
Gischtschaum vom brausenden Wasserfalle.
Wikinggeschlecht, so sei mir gegruesst!
Wo uns so hohe Woelbung umschliesst,
Kostet's zwar Kampf, sich den Thron zu erringen--
Nicht allen wollte das leider gelingen--
Kampf kostet's, das Erbgut des Fjords zu heben
Aus wolluestigem Nichtstun zu fruchtbarem Streben,
Kampf kostet's;--doch der, der es wagt, wird Mann.
Ich weiss, dass er's kann.
HOLGER DRACHMANN
Lenzbote, sei gegruesst! Kommst du vom Walde?
Denn du bist nass im Haar, belaubt, bestaubt...
Hast an deine Kraft geglaubt?
Schlugst dich auf der Halde?
Der Laerm um dich von fesselloser Flut,
Die deiner Ferse folgt--sei auf der Hut:
Sie spritzt nach dir!--schlugst du dich seinetwegen?
Du warst da drinnen zwischen Stumpf und Knorren,
Wo diese Wintergreise laengst verdorren.
Sie geizten? Wollten dir den Weg verlegen?
Doch dir ward Kraft verliehn vom alten Pan!
Sie schrien wohl unheilkuendend, wie besessen?
Sie nannten es wohl Raub, was du getan?
In jedem Lenz geschieht's, wird bald vergessen.
Du wirfst dich hin am Salzmeer; dir zur Labe
Hat sich's geloest, sucht kraeuselnd deine Gunst.
Du kennst den Takt; Pan wies dir seine Kunst
Zur Daemmerzeit an einem Wikinggrabe.
Doch von dem Arme der Natur umschlungen
Hoerst du den feuchten Grund vom Kampftritt beben,
Siehst Dampfer mit der Freiheitsflagge streben
Nach Norden hin;--dein Name ist erklungen.
So zwischen zweien dich erschoepfest du:
Den Freiheitskaempfern, stolz geschart zum Streite,
Der Sagenwelt in ihrer Traumesruh';
Die ersten mahnen, und es lockt die zweite.
Bald toent dein Lied wie Hoernerklang vorm Feind,
Bald zaertlich wie durch Schilfrohr schwebt's heran.
Du bist Naturmacht halb und halb ein Mann,
Und noch hast du die Haelften nicht vereint.
Jedoch wie du auch spielst und selber seist
(Faunartige Liebe mit dem Kraftakkord
Des Wikings wechselnd), heil dir, Feuergeist--
Traegst du die Tuer auch mit der Angel fort.
Das eben war's, wonach wir uns gesehnt:
Auf, auf, es gilt dem Lenz! Der ueble Duft
Von Koenigsweihrauch und von Moenchstabak,
Ja, diese Schwindsucht in romantischem Lack
Presst wie Moral die Lungen: frische Luft!
Weit lieber venetianischen Gesang,
Des Suedens Ueppigkeit und Farbenwunder,
Lieber "zwei Schuesse" (machen sie auch bang),
Als all den marklos faden Bildungsplunder!
Gegruesst, Lenzbote von dem schlanken Wald,
Vom Meeresrauschen und von Kampfgefahren!
Wenn oft dein Lied ein wenig laessig hallt--
Wo Reichtum ist, da braucht man nicht zu sparen.
Des Riesen Art weckt aller Zwerge Tadel,
Ich liebe dich; du bist von eignem Adel.
WIEDERSEHEN [Symbol: gestorben]
... Bergfrisch die Luft, Schneeflocken drin;
Gewundnen Weg rasch fuhr ich hin
Zwischen zarten Birken und Tannen.
Die Tannen gruebelten einzeln; weiss
Und froehlich lachte das Birkenreis:--
Ein Erinnern, ein Bild will mich bannen.
Und die Luft so harsch und frei und leicht,
Weil alles Schwere aus ihr weicht,
Das faechelt der Schnee von hinnen;
Und lebhaft hinterm duennen Flor
Schimmert die Landschaft, drueber empor
Steigen beschneite Zinnen.
Doch:--wie unter braunweissem Muetzenrand--
Wohin ich blicke--: unverwandt----
Wer ist's nur--wer schaut mir entgegen?
Flink starr' ich unter den Haubenschild--
In ein Schneegeflimmer, toll und wild;--
Ist jemand auf meinen Wegen?
Ein Sternchen fiel auf den Handschuh ... da
Und da wieder ... jedes verschieden ja,...
Wollen die Raetsel spielen?
Und wie Laecheln durchglaenzt es die Luft ringsum
Von guten Blicken ... ich seh' mich um...
Sind's Erinnrungen, die nach mir zielen?
Dies Sterngespinst, dies Filigran--
Ob sich wohl ein Geist drin bergen kann?
Ich fuehl's nach mir tasten und greifen...
Du feine Birke, du Luft so rein,
Du muntrer Schnee,--wer haucht euch ein
Sein Wesen, wer sammelt im Schweifen
Sein Bild in den Zuegen der Natur,
In diesem Behagen auf schneeiger Flur,
Im Flockenspiel, dass er mich necke,--
In diesem weissen, sanften Glanz,
In diesem schweigenden Rhythmentanz?
Nein, das bist du, Hans Brecke!
DES DICHTERS SENDUNG
Dem Dichter ward Prophetenamt;
Zumal in Not und Gaerungszeiten,
Wenn alle, die da leiden, streiten,
Sein Glauben staerkt, erhebt, entflammt.
Ein auferstandner Vorzeitheld,
Fuehrt neuen Heerbann er ins Feld,
Und ihn umzieht
In weitem Raum
Mit Seherlied
Der Zukunft Traum;
Des Volkes ewige Fruehlingssaefte
Macht frei das Lied durch seine Kraefte.
Er straft das Volk um eitlen Wahn
Und Heidentum und Molochschrecken,
Sieht unter herbstlich grauen Decken
Der Gotterkenntnis Triebe nahn.
Befreit pflanzt sich ihr Bluetenschoss,
Gleich lichtem Kraft- und Liebesspross,
Dem Volke ein,
Erwaermt sein Herz,
Traegt Heil hinein
Und Zorn und Schmerz,
Laesst Mut und Klarheit kund ihm geben:
Wisst, Gott ist offenbart im _Leben_!
Den Koenigsmantel reisst er fort,
Um Volkesschultern ihn zu breiten,
Dass blind sich dies nicht lasse leiten
Von fremder Hoheit Wink und Wort,
Dass es als eigne Majestaet
In eignen Amt und Wuerden steht,
Von Sagaruhm,
Von Mut entflammt,
Mit Heldentum
Ihm selbst entstammt,
Mit ungebrochner Willensstaerke,
Mannhaft beim Worte, wie beim Werke.
Er zwingt das Volk zur Busse hin,
Ein grimmer Lug- und Trugverhoehner,
(Kein Sonntagsheld, ein Tageloehner,
Dem seine Kuehnheit kein Gewinn).
Aus traegem Frieden, Geistesnacht,
Aus Feigheit zwingt er's auf voll Macht;
Nicht Volkessinn,
Nicht Koenigsdank
Lenkt seinen Gang:
Frei zieht er hin;
Und wankt er, Schmerzen fuehlt er gaeren,
Sein Herz durch laeuternd Leid zu klaeren.
Er ist der Schwachen Hort und Held,
Kein Ritter dient den Frauen treuer.
Er fuehrt des zagen Neulings Steuer,
Bis rechter Wind sein Segel schwellt.
Er waechst, halb wollend, halb verdammt,
Durch sein ihm auferlegtes Amt
Und fleht am Ziel:
"O Herr vergib!
Ich war nicht viel.
Ein bessrer Trieb
Aus reicherm Seelenfruehling mehre
Nach mir des Volks wie deine Ehre!"
PSALMEN
I
Ich fuehl' in mir
Den Drang nach dir,
Du Harmonie, im All entfaltet.
Bin ich verbannt?
Hast du erkannt,
Dass ich mein Eigen schlecht verwaltet?
Denn ohne Kraft,
Bald feig erschlafft,
Bald in Verzweiflung sieh mich beten,
Dass Trost und Gnad',
Ein Ruf, ein Rat
Mich aufhebt, wo du mich zertreten.
Gott, hoer' mein Wort!
Stoss mich nicht fort
Vom Hoffen auf mein Ziel und Streben!
Mein Stern lischt aus;--
Von naechtigem Graus
Sind meine Schritte nun umgeben.
Im oeden Sinn
Wogt her und hin
Ein Schwarm von schreckensvollen Geistern.
Ihr, oft verjagt,
Was wollt ihr, sagt?
Nur heut kann ich sie nicht bemeistern.
Ach, Friede, komm!
Lass glaubensfromm
Des Lebens starkes Band mich tragen!
Lass nicht nach mir
Vergebens hier
Mich zweifelnd suchen, rufen, fragen!
II
Ehre dem ewigen Fruehling im Leben,
Der alles durchweht!
Kleinstem wird Auferstehung gegeben,
Die Form nur vergeht.
Geschlecht auf Geschlecht
Mueht sich empor zu schreiten;
Art bringt Art hervor
In unendlichen Zeiten;
Welten gehn unter und steigen empor.
Nichts ist so klein, dass nicht Kleinres bestuende
Unsichtbar.
Nichts ist so gross, dass nichts Groessres bestuende
Ferne von ihm.
In der Erde der Wurm
Ist Berge zu bauen imstand'.
Der Staub im Sturm
Oder der rinnende Sand,
Reiche hat er gegruendet einst.
Unendlich das All, und Grosses und Kleines
Verschmelzen darin.
Kein Auge wird schauen das Ende--keines
Sah den Beginn.
Der Ordnung Gebot
Hat lebenerhaltend das All beseelt;
Furcht und Not
Zeugen einander; was uns quaelt,
Wird zum Born, der die Menschheit staehlt.
Ewigkeitssamen sind wir, die leben.
Im Schoepfungstage
Wurzeln unsre Gedanken; sie schweben,
Antwort wie Frage,
Saatenvoll,
Ueber dem ewigen Grunde;
Frohlocken drum soll,
Wer in einer schwindenden Stunde
Mehrte die Erbschaft der Ewigkeit.
Tauch' in die Wonnen des Lebens, du Bluete
Im Fruehlingsrain;
Geniesse, preisend des Ewigen Guete,
Dein kurzes Sein.
Fueg' auch du
Schaffend dein Scherflein hinzu;
Klein und zag,
Atme, soviel deine Kraft vermag,
Einen Zug in den ewigen Tag!
III
Chor
Wer bist du, von tausend Zeiten und Zungen
Mit tausend Namen genannt?
Du hieltst unsre Sehnsucht mit Armen umschlungen,
Warst Hoffnung den Vaetern ins Joch gebannt;
Warst Aengsten des Todes der nachtdunkle Gast,
Warst Lebensfesten der Sonnenglast.
Noch bilden wir alle verschieden dein Bild,
Noch nennen wir jedes Offenbarung,
Und jedem seins fuer das wahre gilt--
Bis dass es zerbricht in bittrer Erfahrung.
Solo
Ach, wer du auch seist,
In mir ist dein Geist;
Meiner Seele ewiger Ruf--das bist du!--
Nach Licht und nach Recht,
Nach Sieg im Gefecht
Fuer den kommenden Tag, das bist du, das bist du!--
Ein jedes Gebot,
Das ins Aug' uns loht,
Oder das nie uns bewusst, das bist du!--
Mein Leben ruht
In schirmender Hut,
Und es jubelt in mir: das bist du, das bist du!
Chor
Da nimmer wir koennen dein Wesen erreichen,
Erdachten wir uns Vermittler von dir;
Sie alle liess ein Jahrtausend erbleichen,
Und wieder stehen wir weglos hier.
Sind krank wir geworden und klammern uns an?
Wo winkt uns ein Trost fuer den Traum, der zerrann?
Der Ewigkeitshoffnungen leuchtend Verlangen,
Das hoch uns erhob aus des Lebens Jammer,
Soll's weichen in schauderndem Todesbangen,
Sich wandeln zum Wurm in unserer Kammer?
Solo
Er, der mich durchhaucht,
Nein, nimmer er braucht
Den Mittler; ich hab' ihn in mir: das bist du!
Ist mein Ewigkeitsflug
Sein Wille, und trug
Mich zur Taufe sein Geist--bist es du, bist es du.--
Werd' ich teilhaft, ich Nichts,
Des ewigen Lichts?
In Demut mich beug' ich; denn ich weiss, das bist du!
Still wart' ich und fromm:
Erwecker, o komm,
Wenn du willst, wie du willst--das bist du, das bist du!
FRAGE UND ANTWORT
_Das Kind_
Du, Vater! Ich sah mich im Walde um,
War alles stumm,
Kein einziger Vogel sang ringsum.
_Der Vater_
Er flog gen Sued uebers Meer hinab,
Der Lieder uns gab;
Kann sein, er findet dort sein Grab.
_Das Kind_
Der Arme; warum denn blieb er nicht?
_Der Vater_
Er suchte mehr Waerme und mehr Licht.
_Das Kind_
Du, Vater, ist das auch recht getan?
Er denkt nicht dran,
Dass wir andern hier bleiben und frieren dann.
_Der Vater_
Ein neuer Fruehling will neuen Sang
Aus Herzensdrang;
Den bringt er uns mit, es waehrt nicht lang.
_Das Kind_
Aber wenn er stirbt in den kalten Wellen?
_Der Vater_
So kommen wohl seine Weggesellen.
WECKLIED AN DIE NORWEGISCHE SCHUETZENGILDE
(1881)
Zu den Fahnen, zu den Fahnen,
Junger Freiheit Chor!
Eure Fahnen, eure Fahnen,
Schuetzen, hebt empor!
Hinterm Stutzenringe
Unsrer jungen Schar
Soll der Greis im Tinge
Reden fest und klar.
In dem frischen
Kugelzischen
Liegt ein muntrer Klang;
Freiheitkuendend,
Fuehrt er zuendend
Uns zum Koenigsrang.
In die Tingesrunde
Klingt aus Talesgrunde
Hell und freudig "ja" auf "ja",
Dass aus Stutzenroehren
Wir das Echo hoeren
Als ein tausendfaeltiges Hurra.
Hurra,
Hurra, hurra, hurra, hurra.
Mutter Norge lauscht so heiter
Auf des Widerhalles Toene,
Und durch ihre jungen Soehne
Erbt das Freiheitsgut sich weiter.
ARBEITERMARSCH
Takt! Takt! Auf Takt habt acht!
Der ist mehr als halbe Macht.
Formt aus vielen, vielen Einen,
Hebt den Mut der bangen Kleinen,
Laesst das Schwerste leicht erscheinen,
Zeigt die Ziele uns, die reinen,
Naeher, schaerfer ohne Schatten,
Als wir auf dem Korn sie hatten.
Takt! Takt! Auf Takt habt acht!
Das ist mehr als halbe Macht.
Nahn im Takt wir einige hundert,
Ist da keiner, der sich wundert;
Nahn im Takt wir einige tausend,
Wird sein Ohr schon mancher recken;
Nahn im Takt wir hunderttausend,--
Ja, dies Droehnen wird sie wecken!
Takt! Takt! Auf Takt habt acht!
Der ist mehr als halbe Macht.
Wenn in solchem Takt wir schreiten
Fest von Norges Uferweiten
Bis zum hoechsten Katarakte,--
Kommen alle wir im Takte,--
Schwinden Herren, schwinden Knechte,
Helfen jedem wir zum Rechte!
DER ZUKUNFT LAND
(Herman und M. Anker zu ihrer silbernen Hochzeit. 15. September 1888,
zugeeignet)
Zukunftsland!
Dahin sich all unsre Sehnsucht schwingt,--
All unser Seufzen, das ziellos verklingt,
Formt sich zu Bildern in Wolkenrot
Jenseits der Not,--
Alles, was aus unserm Glauben spriesst,
Selig uns gruesst
Im Zukunftsland.
Zukunftsland!
All unsre Arbeit zu Nutzen und Frommen
Waechst in Geschlechtern, die nach uns kommen.
Sammelt fuer sie in verjuengendem Drang,
Was _uns_ gelang;
Traegt voller Kraft unser Werk hinein,
Unfehlbar hinein
Ins Zukunftsland.
Zukunftsland!
Traenen, vergossen um all das Schlechte,
Blutschweiss vom Kampfe fuer hoehere Rechte
Salben die Kraft, die den Sieg verspricht.
Uns es zwar bricht,
Schlechtes doch hindert es, Gutes es saet,
Das aufersteht
Im Zukunftsland.
Zukunftsland!
Daemmert in Farben und Melodien,
Die uns wie Sonnengold glitzernd umziehen,
Schimmert im Auge des Kindes und weht
Durch dein Gebet.
Siegen wir--und ist der Sieg gesund,
Stehn wir zur Stund
Im Zukunftsland.
EIN JUNGES VOELKCHEN KERNGESUND
Ein junges Voelkchen kerngesund
Waechst ueberquellend frisch empor
In Spiel und Sang und Blumenflor
Auf unsres Vaetererbes Grund;
Es traeumt von dem, was schon errungen,
Sehnt sich nach dem, was nicht bezwungen.
Ein junges Voelkchen kerngesund,
Des ganzes Volkes Ehrenpreis,
Des Lebensfruehlings Edelreis,
Ein Osterfest auf Vaetergrund
Fuer alle Alter. Neu entfalten
Im Lenz der Jungen sich die Alten.
Ein junges Voelkchen kerngesund
Ist unser Koennen, doppelt stark,
Ist unsrer Hoffnung Lebensmark,--
Aus des Charakters tiefem Grund
Waechst unsrer Vaeter Geist auf Erden
Empor zu immer hoeherm Werden.
NORGE, NORGE
Norge, Norge,
Blauend empor aus dem graugruenen Meer,
Inseln ringsum gleich Vogeljungen,
Fjorde in Zungen
Dorthin, wo Stille sich breitet umher.
Stroeme, Taeler;
Felsen begleiten sie; Waldgipfel fern
Ragen dahinter. Wo Tore sie brechen,
Seen und Flaechen,
Feiertagsfrieden und Tempel des Herrn.
Norge, Norge,
Huetten und Haeuser und keine Burgen,
Hart oder weich,
Du bist unser, bist unser Reich,
Du bist der Zukunft Land.
Norge, Norge,
Schneeschuhlaufes leuchtendes Land,
Teerjackenhafen und Fischgehege,
Des Floessers Wege,
Bergecho der Hirten und Gletscherbrand.
Aecker, Wiesen,
Runen im Waldboden, Kluefte versprengt,
Staedte wie Blumen, Fluesse verschaeumend,
Wo sich baeumend
Aufblitzt das Meer, wo der Schwarm sich draengt!
Norge, Norge,
Huetten und Haeuser und keine Burgen,
Hart oder weich,
Du bist unser, bist unser Reich,
Du bist der Zukunft Land.
MEISTERN ODER GEMEISTERT WERDEN
Dieses Land, das trotzig schaut,
Meerumbrandet, bergumbaut,
Winterkalt und sommerbleich,
Kurzes Laecheln, niemals weich,--
Ist der Riese, der, gemeistert,
Foerdern soll, was uns begeistert.
Er soll haemmern, er soll tragen,
Er soll singen, er soll sagen,
Er soll malen Glanz und Gischt:--
Was da donnert, tost und zischt
Zwischen Fjord und Bergeswacht,
Schaff' uns eine Schoenheitsmacht.
IM WALDE
Der Wald gibt sausenden sachten Bescheid;
Was immer er sah in den einsamen Stunden,
Was immer er litt, als man doch ihn gefunden,
Das klagt er dem Winde; der traegt es weit.
DER SIEBZEHNTE MAI
(1883)
Wergelands Denkmal am siebzehnten Mai
Gruesste der Festzug. Und als die letzten,
Maenner im Takt,
Frauen mit Blumen in ihrer Mitten,
Schritten die Bauern, die Bauern schritten.
Oesterdalswaldes maechtiger Haeuptling
Trug ihre Fahne. Als wir sie sahen,
Ueber dem Purpur
Sich ein Gedanke in Tausenden malte:
Das ist die Alte, das ist die Alte!
Noch trug nicht fremden Volks Krone der Loewe,
Danebrog hat noch das Tuch nicht gespalten,
Zukunft erschien mir,
Sah dort um Wergelands Denkmal in Mengen
Bauern sich draengen, Bauern sich draengen.
Von den vergangnen Verlusten das Meiste,
Von dem Errungenen, von dem Ersehnten,
Ja, meist von allem:
Pflichten der Vorzeit, der Zukunft Ehre
Tragen der Bauern, der Bauern Heere.
Bitter sie suehnten, was einst gesuendigt.
Doch sie erheben sich. Juengst erst im Tinge
Kaempften sie mannhaft.
Von Sued, West und Norden, aus Trondhjemer Landen
Alle die Bauern, die Bauern erstanden.
Halten die Beute, da weiter sie wollen;
Ganz sei uns eigen der Freiheitsgedanke!
Alle wir wissen's:
Wenn einstmals Wergelands Sommer entglommen,
Mit ihm die Bauern, die Bauern kommen.
FREDERIK HEGEL
Die Luefte liebe ich, die kuehlen,
Erhaben rein,
Im Hoheitsschein,
Die mich wie Freiheitsflut umspuelen.
Im Walde mich's am liebsten leidet,
Wenn Phantasie
Mit Herbsts Genie
Ihn malt, nicht wenn ihn Gruenschmuck kleidet.
Ich kannte einen: seine Reinheit
War herbstlich mild,
Sein Ebenbild
War Herbsteshimmels Farbenfeinheit.
Sein Bild ist wie--wenn in frostigem Tanz
Des Winters Graus
Umstuermt das Haus,--
Meines Herdes erster erwaermender Glanz.
Und wenn das Sehnen nimmt ein Ende,
Wenn Sommers Lied
Nach innen zieht,
Hat Freundschaft Tempelsonnenwende.
UNSERE SPRACHE
(1900)
Nordischer Berge Widerhall,
Wiegengesang am daenischen Sunde,
Feuerglocke bei Fredrikshall,
Lerchenjubel aus Kindermunde,--
Du Herz der Herzen,
Mein norwegisch Wort,
Fuer Freuden und Schmerzen
Als Burg uns gebautes,
Du Gott vertrautes,--
Wir lieben dich!
Holbergs fluesternder Geisterchor,
Heim den Dichter und morgenwaerts ladend,
Schaerfend das Schwert ihm, hebend empor
Schaetze, in klingendem Lachen sie badend,--
Du Heim der Bedrohten,
Mein norwegisch Wort!
Hier gruessen die Toten
Die Lebensroten,
Die Zukunftsboten,--
Wir lieben dich!
Kierkegaard warst du ein tiefes Meer,
Da er die Segel nach Gott hin spannte.
Wergeland warst du ein Adler hehr,
Der sich vor vielen zur Sonne wandte.
Du Herz der Herzen,
Mein norwegisch Wort,
Fuer Freuden und Schmerzen
Als Burg uns gebautes,
Du Gott vertrautes,--
Wir lieben dich!
Warst wie ein Maitag voll strahlender Zier
Fuer den Fruehling der Freiheit im Norden.
Durch deine Lieder ist unser Panier
Weit auf Erden Sieger geworden.
Du Heim der Bedrohten,
Mein norwegisch Wort!
Hier gruessen die Toten
Die Lebensroten,
Die Zukunftsboten,--
Wir lieben dich!
Ueber die Wogen rollst du als Weg
Deinen Blumenteppich, es schreiten
Freunde zu Freunden auf diesem Steg,
Fuehlen Himmel und Glaube sich weiten.
Du Herz der Herzen,
Mein norwegisch Wort,
Fuer Freuden und Schmerzen
Als Burg uns gebautes,
Du Gott vertrautes,--
Wir lieben dich!
Der beste Freund, den ich fand, warst du;
Im Aug' der Mutter harrtest du meiner.
Und wer mich am letzten verlaesst, bist du;
Denn du nur sahst mir ins Herz, sonst keiner!
Du Heim der Bedrohten,
Mein norwegisch Wort!
Hier gruessen die Toten
Die Lebensroten,
Die Zukunftsboten,--
Wir lieben dich!
* * * * *
ERZAEHLUNGEN
* * * * *
THROND
Es war ein Mann mit Namen Alf, in den seine Mitbuerger grosse Hoffnungen
setzten; denn er war den meisten an Klugheit und Tatkraft ueberlegen.
Doch als dieser Mann dreissig Jahr alt war, zog er hinauf ins Gebirge und
machte sich dort, zwei Meilen von allen Menschen entfernt, ein Stueck
Land urbar. Manche wunderten sich, dass er diese Nachbarschaft mit sich
selbst aushielt, aber sie wunderten sich noch mehr, als nach einigen
Jahren ein junges Maedchen aus dem Tal sie mit ihm teilen wollte, und
zwar gerade das Maedchen, das bei allen Festen und bei jedem Tanz die
Froehlichste gewesen war.
Man nannte sie die "Waldmenschen", und er war unter dem Namen "Alf vom
Walde" bekannt; die Leute drehten sich lange nach ihm um, wenn er sich
in der Kirche oder bei der Arbeit einfand; denn sie konnten nicht aus
ihm klug werden, und er schien kein Interesse daran zu haben, sich
auszusprechen. Die Frau war nur selten im Dorf gewesen, einmal aber, um
ein Kind ueber die Taufe zu halten.
Dies Kind war ein Sohn, der Thrond getauft wurde. Als er heranwuchs,
sprachen sie des oefteren davon, sie muessten eine Hilfe haben, und da sie
nicht die Mittel hatten, sich eine erwachsene Magd zu halten, so nahmen
sie eine halbwuechsige, wie sie sich ausdrueckten, ins Haus: ein
vierzehnjaehriges Maedchen, das auf den Jungen zu achten hatte, wenn die
Eltern auf dem Felde waren.
Sie war freilich ein bisschen einfaeltig, und der Junge merkte bald, dass
alles, was die Mutter ihm sagte, leicht zu begreifen war, waehrend das,
was Ragnhild ihn lehrte, schwer war. Mit dem Vater sprach er nicht viel,
und er hatte auch Angst vor ihm, denn wenn er in der Stube war, musste
alles maeuschenstill sein.
Einmal an einem Weihnachtsabend--auf dem Tisch brannten zwei Lichte, und
der Vater trank aus einer weissen Flasche--packte der Vater den Jungen,
nahm ihn auf den Schoss, sah ihm streng in die Augen und rief: "Buh,
Junge!" Dann fuegte er milder hinzu: "Du bist gar nicht so'n Angsthase;
moechtest Du ein Maerchen?" Der Junge antwortete nicht, sondern sah den
Vater gross an. Der aber erzaehlte ihm von einem Mann aus Vaage, welcher
"der Blessommer" hiess. Er war in Kopenhagen, dieser Mann, um des Koenigs
Schiedsspruch einzuholen in einem Prozess, den er fuehrte, und das zog
sich so in die Laenge, dass ihm der Weihnachtsabend ueber den Hals kam; das
gefiel aber dem Blessommer durchaus nicht, und wie er so durch die
Strassen schlenderte und nach Hause dachte, da sah er einen wuchtigen
Kerl in einem weissen Mantel vor sich hergehen. "Du gehst ja so schnell",
sagte der Blessommer.--"Hab's weit bis nach Haus heut abend", sagte der
Mann.--"Wo willst Du hin?"--"Nach Vaage", sagte der Mann und schritt
aus.--"Das trifft sich aber fein," sagte der Blessommer, "dahin moechte
ich auch."--"Dann kannst Du hinten bei mir auf den Kufen stehen",
antwortete der Mann und bog in eine Querstrasse ein, wo sein Schlitten
stand. Er schwang sich hinauf und sah sich nach dem Blessommer um, der
sich auf die Kufen stellte. "Du musst Dich festhalten", sagte er. Der
Blessommer tat es, und es war auch noetig; denn es ging nicht etwa immer
auf der glatten Erde hin. "Mir scheint, Du faehrst uebers Wasser", sagte
der Blessommer.--"Das tu' ich", sagte der Mann, und der Gischt umstob
sie. Aber nach einer Weile kam es dem Blessommer vor, als fuehren sie
nicht mehr uebers Wasser. "Mir scheint, es geht durch die Luft", sagte
er.--"Ja, das tut es", antwortete der Mann. Aber als sie noch weiter
gefahren waren, kam dem Blessommer die Gegend, durch die sie fuhren, so
bekannt vor. "Mir scheint, das ist Vaage", sagte er.--"Ja, jetzt sind
wir da", antwortete der Mann, und der Blessommer fand, es sei recht
schnell gegangen. "Schoenen Dank fuer die Fahrt", sagte er.--"Gleichfalls!"
sagte der Mann und fuegte hinzu, waehrend er auf das Pferd einschlug:
"Jetzt sieh Dich lieber nicht weiter nach mir um!"--"Nein, nein", dachte
der Blessommer und trollte sich ueber die Hoehen heimwaerts. Aber da erhob
sich hinter ihm ein Droehnen und Getoese, als wolle der ganze Berg
einstuerzen, und ein Leuchten ging ueber das Land hin; er sah sich um, und
da sah er den Mann in dem weissen Mantel durch krachende Feuersaeulen
hindurch in den offnen Berg einfahren, der sich wie ein Tor ueber ihm
woelbte. Dem Blessommer wurde es etwas unbehaglich zumute bei der
Reisegesellschaft, die er gehabt hatte, und er wollte den Kopf wieder
umwenden; aber wie der Kopf sass, so blieb er sitzen, und der Blessommer
hat in seinem ganzen Leben den Kopf nicht mehr umdrehen koennen.
So etwas hatte der Bursch sein Lebtag nicht gehoert. Er getraute sich
nicht den Vater weiter zu fragen, aber am andern Morgen in aller Fruehe
fragte er die Mutter, ob sie keine Maerchen wisse. Doch, sie wusste
welche, aber die handelten meistens von Prinzessinnen, die sieben Jahre
lang gefangen sassen, bis der rechte Prinz kam. Der Bursch dachte, alles,
was er hoerte und las, lebe in seiner naechsten Naehe.
Er war etwa acht Jahr alt, als an einem Winterabend der erste fremde
Mensch bei ihnen durch die Tuer trat. Er hatte schwarzes Haar, und das
hatte Thrond noch nie gesehen. Er sagte kurz "Guten Abend" und kam
herein; Thrond wurde die Sache aengstlich, und er setzte sich auf einen
Schemel am Herd. Die Mutter noetigte den Mann zum Sitzen; er tat es, und
da fasste sie ihn genauer ins Auge: "Herrjeh, ist das nicht der
Fiedel-Knut?" sagte sie.--"Ja, freilich ist er das. Es ist lange her,
dass ich auf Deiner Hochzeit spielte."--"Ach ja, das ist schon eine ganze
Weile. Kommst Du weit her?"--"Ich habe Weihnachten auf der andern Seite
des Berges gespielt. Aber mitten im Gebirge wurde mir schlecht; ich
musste hier einkehren, um mich auszuruhen."
Die Mutter brachte ihm Essen herein; er setzte sich an den Tisch, sagte
aber nicht "in Jesu Namen", wie der Junge es doch immer gehoert hatte.
Als er fertig war, stand er auf: "Nun ist mir wieder ganz gut", sagte
er; "lasst mich jetzt ein klein bisschen ruhen." Und er wurde zum
Ausruhen in Thronds Bett gesteckt.
Fuer Thrond wurde eins auf dem Fussboden gemacht. Wie er so dalag, fror
ihn an der Seite, die dem Herd abgekehrt war, und das war die linke. Ihm
fiel ein, das komme daher, dass die eine Seite in der naechtlichen Kaelte
bloss lag; denn er lag ja mitten im Walde. Wie war er nur in den Wald
gekommen? Er richtete sich auf und blickte sich um, und das Feuer
brannte in weiter Ferne, und er lag wirklich allein im Walde; er wollte
nach Hause gehen zum Feuer, kam aber nicht von der Stelle. Da ueberfiel
ihn grosse Angst; denn hier konnten Ungeheuer hausen und Hexen und
Gespenster; heim musste er zum Feuer, aber er kam nicht von der Stelle.
Da wuchs seine Furcht, er raffte seine ganze Kraft zusammen, schrie
"Mutter"--und wachte auf. "Mein Junge, Du traeumst so schwer", sagte sie
und nahm ihn auf den Arm.
Ihn ueberlief ein Schauder, und er sah sich um. Der Fremde war fort, und
er wagte nicht nach ihm zu fragen. Die Mutter kam in ihrem schwarzen
Kleid herein und ging ins Dorf. Zurueck kam sie mit zwei andern Fremden,
die auch schwarzes Haar und flache Huete hatten. Sie sagten auch nicht
"in Jesu Namen" vorm Essen, und sie sprachen leise mit dem Vater.
Nachher ging er mit ihnen in die Scheune und kam mit einem grossen Kasten
wieder heraus, den sie zwischen sich trugen. Den setzten sie auf einen
Schlitten und verabschiedeten sich. Da sagte die Mutter: "Wartet einen
Augenblick und nehmt den kleinen Kasten mit, den er bei sich hatte." Und
sie ging ins Haus, um ihn zu holen. Einer der Maenner aber sagte: "Den
kann der kriegen", und zeigte auf Thrond. Der andere fuegte hinzu:
"Brauch' sie ebensogut wie der Mann, der jetzt hier liegt", und er
deutete auf den grossen Kasten. Da lachten beide und zogen von dannen.
Thrond besah sich den kleinen Kasten, den er auf diese Weise bekommen
hatte. "Was ist da drin?" fragte er. "Trag ihn hinein und sieh nach",
sagte die Mutter. Er tat es, und sie half ihm beim Oeffnen. Da strahlte
sein Gesicht vor Freude, denn er sah etwas Leichtes, Feines darin
liegen.--"Hol' es heraus!" sagte die Mutter. Er tippte nur mit einem
Finger darauf, aber voll Entsetzen zog er ihn wieder zurueck. "Es weint!"
sagte er. "Nur Mut!" sagte die Mutter, sie griff mit der ganzen Hand zu
und nahm das Ding heraus. Er wog es und drehte es hin und her, er lachte
und streichelte es: "Mutter, was ist das?" fragte er, es war so leicht
wie ein Spielzeug. "Das ist eine Fiedel."
Auf die Art bekam Thrond Alfson seine erste Geige.
Der Vater konnte ein wenig spielen, und er brachte dem Jungen die ersten
Griffe bei. Die Mutter konnte Tanzweisen traellern von ihrer Tanzzeit
her, und die lernte er, machte aber bald selbst neue. Er spielte immer,
wenn er nicht lernte; er spielte so viel, dass der Vater einmal sagte, er
werde ganz blass dabei. Alles, was der Knabe bis dahin gelesen und gehoert
hatte, ging in die Fiedel ueber. Die weiche, feine Saite war die Mutter;
die Saite dicht daneben, die bestaendig der Mutter folgte, war Ragnhild.
Die grobe Saite, die er seltener anruehrte, war der Vater. Die letzte,
feierliche Saite aber, vor der hatte er beinah Angst, und der gab er
keinen Namen. Wenn er auf der Quinte einen Fehlgriff tat, war es die
Katze, wenn er aber auf des Vaters Saite fehlgriff, so war das der
Ochse. Der Bogen war der Blessommer, der in einer Nacht von Kopenhagen
nach Vaage gefahren war. Auch jedes Lied war ein bestimmter Gegenstand.
Das Lied mit den langen, feierlichen Toenen war die Mutter in ihrem
schwarzen Kleide. Das zaghafte und huepfende war Moses, als er stammelte
und mit seinem Stab an den Felsen schlug. Das Lied mit der leisen
Melodie, wo der Bogen so leicht auf den Saiten lag, war die Hexe, die
die Herde im Nebel an sich lockt, wenn kein anderer es sieht.
Das Spiel aber trug ihn ueber die Berge hinaus, und in ihm erwachte die
Sehnsucht. Als der Vater eines Tages erzaehlte, auf dem Jahrmarkt habe
ein kleiner Junge gespielt und viel Geld verdient, lauerte er in der
Kueche der Mutter auf und fragte sie leise, ob er nicht auch auf den
Jahrmarkt duerfe und den Leuten etwas vorspielen. "Wie kommst Du auf so
was!" sagte die Mutter, sprach aber doch gleich mit dem Vater darueber.
"Er kommt noch frueh genug in die Welt", antwortete der Vater, und er
sagte es so entschieden, dass die Mutter nicht weiter bat.
Bald darauf sprachen Vater und Mutter bei Tisch von einigen neuen
Landsassen, die kuerzlich ins Gebirge gekommen waren und sich verheiraten
wollten. Sie haetten keinen Spielmann zur Hochzeit, sagte der Vater.
"Koennte ich nicht den Spielmann machen?" fluesterte der Bursch, als die
Mutter wieder in der Kueche stand.--"So klein, wie Du bist!" sagte sie;
aber sie ging doch hinaus in die Scheune, wo der Vater war, und sagte es
ihm. "Er ist noch nie im Dorf gewesen," fuegte sie hinzu, "er hat nie
eine Kirche gesehen".--"Was bittest Du mich eigentlich", sagte Alf; aber
weiter sagte er auch nichts, und da nahm die Mutter an, sie duerfe.
Deshalb ging sie hinueber zu den neuen Landsassen und bot den Jungen an.
"So wie der spielt," sagte sie, "hat noch kein Kind gespielt", und--der
Bursch wurde angenommen.
Das gab aber eine Freude zu Hause! Von morgens bis abends spielte er und
uebte neue Weisen ein, nachts traeumte er von ihnen; sie trugen ihn ueber
die Hoehen in fremde Lande, als reite er auf segelnden Wolken. Die Mutter
naehte ihm einen neuen Anzug, der Vater aber wollte von der ganzen
Geschichte nichts wissen.
Die letzte Nacht schlief Thrond nicht, sondern ersann ein neues Lied
ueber die Kirche, die er noch nicht gesehen hatte. Am Morgen war er frueh
auf und die Mutter auch, um ihm Fruehstueck zu geben, aber er konnte
nichts essen. Er zog den neuen Anzug an und nahm die Fiedel in die Hand,
und da war's ihm, als flimmere es ihm vor den Augen. Die Mutter
begleitete ihn bis vor die Tuer und sah ihm nach, wie er ueber die Haenge
dahinschritt; es war das erstemal, dass er von Hause fortzog.
Der Vater stieg leise aus dem Bett und ging ans Fenster; da stand er
und blickte dem Knaben nach, bis man die Mutter auf den Steinfliesen
hoerte; da ging er wieder zu Bett und lag schon drin, als sie hereinkam.
Sie ging ruhelos in der Stube umher, als habe sie etwas auf dem Herzen.
Und schliesslich kam sie mit der Sprache heraus: "Ich finde eigentlich,
ich muesste hinunter in die Kirche und sehen, wie es geht." Er gab keine
Antwort, deshalb hielt sie die Sache fuer abgemacht, zog sich an und
ging.
Es war ein herrlicher Sonnentag, an dem der Bursch ueber die Haenge
dahinzog; er hoerte den Voegeln zu und sah die Sonne auf den Blaettern
glitzern, waehrend er rasch vorwaertsschritt, die Fiedel unterm Arm. Und
als er an das Hochzeitshaus kam, sah er noch immer nichts anderes, als
was ihn vorher beschaeftigt hatte, sah weder Brautstaat noch
Hochzeitszug; er fragte nur, ob sie bald aufbrechen wollten; das wollten
sie. Er ging mit der Fiedel voran, jetzt spielte er die himmlische
Morgenstimmung ihnen in die Seele hinein, und es hallte zwischen den
Baeumen. "Sehen wir die Kirche bald?" fragte er die hinter ihm
Schreitenden. Lange hiess es nein; aber schliesslich sagte einer: "Jetzt
bloss noch um diese eine Felswand herum, dann siehst Du sie!" Er spielte
sein neuestes Lied auf der Fiedel, der Bogen tanzte, und er spaehte nach
vorn. Da lag das Dorf dicht vor ihm!
Das erste, was er sah, war ein zarter, leichter Nebel, der wie ein Rauch
vor der jenseitigen Bergwand lag. Er liess das Auge zurueckschweifen ueber
gruene Wiesen und grosse Haeuser mit Fenstern, in denen die Sonne brannte;
das glitzerte fast wie ein Eisgletscher am Wintertag. Die Haeuser wurden
immer groesser und immer mehr Fenster kamen zum Vorschein, und hier an der
einen Seite lagen ungeheuer grosse, rote Haeuser, vor denen Pferde
angebunden standen; geputzte kleine Kinder spielten auf einem Huegel,
Hunde sassen dabei und sahen zu. Aber ueber allen den Menschen und Dingen
schwebte ein langer, dunkler Ton, der ihn erschuetterte, dass alles, was
er sah, sich im Takt nach diesem Ton zu bewegen schien. Da sah er
ploetzlich ein grosses, schlankes Haus, das geradenwegs in den Himmel
hinein strebte mit einer hohen blinkenden Stange. Und weiter unten
funkelten hundert Fenster in der Sonne, dass das Haus wie in einer Lohe
stand. Das muss die Kirche sein, dachte der Bursch, und daher muss der Ton
kommen! Rings um die Kirche stand eine ungeheure Menge Menschen, und
alle sahen sie ganz gleich aus! Er brachte sie sofort mit der Kirche in
Verbindung und fuehlte daher vor dem kleinsten Kinde eine mit Furcht
gemischte Achtung. Jetzt muss ich spielen, dachte Thrond und setzte den
Bogen an. Aber was war das? Die Fiedel toente ja nicht mehr.--Da muss an
den Saiten etwas entzwei sein; er untersuchte sie, fand aber nichts.
"Dann muss es daran liegen, dass ich nicht fest genug aufdruecke", und er
drueckte auf, aber die Fiedel war wie zersprungen. Er nahm fuer das Lied,
das die Kirche bedeuten sollte, ein anderes, aber es ging ganz ebenso
schief. Kein Ton, nur ein Gequietsch und Gejammer. Er fuehlte, wie ihm
der kalte Schweiss uebers Gesicht perlte; er dachte an die vielen klugen
Menschen, die hier standen und ihn vielleicht auslachten, ihn, der doch
zu Hause so schoen spielen konnte, hier aber keinen einzigen Ton
hervorbrachte. "Gott sei Dank, dass Mutter nicht hier ist und meine
Schande mit ansieht", sagte er vor sich hin, waehrend er mitten unter den
Menschen zu spielen versuchte,--aber da--da stand sie ja in dem
schwarzen Kleid und zog sich mehr und mehr zurueck. Im selben Augenblick
sah er hoch oben auf der Turmspitze den schwarzhaarigen Mann sitzen, der
ihm die Fiedel geschenkt hatte. "Gib wieder her!" rief er, lachte und
streckte die Arme aus, und die Turmspitze ging auf und nieder mit ihm,
auf und nieder. Der Bursch aber nahm die Fiedel unter den Arm: "Du
kriegst sie nicht!" rief er, drehte sich um und lief davon, weg von der
Menschenschar, von den Haeusern fort, ueber Wiesen und Felder hin, bis er
nicht mehr konnte und umsank.
Da lag er lange, das Gesicht auf der Erde; und als er sich endlich
umdrehte, hoerte und sah er bloss Gottes unendlichen Himmel, der ueber ihm
stand mit seinem ewigen Gebraus. Das war ihm so entsetzlich, dass er sich
wieder zur Erde umdrehen musste. Als er abermals den Kopf hob, fiel sein
Blick auf die Fiedel, die neben ihm lag. "Du hast die ganze Schuld!"
rief der Bursch und hob sie auf, um sie zu zerschlagen, hielt aber inne
und sah sie an.--"Wir haben viel frohe Stunden zusammen gehabt", sagte
er zu sich selbst und schwieg. Aber gleich darauf meinte er: "Die Saiten
muessen herunter, die taugen nichts." Und er holte ein Messer aus der
Tasche und schnitt zu. "Au!" sagte die Quinte kurz und schmerzlich. Der
Bursch schnitt weiter. "Au!" sagte die naechste Saite; der Bursch aber
schnitt weiter. "Au!" sagte die dritte duester,--und nun kam die vierte
an die Reihe. Ein tiefes Weh fasste ihn; die vierte Saite,--die Saite,
der er nie einen Namen zu geben gewagt hatte, die schnitt er nicht
durch. Jetzt hatte er auch die Empfindung, es sei nicht allein die
Schuld der Saiten, wenn er nicht hatte spielen koennen. Da kam die Mutter
langsam zu ihm hinaufgestiegen, um ihn mit nach Hause zu nehmen. Aber
nur noch groessere Furcht packte ihn. Er hielt die Fiedel an den
zerschnittenen Saiten in die Hoehe, stand auf und rief zu ihr hinunter:
"Nein, Mutter! nach Hause komme ich nicht eher wieder, als bis ich das
spielen kann, was ich heut gesehen habe."
* * * * *
DIE GEFAEHRLICHE FREITE
Seit Aslaug erwachsen war, hatte man auf Huseby nicht mehr viel Frieden:
denn dort rauften und pruegelten sich Nacht fuer Nacht die stattlichsten
Burschen des Dorfs. Am schlimmsten war's in der Samstagnacht; aber dann
legte sich der alte Knut Huseby auch nie ins Bett ohne seine Lederhosen
und ohne einen Birkenknuettel.--"Hab' ich nun schon mal eine Tochter, so
will ich sie auch behueten", sagte der Husebyer.
Tore Naesset war nur ein Haeuslersohn; und doch gab es Leute, die
behaupteten, er komme am haeufigsten zu der Bauerntochter von Huseby. Dem
alten Knut passte das nicht; er sagte auch, es sei nicht wahr, "denn er
habe ihn noch nie dort gesehen". Aber die andern lachten sich ins
Faeustchen und meinten, haette er nur alle Ecken gut abgesucht, statt sich
mit den Kerlen zu beschaeftigen, die auf dem Hof und auf der Diele
herumkrakeelten, so haette er Tore schon gefunden.
Der Fruehling ging ins Land, und Aslaug zog mit dem Vieh auf die Alm.
Wenn dann der Tag heiss auf dem Tal lastete, und die Berge sich kuehl ueber
dem Sonnendunst erhoben, wenn die Glocken klangen und der Schaeferhund
bellte, und Aslaug oben auf den Halden jodelte und das Alphorn
blies,--dann wurde den Burschen, die unten auf den Feldern arbeiteten,
das Herz schwer. Und den naechsten Samstagabend liefen sie um die Wette
hinauf. Aber noch schneller kamen sie wieder herunter; denn oben auf der
Alm stand ein Bursch hinter der Tuer und nahm alle Besucher in Empfang
und verwichste sie so gruendlich, dass sie nachher immer an die Worte
dachten, womit er sie begruesst hatte: "Wenn Du 'n andermal
wiederkommst--kriegst Du noch mehr."
Soviel sie wussten, war im ganzen Gau nur einer, der solche Faeuste hatte,
und das musste Tore Naesset sein. Und die reichen Bauernsoehne fanden, es
gehe doch ueber den Spass, dass solch ein Haeuslerbock dort oben auf der
Huseby-Alm so um sich stossen duerfe.
Dasselbe fand auch der alte Knut, als er hiervon hoerte, und er fuegte
hinzu: wenn kein anderer den Kerl unterkriegen koennte, dann wollten er
und seine Soehne es versuchen. Knut kam freilich schon in die Jahre, aber
trotz seiner sechzig wagte er doch mit seinem aeltesten Sohn bisweilen
eine kleine Boxerei, wenn es bei einem froehlichen Gelage gar zu still
wurde.
Zur Huseby-Alm hinauf fuehrte nur ein Weg, und der ging direkt ueber den
Hof. Am naechsten Samstagabend wollte Tore zur Alm hinauf und schlich
ueber den Hof; leichten Fusses und ahnungslos war er schon gluecklich bis
zur Scheune gekommen, als ihm ein Kerl an die Gurgel fuhr. "Was willst
Du von mir?" sagte Tore und schlug ihn zu Boden, dass es nur so krachte.
"Das wirst Du schon merken", sagte ein anderer hinter ihm und packte ihn
am Nacken, das war der Bruder. "Hier kommt der dritte", sagte Knut und
ging ihm zu Leibe.
Tores Kraft wuchs in der Gefahr; er war geschmeidig wie eine Weidengerte
und teilte Hiebe aus, dass es nur so sauste; er duckte sich und wand
sich; wo die Schlaege fielen, war er nicht; wenn sie keine erwarteten,
kriegten sie welche. Seine Pruegel freilich bekam er schliesslich auch,
und das gruendlich, aber der alte Knut sagte spaeter oft, mit einem
handfesteren Kerl sei er nie aneinandergeraten. Sie hielten stand, bis
Blut floss; da aber sagte der Husebyer: "Halt!" und fuegte hinzu: "Kommst
Du naechsten Samstag dem Husebyer Wolf und seinen Jungens aus, dann soll
das Maedchen Dein sein!"
Tore schleppte sich, so gut er konnte, heimwaerts, und als er zu Hause
war, legte er sich zu Bett. Es wurde viel ueber die Pruegelei auf Huseby
gesprochen, aber jeder fragte: "Was wollte er da?"--Eine gab's, die das
nicht sagte, das war Aslaug. Sie hatte jenen Samstagabend ihn so
sehnlich erwartet, und als sie jetzt erfuhr, was fuer eine Geschichte
sich zwischen ihm und ihrem Vater zugetragen hatte, da setzte sie sich
hin und weinte und sprach zu sich selbst: "Kriege ich Tore nicht, dann
habe ich keinen frohen Tag mehr auf der Welt."
Tore blieb den Sonntag ueber liegen, und am Montag merkte er, dass er noch
laenger liegen muesse. Der Dienstag kam, und das war ein gar herrlicher
Tag. Es hatte in der Nacht geregnet, die Berge waren feucht und gruen,
das Fenster stand offen, Laubduft zog herein, die Glocken klangen von
den Bergen hernieder und irgendwer jodelte dort oben;--haette die Mutter
nicht in der Stube gesessen, er haette heulen koennen vor Ungeduld.
Der Mittwoch kam, und noch immer lag er zu Bett; Donnerstag war er
wirklich neugierig, ob er nicht doch Samstag wieder gesund sein werde;
am Freitag stand er auf. Er hatte die Worte, die der Vater gesagt hatte,
gut in Erinnerung: "Kommst Du naechsten Samstag dem Husebyer Wolf und
seinen Jungens aus, so ist das Maedel Dein." Er schaute einmal ums andere
nach Huseby hinueber.--"Ich bekomme da doch bloss meine Pruegel", dachte
Tore.
Zur Huseby-Alm hinauf fuehrte, wie schon gesagt, nur ein Weg; aber ein
tuechtiger Kerl musste doch da hinaufkommen, wenn er auch nicht gerade den
richtigen Weg ging. Wenn er hinausruderte, um die Landzunge herum, und
dann an der andern Seite des Bergs anlegte, konnte er auf jeden Fall
hinaufkraxeln; freilich war es dort so steil, dass die Geiss nur mit
knapper Not weiden konnte, und die pflegt doch im Gebirge nicht gerade
aengstlich zu sein.
Der Samstag erschien, und Tore lief den ganzen Tag draussen herum;--die
Sonne lachte, dass es in den Bueschen sprosste, und in einem fort jodelte
und lockte es von den Bergen her. Er sass noch vor der Tuer, als es auf
den Abend ging und ein dampfender Nebel an den Haengen emporkroch. Er
blickte nach oben,--dort war es still; er blickte nach Huseby
hinueber,--und dann stiess er sein Boot ab und ruderte um die Landzunge
herum.
Auf der Alm sass Aslaug, fertig mit ihrem Tagewerk. Sie dachte, Tore
koenne diesen Abend gewiss nicht kommen; statt seiner werde aber wohl
manch anderer sich einfinden. Da machte sie den Schaeferhund los und
sagte niemand, wohin sie gehe. Sie setzte sich so, dass sie das Tal
ueberschauen konnte, doch da stieg der Nebel auf; und sie getraute sich
auch nicht, hinunterzusehen; denn alles rief Erinnerungen in ihr wach.
Sie ging also weiter, und ehe sie sich's versah, war sie auf der andern
Seite des Bergs. Dort setzte sie sich nieder und blickte auf die See
hinaus. Der senkte ihr Frieden ins Herz, dieser weite Blick auf die See
hinaus. Da kam ihr die Lust, zu singen; sie waehlte ein Lied mit lang
schwingenden Toenen, und der Klang ging weit in die stille Nacht hinaus.
Es machte ihr selbst Vergnuegen, und deshalb sang sie noch einen Vers.
Aber da war's ihr, als antworte jemand aus der Tiefe her. "Herrjeh, was
kann das sein?" dachte Aslaug; sie ging bis an den Abhang und schlang
die Arme um eine schwanke Birke, die sich zitternd nach unten neigte.
Sie blickte hinunter, aber sie sah nichts. Der Fjord lag still da und
ruhte; kein Vogel strich darueber hin. Aslaug setzte sich wieder und sang
weiter; da kam wirklich eine Antwort, in demselben Ton, naeher als das
erstemal. "Da muss doch was los sein"! Aslaug sprang auf und beugte sich
hinueber. Und da sah sie unten an der Bergwand ein Boot, das hier
angelegt hatte; und so tief unten lag es, dass es aussah wie eine kleine
Muschel. Ihre Augen suchten die Stelle ab und erspaehten eine rote Muetze
und darunter einen Burschen, der die fast senkrechte Bergwand
hinaufklomm. "Herrjeh, wer kann das sein?" dachte Aslaug, liess die Birke
los und lief weit nach hinten. Sie wagte nicht, die eigene Frage zu
beantworten, denn sie wusste ja, wer es war. Sie warf sich nieder auf die
Halde und packte das Gras mit beiden Haenden, als sei sie Tore und duerfe
nicht loslassen. Aber die Graswurzeln loesten sich aus dem Erdboden,--sie
schrie laut auf und flehte zu Gott dem Allmaechtigen, Tore zu helfen.
Aber da schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, Tore versuche Gott mit
seinem Tun, und deshalb koenne er keine Hilfe erwarten. "Nur dies eine
Mal", betete sie, und sie fasste den Hund um, als sei es Tore, den sie
festhalten muesse; sie rollte mit ihm ueber die Halde hin, und die Zeit
schien ihr endlos. Aber da riss sich der Hund los. "Wau, wau!" klaeffte er
den Berg hinunter und wedelte mit dem Schwanz. "Wau, wau!" sagte er zu
Aslaug und sprang mit den Vorderpfoten an ihr hinauf. "Wau, wau!" wieder
den Berg hinunter--und da tauchte eine rote Muetze ueber dem Bergrand auf,
und Tore lag an ihrer Brust. Da blieb er viele Minuten liegen, ohne ein
Wort ueber seine Lippen zu bringen, und das, was er schliesslich sagte,
hatte nicht Sinn noch Verstand.
Doch als der alte Knut Huseby dies hoerte, da sagte er etwas, das Sinn
und Verstand hatte; er sagte naemlich: "Der Bursch hat sie verdient; der
soll das Maedel haben."
* * * * *
SYNNOEVE SOLBAKKEN
Erstes Kapitel
In unsern weiten Taelern ragt wohl manchmal eine groessere Anhoehe empor,
die nach allen Seiten freiliegt und von der Sonne den lieben langen Tag
ueber bestrahlt wird. Leute, die dichter am Fuss der Felsen und auf
sonnenaermeren Plaetzen wohnen, nennen solche Anhoehe: Solbakken, d.h.
Sonnenhuegel. Das Maedel, von dem hier die Rede sein soll, wohnte auf
solchem Sonnenhuegel, und von ihm hatte ihr Heimatshof den Namen; dort
blieb der Schnee im Herbst am spaetesten liegen und schmolz im Fruehling
am zeitigsten.
Die Besitzer des Hofes waren Haugianer und wurden "Leser" genannt, weil
sie sich mehr als alle ihre Nachbarn befleissigten, die Bibel zu lesen.
Der Mann hiess Guttorm, die Frau Karen. Sie hatten einen Sohn, aber der
starb ihnen, und nun gingen sie drei Jahre lang nicht auf die Ostseite
der Kirche. Als die drei Jahre um waren, bekamen sie eine Tochter, die
sie gern nach dem toten Knaben nennen wollten. Er hatte Syvert geheissen,
und sie wurde Synnoev getauft, weil sie nichts aehnlicher Klingendes
finden konnten. Aber die Mutter sagte immer "Synnoeve": sie hatte
naemlich, als das Kind noch klein war, die Gewohnheit, seinem Namen am
Ende ein "mein" hinzuzufuegen, und das ging ihr nach dem "e" leichter von
der Zunge, gleichviel--als das Maedchen groesser wurde, hiess sie bei allen
so wie bei ihrer Mutter: Synnoeve. Und es gab nur _eine_ Stimme; seit
Menschengedenken war im ganzen Kreise kein so anmutiges Maedchen
aufgewachsen, wie Synnoeve Solbakken. Schon in ihrem zartesten Alter
nahmen die Eltern sie an jedem Sonntag, an dem eine Predigt war, mit in
die Kirche, obgleich Synnoeve zunaechst nicht mehr verstand, als dass der
Pastor auf den Zuchthaus-Bent schimpfte, den sie unten vor der Kanzel
sitzen sah. Doch der Vater wollte sie mit haben,--"damit sie sich daran
gewoehne", sagte er; und die Mutter wollte es, "weil keiner wissen koenne,
wie auf das Kind unterdessen zu Hause aufgepasst wuerde". Fing auf dem
Hofe ein Lamm, eine kleine Ziege oder ein Ferkel zu verkuemmern an,
erkrankte eine Kuh, dann wurde das Tier sofort Synnoeve geschenkt, und
von der Stunde an, meinte die Mutter, erholte es sich. Der Vater glaubte
nicht recht daran, aber, "jedenfalls war es ja gleichgueltig, wem es
gehoerte wenn es nur gedieh".
Auf der anderen Seite des Tales, dicht an den hohen Felsen, lag ein Hof,
der Granliden, d.i. Tannwald, hiess, weil er mitten in einem grossen
Tannenforst, dem einzigen in weitem Umkreis, lag. Der Urgrossvater des
jetzigen Besitzers hatte sich seinerzeit mit unter der Mannschaft
befunden, die nach Holstein gezogen war, um dort den Russen zu erwarten,
und hatte von dieser Kriegsfahrt eine Menge fremder und merkwuerdiger
Samensorten mitgebracht. Die pflanzte er rings um sein Haus; aber im
Lauf der Zeit war ein Keim nach dem anderen eingegangen; nur aus den
Tannaepfeln, die wunderlicherweise zwischen den Samen geraten waren,
erstand ein dichter Wald, der das Haus jetzt von allen Seiten
beschattete. "Der Holsteinfahrer" hatte Thorbjoern nach seinem Grossvater
geheissen, und sein aeltester Sohn wieder nach seinem Grossvater: Saemund,
und in der Folge trugen die Hofbesitzer immer abwechselnd die Namen:
Thorbjoern und Saemund--seit schier undenklichen Zeiten. Aber es ging die
Sage, nur immer der in der Reihenfolge zweite Mann habe auf Granliden
Glueck, und zwar kein "Thorbjoern". Als dem jetzigen Besitzer Saemund ein
Sohn geboren wurde, kam ihm das wohl in den Sinn; er hatte aber nicht
den Mut, sich gegen den Familienbrauch aufzulehnen, und nannte das Kind
wieder Thorbjoern. Er sann, ob der Junge nicht so erzogen werden koenne,
dass er um den Stein des Anstosses, den ihm das Gerede in den Weg gelegt
hatte, glatt herumkomme. Ganz sicher war er nicht, aber er glaubte zu
bemerken, dass der Bengel ein Hitzkopf sei. "Das wollen wir ihm schon
austreiben", sagte Saemund zu seiner Frau, und als Thorbjoern drei Jahr
alt war, sass sein Vater manchmal mit der Rute in der Hand bei ihm und
zwang ihn, die zerstreuten Holzspaene auf ihren richtigen Platz zu
tragen, den Tassenkopf, den er heruntergeworfen, aufzuheben, die Katze,
die er gekniffen hatte, zu streicheln. Waehrenddessen ging die Mutter
meistens aus der Stube.
Saemund wunderte sich sehr, dass er immer mehr an dem Jungen zu verbessern
fand, je groesser der Bengel wurde. Er hielt ihn zeitig zum Lesen an und
nahm ihn mit auf das Feld, um ein Auge auf ihn zu haben. Die Mutter
hatte ein grosses Hauswesen und kleine Kinder zu besorgen; sie konnte
nicht mehr tun, als den Jungen jeden Morgen beim Anziehen zu streicheln
und zu ermahnen und seinetwegen mit dem Vater an den Feiertagen, da sie
Zeit fuer einander hatten, eindringlich zu reden. Thorbjoern aber dachte
sich, wenn er Pruegel kriegte, weil a-b ab und nicht ba lautet, oder wenn
ihm nicht erlaubt wurde, die kleine Ingrid mit derselben Rute zu hauen,
womit ihn sein Vater schlug: "Es ist doch merkwuerdig, dass ich es so
schlecht haben soll und meine kleinen Geschwister so gut!"
Da er meistens mit seinem Vater zusammen war und nicht viel mit ihm
reden durfte, wurde er wortkarg, doch er dachte sich sein Teil. Einmal,
als sie gerade mit dem nassen Heu beschaeftigt waren, entfuhr ihm doch
eine Frage: "Warum ist in Solbakken das ganze Heu schon trocken und
eingebracht, wenn es bei uns noch nass draussen liegt?"--"Weil sie dort
mehr Sonne haben als wir."--Da merkte er zum ersten Male, dass der
Sonnenglanz, an dem er sich oft erfreut hatte, fuer die drueben sei, und
er eigentlich benachteiligt war. Fortan sah er haeufiger als frueher nach
Solbakken hinueber. "Sitz nicht so da und reisse den Mund auf," sagte der
Vater und versetzte ihm einen Puff; "hier muessen alle rackern, die
Grossen wie die Kleinen, um etwas ins Haus zu kriegen."
Als Thorbjoern sieben oder acht Jahr alt war, nahm Saemund einen neuen
Jungknecht an; er hiess Aslak und hatte sich, trotz seiner Jugend, schon
weit in der Welt herumgetrieben. Am Abend, da er zuzog, lagen die Kinder
schon im Bett, aber wie Thorbjoern am naechsten Morgen am Tisch vor seinem
Lesebuch sass, schlug einer die Stubentuer mit einem Fusstritt auf, wie ihn
Thorbjoern noch nie gehoert hatte--und das war Aslak, der nun mit einem
grossen Haufen Brennholz hereintrampelte und die Scheitern mit einem
Schwung auf die Diele warf, dass sie nur so herumflogen. Dann hopste er
in die Hoehe, um den Schnee abzuschuetteln, und rief bei jedem Hopser:
"Kalt ist es, sagte die Trollbraut, als sie bis zum Guertel im Eis
steckte!" Der Vater war nicht da, die Mutter fegte den Schnee zusammen
und trug ihn, ohne ein Wort zu sagen, hinaus.--"Nach was glotzt Du
denn?" fragte Aslak den Thorbjoern. "Nach nichts", sagte der Junge, denn
er hatte Angst. "Hast Du schon den Hahn dahinten in Deinem Lesebuch
gesehen?"--"Ja."--"Wenn's Buch zu ist, sind auch 'ne Menge Huehner um ihn
herum,--hast Du das auch schon gesehen?"--"Nein."--"Na, dann sieh mal
nach."--Der Junge tat's.--"Schafskopf!" sagte Aslak zu ihm.--Aber von
dieser Stunde an hatte keiner soviel Macht ueber ihn wie Aslak.
"Du kannst gar nichts", sagte eines Tages Aslak zu Thorbjoern, als der
wie gewoehnlich hinter ihm herstapfte.--"Ja, ich kann schon alles bis zur
vierten Seite."--"Das ist was Rechtes! Du hast noch nicht mal was vom
Troll gehoert, der mit dem Maedchen solange tanzte, bis die Sonne aufging,
und dann platzte, wie ein Kalb, das saure Milch gesoffen hat!" So grosse
Kenntnisse hatte Thorbjoern noch nie auf einmal gehoert. "Wo war das?"
fragte er.--"Wo das war? Das war dort drueben in Solbakken."--"Hast Du
denn schon von dem Mann gehoert, der sich dem Teufel fuer ein paar alte
Stiefel verschrieben hat?"--Thorbjoern erstaunte dermassen, dass er vergass
zu antworten.--"Du denkst wohl wieder, wo das war? Das war auch in
Solbakken, dort dicht neben dem Bach, siehst Du? Herrgott, mit der
Christenlehre hapert's noch recht sehr bei Dir. Du hast wohl noch nicht
mal von Kari Baumrock gehoert?"--"Nein"; von der hatte er noch nicht
gehoert. Und waehrend Aslak nun arbeitete, erzaehlte er immer schneller von
Kari Baumrock, von der Muehle, die Salz auf dem Meeresgrunde mahlte, vom
Teufel mit den Holzpantinen, vom Troll, der mit dem Bart im Baumstamm
festsass, von den sieben gruenen Jungfrauen, die aus Schuetzenpeters Wade
die Haare zupften, waehrend er schlief und gar nicht aufwachen
konnte,--und das war alles in Solbakken passiert.--"Lieber Gott, was ist
denn heute in den Jungen gefahren?" sagte die Mutter am naechsten Tage,
"er kniet schon seit heute morgen dort auf der Bank und sieht nach
Solbakken 'rueber."--"Ja, heute strengt er sich an", sagte der Vater, der
seine Glieder reckte und sich den ganzen Sonntag ueber ausruhte. "Er hat
sich mit Synnoeve Solbakken versprochen, erzaehlen die Leute," meinte
Aslak,--"die Leute erzaehlen ja soviel", setzte er hinzu. Thorbjoern
verstand das nicht recht, bekam aber doch einen feuerroten Kopf. Als
Aslak darauf aufmerksam machte, kroch der Junge herunter von der Bank,
nahm seinen Katechismus vor und fing an, darin zu lesen. "Troeste Dich
nur mit Gottes Wort," sagte Aslak, "Du kriegst sie ja doch nicht."
Gegen Ende der Woche dachte Thorbjoern: nun haben die anderen die Sache
vergessen,--und so fragte er seine Mutter ganz leise (denn er schaemte
sich ein bisschen): "Du, wer ist denn Synnoeve Solbakken?"--"Ein kleines
Maedchen, dem mal Solbakken gehoeren wird."--"Hat sie auch einen Baumrock
an?" Die Mutter sah erstaunt auf den Jungen. "Was sagst Du da?" Er
merkte, dass er eine Dummheit gesagt hatte, und schwieg. "Ein huebscheres
Kind hat noch keiner gesehen," fuegte die Mutter hinzu, "und die
Huebschheit hat ihr unser Herrgott zum Lohn beschert, weil sie immer
artig und brav ist und sehr fleissig beim Lernen." Nun wusste er's und
konnt' es beherzigen.
Saemund hatte einmal mit Aslak im Feld zusammen gearbeitet; am Abend
desselben Tages sagte er zu Thorbjoern: "Dass Du mir nicht mehr mit dem
Knecht zusammensteckst!" Aber Thorbjoern achtete nicht darauf. Einige
Zeit darauf hiess es wieder: "Find' ich Dich noch mal bei ihm, dann
geht's Dir schlecht!"--Da schlich der Junge Aslak nach, wenn es der
Vater nicht sah. Der ueberraschte sie, als sie wieder beisammensassen und
plauderten; Thorbjoern bekam Pruegel und wurde in die Stube gejagt. Spaeter
wartete er auf die Gelegenheit, wenn sein Vater im Felde zu tun hatte.
An einem Sonntag, da der Vater in der Kirche war, machte Thorbjoern zu
Hause dumme Streiche. Aslak und er warfen sich mit Schneebaellen. "Nein,
Du tust mir weh,--wir wollen nach was anderem werfen", bat Thorbjoern.
Aslak war sofort bereit, und so warfen sie zuerst nach der duennen Tanne
beim Vorratsschuppen, dann nach dem Schuppentor und endlich nach dem
Fenster.--"Nicht nach den Scheiben, sondern nach dem Rahmen", sagte
Aslak. Aber Thorbjoern traf eine Scheibe; er wurde ganz blass. "Schadet
nichts, wer hat's denn gesehen? wirf nochmal und besser!" Thorbjoern traf
wieder eine Scheibe. "Jetzt will ich nicht mehr." Im selben Augenblick
trat seine aelteste Schwester, die kleine Ingrid aus dem Hause. "Du, wirf
nach der mal!" Und Thorbjoern tat, wie ihm geheissen; das Maedchen weinte,
die Mutter kam heraus und sagte dem Jungen, er solle aufhoeren. "Wirf,
wirf", fluesterte Aslak. Thorbjoern--aufgeregt und in Hitze--warf.--"Du
bist wohl nicht mehr richtig im Kopf", sagte die Mutter und lief auf ihn
zu. Da rannte er fort, sie hinterdrein; Aslak lachte, die Mutter drohte;
endlich fasste sie den Jungen vor einem Schneehaufen und hob schon die
Haende, um ihn ordentlich durchzublaeuen.--"Ich haue wieder," rief er,
"das ist hier so Sitte." Die Mutter liess ganz betroffen die Haende sinken
und sah ihn an. "Das hast Du von einem andern", sagte sie darauf, nahm
ihn still bei der Hand und fuehrte ihn in die Stube. Sie sprach kein Wort
mehr mit ihm, beschaeftigte sich mit seinen kleinen Geschwistern und
erzaehlte ihnen, Vater komme bald aus der Kirche nach Hause. Da begann es
tuechtig heiss in der Stube zu werden. Aslak bat um Erlaubnis, einen
Verwandten zu besuchen, und durfte gleich gehen; aber Thorbjoern wurde
viel kleiner, als Aslak gegangen war. Er hatte schauderhaftes
Magendruecken und so feuchte Haende, dass er damit Flecke in sein Buch
machte. Wenn Mutter nur Vater nichts sagen wollte, wenn er kaeme; aber
sie darum zu bitten, das kriegte er nicht fertig. Es wurde ihm ganz gruen
vor den Augen--und die Uhr an der Wand sagte: "Klaps, klaps". Er musste
zum Fenster hin und nach Solbakken sehen. Das lag still wie immer und
verschneit da und glaenzte wie perlenbedeckt in der Sonne: das Haus
lachte aus allen Fensterscheiben, und von denen war gewiss keine entzwei;
der Rauch zog hoechst vergnuegt aus dem Schornstein und sagte Thorbjoern,
dass auch dort fuer die Kirchgaenger gekocht wurde; Synnoeve sah bestimmt
nach ihrem Vater aus und wuerde nicht ein bisschen Pruegel kriegen. Der
Junge wusste nicht mehr recht, was er anfangen sollte, und wurde mit
einemmal schrecklich zaertlich mit seinen Schwestern. Gegen Ingrid war er
besonders gut und schenkte ihr sogar einen blanken Knopf, den er von
Aslak bekommen hatte. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, und er
umarmte sie auch. "Liebes Ingridchen, bist Du mir boese?"--"Nein, liebes
Thorbjoernchen, Du kannst mich soviel schneeballen, wie Du willst." Aber
da schuettelte sich jemand mit Auftrampeln draussen auf dem Flur den
Schnee ab. Und richtig,--das war Vater. Er schien in sanfter und guter
Stimmung zu sein; und das war noch schlimmer. "Na", sagte er und sah
sich um;--es war merkwuerdig, dass die Wanduhr nicht auf die Diele
rasselte. Die Mutter brachte das Essen. "Wie geht's, wie steht's?"
fragte der Vater, setzte sich hin und nahm seinen Loeffel. Thorbjoern sah
seine Mutter an; die Traenen kamen ihm dabei in die Augen. "So lala",
sagte sie unglaublich langsam, und er merkte wohl, dass sie noch mehr
sagen wollte. "Ich habe Aslak erlaubt, auszugehen", sagte sie.--"Fuer
diesmal bin ich durch", dachte Thorbjoern--und fing mit Ingrid zu spielen
an, als ob nichts andres seine Gedanken beschaeftige. So lange hatte
Vater sich noch nie beim Essen aufgehalten, und Thorbjoern suchte ihm
jeden Bissen nachzuzaehlen, aber als er bis zum vierten gekommen war,
wollte er ausprobieren, wie weit er zwischen dem vierten und fuenften
zaehlen koenne, und da geriet er ganz aus der Ordnung. Endlich stand der
Vater auf und ging hinaus. Die Scheiben, die Scheiben klirrten in des
Jungen Ohren, und er sah nach, ob sie ganz seien, die in der Stube. Ja,
die waren alle ganz. Aber jetzt ging Mutter dem Vater nach. Thorbjoern
nahm die kleine Ingrid auf den Schoss und sagte so sanft, dass sie ihn
ganz erstaunt ansah: "Wollen wir nicht beide 'Goldkoenigin auf der Wiese'
spielen, Du und ich?" Ja, das wollte sie gern. Und nun sang er, waehrend
die Beine unter ihm zitterten:
Feine Blume,
Wiesenblume,
Hoere mir jetzt zu!
Und willst Du meine Liebste sein,
Dann kriegst Du einen Mantel fein,
Mit Gold in Hauf
Und Perlen darauf;
Bimmel, Bammel, Bimmel,
Wie lacht die Sonne vom Himmel!
Da antwortete sie:
Goldkoenigin,
Perlenkoenigin,
Hoere mir jetzt zu:
Mag nicht Deine Liebste sein,
Mag nicht Deinen Mantel fein,
Mit Gold in Hauf
Und Perlen darauf;
Bimmel, Bammel, Bimmel,
Wie lacht die Sonne vom Himmel!
Doch als das Spiel im besten Gange war, trat der Vater wieder in die
Stube und sah Thorbjoern gross an. Der drueckte sich fester an Ingrid und
fiel nicht mal vom Stuhl herunter. Der Vater drehte sich um und sagte
nichts; eine halbe Stunde verging, und er hatte immer noch nichts
gesagt,--und der Junge war schon fast beruhigt und waere beinahe vergnuegt
geworden; aber das traute er sich doch nicht. Er wusste gar nicht mehr,
was er denken sollte, als ihm der Vater selbst beim Ausziehen half; er
fing wieder an, etwas zu zittern; da taetschelte ihm der Vater den Kopf
und streichelte ihm die Backen; das war Thorbjoern nicht passiert, so
lange er denken konnte, und deshalb wurde ihm so warm um das Herz und im
ganzen Koerper, dass seine Furcht zerrann, wie Eis im Sonnenstrahl. Er
wusste nicht, wie er in das Bett kam, und da er weder singen noch laut
reden durfte, faltete er still die Haende, betete ganz leise sechsmal das
Vaterunser vorwaerts und rueckwaerts und fuehlte, waehrend er einschlief,
dass er doch niemand auf Gottes gruener Erde so lieb habe wie seinen
Vater.
Als er am naechsten Morgen im Halbschlaf dalag, empfand er einen
schrecklichen Angstdruck: er sollte Pruegel kriegen, wollte schreien,
konnte aber nicht. Da er die Augen aufschlug, merkte er zu seiner grossen
Erleichterung, dass er nur getraeumt, aber er merkte auch bald, dass ein
anderer Pruegel kriegen sollte, naemlich Aslak. Saemund ging in der Stube
auf und ab--und was solcher Gang zu bedeuten hatte, das wusste Thorbjoern
genau. Der etwas kleine, doch staemmige Mann sah unter den buschigen
Augenbrauen manchmal derart Aslak an, dass der hinlaenglich spuerte, was in
der Luft lag; Aslak selbst sass auf dem Bodenrand einer umgekippten
grossen Tonne und liess seine Beine herunterbaumeln oder zog sie ueber
Kreuz in die Hoehe. Er hatte wie gewoehnlich die Haende in die Hosentaschen
gesteckt und die Muetze auf dem Kopf leicht hintenueber gedrueckt, so dass
das schwarze Haar in vollen Buescheln unter dem Schirm hervorquoll. Sein
etwas schiefer Mund war noch schiefer gezogen, den Kopf hielt er halb
schraeg und blickte durch seine halbgeschlossenen Augenlider von der
Seite nach Saemund hin. "Ja, Dein Junge ist verrueckt," sagte er, "aber
schlimmer ist, dass Dein Pferd den Teufel im Leibe hat." Saemund blieb
stehen: "Du bist ein Flaps", sagte er so, dass die Stube droehnte, und
Aslak die Lider noch dichter schloss. Saemund nahm seinen Gang wieder auf;
Aslak sass eine Weile still da. "Ja, richtig den Teufel im Leibe",
wiederholte er und schielte nach seinem Herrn, um zu sehen, was fuer eine
Wirkung seine Worte haetten. "Waldscheu ist der Gaul", rief Saemund im
Gehen, "einen Baum hast Du ueber ihm gefaellt und jetzt will er nicht mehr
ruhig an den Baeumen vorbei." Aslak hoerte das mit an und erwiderte nach
einer kurzen Pause: "Du kannst ja glauben, was Du willst; Glauben macht
selig; aber dass Du damit Dein Pferd wieder gesund machst, das glaube ich
nicht"--im selben Augenblick jedoch drueckte er sich tiefer in die
Tonne und deckte sein Gesicht mit der Hand. Saemund war fest auf ihn
zugegangen und sagte halblaut, aber in recht unheimlichem Ton: "Du
niedertraechtiger..." "Saemund", erklang eine Stimme vom Herde. Ingebjoerg,
seine Frau war es, die rief und ihn beruhigen wollte, wie sie ihr
Juengstes beruhigte, das auf ihrem Schoss sass, bange war und schreien
wollte. Zuerst wurde das Kind still, dann schwieg auch Saemund, aber er
hielt die fuer einen so staemmigen Mann etwas kleine Faust Aslak dicht
unter die Nase, waehrend er sich vor ihm aufpflanzte und ihm mit
lodernden Blicken foermlich das Gesicht zu versengen suchte. Dann ging
er, wie vorher, auf und ab, sah ihn aber wiederholt hastig an. Aslak
war ganz blass, lachte jedoch mit dem halben Gesicht Thorbjoern zu,
waehrend die andere, Saemund zugewandte Haelfte ganz stramm blieb. "Schenk'
uns Geduld, lieber Gott im Himmel", sagte er nach kurzer Stille, machte
aber flugs den Ellbogen krumm, wie, um einen Schlag abzuwehren. Saemund
war ihm gegenueber stehen geblieben, stampfte nun mit dem Fuss auf den
Boden und schrie dabei mit aller Kraft: "Laestre seinen Namen nicht,
Du--" Ingebjoerg sprang auf, kam mit dem Saeugling heran und legte sanft
die eine Hand auf den erhobenen Arm ihres Mannes. Er sah sie nicht an,
liess aber den Arm sinken. Sie setzte sich, er ging wieder auf und ab;
keiner sprach ein Wort. Nach einiger Zeit liess es Aslak keine Ruhe: "Ja,
der dort oben hat 'ne Menge zu tun in Granliden." "Saemund, Saemund", rief
Ingebjoerg leise und aengstlich, aber bevor er es noch gehoert hatte, war
er zu Aslak hingerast. Der streckte seinen Fuss vor; diesen beiseite
schlagen, am Fuss und am Kragen den Burschen packen, ihn hochheben und
gegen die geschlossene Tuer schleudern, dass die Fuellung in Stuecke ging
und der ganze Kerl kopfueber hinausflog, war fuer Saemund das Werk weniger
Augenblicke. Seine Frau, Thorbjoern, alle Kinder, schrien und baten; das
ganze Haus war ein Jammer. Aber Saemund dem Aslak nach; ohne die Tuer
richtig aufzumachen, nur die Holzstuecke und Splitter fortstossend, packte
er den Knecht zum zweiten Male, trug ihn durch den Flur, hinaus in den
Hof, hob ihn wieder hoch und warf ihn mit aller Macht zu Boden. Und als
er merkte, dass zu viel Schnee dalag, um den Fall wuchtig genug zu
machen, kniete er auf die Brust Aslaks hin, schlug ihm in das Gesicht,
hob ihn zum dritten Male hoch, trug ihn zu einer schneefreieren Stelle
wie der Wolf einen erjagten, zerfleischten Hund, warf ihn wieder hin,
kniete wieder auf ihm--und, wer weiss, welches Ende es genommen haette,
wenn sich nicht Ingebjoerg, den Saeugling auf dem Arm, zwischen die beiden
geworfen haette.--"Mach' uns nicht ungluecklich!" schrie sie.
Eine Weile darauf sass Ingebjoerg in der Stube; Thorbjoern zog sich an,
der Vater ging auf und ab und trank hin und wieder einen Schluck Wasser;
aber die Hand zitterte ihm so dabei, dass das Wasser manchmal ueber den
Tassenrand auf die Diele spritzte. Aslak kam nicht herein, und Ingebjoerg
machte kurz darauf Miene, hinauszugehen. "Bleib", sagte Saemund, mit
einem Ton, als wenn er gar nicht zu ihr spraeche; und sie blieb. Bald
jedoch ging er selbst. Er kam nicht wieder. Thorbjoern las fortwaehrend,
ohne aufzublicken, obgleich er nicht imstande war, den kleinsten Satz
zusammenzubringen.
Weiterhin am Vormittag war das Haus in gewohnter Ordnung, obgleich allen
zumute war, wie nach dem Besuche eines noch nie dagewesenen Fremden.
Thorbjoern wagte endlich auf den Hof zu gehen, und der erste, den er dort
traf, war Aslak, der alle seine Habseligkeiten auf einen
Schlitten--Thorbjoerns Schlitten--geladen hatte. Thorbjoern starrte ihn
an, er sah graesslich aus. Sein Gesicht war mit Blut beklebt und
beschmiert; er hustete und fasste sich oft an seine Brust. Erst blickte
er den Jungen stumm an und stiess darauf hart die Worte hervor: "Ich kann
Deine Augen nicht leiden, Bengel"; dann setzte er sich mit gespreizten
Beinen auf den Schlitten und fuhr bergab. "Du kannst zusehen, wie Du
Deinen Schlitten wiederkriegst", rief er, waehrend er sich noch einmal
umdrehte und lang die Zunge herausstreckte. Dann zog er weiter. In der
naechsten Woche kam der Gerichtsdiener nach Granliden; der Vater ging
oefter fort; die Mutter weinte und war auch ein paarmal fort. "Wo geht
Ihr denn immer hin?" "Ach, Aslak hat uns was Tuechtiges eingebrockt."
Einige Tage darauf wurde die kleine Ingrid ertappt, wie sie sang:
"O Du holdselige Erden
Kannst mir gestohlen werden;
Das Maedel reckt und streckt sich weit;
Der Junge ist nicht recht gescheit;
Die Wirtin kocht nur Sudelbrei,
Der Wirt ist faul und sauft dabei;
Die Katze ist die einzig kluge,
Sie leckt den Milchrahm aus dem Kruge."
Da fragten die Eltern, von wem sie das schoene Lied gelernt habe. "Ja,
von Thorbjoern." Der Junge bekam einen grossen Schreck und stotterte, dass
er es von Aslak habe. Nun wurde ihm unter Androhung gehoeriger Pruegel
verboten, je wieder solche Lieder zu singen oder sie Ingrid zu lehren.
Kurz darauf fluchte die kleine Ingrid. Thorbjoern musste wieder vor das
Gericht, und Saemund meinte, das beste sei, wenn er als Anstifter gleich
die Rute kriege; aber er weinte und gab das hochheilige Versprechen, es
nie wieder tun zu wollen; so kam er fuer diesmal noch davon.
Am Sonntag darauf sagte der Vater zu ihm: "Damit Du zu Hause keine
dummen Streiche machst, sollst Du heute mit mir in die Kirche."
Zweites Kapitel
Die Kirche stellt der Bauer in seinen Gedanken auf einen hohen Platz,
auf einen Platz fuer sie allein; er sieht sie in Heiligkeit, umgeben vom
feierlichen Ernst der Graeber, erfuellt von der frischen Lebenskraft des
Gottesdienstes. Sie ist das einzige Haus, bei dessen Bau er Pracht
entfaltet hat, und deshalb ragt ihre Turmspitze fuer seine Anschauung
weit hoeher, als sie in der Tat ist. Ihre Glocken gruessen ihn am klaren
Sonntagsmorgen den ganzen Weg entlang auf dem Gange zu ihr, und er zieht
immer den Hut vor ihnen ab, als wollte er sagen: "Dank fuer das vorige
Mal!" Es ist ein geheimes Band zwischen ihm und den Glocken. In den
fruehesten Lebensjahren stand er wohl im offenen Haustor und lauschte
ihrem Klang, waehrend unten auf dem Wege die Kirchgaenger still
vorbeizogen; Vater schloss sich an, er selbst war noch zu klein. Damals
verband er so manche verschiedenartige Vorstellungen mit diesem
schweren, starken Schall, der ein oder zwei Stunden zwischen den Felsen
droehnte und sich von einem zum andern schwang; aber eine Vorstellung war
ihm unzertrennbar davon: saubere Roecke und Hosen, Frauen in ihrem besten
Schmuck und Staat, geputzte Pferde mit blankem Geschirr.
Und wenn dann die Glocken sein eigenes Glueck einlaeuten, wenn er selbst
im funkelnagelneuen, aber etwas fuer ihn zu grossen Anzug wichtig an
Vaters Seite zur Kirche geht,--welcher Jubel toent da aus ihrem Klang! Da
koennen sie wohl alle Tore sprengen zu dem, was er schauen soll! Und wenn
sie dann auf dem Rueckweg ueber seinem Kopf laermen, der noch schwer, noch
von den Gesaengen, Gebeten, Pastorsworten, die sich darin wiegen und
kreuzen, wirr ist, wenn alle die frueher nie gesehenen Bilder:
Altargemaelde, Trachten, Personen, vor seinen Augen auf- und
abjagen--dann woelbt auch ihr Gelaeute fuer immer das Dach ueber die
gesammelten Eindruecke und weiht die kleine Kirche ein, die er fortan im
Herzen traegt.
Ist er etwas aelter geworden, dann muss er zu Berg und das Vieh hueten;
aber wenn er an einem schoenen, taufrischen Sonntagsmorgen auf einem
Stein zwischen seiner Herde sitzt, und die Kirchenglocken die Schellen
der Tiere uebertoenen, dann wird er schwermuetig. Denn aus den
Glockentoenen klingt etwas Lustiges, Leichtes, Lockendes von dort unten
herauf; sie wecken die Erinnerung an Bekannte vor und in der Kirche,
an die Freude, dort zu sein, an die vielleicht noch groessere, dort
gewesen zu sein, zu Hause gutes Essen, die Eltern, die Geschwister zu
finden,--sie erzaehlen vom Spiel auf den Grasflecken am vergnueglichen
Sonntagsabend,--und dann geraet das kleine Herz des Jungen in Aufruhr.
Aber schliesslich: es sind doch die Kirchenglocken, die erklingen;
und so sucht und findet er doch in seinem Kopf das Bruchstueck eines
Gesangbuchliedes, das er zur Not auswendig weiss, und er singt es mit
gefalteten Haenden und blickt weit dabei ins Tal hinunter, spricht ein
kurzes Gebet, springt auf und stoesst in sein Hirtenhorn, dass die
Toene gegen die Bergwaende schmettern.
Hier in den stillen Felsentaelern hat die Kirche noch fuer jedes
Lebensalter ihre besondere Sprache, fuer jedes Auge ihr besonderes
Aussehen. Erwachsen und fertig steht sie vor dem Konfirmanden,--mit
aufwaerts gerecktem Finger, halb drohend, halb winkend, vor dem Juengling,
der seine Wahl getroffen hat,--breitschultrig und stark vor dem
sorgenden Mann,--geraeumig und mild vor dem mueden Greise. Mitten im
Gottesdienst werden die juengst geborenen Kinder hereingetragen und
getauft und, wie bekannt, ist waehrend dieser Feier die Andacht am
groessten.
Man kann deshalb nie ein richtiges Bild von den norwegischen Bauern, von
verderbten oder unverdorbenen, wiedergeben, ohne an irgendeiner Stelle
die Kirche als Hintergrund heranzuziehen. Dadurch entsteht eine gewisse
Einfoermigkeit; aber das ist nicht das Schlimmste. Dies sei hier ein fuer
allemal hervorgehoben, und nicht nur mit Bezug auf den Kirchgang, von
dem jetzt berichtet werden soll.
Thorbjoern war sehr vergnuegt ueber den Gang und alles Neue; merkwuerdig
viele Farben spielten in sein Auge draussen vor der Kirche; in ihrem
Inneren fuehlte er den Druck der Stille, der auf allen und allem schon
vor Beginn des Gottesdienstes lag; und obgleich er beim Vorlesen des
Gebetes vergessen hatte, den Kopf zu senken, war es ihm doch, als beuge
der Anblick von den mehreren hundert gesenkten Koepfen auch den seinen.
Der Gesang setzte ein; alle um ihn her sangen mit einemmal; ihm wurde
fast aengstlich zumute. So versunken sass er da, dass er wie aus einem
Traum auffuhr, als die Tuer sacht geoeffnet wurde und ein Mann neben
Vaters Sitz trat. Wie das Lied zu Ende war, gab Vater dem
Hereingekommenen die Hand und fragte: "Wie geht's in Solbakken?"
Thorbjoern schlug die Augen auf, aber so genau er hinsah und suchte,
eine Verbindung zwischen dem Mann und Trollen oder irgend welcher
Hexerei konnte er nicht finden. Der Mann hatte ein sanftes Gesicht,
blondes Haar, grosse blaue Augen unter einer hohen Stirn und eine
stattliche Figur; er laechelte, wenn jemand mit ihm sprach, und sagte auf
alle Worte Saemunds "Ja", sonst redete er wenig.--"Jetzt will ich Dir
auch Synnoeve zeigen", meinte der Vater und wies nach dem Frauenplatz
gerade gegenueber. Dort kniete ein kleines Maedchen oben auf der Bank und
sah ueber den Rand der Bruestung; es war noch blonder als der Mann, so
blond, wie er noch keins gesehen hatte. Rote Baender flatterten von ihrem
Hut ueber dem Flachshaar, und sie lachte ihm zu, so dass er eine ganze
Weile auf nichts anderes blicken konnte als auf ihre weissen Zaehne. In
der einen Hand hielt sie ein blinkendes Gesangbuch, in der anderen ein
zusammengefaltetes, rotgelbes seidnes Taschentuch, und sie machte sich
den Spass, mit dem Taschentuch auf das Gesangbuch zu schlagen. Je mehr er
sie anstarrte, desto mehr lachte sie; und nun wollte er auch auf die
Bank hinauf, ebenso hoch wie sie. Da nickte sie ihm zu. Er sah sie ein
paar Minuten ernst an, dann nickte er. Sie lachte und nickte wieder, und
noch einmal, und noch einmal. Dann lachte sie; nickte aber nicht
mehr,--nach kurzer Zeit, als er nicht mehr daran dachte, nickte sie.
"Ich will auch sehen", hoerte er eine Stimme hinter sich, und im selben
Augenblick wurde er am Bein gepackt und heruntergezerrt, so dass er
beinahe hingefallen waere. Das hatte ein kleiner Bengel zuwege gebracht,
der sich jetzt tapfer auf Thorbjoerns Platz hinaufarbeitete. Aslak hatte
Thorbjoern gruendlich belehrt, wie er mit boesen Buben in der Schule oder
Kirche verfahren sollte, deshalb kniff er den Jungen in sein Hinterteil,
so dass der fast geschrien haette; aber er nahm sich zusammen, krabbelte
schnell herunter und fasste Thorbjoern bei beiden Ohren. Thorbjoern packte
ihn beim Schopf und warf ihn hin; noch schrie der kleine Kerl nicht,
aber er biss seinen Gegner ins Bein. Thorbjoern zog es zurueck und drueckte
das Gesicht des andern fest auf den Boden, da wurde er selbst beim
Kragen genommen und wie ein Strohsack hochgehoben,--von seinem Vater,
der ihn vor sich auf das Knie setzte. "Wenn wir jetzt nicht in der
Kirche waeren, dann kriegtest Du gleich Deine Pruegel", fluesterte er ihm
ins Ohr und packte ihn so fest bei der Hand, dass es Thorbjoern bis zu den
Sohlen prickelte und stach. Dann erinnerte Thorbjoern sich wieder an
Synnoeve und sah zu ihr hinueber; sie war noch auf ihrem frueheren Platz;
aber starrte ganz betroffen und aengstlich vor sich hin. Da fing es in
ihm zu daemmern an; was er getan hatte, musste wohl ganz toll und schlimm
gewesen sein! Sowie sie merkte, dass er sie ansah, kroch sie von der Bank
herunter und liess sich nicht wieder blicken.
Der Kuester, der Pastor trat vor; wohl hoerte er und sah er hin auf
beide--und wieder kam der Kuester und wieder der Pastor--aber er sass
immer noch auf dem Knie seines Vaters und hatte eigentlich nur den einen
Gedanken: wird sie bald wieder hersehen? Der Bengel, der ihn von der
Bank heruntergezogen hatte, hockte weiter hinten auf einem Schemel und
bekam jedesmal, wenn er aufstehen wollte, einen Puff in den Ruecken von
der Hand eines Alten, der auf seinem Stuhl im Halbschlaf nickte, aber
regelmaessig aufwachte, wenn der Junge Miene machte, hochzukommen. "Wird
sie nicht bald wieder hersehen?" dachte Thorbjoern; und jedes rote Band,
das sich in seiner Umgebung bewegte, erinnerte ihn an Synnoeves; und
jedes alte Bild an der Kirchenwand war ebenso gross oder kleiner als sie.
Ja, jetzt streckte sie den Kopf hoch; aber sobald sie Thorbjoern sah,
duckte sie sich wieder.--Der Kuester trat noch einmal vor, und auch der
Pastor; dann laeutete es, und die Gemeinde stand auf. Der Vater sprach
wieder mit dem blonden Mann; sie gingen zusammen zu den Frauenplaetzen
hinueber, wo auch schon alles aufgestanden war. Die erste, die herauskam,
war eine blonde Frau; sie laechelte, aber nicht so ausgesprochen, wie
der Mann, war sehr klein und blass und hielt Synnoeve an der Hand.
Thorbjoern ging gleich auf das Kind zu, aber es lief weg und versteckte
sich hinter seiner Mutter: "Ich will nicht", rief es. "Er ist wohl noch
nie in der Kirche gewesen", sagte die Frau und legte die Hand auf des
Knaben Schulter. "Nein," antwortete Saemund, "sonst haette er sich heute
nicht gepruegelt." Thorbjoern sah ganz beschaemt sie und dann Synnoeve an,
die ihm noch viel ernster schien. Sie gingen alle aus der Kirche--die
aelteren im Gespraech, Thorbjoern hinter Synnoeve; die draengte sich immer
dicht an ihre Mutter, sobald er ihr naeherkam. Den anderen Jungen sah er
nicht mehr. Draussen blieb die ganze Gesellschaft stehen und fing eine
laengere Unterhaltung an. Thorbjoern hoerte mehrmals den Namen "Aslak"
heraus, und da er bange war, dass sie auch ueber ihn selbst reden koennten,
blieb er einige Schritte zurueck. "Du brauchst das nicht mit anzuhoeren,"
sagte die Mutter zu Synnoeve, "geh ein bisschen weiter, mein liebes Kind;
geh, sag' ich." Synnoeve trat widerwillig zurueck. Thorbjoern ging auf sie
zu und sah sie an; und sie sah ihn an; und so standen sie ein Weilchen
und sahen sich an. Endlich sagte sie: "Pfui!"--"Warum sagst Du Pfui!"
fragte er.--"Pfui!" sagte sie noch einmal, "Pfui, Du solltest Dich
lieber was schaemen", setzte sie hinzu.--"Was habe ich denn
getan?"--"Gepruegelt hast Du Dich, waehrend der Pastor dastand und
Gottesdienst hielt,--Pfui!"--"Ja, das ist doch aber schon so lange
her."--Das leuchtete ihr ein, und sie fragte kurz darauf: "Bist Du
Thorbjoern Granliden?"--"Ja, und bist Du Synnoeve Solbakken?"--"Ja, ich
habe immer gehoert, dass Du so'n artiger Junge bist."--"Nein, das ist
nicht wahr; ich bin zu Hause der allerschlimmste", sagte
Thorbjoern.--"Hoer' mal einer an!" sagte Synnoeve und schlug ihre beiden
kleinen Haende zusammen: "Mutter, Mutter, er sagt--"--"Sei still und geh
fort", rief die Mutter und die Kleine machte Halt, ging wieder langsam
und rueckwaertsschreitend nach hinten, heftete aber dabei die grossen,
blauen Augen stetig auf ihre Mutter.--"Ich habe immer gedacht, Du bist
so artig!"--"Ja, manchmal, wenn ich in der Bibel gelesen habe",
antwortete sie.--"Sag' mal, ist es wahr, dass da drueben bei Euch alles
dick voll von Kobolden und Trollen und anderen Hexenkram steckt?" fragte
er und stemmte die eine Hand in die Seite, setzte den einen Fuss vor und
stuetzte sich auf den andern--genau wie Aslak.--"Mutter, Mutter, weisst
Du, was er gesagt hat..."--"Lass mich doch zufrieden, hoerst Du nicht!
Und komm nicht her, wenn Du nicht gerufen wirst!"--Synnoeve musste wieder
langsam nach hinten; sie steckte dabei einen Zipfel vom Taschentuch
zwischen die Zaehne, biss ihn fest und zog daran.--"Ist das also nicht
wahr, dass bei Euch das Huegelvolk jede Nacht unten Musik
macht?"--"Nein!"--"Dann hast Du wohl noch nie bei Euch einen Troll
gesehen?"--"Nein!"--"Aber Jesus soll mir bei..."--"Pfui, so was
darfst Du nicht sagen!"--"Ach was, das schadet nichts", sagte er und
spuckte durch die Zaehne, um ihr zu zeigen, wie weit er spucken
koenne.--"Doch," sagte sie, "dann kommst Du in die Hoelle."--"Meinst Du?"
fragte er bedeutend kleinlauter; denn er dachte, er koenne hoechstens
Pruegel dafuer kriegen, und sein Vater stand ja jetzt weit weg.--"Wer ist
denn bei Euch zu Hause der Staerkste?" fuhr er nach einer Weile fort und
rueckte seine Muetze mehr nach einer Seite.--"Das weiss ich nicht."--"Bei
uns ist es Vater; ja, der ist so stark, dass er Aslak verhauen hat, und
Aslak ist stark, das kannst Du glauben."--"Na ja--"--"Er hat mal ein
Pferd hochgehoben."--"Ein wirkliches Pferd?"--"Ja, das ist wahr, ganz
gewiss wahr--er hat's mir selber erzaehlt."--Daraufhin durfte sie nicht
laenger daran zweifeln.--"Wer ist denn Aslak?" fragte sie.--"Du, das ist
ein ganz Schlimmer, weisst Du; aber Vater hat ihn verhauen; ich sage Dir,
noch nie hat einer soviel Pruegel gekriegt."--"Pruegelt Ihr Euch denn zu
Hause?"--"Ja, manchmal, Ihr nicht?"--"Nein, nie."--"Na, was macht Ihr
denn eigentlich?"--"Mutter sorgt fuers Essen und strickt und naeht. Das
tut Kari auch, aber lange nicht so gut wie Mutter, weil sie faul ist;
Randi besorgt die Kuehe; und Vater und die Knechte arbeiten auf dem Feld
oder auch zu Hause."--Diese Erklaerung befriedigte ihn.--"Abends lesen
wir in der Bibel und singen," fuhr sie fort, "und Sonntags auch."--"Du,
das muss aber langweilig sein."--"Langweilig? Mutter, er sagt..." aber
dann erinnerte sie sich, dass sie das Gespraech der Alten nicht stoeren
durfte.--"Ich habe eine Menge Schafe", sagte sie.--"So?"--"Ja, drei
gehen mit Winterlaemmern und das eine, glaube ich, wirft bestimmt
zweie."--"Schafe hast Du?"--"Ja, auch Kuehe und Ferkel, hast Du
keine?"--"Nein."--"Wenn Du zu uns kommst, dann gebe ich Dir ein Lamm ab;
und, pass mal auf, davon bekommst Du wieder Kleine."--"Das waer' aber ein
Spass!"--Ein Weilchen blieben sie still.--"Kann Ingrid nicht auch ein
Lamm kriegen?" fragte er.--"Wer ist denn Ingrid?"--"Na, Ingrid,
Ingridchen."--Sie kannte doch aber Ingrid gar nicht.--"Ist sie kleiner
als wie Du?"--"Gewiss doch, ungefaehr so gross wie Du."--"Ach, die musst Du
mitbringen, hoerst Du?"--Ja, das wollte er.--"Aber", sagte sie, "wenn Du
ein Lamm bekommst, kann sie ein Ferkel bekommen."--Das fand er auch viel
netter, und nun erzaehlten sie sich etwas von gemeinschaftlichen
Bekannten, von denen sie nicht arg viel hatten. Dann war die
Unterhaltung der Eltern zu Ende, und sie mussten nach Hause gehen.
Nachts traeumte er von Solbakken; er meinte dort lauter weisse Laemmer zu
sehen und zwischen ihnen ein kleines Maedchen mit blondem Haar und roten
Baendern;--Ingrid und er sprachen alle Tage davon. Sie hatten schon im
voraus soviel Laemmer und Ferkel zu besorgen, dass sie es gar nicht
schaffen konnten; aber sie wunderten sich sehr, dass sie nicht sofort zu
Synnoeve durften. "Auf die Einladung von dem Kind?" sagte die Mutter,
"nein, das passt sich nicht."--"Warte bis Sonntag," sagte Thorbjoern,
"dann werden wir ja sehen."
Der Sonntag kam. "Du sollst so sehr prahlen und luegen und fluchen,"
sagte Synnoeve zu ihm, "und da darfst Du nicht zu uns kommen, bis Du das
nie wieder tust."--"Wer hat das gesagt?" fragte Thorbjoern
erstaunt.--"Mutter."
Ingrid erwartete ihn schon sehr gespannt zu Hause. Als er wiederkam,
erzaehlte er, wie es ihm ergangen war. "Da hast Du's", sagte die Mutter.
Aber von dieser Stunde erinnerten sie ihn jedesmal daran, wenn er
fluchte oder prahlte. Dabei kam es einmal zwischen ihm und Ingrid bis
zur Pruegelei, weil sie nicht einig darueber wurden, ob "mich soll gleich
der Hund beissen" als Fluch gelten duerfe oder nicht. Ingrid bekam Schlaege
von ihm, und nun gebrauchte er die Redensart den ganzen Tag. Doch abends
hoerte sie der Vater. "Gleich wird er Dich beissen", sagte er, und nahm
sich Thorbjoern so vor, dass dieser hinpurzelte. Da schaemte er sich, und
am meisten vor Ingrid; aber kurz darauf ging sie zu ihm und streichelte
ihn.
Endlich, nach ein paar Monaten, durften sie hinueber nach Solbakken; dann
kam Synnoeve zu ihnen, sie beide wieder zu ihr, und so verkehrten sie die
ganzen folgenden Jahre zusammen. Thorbjoern und Synnoeve wetteiferten beim
Lernen miteinander; sie gingen in dieselbe Klasse, und zuletzt ueberholte
er sie; er wurde ein so tuechtiger Schueler, dass der Pastor sich seiner
ganz besonders annahm. Ingrid kam nicht recht mit, und die beiden halfen
ihr; sie und Synnoeve wurden unzertrennlich, die Leute nannten sie
"Schneehuehner", weil sie beide immer zusammen ausflogen und so hell
aussahen.
Aber mitten drin wurde Synnoeve oft mit Thorbjoern boese, weil er so wild
war und immer in Haendel geriet. Dann versoehnte Ingrid sie, und sie
lebten wieder als gute Freunde wie zuvor. Doch hoerte Synnoeves Mutter von
einer seiner Schlaegereien, so erlaubte sie nicht, dass er in derselben
Woche, kaum in der naechsten, nach Solbakken kam. Saemund durfte nichts
davon erfahren; er geht so hart mit dem Jungen um, sagte seine Frau und
verbot, davon zu reden.
Als sie heranwuchsen, waren alle drei fein anzusehen; jedes hatte seinen
besonderen Vorzug. Synnoeve wurde gross und schlank, bekam goldblondes
Haar und ein zartes, leuchtendes Gesicht mit stillen, blauen Augen. Beim
Sprechen laechelte sie, und bald hiess es bei den Leuten: "Zum Segen wird
es jedem, den Synnoeves Laecheln trifft." Ingrid war untersetzter und
dicker; sie hatte noch blonderes Haar als Synnoeve und ein ganz kleines
rundes Gesicht mit weichen Zuegen. Thorbjoern war mittelgross, besonders
gut gewachsen, hatte schwarze Haare, dunkelblaue Augen, einen
scharfgeschnittenen Kopf und starke Gliedmassen. Geriet er in Hitze, dann
sagte er gewoehnlich, er koennte ebenso gut lesen und schreiben wie der
Lehrer und fuerchte keinen Menschen im ganzen Tal;--bis auf seinen Vater,
dachte er, aber das sprach er nicht aus.
Er wollte schon frueh konfirmiert werden; aber daraus wurde nichts.
"Solange Du noch nicht konfirmiert bist, giltst Du noch als Junge, und
ich habe Dich mehr in meiner Gewalt", sagte sein Vater; infolgedessen
ging er erst zur selben Zeit wie Synnoeve und Ingrid zum Pastor. Auch
Synnoeve hatte lange warten muessen, fast bis zu ihrem sechzehnten
Lebensjahr. "Man kann nie genug wissen, wenn man sein Bekenntnis vor
Gott ablegen soll", hatte die Mutter gesagt, und der Vater, Guttorm
Solbakken, hatte zugestimmt. Daher war es nicht eben unerklaerlich, dass
sich schon zwei Freier meldeten: der eine der Sohn eines besseren
Mannes, der andere ein reicher Nachbar. "Da hoert doch alles auf,--sie
ist ja noch nicht mal konfirmiert."--"Dann wollen wir sie konfirmieren
lassen", sagte der Vater. Aber davon erfuhr Synnoeve nichts.
Der Frau und den Toechtern des Pastors gefiel sie so gut, dass sie von
ihnen zu einem Gespraech in das Haus gerufen wurde. Ingrid und Thorbjoern
standen unterdessen mit den anderen Konfirmanden draussen, und als einer
von den Burschen zu ihm sagte: "Du darfst nicht mit 'rein? Pass' auf, die
schnappen sie Dir bestimmt fort", da brachten ihm diese Worte ein blaues
Auge ein. Seitdem machten sich seine Kameraden immer ein Vergnuegen
daraus, Thorbjoern mit Synnoeve zu necken, weil sie genau wussten, dass
nichts anderes ihn so aergern und in Wut versetzen konnte. Schliesslich
kam es, nach vorheriger Verabredung, in einem Walde beim Pfarrhof
deswegen zu einer tuechtigen Rauferei, die sich so zuspitzte, dass
Thorbjoern es mit einem ganzen Haufen Angreifer auf einmal zu tun
kriegte. Die Maedchen waren schon vorausgegangen, und daher niemand da,
der dazwischen treten und die Burschen trennen konnte; immer hitziger
und hitziger wurden die Gemueter. Thorbjoern wollte auch der Uebermacht
gegenueber nicht klein beigeben und war nicht waehlerisch in der Art
seiner Verteidigung; dabei hagelte es Hiebe, die spaeter selber den
Vorfall kundtaten. Nun kam auch die Veranlassung heraus und wurde
ueberall viel besprochen.
Am naechsten Sonntag wollte Thorbjoern nicht in die Kirche, und als er am
folgenden Tage in die Pastorstunde sollte, stellte er sich krank;
deshalb ging Ingrid allein. Bei ihrer Rueckkehr fragte er sie, was
Synnoeve gesagt habe. "Nichts."
Als er nun wieder mitging, glaubte er zu bemerken, dass alle Leute ihn
ansaehen und die Konfirmanden grinsten und kicherten. Synnoeve kam spaeter
als die andern und war nachher viel im Pastorhause. Er fuerchtete vom
Pastor ausgescholten zu werden, aber er entdeckte schnell, dass nur zwei
nichts von der Rauferei wussten, sein Vater und der Pastor. Das war ja
soweit ganz gut; aber wie er mit Synnoeve wieder in ein Gespraech kommen
koenne, das wusste er nicht; denn es genierte ihn zum erstenmal, Ingrid um
Hilfe zu bitten. Nach Schluss des Unterrichts ging Synnoeve wieder zu
Pastors; er wartete, solange noch andere dablieben, musste aber dann auch
fort. Ingrid war schon weit voraus.
Das naechste Mal war Synnoeve frueher als alle uebrigen gekommen und
spazierte mit einer der Pastorstoechter und einem jungen Herrn im Garten
umher. Das Fraeulein zog Blumen mit der Wurzel heraus und gab sie
Synnoeve; der Herr half dabei; und Thorbjoern stand mit den andern draussen
und sah zu. Da drin sehr laut gesprochen wurde, hoerten sie, wie man
Synnoeve erklaerte, in welcher Weise diese Blumen eingesetzt werden
muessten, und wie sie versprach, das selbst zu tun, damit es sorgfaeltig
gemacht wuerde. "Das kannst Du ja gar nicht allein," sagte der Herr; und
das gab Thorbjoern zu denken.--Als Synnoeve zu den andern herauskam, wurde
sie von ihnen mit noch groesserer Achtung wie gewoehnlich begruesst; sie
schritt aber direkt auf Ingrid zu, sagte ihr guten Tag und bat sie, mit
ihr auf die Wiese zu gehen. Dort setzten sie sich hin; sie hatten sich
ja lange nicht richtig ausgesprochen. Thorbjoern stand wieder bei den
andern und sah nach Synnoeves feinen, auslaendischen Blumen.
An diesem Tage ging Synnoeve zu derselben Zeit wie die uebrigen nach
Hause. "Darf ich Dir vielleicht die Blumen tragen?" fragte
Thorbjoern.--"Bitte", antwortete sie sanft, doch ohne ihn anzusehen,
fasste Ingrid bei der Hand und schritt mit ihr voran. Am Wege nach
Solbakken blieb sie stehen und nahm von Ingrid Abschied. "Das Stueckchen
kann ich sie schon selbst tragen", sagte sie und hob den Korb auf, den
Thorbjoern hingesetzt hatte. Bei jedem Schritt bis hierher war es
eigentlich seine Absicht gewesen, ihr anzubieten, die Blumen fuer sie
einzupflanzen, aber nun brachte er es nicht mehr uebers Herz, weil sie
sich zu schnell umdrehte. Doch konnte er an nichts anderes denken, als
dass er ihr eigentlich dabei helfen muesste. "Wovon sprecht Ihr denn?"
fragte er Ingrid. "Von nichts."
Als er alle im Bett wusste, zog er sich wieder an und verliess den Hof.
Der Abend war schoen, war mild und still, der Himmel von duennen,
blaugrauen Wolken ueberzogen; ihr Flor hatte sich hier und dort geloest,
und nun sah es aus, als ob blaue Augen von oben Umschau hielten. Keine
Menschenseele liess sich bei den Hoefen und weiter draussen blicken, doch
ueberall im Grase zirpten die Heuschrecken; rechts lockte eine Wachtel,
links antwortete eine zweite, und nun erhob sich auf allen Seiten ein
Singen, so dass ihm, dem Dahinschreitenden, zumute war, als ob er in
grosser Begleitschaft ginge, wenngleich er nicht das Geringste davon
sehen konnte. Der Wald zog sich blau, dann dunkler und dunkler die
Boeschungen entlang und nahm sich zuletzt wie ein grosses Nebelmeer aus;
aber durch den wogenden Schleier hoerte er den Auerhahn sich melden und
laut werden, eine einzelne Eule schrie und der Wasserfall sang seine
alten, harten Reime staerker als je;--jetzt, da sich alles niedergelassen
hatte, um sie anzuhoeren. Thorbjoern sah nach Solbakken hinueber und
schritt weiter. Er bog vom gewoehnlichen Wege ab, kam schnell vorwaerts
und bald stand er in dem kleinen Garten, der Synnoeve gehoerte und
unterhalb eines Bodenfensters lag, gerade des Fensters, hinter dem sie
schlief. Er lauschte und lugte, alles war leer und still, dann sah er
sich im Garten nach Arbeitsgeraeten um und fand richtig sowohl Spaten wie
Harke. Der Anfang zu einem Beet war schon versucht worden; aber nur ein
kleiner Streifen fertig; zwei Blumen hatte jemand bereits eingesetzt,
vermutlich um zu probieren, wie es aussehe. "Die Aermste ist muede
geworden und wieder weggegangen", dachte er; "hier muss ein Mann 'ran",
dachte er weiter, und machte sich an das Werk. Er verspuerte nicht die
geringste Lust zum Schlaf; ja, nie schien ihm eine Arbeit leichter von
der Hand gegangen zu sein. Er erinnerte sich, wie die Blumen eingesetzt
werden muessten, erinnerte sich, wie sie im Pfarrhof standen, und
beachtete beides gewissenhaft dabei. So verging die Nacht, er merkte
nichts davon; er goennte sich kaum ein Weilchen zum Ausruhen, grub das
ganze Beet um, pflanzte die Blumen ein, versetzte eine oder die andere,
damit es noch schoener aussehe, und guckte ab und zu nach dem
Bodenfenster, ob er doch vielleicht bemerkt wurde. Weder dort noch
anderswo war jemand zu sehen; er hoerte nicht einmal einen Hund bellen,
bevor der Hahn kraehte und die Voegel im Walde erwachten, sich,--jetzt
dieser, jetzt jener,--aufsetzten, um "Guten Morgen" zu singen. Waehrend
er rings um das Beet die Erde mit dem Spaten festschlug, fielen ihm die
Maerchen von Aslak ein, und er erinnerte sich, wie er damals geglaubt
hatte, in Solbakken wuechsen Trolle und Kobolde aus der Erde. Da sah er
zum Bodenfenster hinauf und laechelte: Was wird sich wohl Synnoeve denken,
wenn sie herunterkommt? Es wurde ganz hell; die Voegel vollfuehrten schon
einen schauderhaften Spektakel; schnell sprang er ueber den Zaun und
machte, dass er nach Hause kam. So! Nun sollte mal einer beweisen, dass er
Synnoeves Blumen eingepflanzt habe.
Drittes Kapitel
Bald wurde ringsum im ganzen Kirchspiel allerhand ueber die beiden
geredet; aber etwas Sicheres wusste keiner zu sagen. Nie wurde Thorbjoern
nach der Konfirmation in Solbakken gesehen; und das konnten die Leute
gar nicht begreifen. Ingrid kam oft hinunter, und dann machten sie und
Synnoeve gern einen Spaziergang in den Wald.--"Bleib nicht zu lange",
rief Synnoeves Mutter der Tochter nach.--"Nein", antwortete sie--und kam
erst abends nach Hause. Die beiden Freier stellten sich wieder ein. "Sie
soll selbst darueber bestimmen", sagte die Mutter, und der Vater meinte
dasselbe; als sie nun Synnoeve beiseite nahmen, gab sie ihnen fuer die
Bewerber einen Korb. Es meldeten sich mehr; aber niemand hoerte, dass
einer mit seinem Antrag in Solbakken Glueck gehabt hatte. Eines Tages
scheuerten Mutter und Tochter zusammen Milchkuebel, und da fragte die
Mutter, wer ihr eigentlich in Gedanken liege; das kam dem Maedchen so
unerwartet, dass es ganz rot wurde. "Hast Du Dich schon einem
versprochen?" fragte die Mutter weiter und sah sie fest dabei an.
"Nein", antwortete Synnoeve schnell. Seitdem wurde von dergleichen nicht
mehr geredet.
Da sie weit und breit fuer die beste Partie galt, folgten ihr lange
Blicke, wenn sie zur Kirche ging, der einzigen Staette, wo sie ausser dem
Hause zu sehen war; sie beteiligte sich naemlich nicht am Tanz oder
sonstigen lauten Festlichkeiten, weil ihre Eltern zu den Haugianern
gehoerten. Thorbjoern sass ihr im Kirchstuhl gerade gegenueber; aber sie
sprachen, soweit es zu bemerken war, nie zusammen. Soviel meinten alle
zu wissen, dass etwas mit den beiden sein musste, und da sie nicht in
derselben Weise wie andere Liebespaerchen miteinander verkehrten, wurde
desto mehr ueber sie gesprochen. Thorbjoern war nicht sehr beliebt. Das
empfand er selbst; denn er stellte sich besonders ungeschlacht an, wenn
er unter die Leute kam, wie beim Tanz oder auf Hochzeiten, und dadurch
passierte es ihm wiederholt, dass er in eine Rauferei verwickelt wurde.
Das liess aber nach, als er einigen beigebracht hatte, wie stark er war;
und dadurch wieder gewoehnte er sich, auf seinem Weg keinen andern zu
dulden.--"Nun hast Du freie Hand ueber Dich," sagte sein Vater Saemund,
"aber denke dran, dass meine vielleicht doch noch staerker ist als Deine."
Der Herbst, der Winter verging, der Fruehling kam heran, und noch immer
hatten die Leute nichts Gewisses heraus. Die Koerbe, die Synnoeve
ausgeteilt hatte, und das Gerede darueber bewirkten, dass sie sich fast
allein ueberlassen blieb. Nur Ingrid leistete ihr Gesellschaft; sie
sollten auch zusammen auf die Alm in diesem Jahr, da die Solbakkener
einen Anteil an der Granlidener Weide oben gekauft hatten. Thorbjoern
richtete mancherlei fuer sie, und man hoerte ihn dabei laut von der Hoehe
heruntersingen.
Einmal als er kurz vor der Abenddaemmerung mit seiner Arbeit fertig war,
setzte er sich hin und dachte ueber alles moegliche nach; doch
hauptsaechlich ueber die Redereien der Leute. Er streckte sich in das
rotbraune Heidekraut, legte die Haende unter den Kopf und starrte zum
Himmel, der sich ueber den dichten Baumkronen blau und leuchtend hinzog;
die gruenen Blaetter und Nadeln flossen wie ein zitternder Strom hinein
und die dunklen Zweige zeichneten seltsame, wilde Figuren darauf. Der
Himmel selbst war nur dann genau dort zu sehen, wenn ein Blatt beiseite
flatterte; weiter oben zwischen den Kronen, die einander nicht nahe
kamen, brach er wie eine breite Bergflut hervor und lief in lustigen
Schwingungen ueber ihnen hin. Dadurch kam Thorbjoern in eine eigene
Stimmung, und seine Gedanken beschaeftigten sich weiter mit dem, was er
sah.----
----Die Birke lachte wieder mit tausend Augen zur Tanne auf; die Kiefer
starrte voll stummer Verachtung mit ihren Nadeln nach allen Seiten; denn
jedesmal, wenn die Luefte weicher wurden, schossen mehr und mehr
Siechlinge auf, rannten ihr in den Weg und steckten ihr das frische Laub
gerade unter die Nase. "Ihr Bande, wo wart Ihr denn im Winter?" fragte
die Kiefer, faechelte sich und schwitzte Harz bei der unertraeglichen
Hitze. "Das ist beinah zu toll--so hoch im Norden--pfui!"
Aber da war noch eine,--eine alte, kahle Kiefer, die ueber alle uebrigen
Baeume hinwegsah, und doch einen fingerreichen Zweig fast lotrecht
niederbeugen und einen dreisten Ahorn ganz oben am Schopf nehmen konnte,
so dass ihm die Knie zitterten. Dieser klafterdicken Kiefer hatten die
Menschen nach der Spitze zu immer mehr und mehr Zweige abgeholzt, bis
ihr einmal die Geschichte zu bunt wurde und sie derart seitwaerts schoss,
dass die duenne Fichte neben ihr einen Schreck kriegte und sie fragte, ob
sie nicht an die Winterstuerme denke. "Na und ob!" sagte die Kiefer und
klatschte ihr mit Hilfe des Nordwinds so heftig eins um die Ohren, dass
sie fast ihre Haltung und Wuerde dabei verlor; und das war recht schlimm.
Die gliederstarke, finstere Kiefer hatte nun mit einem maechtigen Fuss
Boden gefasst; sechs Ellen hoch ragten die Zehen aus der Erde; und dass
sie dicker waren als an ihrer dicksten Stelle die Weide, hatte die Weide
selbst eines Abends verschaemt dem Hopfen zugefluestert, als er sie
verliebt umspannte. Ihrer Kraft war sich die baertige Kiefer voll bewusst;
Zweig an Zweig jagte sie hoch ueber der Menschen Machtbereich in die
wilde Luft, und rief dabei den Menschen zu: "Nun, holt sie Euch!"
"Nein, die koennen sie Dir nicht fortholen", sagte der Adler, liess sich
gnaedig auf der Kiefer nieder, schlug die Fluegel mit Anstand zusammen und
wischte sich einige haessliche Flecke Viehblut vom Gefieder.--"Ich meine,
ich koennte die Koenigin bitten, hier ihren Aufenthalt zu waehlen;--sie ist
traechtig mit mehreren Eiern; sie wird bald legen", fuegte er leiser hinzu
und senkte den Blick auf seine kahlen Fuesse; er schaemte sich, dass ihn
holde Erinnerungen an jene fruehesten Lenztage ueberkamen, da die erste
Sonnenwaerme halbtoll macht. Bald hob er die Augen wieder und sah starr
unter den buschigen Brauen auf zu den schwarzen Felsruecken, ob nicht die
eierschwere, kraenkelnde Koenigin von dort herniedersegele. Er flog auf,
und schon konnte die Kiefer das Paar in der klaren, blauen Luft
erkennen, wie es in gleicher Linie mit dem hoechsten Felsgipfel
dahinstrich und ueber seine haeuslichen Angelegenheiten verhandelte. Sie
war nicht frei von einer gewissen Unruhe; denn so vornehm sie sich auch
schon duenkte, so musste sie doch noch vornehmer werden, wenn sie ein
Adlerpaar wiegte. Es kam herab, kam direkt auf sie zu; ohne einen Ton
von sich zu geben, begann es eifrig Reisig heranzuschaffen. Die Kiefer
machte sich, wenn moeglich, noch breiter,--daran konnte sie keiner
hindern.
Aber im ganzen Wald erhob sich ein eifriges Geraune, als alles sah, was
fuer eine Ehre der Riesenkiefer erwiesen wurde. Da war unter anderen auch
eine kleine, nette Birke, die sich in einem Weiher spiegelte und sich
ein gewisses Anrecht auf die Liebe eines Haenflings einredete, der auf
ihr gewoehnlich seinen Mittagsschlaf hielt. Sie hatte ihm ihren Duft in
den Schnabel gehaucht, Fliegen und Muecken auf ihre Blaetter festgeklebt,
so dass sie leicht genug zu fangen waren, ja, zuletzt hatte sie in der
Hitze ein dichtes Haeuschen von Zweigen gebaut und mit Blaettern gedeckt,
so dass der Haenfling wirklich im Begriff war, es als Sommerwohnung zu
benutzen. Jetzt aber: der Adler hatte sich in der Riesenkiefer
festgesetzt, und fort musste der Haenfling. Ach, die Trauer! Er trillerte
noch ein Abschiedslied; aber nur ganz leise, damit es der Adler nicht
hoere.
Nicht besser erging es einigen kleinen Sperlingen im Elsenstrauch. Sie
hatten dort ein so suendiges Leben gefuehrt, dass die Drossel, nebenan in
der Esche, nie zur gehoerigen Zeit schlafen konnte, oft ganz ausser sich
wurde und schimpfte. Das hatte einen ernsten Schwarzspecht derart zum
Lachen gebracht, dass er beinah vom Ast gepurzelt waere. Nun sahen sie den
Adler auf der Riesenkiefer; und Drossel, Sperlinge, Schwarzspecht und
alles, was fliegen konnte, musste ueber Hals und Kopf fort, ueber und unter
die Zweige. Die Drossel versicherte auffliegend mit einem Fluch, dass sie
nie mehr eine Wohnung nehmen werde, in deren Nachbarschaft Sperlinge
hausten.
So stand der Wald in weitem Umkreis verlassen und nachdenklich im
heiteren Sonnenschein. Er sollte Freude an der Kiefer haben; aber die
Freude war recht maessig. Kam der Nordwind, dann bog er sich bange, dann
peitschte die Riesenkiefer mit ihren maechtigen Zweigen die Luefte,--ruhig
und bedachtsam umflog sie der Adler, als ob ihn nur ein schwacher
Windstoss streifte und etwas kuemmerlichen Weihrauch vom Wald zu ihm
hinauftruege. Aber die ganze Kiefernfamilie war froh und stolz. Keins
ihrer Mitglieder dachte daran, dass es selbst in diesem Jahr gar nichts
wiegte. "Weg damit", sagten sie, "wir gehoeren zu einem vornehmen Stamm."
"------Woran denkst Du denn?" fragte Ingrid, die ploetzlich laechelnd
hinter ihm zwischen Strauchwerk stand, das sie zur Seite gebogen hatte.
Nun trat sie vor. Thorbjoern stand auf. "Na, es kann einem wohl manches
durch den Kopf gehen", sagte er und sah mit trotzigem Gesichtsausdruck
ueber die Baeume hin.--"Das Gerede und Geklatsche da unten wird mir
schliesslich zu arg", fuegte er hinzu und klopfte sich etwas Erde
ab.--"Warum bekuemmerst Du Dich immer darum; lass doch die Leute
reden."--"Ich weiss nicht recht;--aber--sie haben noch nie etwas gesagt,
was ich nicht dachte, wenn ich's auch nicht getan habe."--"Du, das
klingt haesslich."--"Das tut's auch", sagte er und fuhr nach kurzer Pause
fort: "Aber wahr ist's." Sie setzte sich in das Gras; er blieb stehen
und blickte zu Boden. "Ich koennte leicht so werden, wie sie mich haben
wollen; sie sollten mich so lassen, wie ich bin."--"Am Ende ist es aber
doch Deine Schuld."--"Wohl moeglich, aber die andern haben auch Schuld;
sie sollen mich zufrieden lassen", schrie er fast und sah zu dem Adler
hinauf. "Aber, Thorbjoern", fluesterte Ingrid. Er drehte sich zu ihr hin
und lachte: "Schon gut, schon gut, wie gesagt, es kann einem wohl
manches durch den Kopf gehen--hast Du heute mit Synnoeve
gesprochen?"--"Ja, sie ist schon auf die Alm
gezogen."--"Heute?"--"Ja."--"Mit dem Solbakkener
Vieh?"--"Ja."--"Trallala!"
Auf den Baum die Sonne herniedersah:
Trallalirum!
Mein Schatz, wie stehst Du so leuchtend da?
Trallali, trallala!
Der Vogel erwachte, er piept:
Was gibts? Was ist los? Was gibts?--
"Morgen ziehen wir auch hinauf", sagte Ingrid, um ihn auf andere Gedanken
zu bringen. "Ich gehe mit als Treiber", sagte Thorbjoern.--"Nein",
antwortete sie, "Vater will selbst mit."--"Ja so", meinte er und
schwieg. "Er hat heute nach Dir gefragt", fuhr sie fort. "Wirklich?"
sagte Thorbjoern, schnitt mit seinem Taschenmesser einen Zweig ab und
begann ihn abzuschaelen. "Du musst oefter mit Vater reden," sagte sie
sanft, "er hat Dich sehr lieb," setzte sie hinzu. "Wohl moeglich",
meinte er. "Er spricht oft von Dir, wenn Du fort bist!"--"Desto
seltener, wenn ich zu Hause bin."--"Das ist Deine Schuld."--"Wohl
moeglich."--"Rede nicht so, Thorbjoern, Du weisst, was zwischen Euch
liegt."--"Was denn?"--"Brauche ich Dir das erst zu sagen?"--"Das kommt
auf eins 'raus, Ingrid; Du weisst ja, was ich weiss."--"Jawohl, Du gehst
zu sehr auf eigene Faust los, und Du weisst, das kann er nicht
leiden."--"Natuerlich, er will mich noch beim Arm halten."--"Ja,
besonders wenn Du raufst."--"Duerfen denn die Leute alles sagen und tun,
was sie wollen?"--"Nein, aber Du kannst ihnen auch mehr aus dem Wege
gehen; das hat Vater immer getan und ist dabei ein geachteter Mann
geworden."--"Sie haben ihn auch nicht soviel wie mich gereizt und
geaergert."--Ingrid schwieg eine Weile, sah sich um und sagte dann: "Das
nuetzt ja nichts, wenn wir immer wieder davon reden; aber trotzdem--wenn
Du weisst, dass die Leute irgendwo etwas gegen Dich haben, brauchst Du
nicht gerade dorthin zu gehen."--"Ja, gerade dorthin! Ich heisse nicht
umsonst Thorbjoern Granliden!"--Er hatte den Bast vom Zweige abgeschaelt
und schnitt nun den Zweig mitten durch. Ingrid sah ihn an und fragte
etwas gedehnt: "Willst Du Sonntag nach Nordhoug?"--"Ja."--Sie blieb eine
Weile stumm, dann fragte sie, ohne ihn anzusehen: "Weisst Du, dass Knud
Nordhoug zur Hochzeit seiner Schwester nach Hause gekommen
ist?"--"Ja."--Nun sah sie ihn an: "Thorbjoern! Thorbjoern!"--"Darf er
jetzt mehr als frueher wagen, sich zwischen mich und andere zu
stellen?"--"Das tut er nicht; nicht mehr, als die anderen
wollen."--"Keiner weiss, was sie wollen!"--"Du weisst es ganz gut."--"Sie
selber sagt keinesfalls was."--"Ach, was redest Du da zusammen!" sagte
Ingrid und warf einen Blick rueckwaerts. Er schmiss die Zweigstuecke fort,
steckte sein Messer in die Scheide und wandte sich der Schwester zu.
"Hoer' mal, ich habe es oft recht satt. Die Leute schneiden mir und ihr
die Ehre ab, weil nichts offenkundig zugeht; und andererseits--ich komme
ja nicht einmal nach Solbakken hinueber, die Eltern koennen mich nicht
leiden, sagt sie. Ich darf sie nicht besuchen, wie andere Burschen ihre
Maedchen, weil sie eine Heilige ist--na, Du weisst ja."--"Thorbjoern",
sagte Ingrid und wurde immer unruhiger, als er fortfuhr: "Vater will
kein gutes Wort fuer mich einlegen; verdienst Du sie, dann kriegst Du
sie, sagt er. Geschwaetz, Geschwaetz auf der einen Seite und nichts, was
dafuer entschaedigt auf der andern--ja, ich weiss noch nicht mal recht, ob
sie--" Ingrid sprang auf, schloss ihm mit der einen Hand den Mund und
blickte dabei rueckwaerts. Da wurde das Strauchwerk wieder beiseite
gebogen, ein hohes, schlankes Maedchen mit erroetendem Gesicht trat daraus
hervor; es war Synnoeve.
"Guten Abend", sagte sie. Ingrid sah Thorbjoern an, als wollte sie sagen:
"Jetzt sieh mal!"--Thorbjoern sah Ingrid an, als wollte er sagen: "Das
haettest Du lieber nicht tun sollen." Keines von beiden sah Synnoeve an.
"Ich darf mich wohl etwas hinsetzen; ich bin heut schon soviel
gegangen." Und sie setzte sich, Thorbjoern beugte den Kopf, um zu
untersuchen, ob ihr Sitzplatz auch nicht feucht sei. Ingrid hatte
schnell fort und nach Granliden hinuntergeblickt; nun rief sie
ploetzlich: "Ach nein! Ach nein! Fagerlin hat sich losgerissen und
trampelt auf der jungen Saat herum! Das Scheusal! Und Kelleros auch! Das
ist ja nicht mehr auszuhalten! Hoechste Zeit, dass wir auf die Alm
kommen!" und weg war sie, ohne auch nur Adieu gesagt zu haben. Synnoeve
stand sofort auf. "Gehst Du schon?" fragte Thorbjoern. "Ja", sagte sie,
blieb aber stehen.
"Moechtest Du nicht noch ein bisschen bleiben?" brachte er hervor, ohne
sie anzusehen. "Ein andermal", lautete die Antwort. "Das koennte lange
dauern." Sie blickte auf; er blickte jetzt auch sie an; aber es verging
eine Weile, bis sie wieder sprachen. "Setz' Dich doch wieder", sagte er
etwas verlegen. "Nein", antwortete sie und blieb stehen. Er fuehlte, wie
in ihm der Trotz aufstieg; aber da passierte etwas, was er nicht
erwartet hatte; sie tat einen Schritt vorwaerts, beugte sich zu ihm hin,
sah ihm in die Augen und sagte laechelnd: "Bist Du mir boese?" Und als er
sie anblickte, sah er, dass sie weinte. "Nein", entgegnete er und wurde
feuerrot.
Er streckte ihr die Hand hin; aber da ihre Augen voll Traenen waren,
bemerkte sie es nicht, und so zog er die Hand wieder zurueck. Endlich
sagte er: "Du hast alles mit angehoert?"--"Ja", antwortete sie, sah auf
und lachte, aber da ihr immer noch mehr Traenen in die Augen traten,
wusste er gar nicht, was er tun oder sagen sollte. Da entfuhren ihm die
Worte: "Ich habe es doch vielleicht zu arg getrieben." Das kam sehr
sanft heraus; sie blickte zu Boden und wandte sich halb ab: "Du sollst
nicht richten ueber Dinge, so Du nicht kennst." Das wurde mit gepresster
Stimme gesagt, und ihm wurde ganz schlimm dabei; er kam sich wie ein
kleiner Junge vor und wusste deshalb auch im Augenblick nichts anderes zu
sagen als: "Ich bitte Dich um Verzeihung." Aber nun stroemten ihre Traenen
heftig und heftiger. Das konnte er nicht mit ansehen, er ging hin zu
ihr, umfasste sie und beugte sich ueber sie: "Liebst Du mich wirklich,
Synnoeve?"--"Ja", schluchzte sie. "Aber macht Dich das auch gluecklich?"
Sie antwortete nicht. "Macht Dich das auch gluecklich?" wiederholte er.
Sie weinte heisser als zuvor und wollte sich ihm entziehen.
"Synnoeve, wir wollen ein bisschen miteinander reden", sagte er und half
ihr sich in das Heidekraut setzen; er setzte sich neben sie. Sie wischte
sich die Traenen ab und machte einen Versuch zu laecheln; aber es gelang
nicht. Er hielt die eine von ihren Haenden fest und blickte ihr in das
Gesicht. "Liebste, warum darf ich nicht nach Solbakken kommen?" Sie
schwieg. "Hast Du Deine Eltern nie darum gebeten?" Sie schwieg. "Warum
nicht?" fragte er und zog ihre Hand naeher an sich. "Ich habe mich nicht
getraut", sagte sie ganz leise.
Seine Miene wurde finster; er hob und bog den einen Fuss leicht, lehnte
den Ellbogen auf das Knie und stuetzte seinen Kopf auf die Hand. "Auf die
Art werde ich wohl nie hinueberkommen", sagte er. Statt zu antworten,
rupfte sie Heidekraut aus. "Nun ja, ich habe wohl manches getan, was ich
lieber haette sollen bleiben lassen,----aber etwas Nachsicht haetten sie
doch haben koennen. Ich bin nicht schlecht," (hier hielt er einen
Augenblick inne) "bin auch noch jung--etwas ueber zwanzig Jahre bin
ich"--er konnte nicht gleich weiter reden. "Aber wer mich richtig
liebt," sagte er wieder, "der musste doch----" und nun verstummte er
ganz. Da klang es gedaempft von der Seite her ihm ins Ohr: "Rede nicht
so,----Du weisst nicht, wie schwer,--ich darf es ja nicht einmal Ingrid
sagen--(und nun unter starken Traenen): ich habe so schwer--zu leiden."
Er umschlang sie und zog sie dichter an sich. "Sprich mit Deinen
Eltern," fluesterte er, "und Du wirst sehen, alles wird gut."--"Es wird,
wie Du willst", fluesterte sie. "Wie ich will?" Da neigte sich Synnoeve zu
ihm und legte den Arm um seinen Hals. "Liebst Du mich, so wie ich Dich?"
sagte sie sehr herzlich und mit einem Versuch zu laecheln. "Etwa nicht?"
entgegnete er sanft und leise. "Nein, nein, Du nimmst auf mich keine
Ruecksicht; Du weisst, was uns zusammenbringen kann, tust es aber nicht.
Warum tust Du es nicht?" Und da sie gerade im besten Zuge war, fuhr sie
eifrig fort: "Lieber Gott, wenn Du wuesstest, wie ich auf den Tag geharrt
und gehofft habe, da ich Dich in Solbakken sehen koennte. Aber wenn man
immer von etwas hoeren muss, was nicht ist, wie es sein soll, und wenn es
die eigenen Eltern sind, die einem damit in den Ohren liegen." Da kam es
wie eine Erleuchtung ueber ihn; er sah sie in Solbakken herumgehen und
auf eine kurze friedliche Stunde warten, in der sie ihn sanft ihren
Eltern zufuehren koennte; aber nie bescherte er ihr eine solche Stunde.
"Das haettest Du mir frueher sagen sollen, Synnoeve."--"Hab' ich das nicht
getan?"--"Nein, nicht so."--Er dachte ein Weilchen nach, dann sagte
sie, waehrend sie ihre Schuerzenzipfel in kleine Falten legte: "Dann habe
ich es nicht getan, weil--ich mich nicht traute." Da wurde er bei dem
Gedanken, sie habe Furcht vor ihm, so geruehrt, dass er ihr zum erstenmal
in seinem Leben einen Kuss gab.
Vor Verwunderung hielt sie ploetzlich mit ihrem Weinen inne; ihre Augen
flackerten, sie versuchte zu laecheln, sah zu Boden, sah endlich
Thorbjoern an, und nun laechelte sie wirklich. Sie sprachen nicht mehr;
aber ihre Haende fanden sich wieder, doch die des andern zu druecken, das
traute sich keins von beiden. Dann entzog sie sich ihm sacht, trocknete
Augen und Gesicht und strich ihr in Unordnung geratenes Haar wieder
glatt. Er sass da, sah sie an und dachte mit beruhigter Seele: "Hat sie
mehr Schamhaftigkeit als die andern Maedchen hier, und will danach
behandelt werden, so soll keiner was dagegen sagen."
Er begleitete sie zu ihrer Alm, die nicht weit entfernt lag. Er wollte
gern Hand in Hand mit ihr gehen, aber er fuehlte eine gewisse Scheu, die
ihm kaum erlaubte, sie zu beruehren; es kam ihm schon merkwuerdig vor, dass
er neben ihr gehen durfte. Beim Abschied sagte er daher auch:
"Das soll lange dauern, bis Du wieder einen tollen Streich von mir zu
hoeren bekommst."
Im Hause fand er seinen Vater bei der Arbeit, Korn vom Schuppen zur
Muehle zu tragen, denn alle Besitzer ringsum mahlten auf der Granlidener
Muehle, wenn ihre Baeche kein Wasser mehr hatten; der Granlidener Bach
bekam immer neuen Zufluss von den Bergen. Viele Saecke waren
hinunterzutragen, manche recht grosse, manche riesig grosse darunter. Die
Frauen standen unweit davon, hielten Waesche und wrangen aus. Thorbjoern
ging zu seinem Vater hin und packte einen Sack. "Kann ich Dir vielleicht
helfen?"--"Das schaffe ich schon allein", sagte Saemund, nahm schnell
einen Sack auf seinen Ruecken und trug ihn zur Muehle. "Hier sind noch
eine ganze Menge", sagte Thorbjoern, packte zwei grosse, stemmte den
Ruecken dagegen, griff ueber die Schultern, fasste mit jeder Hand einen und
stuetzte ihn seitlich mit dem Ellbogen. Auf halbem Wege traf er Saemund,
der zurueckkam, um mehr zu holen; rasch sah er Thorbjoern an, sagte aber
nichts. Als Thorbjoern zum Schuppen zurueckging, traf er Saemund mit noch
zwei groesseren Saecken auf dem Ruecken. Diesmal nahm Thorbjoern einen ganz
kleinen und zog damit ab; als Saemund ihn traf, sah er ihn an, aber
laenger als das vorige Mal. Da geschah es, dass sie einmal zu gleicher
Zeit vor dem Schuppen waren. "Eine Einladung von Nordhoug ist gekommen,"
sagte Saemund, "Du sollst Sonntag hin zur Hochzeit." Ingrid sah ihren
Bruder bittend an; auch die Mutter sah hin. "Ja so", sagte er trocken,
nahm aber diesmal die zwei groessten Saecke, die er finden konnte. "Gehst
Du hin?" fragte Saemund und runzelte die Stirn.--"Nein."
Viertes Kapitel
Die Granlidener Alm war schoen gelegen; von ihr konnte man das ganze
Kirchspiel ueberschauen--zuerst und am deutlichsten Solbakken inmitten
seines vielfarbigen Waldes; dann die andern Hoefe in ihrem Ring von
Waeldern; wie Friedensstaetten, die mit aller Macht und Kraft dem wilden
Boden abgewonnen waren, erschienen die gruenen Grasflaechen mit den
Haeusern darauf. Vierzehn Hoefe konnten von der Alm aus gezaehlt werden;
von dem Granlidener waren nur die Daecher sichtbar; und auch sie nur vom
hoechsten Punkt aus. Nichtsdestoweniger setzten sich die Maedchen oefter
hin, um nach dem Rauch zu blicken, der dort unten aus den Schornsteinen
aufstieg. "Jetzt kocht Mutter das Mittagessen," sagte Ingrid, "heute
gibt's Poekelfleisch und Speck."--"Hoerst Du, jetzt werden die Maenner
gerufen," sagte Synnoeve, "wo arbeiten sie denn heut?" und die Augen der
beiden verfolgten den Rauch, der wild und wirbelnd in die klare,
sonnenheitre Luft emportrieb, aber bald langsamer wurde, sich's
ueberlegte--und dann breit ueber den Wald hinfloss, immer duenner und
duenner, zuletzt nur wie ein faechelnder Flor und dann kaum mehr zu
erkennen. So mancher Gedanke wurde bei diesem Anblick in ihnen wach und
umkreiste das Kirchspiel. Heute waren sie in Nordhoug beisammen. Die
eigentliche Hochzeit war schon ein paar Tage vorbei; aber da die
Nachfeier eine Woche dauerte, klangen noch immer Schuesse und allerlei
derbe Rufe zu ihnen herauf. "Die sind aber vergnuegt", sagte
Ingrid.--"Ich beneide sie nicht darum", sagte Synnoeve und nahm ihr
Strickzeug. "Da moechte man mit dabei sein", sagte Ingrid, die sich
hingekauert hatte, um nach dem Hofe zu blicken, wo die Menschen zwischen
den Haeusern hin- und hergingen--einige zum Schuppen, vor dem wohl die
gedeckten Tische standen, andere paarweise in vertraulichem Gespraech
etwas weiter. "Ich weiss nicht recht, was einen dahin ziehen sollte",
sagte Synnoeve. "Ich weiss das auch kaum," antwortete Ingrid, die immer
noch dasass; "vielleicht der Tanz." Synnoeve entgegnete nichts. "Hast Du
noch nie getanzt?" fragte Ingrid. "Nein!"--"Haeltst Du Tanzen fuer eine
Suende?"--"Das weiss ich nicht recht." Ingrid mochte im Augenblick nicht
weiter davon reden; denn es fiel ihr ein, dass der Tanz bei den
Haugianern streng verboten war, und sie wollte Synnoeves Verhaeltnis zu
ihren Eltern in diesem Fall nicht naeher beruehren. Aber da ihr nun mal
der Gedanke kam, sagte sie nach einer Weile: "Einen bessern Taenzer als
Thorbjoern habe ich noch nie gesehen." Synnoeve blieb ein Weilchen still,
dann sagte sie: "Ja, er soll gut tanzen."--"Du muesstest ihn einmal tanzen
sehen", rief Ingrid lebhaft und wandte sich ihr zu. Aber schnell
entgegnete Synnoeve: "Nein, das moechte ich nicht."
Ingrid war einigermassen betroffen; Synnoeve beugte sich ueber ihr
Strickzeug und zaehlte die Maschen; ploetzlich liess sie die Arbeit in den
Schoss fallen, sah vor sich hin und sagte: "So herzlich vergnuegt wie
heute bin ich lange nicht gewesen."--"Warum?" fragte Ingrid. "Weil er
heute nicht in Nordhoug mittanzt." Ingrid hing ihren eigenen Gedanken
nach. "Ja, es sollen Maedchen dort sein, die ihn gern haben moechten",
sagte sie. Synnoeve oeffnete den Mund, als ob sie reden wollte, schwieg
aber und zog eine Nadel heraus und eine andere ein. "Thorbjoern moechte
wohl selbst gern dort sein, ja, das glaube ich gewiss", fuhr Ingrid fort.
Aber kaum hatte sie das ausgesprochen, da fiel ihr ein, was sie damit
gesagt hatte; sie sah Synnoeve an; die war feuerrot geworden und strickte
eifrig. Nun wurde Ingrid mit einem Male alles in ihrem Zwiegespraech
klar; sie klatschte in die Haende, kam schnell angelaufen, kniete im
Heidekraut dicht vor Synnoeve nieder und sah ihr fest in die
Augen--Synnoeve strickte eifrig. "So, jetzt weiss ich, dass Du mir manchen
lieben Tag etwas verheimlicht hast", sagte Ingrid. "Was meinst Du denn?"
fragte Synnoeve und warf ihr einen unsicheren Blick zu. "Du bist nicht
boese, weil Thorbjoern tanzt", antwortete Ingrid--die Freundin entgegnete
nichts. Ingrid lachte mit dem ganzen Gesicht, schlang die Arme um
Synnoeves Hals und fluesterte ihr in das Ohr: "Nein, Du bist boese, weil er
mit einer andern tanzt."
"Wie kannst Du nur solchen Unsinn reden", sagte Synnoeve, riss sich los
und stand auf. Ingrid stand gleichfalls auf und ging ihr nach. "Suende
ist es, dass Du nicht tanzen kannst," sagte sie und lachte, "eine wahre
Suende! Komm her, ich will's Dir gleich beibringen", und sie legte ihren
Arm um Synnoeves Huefte. "Was willst Du?" fragte Synnoeve. "Dir's Tanzen
beibringen, Dir den Kummer vertreiben, dass er mit einer andern als mit
Dir tanzt!" Nun musste Synnoeve auch lachen, oder wenigstens so tun. "Hier
koennen wir gesehen werden", sagte sie. "Gott segne Dich fuer die Antwort,
wenn sie auch herzlich dumm war", rief Ingrid, fing darauf an zu
traellern und Synnoeve im Takt herumzufuehren. "Nein, nein, das geht ja
nicht!"--"Du hast ja selbst vorhin gesagt, Du bist lange nicht so
vergnuegt gewesen wie heute."--"Ach, wenn es nur ginge!"--"Probier' es
nur, dann wirst Du schon sehen, dass es geht."--"Du bist ausser Rand und
Band, Ingrid."--"Ja, so sagte auch die Katze zum Sperling, als er nicht
stillhalten und sich fangen lassen wollte; komm nur."--"Ich haette schon
Lust; aber--"--"Jetzt bin ich Thorbjoern und Du bist seine junge Frau,
die nicht will, dass er mit einer andern als mit ihr tanzen
soll."--"Aber--" Ingrid traellerte, "aber", entgegnete Synnoeve noch; doch
sie tanzte schon. Es war ein Springtanz. Ingrid ging mit grossen
Schritten und Armbewegungen wie ein Mann voraus; Synnoeve folgte mit
kleinen Schritten und niedergeschlagenen Augen. Ingrid sang:
Und der Fuchs unter Wurzeln der Birke lag,
Abseits vom Heidekraut,
Und der Hase sprang lustig im gruenen Hag,
Ueber das Heidekraut.
Die Sonne giesst Licht aus ueppigem Born,
Und glitzert hinten und glitzert vorn,
Ueber dem Heidekraut.
Und es lacht der Fuchs im Wurzelversteck,
Abseits vom Heidekraut,
Und der Hase sprang unbaendig keck
Ueber das Heidekraut.
Mir ist heut gar so froehlich zumut,
Juchhei, mein Haeslein, wie springst Du gut
Ueber das Heidekraut.
Und es lauert der Fuchs im Wurzelversteck,
Abseits vom Heidekraut,
Und der Hase huepft just zum gleichen Fleck,
Ueber das Heidekraut.
Dass Gott sich erbarme, Du bist hier?
Ei, Freundchen, wer heisst Dich tanzen vor mir,
Ueber dem Heidekraut?
"Na, ging's nicht schoen?" fragte Ingrid, als sie stehen blieben, um
Atem zu schoepfen.
Synnoeve lachte und sagte, sie moechte lieber Walzer tanzen. "Ja, warum
denn nicht?" meinte Ingrid, und sie setzten sich gleich in Positur;
Ingrid erklaerte ihr, wie sie die Fuesse stellen muesse. "Pass' auf, der
Walzer ist schwer, sehr schwer ist er."--"Ach, es wird schon gehen, wenn
wir erst in Takt kommen." Nun sollte gleich die Probe gemacht werden.
Ingrid sang und Synnoeve sang mit, anfangs leise vor sich hin, dann
lauter und lauter. Aber ploetzlich hielt Ingrid inne, liess ihre Gefaehrtin
los, klatschte erstaunt in die Haende: "Du kannst ja schon Walzer
tanzen!" rief sie.
"Still, nicht sprechen!" sagte Synnoeve und fasste Ingrid um die Taille,
"wir wollen weitertanzen."--"Aber wo hast Du das gelernt--?"--"Tralla,
tralla"--und Synnoeve schwang Ingrid im Kreis; die tanzte jetzt nach
Herzenslust und sang dabei:
Schau', die Sonne tanzt auf dem Hankelidfjell,
Tanz', meine Liebste, der Abend naht schnell;
Schau', der Bergbach huepft zum Meere fort,
Hopp, wilder Gesell, dein Grab wartet dort,
Schau', die Birke schwingt sich beim Windesspiel,
Schwing dich, Dirnlein!--Was brach dort, was fiel?
Schau',----
"Was singst Du immer fuer merkwuerdige Lieder?" sagte Synnoeve und hoerte
auf zu tanzen. "Ich weiss gar nicht, was ich singe", antwortete Ingrid,
"Thorbjoern hat's mal gesungen."--"Das ist eins von Zuchthaus-Bents
Liedern; die kenn' ich."--"Zuchthaus-Bent?" fragte Ingrid und genierte
sich etwas. Sie sprach nicht mehr und blickte vor sich hin in die Ferne;
ploetzlich gewahrte sie ein Gespann unten auf dem Wege. "Du, dort faehrt
einer von Granliden herunter und lenkt in die Gemeindestrasse
ein."--Synnoeve sah auch hin. "Ist er es?" fragte sie. "Ja, das ist
Thorbjoern, er will in die Stadt."----
----Es war Thorbjoern und er fuhr in die Stadt. Sie lag ziemlich
entfernt, die Last war schwer und er fuhr deshalb langsam den staubigen
Weg hin. Von oben konnte man ein Stueck der Fahrstrasse uebersehen, und als
er nun von den Bergen herunter jodeln hoerte, dachte er sich gleich, von
wem das wohl kaeme, kletterte auf die Ladung und jodelte wieder, so dass
es zwischen den Felsen schallte. Nun wurde oben auf dem Horn geblasen;
er lauschte, und als die Toene verklangen, richtete er sich wieder auf
und jodelte. Dann fuhr er wohlgemut weiter; er sah nach Solbakken
hinueber und meinte es bisher niemals in so hellem Sonnenglanz gesehen zu
haben. Aber waehrenddessen hatte er gar nicht mehr an sein Pferd gedacht;
das ging, wie es wollte. Da fuhr er ploetzlich auf, der Gaul hatte einen
scharfen Seitensprung gemacht, so dass die eine Deichselstange brach, und
nun raste das Tier in wildem Trab vom Weg herunter ueber das Nordhouger
Feld. Thorbjoern sprang auf und suchte es zu halten; es kam zu einem
richtigen Kampf zwischen beiden; das Pferd wollte ueber einen Abhang, er
riss es mit den Zuegeln zurueck; endlich zwang er es, sich zu baeumen,
sprang ab, schlang die Leine um einen Baum, und nun musste es stehen. Die
Ladung war teilweise herausgeschleudert, die eine Deichselstange
zerbrochen und der Gaul stand da und zitterte. Thorbjoern ging hin, fasste
ihn am Zaum und redete ihm gut zu; dann wendete er das Pferd, dass es mit
dem Ruecken gegen den Abhang stand und nicht ueber ihn hinunter konnte;
aber das Tier war zu scheu, um still stehen zu bleiben,--er musste ihm
sprungweise folgen, und so kam er wieder bis zur Strasse. Dabei fuhr er
an der heruntergefallenen Ladung vorbei; Toepfe und Kruege waren entzwei,
der Inhalt groesstenteils verdorben. Bisher waren Thorbjoerns Gedanken nur
auf die Fahrt gerichtet gewesen; jetzt dachte er an die Folgen und wurde
wuetend; soviel stand fest: zur Stadt konnte er nicht; und je klarer ihm
das wurde, um so wuetender war er. Als er auf den Weg gekommen, scheute
das Pferd noch einmal, und versuchte wieder einen Seitensprung, um sich
loszureissen, und nun brach Thorbjoerns Wut los. Mit der linken Hand hielt
er es an Zaum und Gebiss fest, mit der rechten versetzte er ihm
Peitschenhieb auf Peitschenhieb ueber die Lenden, so dass es rasend wurde
und mit den Vorderhufen nach Thorbjoerns Brust schlug. Aber Thorbjoern
wich ihm aus und hieb nun aerger als zuvor--aus Leibeskraeften--mit dem
Peitschenstiel. "Ich werde Dir's schon beibringen, Du niedertraechtiges
Vieh", und er hieb zu. Das Pferd wieherte, schrie,--er hieb zu. "Jetzt
sollst Du einen kennen lernen, der staerker ist als Du", und er hieb. Das
Pferd schnaubte, so dass der Schaum Thorbjoerns ganze Hand bespritzte;
aber er schlug weiter: "Das soll das erste und letzte Mal sein, Du
Schinder; da! da! und noch einen! Du sollst parieren lernen, Du Luder!"
und er hieb. Inzwischen hatten sie sich voellig umgedreht; das Pferd
wagte keinen Widerstand mehr, zitterte und bebte bei jedem Hieb und bog
sich wiehernd zur Seite, sobald die Peitsche durch die Luft schwirrte.
Da schaemte sich Thorbjoern ein bisschen; er hielt inne. Im selben
Augenblick bemerkte er einen Mann, der auf dem Grabenrand sass, sich auf
den Ellbogen stuetzte und ihn anlachte; er wusste nicht warum, aber ihm
wurde fast schwarz vor den Augen und, das Pferd am Zaum haltend, ging er
auf den Mann mit erhobener Peitsche zu: "Jetzt sollst Du mal lachen!"
Der Schlag fiel, traf aber nur halb, da sich der Mann mit einem
Aufschrei in den Graben hinunterwaelzte; dort blieb er auf allen Vieren
liegen, richtete jedoch den Kopf hoch und schielte nach Thorbjoern. Dabei
zog er den Mund schief zum Lachen, aber zu hoeren war kein Lachen.
Thorbjoern wurde betroffen; eine Erinnerung durchzuckte ihn. Jawohl, es
war Aslak.
Thorbjoern ueberlief es kalt.
"Du hast gewiss beidemal das Pferd scheu gemacht", sagte er. "Ich habe ja
nur hier gelegen und geschlafen," antwortete Aslak, "und Du hast mich
geweckt, wie Du Dein Pferd verrueckt gemacht hast."--"Du bist es
gewesen,--vor Dir haben alle Tiere Angst." Und er streichelte den Gaul,
von dem der Schweiss herabrann. "Dein Tier hat wohl mehr Angst vor Dir
als vor mir;--so bin ich noch mit keinem Pferd umgegangen", sagte Aslak,
jetzt kniete er im Graben. "Halt Dein grosses Maul", erwiderte Thorbjoern,
und drohte mit der Peitsche. Da stand Aslak auf und krabbelte aus dem
Graben. "Ich ein grosses Maul!? Faellt mir ja gar nicht ein--wo willst Du
denn so schnell hin?" sagte er freundlich und kam naeher; aber er wankte
beim Gehen--er war betrunken. "Mit dem Weiterwollen ist es heut nichts",
meinte Thorbjoern und spannte das Pferd aus. "Das ist aber recht
aergerlich", sagte der andere, kam noch naeher und nahm den Hut ab.
"Herrjeh, was bist Du fuer ein grosser und huebscher Bursche geworden,
seitdem ich Dich nicht gesehen habe." Er hatte beide Haende in die
Taschen gesteckt, stand so fest, wie er konnte, auf den Beinen und
betrachtete Thorbjoern, der das Pferd nicht von den Wagentruemmern
losbekommen konnte. Thorbjoern brauchte Hilfe; aber Aslak darum zu
bitten, das mochte er denn doch nicht. Der sah zu eklig aus. Auf seinem
Anzug lag der Grabenschmutz, sein Haar hing wirr unter einem blanken,
betraechtlich alten Hut hervor; sein Gesicht war zwar noch teilweise das
fruehere, wohlbekannte; aber jetzt immer zum Lachen verzogen, die Augen
schienen noch geschlossener, so dass er sich hintenueber beugen musste und
der Mund etwas offen stand, wenn er jemand ansah; alle Zuege waren
schlaff, der ganze Ausdruck stier--denn Aslak trank. Thorbjoern hatte ihn
schon vorher ein paarmal gesehen, aber Aslak tat, als wuesste er das
nicht, er hatte sich im ganzen Kreis als Hausierer herumgetrieben und
war am liebsten dort eingekehrt, wo es laut und lustig zuging. Dort trug
er seine Lieder vor, erzaehlte seine Schnurren und bekam zum Lohn
Branntwein. Darum war er auch auf der Hochzeit in Nordhoug gewesen;
jetzt aber fuer einige Zeit wohlweislich verduftet, weil er, wie
Thorbjoern spaeter erfuhr, nach seiner gewohnten Art die Leute solange
zusammengehetzt hatte, bis, eine Rauferei entstanden war, und da hatte
er Angst bekommen, selbst verpruegelt zu werden. "Binde das Pferd lieber
an, das ist besser, als wenn Du's ausspannst," sagte er, "Du musst doch
nach Nordhoug und Dir Hilfe holen." Thorbjoern hatte schon selbst daran
gedacht, aber der Gedanke war ihm unangenehm. "Dort ist ja heut eine
grosse Hochzeit", meinte er. "Auch eine grosse Menge Leute, die helfen
koennen", antwortete Aslak. Thorbjoern ueberlegte; aber ohne Hilfe konnte
er weder vorwaerts noch zurueck, und so war es doch schliesslich das beste,
nach dem Hof zu gehen. Er band also das Pferd am Wagen fest und ging.
Aslak folgte, Thorbjoern sah sich nicht nach ihm um. "Jetzt habe ich eine
gute Begleitung fuer den Rueckweg", sagte Aslak und lachte. Thorbjoern
antwortete nicht, sondern schritt schnell aus. Aslak sang hinter ihm
her. "Da ziehen zwei Bauern zum Hochzeitshaus" usw., ein altes, ueberall
bekanntes Lied. "Du gehst schnell," sagte er nach einer Weile, "Du
kommst noch frueh genug hin." Thorbjoern antwortete nicht. Bald hoerten sie
den Laerm von Tanz und das Geigenspiel; Koepfe erschienen in den offenen
Fenstern des grossen, zweistoeckigen Hauses; Gruppen versammelten sich im
Garten. Thorbjoern merkte, dass die Leute dort besprachen, wer wohl kaeme,
zugleich, dass mancher ihn erkannte, auch wie kurz nachher das Pferd und
die verstreute Ladung entdeckt wurden. Der Tanz brach ab und ein ganzer
Menschenstrom waelzte sich aus dem Hause und ihnen entgegen. "Hier kommen
Hochzeitsgaeste wider Willen", rief Aslak, als sie sich beide der
Gesellschaft naeherten. Thorbjoern wurde begruesst, und ein Kreis von
Menschen umringte ihn. "Gott segne das Fest, das gute Bier auf dem
Tisch, die huebschen Frauensleute auf dem Tanzboden und den wackern
Spielmann auf dem Schemel!" rief Aslak und draengte sich schnell in die
Menge. Einige lachten, andere blieben ernst, einer sagte:
"Hausierer-Aslak ist immer gut aufgelegt." Thorbjoern traf gleich
Bekannte, denen er von seiner verunglueckten Fahrt erzaehlen musste; sie
litten nicht, dass er selbst zu dem Pferd und den Sachen zurueckging, und
schickten andere hin. Der Braeutigam, ein junger Mann und frueherer
Schulkamerad von Thorbjoern, lud ihn ein, das Hochzeitsbraeu zu kosten,
und nun zog der ganze Haufen wieder in die Stube. Ein Teil, besonders
Frauen und Maedchen, wollte wieder tanzen, ein anderer lieber ein
Stuendchen trinken, und Aslak, da er nun doch mal wieder da war, sollte
etwas erzaehlen. "Aber sei vorsichtiger als vorhin", fuegte einer hinzu.
Thorbjoern fragte, wo die uebrigen Gaeste seien. "Es ging ein bisschen laut
und derb hier zu," wurde ihm geantwortet, "da haben sich ein paar
hingelegt und ruhen sich aus; wieder welche sitzen in der Scheune und
spielen Karten, und welche sitzen mit Knud Nordhoug zusammen". Thorbjoern
erkundigte sich nicht, wo Knud zu finden sei.
Der Vater des Braeutigams, ein alter Mann, der auf einer Bank sass, aus
einer Pfeife rauchte und trank, sagte jetzt: "'raus mit Deiner
Geschichte, Aslak, einmal kann man sich sowas schon gefallen lassen."
"Bitten noch mehr darum?" fragte Aslak, der sich auf einen Schemel
gesetzt hatte, etwas abseits von dem Tisch, um den die andern sassen.
"Jawohl," sagte der Braeutigam und gab ihm ein Glas Branntwein, "ich
bitte Dich auch darum."--"Bitten mich noch mehr auf die Art?" fragte
Aslak wieder. "Ja, das tun sie", sagte eine junge Frau auf einer
Seitenbank und reichte einen Becher Wein hin; es war die Braut, ein
Frauenzimmer von zwanzig Jahren, blond, mager, mit grossen, schwarzen
Augen und einem strengen Zug um den Mund.--"Ich hoere Deine Geschichten
gern", setzte sie hinzu. Der Braeutigam sah sie, sein Vater sah ihn an.
"Ja, die Nordhouger haben immer gern meine Geschichten gehoert,"
antwortete Aslak, "auf Ihr Wohl!" und er leerte sein Glas, das ihm ein
Brautfuehrer gebracht hatte. "Vorwaerts, los!" riefen mehrere. "Von
Sigrid, der Herumtreiberin", schrie einer. "Nein, das ist eine zu
eklige Geschichte", entgegneten andere, hauptsaechlich Frauen. "Von der
Lierer Schlacht", bat Svend Tambour. "Lieber was Lustiges", sagte ein
schlanker Bursche, der die Jacke ausgezogen hatte, sich an die Wand
lehnte, und dabei immer mit der rechten Hand ein paar jungen Maedchen,
die vor ihm sassen, in die Haare fuhr. Die Maedchen schimpften, aber
dachten nicht daran, fortzulaufen.
"Jetzt erzaehle ich, was mir passt", sagte Aslak. "Schwerenot", murmelte
ein aelterer Mann, der auf dem Bette lag, rauchte, sein eines Bein
herunterbaumeln liess und mit dem andern wiederholt gegen eine
Sonntagsjacke stiess, die ueber dem Bettpfosten hing. "Weg mit Deinem Bein
von meiner Jacke!" rief der Bursche an der Wand. "Weg mit Deiner Hand
von meinen Toechtern", rief der Alte. Da liefen die Maedchen fort. "Ja,
ich erzaehle, was mir passt," sagte Aslak wieder, "Branntwein ist gut, der
schiesst ins Blut!" Und er schlug klatschend die flachen Haende zusammen.
"Du sollst erzaehlen, was uns passt," wiederholte der Mann im Bett; "der
Branntwein kommt von uns."--"Was meinst Du damit?" fragte Aslak und riss
die Augen weit auf. "Das Jungschwein, das wir fett machen, schlachten
wir auch," sagte der Mann und baumelte mit dem Bein. Aslak schloss die
Augen wieder; aber hielt den Kopf noch hoch; dann liess er ihn sinken und
antwortete nichts. Verschiedene redeten ihn an; aber er hoerte es gar
nicht. "Der Branntwein hat ihn untergekriegt", sagte der Mann im Bett.
Da sah Aslak auf und fing wieder an, das Gesicht zum Lachen zu
verziehen. "Ja, jetzt sollt Ihr ein lustiges Stueckchen hoeren," sagte er,
"Herrgott, ist das lustig!" setzte er hinzu und lachte mit weit
geoeffnetem Munde, aber hoeren konnte keiner irgend welches Lachen. "Er
hat heute seinen guten Tag", sagte der Vater des Braeutigams. "Hat er
auch," entgegnete Aslak, "doch erst einen Schluck auf den Weg!" und er
streckte die Hand hin. Er bekam ein Glas Branntwein, trank es langsam
hinunter, bog den Kopf zurueck, kostete den letzten Tropfen aus und
wandte sich zu dem Mann im Bett: "So, jetzt bin ich Euer Schwein", und
er lachte wieder unhoerbar wie vorher. Dann legte er seine Haende um das
eine Knie, hob den Fuss auf und nieder, schaukelte den Oberkoerper dabei
hin und her--und dann fing er an:
"Ja, es war einmal ein Maedchen da drueben in einem Tal. Wie das Tal hiess,
geht Euch nichts an, und auch nicht, wie das Maedchen hiess. Aber huebsch
war die Dirne, und das fand auch der Besitzer des Hofs--psst, keinen
Namen!--und bei dem diente sie. Sie kriegte guten Lohn, und sie kriegte
mehr als sie kriegen sollte, naemlich ein Kind. Die Leute sagten, es sei
von ihrem Herrn, aber er sagte das nicht; denn er war ein verheirateter
Mann; und sie sagte es auch nicht; denn sie war stolz, die arme Trude.
So logen sie denn was bei der Taufe zusammen--es war ja ein Elend fuer
den Jungen, dass sie ihn geboren hatte,--da war's auch gleich, ob er mit
'ner Luege getauft wurde. Sie kriegte einen Unterschlupf dicht beim Hof,
und das passte der Besitzersfrau natuerlich nicht. Kam das Maedchen ihr mal
nahe, dann spuckte sie es an, und kam der kleine Junge auf den Hof und
wollte mit ihrem Jungen spielen, dann liess die den Hurenbengel
fortjagen: 'Besseres ist er nicht wert', sagte sie.
Tag und Nacht lag sie ihrem Mann in den Ohren, er solle das Bettelvolk
hinausschmeissen. Der Mann straeubte sich dagegen, solange er Mann war--;
aber dann verlegte er sich aufs Saufen, und da kriegte das Weib die
Oberhand. Das war ein Elend fuer die arme Person. Von Jahr zu Jahr ging
es mit ihr zurueck, und zuletzt war sie mit ihrem Jungen dicht am
Verhungern; aber der wollte nicht fort von seiner Mutter, der kleine
Junge.
So vergingen allmaehlich acht Jahre; sie waren vergangen, und noch immer
sass sie auf ihrer Stelle, obgleich sie immer weg sollte.------Und
schliesslich kam sie weg!----Vorher aber stand der Hof in lustigen,
hellen Flammen und der Mann verbrannte, weil er besoffen war--das Weib
rettete sich mit ihren Kindern und sagte aus, die Dirne, die dicht beim
Hofe wohnte, habe den Brand angelegt. Das war wohl moeglich.----Aber es
war auch was anderes moeglich.----Sie hatte so 'nen wunderlichen kleinen
Kerl von Jungen. Acht Jahre musste der sehen, wie sich seine Mutter
abrackerte, und er wusste auch, wer schuld daran war; denn seine Mutter
sagte es ihm oft, wenn er fragte, warum sie immerzu weine. Das tat sie
auch an dem Tage, bevor sie ausziehen sollten, und darum war er fort in
der Nacht.--Aber sie musste auf Lebenszeit ins Zuchthaus, denn sie hatte
selbst vor dem Gerichtsschreiber gesagt, dass sie das lustige Feuer auf
dem Hofe angesteckt habe. Der Junge zog im Kirchspiel herum und alle
unterstuetzten ihn, weil er so 'ne schlechte Mutter hatte.--Dann zog er
weiter, weiter in eine ganz andere Gegend, da wurde er nicht mehr
unterstuetzt; da wusste ja keiner, wie schlecht seine Mutter war. Ich
glaube nicht, dass er selbst darueber sprach.--Zuletzt hoerte ich, dass er
besoffen war, und die Leute sagen, er sei zuletzt gar nicht mehr aus dem
Suff herausgekommen; ob das wirklich richtig ist, soll ungesagt bleiben;
aber richtig ist, dass ich nicht weiss, was er Besseres haette tun koennen.
Er ist ein schlechter, gemeiner Kerl; er kann die Menschen nicht leiden,
besonders nicht die, die gut zueinander sind; und die gut zu ihm sind,
die erst recht nicht. Und er moechte, dass die andern gerade so sind wie
er selbst; das sagt er aber bloss, wenn er besoffen ist; und dann weint
er, weint er, dass es Traenen hagelt, und ueber rein nichts;--denn worueber
haette er denn zu weinen? Er hat keinem einen Pfennig gestohlen oder, wie
andere, was Boeses angestellt,--also warum weint er? Und doch weint er,
weint er, dass es Traenen hagelt. Und wenn Ihr das mal sehen solltet, dann
glaubt ihm nicht, denn er tut's bloss, wenn er besoffen ist, und da ist
er nicht zurechnungsfaehig."--Und mit dem letzten Worte fiel Aslak
rueckwaerts vom Schemel und weinte heftig los; aber das ging schnell
vorueber; denn er schlief ein.--"Jetzt ist das Schwein voll," sagte der
Mann im Bett, "dann heult er sich immer in den Schlaf."--"Das war eine
haessliche Geschichte", sagten die Frauen und standen auf, um aus der
Stube zu kommen. "Ich habe ihn noch nie eine andere erzaehlen hoeren, wenn
er sie selbst aussuchen durfte", sagte ein alter Mann, der von seinem
Platz an der Tuer aufgestanden war: "Gott weiss, warum ihm die Leute so
gern zuhoeren", fuegte er hinzu und sah dabei die Braut an.
Fuenftes Kapitel
Einige gingen heraus, andere suchten den Spielmann, um wieder zu tanzen;
aber der war in einem Winkel des Flurs eingeschlafen, und da baten
einige, man moege ihn in Ruhe lassen: "seitdem sein Kamerad Lars hier
zuschanden geschlagen worden ist, hat Ole die ganze Zeit ueber aushalten
muessen." Unterdes war Thorbjoerns Pferd angelangt; es wurde vor einen
andern Wagen gespannt, da er trotz allen Zuredens weiter wollte.
Besonders der Braeutigam gab sich alle Muehe, ihn zurueckzuhalten: "Hier
ist nicht soviel Freude fuer mich, wie mancher glaubt", meinte er; und
das brachte Thorbjoern auf eigene Gedanken; aber fort wollte er doch noch
vor Abend. Als die anderen sahen, dass er darauf bestand, liessen sie ihn
nach und nach allein; es waren viele Menschen da; aber es ging recht
still zu, und das Ganze machte gar nicht den Eindruck einer richtigen
Hochzeit. Thorbjoern brauchte einen Pflock fuer sein Pferdegeschirr, und
suchte danach; auf dem Hof war nichts Rechtes zu finden, so ging er
weiter, kam zu einem Holzschuppen und trat dort ein--langsam und
nachdenklich; die Worte des Braeutigams klangen ihm noch immer in den
Ohren. Er fand, was er suchte, und setzte sich ganz zufaellig, mit Messer
und Pflock in Haenden, an die Wand. Da hoerte er neben sich ein Stoehnen;
das musste von der Innenseite der duennen Wand kommen, hinter der die
Wagen standen; Thorbjoern lauschte. "Du bist es?--Du?" brachte mit langen
Zwischenraeumen und muehsam eine Stimme heraus; eine Maennerstimme. Darauf
vernahm er, wie jemand weinte; aber das konnte kein Mann sein.--"Warum
musstest Du auch noch herkommen?" wurde gefragt; und jedenfalls von der
Person, die weinte; denn Traenen klangen aus den Worten.--"Hm--zu welcher
Hochzeit sollte ich denn aufspielen, wenn nicht zu Deiner?" sprach die
erste Stimme. Das kann kein andrer wie Lars, der Spielmann, sein, dachte
Thorbjoern.--Lars war ein ansehnlicher, huebscher Gesell, dessen alte
Mutter in einer Kate unweit vom Gutshof zur Miete wohnte. Aber die
andere Stimme, das musste die Braut sein!--"Warum hast Du nie
gesprochen?" sagte sie gedaempft, aber so gedehnt, als ob sie sehr bewegt
sei. "Ich glaubte, das sei zwischen uns beiden nicht noetig", lautete die
kurze Antwort. Einige Augenblicke blieb es still, dann sagte sie wieder:
"Du wusstest aber doch, dass er meinetwegen herkam,"--"Ich habe Dich fuer
staerker gehalten."--Dann hoerte Thorbjoern nur, dass sie weinte; endlich
stiess sie die Worte hervor: "Warum hast Du nicht gesprochen?"
"Es haette wohl dem Sohn der alten Birthe viel genuetzt, wenn er mit der
Tochter von Nordhoug gesprochen haette", erwiderte er nach einer Pause,
in der er schwer Atem geholt und oft gestoehnt hatte. Die Antwort liess
auf sich warten;--"wir haben doch so manches Jahr ein Auge aufeinander
gehabt", klang es endlich.
--"Du warst so stolz, man konnte gar nicht richtig mit Dir
reden."----"Es war doch nichts auf der Welt, was ich lieber gewollt
haette.--Ich wartete jeden Tag darauf;--wo wir uns trafen--mir kam es
fast vor, als draengte ich mich Dir auf. Da dachte ich, Du machtest Dir
nichts aus mir."--Es wurde wieder ganz still; Thorbjoern hoerte weder eine
Antwort, noch weinen; er hoerte nicht einmal den Kranken Atem holen.
Thorbjoern dachte an den Braeutigam; er hielt ihn fuer einen braven Mann,
und er tat ihm leid; und im selben Augenblick sagte auch sie:
"Ich fuerchte, er wird wenig Freude an mir haben,--er, der--"
"Er ist ein braver Mann", erwiderte der Kranke, und dann fing er an,
unruhig zu werden, da ihm die Brust schmerzte. Es war, als ob sie die
Schmerzen mitfuehlte, denn sie sagte: "Mir ist schwer ums Herz
Deinetwegen,--aber--wir haetten uns wohl nie ausgesprochen, wenn das
nicht dazwischen gekommen waere. Erst als Du Dich mit Knud gerauft hast,
habe ich alles begriffen."--"Ich konnte es nicht laenger ertragen",
antwortete er, und einen Augenblick darauf: "Knud ist ein schlechter
Kerl."--"Ja, gut ist er nicht", sagte sie, Knuds Schwester.
Sie blieben eine Weile stumm, dann sprach er: "Ich bin gespannt, ob ich
wieder mal aufkomme; ach, das ist auch jetzt ganz einerlei."--"Geht's
Dir schlecht, so geht's mir schlechter," darauf lautes Weinen. "Willst
Du fort?" fragte er.--"Ja, ach, Du lieber Gott,--Du lieber Gott, was
wird das fuer ein Leben werden!"--"Weine nicht so," sagte er, "unser
Herrgott macht hoffentlich bald ein Ende mit mir, und dann, wirst Du
sehen, geht es auch Dir besser."--"Jesus, Jesus, wenn Du nur gesprochen
haettest!" rief sie mit verhaltener Stimme und schien die Haende zu
ringen; Thorbjoern meinte, sie sei fortgegangen, oder nicht mehr
imstande, weiter zu sprechen; er hoerte eine ganze Zeitlang nichts mehr,
und ging dann selber.
Den ersten, besten, den er im Garten traf, fragte er: "Warum sind denn
Spielmann Lars und Knud Nordhoug aneinander geraten?"--"Warum, ja--"
sagte Per Hausmann und zog sein Gesicht in Falten, als ob er was drin
verstecken wollte; "danach kannst Du wohl fragen, denn es war nur um
eine Kleinigkeit; Knud fragte Lars, ob seine Fiedel bei der Hochzeit
hier auch gut gestimmt sei." In demselben Augenblick ging die Braut
vorbei; sie hatte erst ihr Gesicht seitwaerts gewendet; aber als sie den
Namen Lars hoerte, drehte sie es ihnen zu, und da zeigte es sich, dass
ihre grossen Augen ganz rot waren und flackerten; aber ihre Zuege
erschienen kalt, so kalt, dass Thorbjoern nichts von ihren frueheren Worten
mehr herauslesen konnte; da wurde ihm manches noch klarer.
Weiter vorn im Hof stand sein Pferd fertig zur Abfahrt; er schlug den
Pflock ein und schaute nach dem Braeutigam, um Abschied zu nehmen. Er
hatte keine Lust, ihn aufzusuchen; es war ihm fast lieber, dass der
Braeutigam unsichtbar blieb, und so setzte er sich auf den Wagen. Da
entstand mit einem Mal ein grosser Laerm links von ihm, bei der Scheune;
er hoerte rufen, ein Menschenhaufen kam herangezogen, ein grosser Mann,
der voranging, schrie: "Wo ist er?--Hat er sich versteckt?--Wo ist er
denn?"--"Dort, dort", riefen ein paar Stimmen. "Lasst ihn nicht hin,"
riefen wieder andere, "sonst gibt's ein Unglueck."--"Ist das Knud?"
fragte Thorbjoern einen kleinen Jungen neben seinem Wagen. "Ja, er ist
betrunken, und dann will er immer raufen." Thorbjoern hatte sich schon
zurechtgesetzt und trieb sein Pferd an.--"Halt! Halt! Kamerad!" rief es
hinter ihm; er zog die Leine an, aber da das Pferd im Trab blieb, liess
er es gehen. "Hast Du Angst, Thorbjoern Granliden?" schrie es unweit; da
hielt er an, sah aber nicht hinter sich.
"Steig ab, hier triffst Du gute Gesellschaft!" rief einer. Thorbjoern
drehte sich um. "Danke, ich muss nach Hause", sagte er. Wie sie ein
bisschen hin- und herredeten, war der ganze Haufen herangekommen; Knud
ging auf das Pferd zu, streichelte es und fasste es beim Zaum, um es
anzusehen. Er war gross, hatte blondes, aber struppiges Haar und eine
Stumpfnase, breite, dicke Lippen und milchblaue Augen, doch einen
frechen Blick. Seiner Schwester aehnelte er wenig, nur etwas in einem Zug
um den Mund; er hatte auch die gleiche gerade Stirn, aber nicht so eine
hohe wie sie; alle ihre feinen Zuege waren bei ihm vergroebert. "Was
willst Du fuer Deine Schindmaehre haben?" fragte Knud. "Mein Pferd ist
nicht zu verkaufen", antwortete Thorbjoern. "Du meinst wohl, ich kann's
nicht bezahlen?" sagte Knud.--"Ich weiss nicht, was Du kannst oder nicht
kannst."--"So,--also Du meinst: nein,--Du! Nimm Dich in acht", sagte
Knud. Der Bursche, der vorhin in der Stube an der Wand gestanden hatte
und den Maedchen ins Haar gefahren war, aeusserte jetzt zu einem Nachbar:
"Diesmal hat Knud keine rechte Schneid."
Das hoerte Knud.
"Keine Schneid? Wer sagt das? Ich keine Schneid?" schrie er. Mehr und
mehr Menschen kamen heran.
"Aus dem Weg! Achtung, das Pferd", rief Thorbjoern und trieb seinen Gaul
an; er wollte fort.--"Hast Du zu mir aus dem Weg gesagt?" fragte Knud.
"Ich habe nur zum Pferd gesprochen, ich muss fort", antwortete Thorbjoern,
bog aber nicht aus. "Warum faehrst Du gerade auf mich los?" fragte Knud.
"Weg da!"--und das Pferd reckte sich in die Hoehe, sonst haette es mit dem
Kopf Knud vor die Brust gestossen. Da packte Knud es am Zaum und Gebiss,
und das Pferd, das diesen Griff noch frisch im Gedaechtnis hatte, fing an
zu zittern. Das wirkte auf Thorbjoern; das mahnte ihn daran, was er
selbst dem Pferde angetan hatte; den Aerger ueber sich uebertrug er auf
Knud. Nun sprang er auf und zog mit der Peitsche diesem eins ueber den
Kopf. "Du schlaegst?" schrie Knud und kam auf ihn zu. Thorbjoern sprang
ab. "Du bist ein schlechter Kerl", sagte er und wurde dabei totenblass;
die Zuegel gab er dem Barschen aus der Stube, der herangetreten war und
sich angeboten hatte. Aber der alte Mann, der nach Aslaks Erzaehlung von
seinem Platz an der Tuer aufgestanden war, ging nun auf Thorbjoern zu und
zog ihn am Arm. "Saemund Granliden ist ein zu braver Mann, als dass sich
sein Sohn mit solchem Raufbold abgeben sollte." Das besaenftigte
Thorbjoern; Knud aber schrie: "Ich ein Raufbold? Das ist er gerade so gut
wie ich, und mein Vater ist gerade so gut wie seiner. Komm 'ran! Dumm
genug, dass die Leute nicht wissen, wer von uns der Staerkere ist", fuegte
er hinzu und legte sein Halstuch ab. "Die Probe darauf machen wir noch
immer frueh genug", sagte Thorbjoern. Da meinte der Mann, der vorhin im
Bette gelegen hatte: "Sie sind wie zwei Katzen, erst muessen sie sich
anprusten beide." Thorbjoern hoerte das wohl, aber antwortete nicht.
Einige lachten; andere sagten wiederum, das sei doch zu toll mit den
vielen Raufereien auf dieser Hochzeit; sie sollten doch einen Fremden in
Frieden lassen, der ruhig seiner Wege ziehen wollte. Thorbjoern sah sich
nach seinem Pferd um, es war seine feste Absicht, weiter zu fahren; aber
der Bursche, der es ihm abgenommen, hatte es eine ganze Strecke beiseite
gefuehrt und stand selbst wieder dicht bei Thorbjoern. "Was siehst Du Dich
um?" fragte Knud, "Synnoeve ist weit fort."--"Was geht Dich Synnoeve
an?"--"Nein, so'ne scheinheiligen Frauenzimmer gehen mich gar nichts
an," sagte Knud, "aber vielleicht benimmt sie Dir den Mut!" Das war fuer
Thorbjoern denn doch zu viel; die Umstehenden merkten, dass er das Terrain
fuer den Kampf untersuchte. Nun traten wieder aeltere Maenner dazwischen
und meinten, Knud habe bei dem Fest schon genug auf dem Gewissen. "Mir
soll er nichts anhaben!" sagte Thorbjoern und darauf verstummten sie.
"Lasst sie doch raufen," sagten andere, "dann werden sie gute Freunde;
sie haben sich lange genug mit boesen Blicken verfolgt."--"Ja," setzte
einer hinzu, "jeder von beiden will der Staerkere sein; jetzt wird sich's
ja zeigen."--"Habt Ihr nicht das Buerschchen Thorbjoern Granliden irgendwo
gesehen?" fragte Knud laut, "eben war er doch noch hier."--"Hier ist
er", sagte Thorbjoern, und in demselben Augenblick bekam Knud einen Hieb
ueber das rechte Ohr, dass er nahestehenden Maennern in die Arme purzelte.
Nun wurde es still in der Runde. Knud sprang auf--und vorwaerts, ohne
einen Laut von sich zu geben; Thorbjoern setzte sich zur Gegenwehr. Ein
langer Faustkampf entspann sich; beide wollten einander zu Leibe; aber
beide waren geuebt und jeder hielt sich den andern vom Leibe. Thorbjoerns
Hiebe fielen dicht und, wie einige sagten, auch recht wuchtig. "Da ist
Knud mal an den Richtigen gekommen," sagte der Bursche, der sich des
Pferdes angenommen hatte, "macht Platz!" Die Frauen rissen aus, nur eine
blieb oben auf der Treppe stehen, um besser sehen zu koennen; das war die
Braut. Zufaellig streifte Thorbjoerns Blick sie; er zauderte einen Moment,
da sah er ein Messer in Knuds Hand, erinnerte sich ihrer Worte: "Gut ist
er nicht", und traf mit einem wohlgezielten Hieb Knuds Arm so ueber dem
Handgelenk, dass das Messer auf die Erde fiel, und der Arm kraftlos sank.
"Au--das war ein Hieb!" rief Knud. "Spuerst Du's?", fragte Thorbjoern und
stuerzte auf ihn los. Knud war durch den gelaehmten Arm in starkem
Nachteil; er wurde hochgehoben, weitergeschleppt, aber es dauerte eine
ganze Weile, bis er geworfen war. Mehrmals wurde er so hingeschleudert,
dass jeder andere mehr wie genug gehabt haette; aber sein Rueckgrat vertrug
viel; Thorbjoern zog mit ihm herum, ueberall wichen die Leute
zurueck,--aber Thorbjoern schritt immer weiter mit ihm--er trug ihn um den
ganzen Hof herum, bis sie vor die Treppe gelangten, dort schwang er ihn
noch einmal hoch in die Luft und drueckte ihn dann zu Boden; da gaben
Knuds Knie nach, und er stuerzte auf die Steinfliessen, so lang wie er
war, und es sang ihm und es klang ihm in den Ohren. Regungslos blieb er
liegen, stoehnte tief und schloss die Augen. Thorbjoern richtete sich auf,
sein Blick fiel gerade auf die Braut, die noch immer starr dastand und
zusah. "Legt ihm etwas unter den Kopf", sagte sie, drehte sich um und
ging ins Haus.
Zwei alte Frauen kamen vorbei; die eine sagte zu der andern: "Herrgott!
Da liegt schon wieder einer; wer ist denn das?" Ein Mann antwortete:
"Er--der Knud Nordhoug." Da meinte die zweite Frau: "Dann werden wohl
die ewigen Raufereien mal ein Ende nehmen--die Menschen koennen doch ihre
Kraefte zu was Besserem brauchen."--"Da hast Du ein wahres Wort
gesprochen, Randi," meinte die erste; "unser Herrgott helfe ihnen, dass
sie lernen, weniger an sich als an Besseres zu denken."
Das traf Thorbjoern und ergriff ihn tief; bisher hatte er kein Wort
hervorgebracht; er stand nur da und sah den Leuten zu, die fuer Knud
sorgten; einige sprachen ihn an, doch er antwortete nicht. Er wandte
sich fort und ueberliess sich seinen Gedanken. Synnoeve kam ihm vor allem
in den Sinn, und er schaemte sich fuerchterlich; er ueberlegte, wie er ihr
die Sache erklaeren koenne, und es fiel ihm aufs Herz, dass er doch sein
Leben nicht so leicht zu aendern vermochte, wie er geglaubt hatte. Im
selben Nu rief es hinter ihm: "Pass auf, Thorbjoern!" und noch ehe er sich
umdrehen konnte, wurde er von hinten an den Schultern gepackt und zu
Boden geworfen; dann fuehlte er nur noch einen stechenden Schmerz; aber
er wusste nicht, an welcher Stelle. Er hoerte Stimmen rings um sich her;
es war ihm, als ob er weggefahren wuerde, manchmal glaubte er selbst die
Zuegel zu fuehren; aber bestimmt wusste er das nicht.
So ging es eine lange Zeit fort; ihm wurde kalt, dann wieder warm, und
dann mit einem Male ganz leicht; so leicht, dass er zu schweben meinte,
und nun begriff er: Baumkronen trugen ihn, eine zur andern, endlich
hinauf zum Huegel; und wieder hoeher--zur Alm, und noch hoeher--hoch auf
die hoechste Felsenspitze, und Synnoeve beugte sich ueber ihn und weinte
und fragte: warum er nicht gesprochen habe? Sie weinte heftig und sagte
dann, er habe doch gesehen, wie ihm Knud in den Weg getreten sei, und
jetzt habe sie doch Knud nehmen muessen. Und dann streichelte sie ihn
sanft auf der einen Seite, so dass er dort ganz warm wurde, und weinte
so, dass sein Hemde ganz feucht wurde. Aber Aslak kauerte hoch oben auf
einem grossen, spitzen Stein und zuendete die Baumkronen ringsum an; sie
zuckten, sie zischten, Zweige flogen um ihn her, Aslak aber lachte mit
weit aufgerissenem Mund: "Ich bin's nicht gewesen, meine Mutter hat's
getan!" Und auf der andern Seite stand Vater Saemund und warf Kornsaecke
hoch, so hoch, dass die Wolken sie auffingen und das Korn wie Nebel
verstreuten, und Thorbjoern wunderte sich, dass das Korn ueber den ganzen
Himmel hinfliegen konnte. Und wie er wieder herunterblickte, war Saemund
mit einem Male ganz klein geworden, so klein wie ein Punkt; aber er warf
noch immer die Saecke, hoeher und hoeher und rief: Das mach' mir mal nach!
Hoch, hoch oben in den Wolken stand die Kirche, und auf ihrer Turmspitze
die blonde Frau aus Solbakken, die schwenkte in der einen Hand ein rotes
Taschentuch, in der anderen ein Gesangbuch und sagte: "Hierher kommst Du
mir nicht, solange Du noch raufst und fluchst!"--und als er schaerfer
hinsah, war es gar nicht die Kirche,--nein, es war Solbakken, und die
Sonne strahlte so hell auf all die hundert Fensterscheiben, dass ihm die
Augen davon weh taten und er sie schliessen musste.
"Vorsichtig, vorsichtig, Saemund!" hoerte er mit einem Male rufen; er
erwachte wie aus dem Schlummer, wie wenn er fortgetragen wuerde, und er
sah sich um. Er war zu Hause in der Stube von Granliden; ein tuechtiges
Feuer brannte im Herde; er erblickte neben sich die Mutter; sie weinte,
der Vater wollte ihn eben aufnehmen--um ihn in eine Seitenkammer zu
bringen, da liess er ihn sacht wieder nieder: "Es ist noch Leben in ihm",
sagte er mit bebender Stimme und wandte sich zur Mutter; die schrie:
"Lieber, lieber Gott, er schlaegt die Augen auf! Thorbjoern, Thorbjoern,
barmherziger Himmel, was haben sie mit Dir gemacht!" und sie beugte sich
ueber ihn, streichelte ihm die Backen, und ihre Traenen fielen dabei warm
auf sein Gesicht. Saemund wischte sich mit dem einen Aermel die Augen,
schob die Mutter sacht beiseite: "Ich moechte ihn doch jetzt gleich
'ruebertragen", sagte er, und legte die eine Hand vorsichtig unter
Thorbjoerns Schultern, die andere unter das Rueckgrat. "Stuetz' ihm den
Kopf, Mutter, wenn er ihn nicht hochhalten kann." Sie ging voran und
stuetzte den Kopf, Saemund suchte gleichen Schritt mit ihr zu halten, und
bald war Thorbjoern umquartiert. Nachdem sie ihn gut gebettet und
ordentlich zugedeckt hatten, fragte Saemund, ob der Knecht schon
fortgefahren sei. "Da kannst Du ihn noch sehen", sagte die Mutter und
zeigte nach dem Hof hinaus; Saemund machte das Fenster auf und rief:
"Wenn Du es in einer Stunde schaffst, kriegst Du doppelten
Jahreslohn--und sollte das Pferd auch dabei drauf gehen!"
Er trat wieder ans Bett; Thorbjoern sah ihn mit grossen, klaren Augen an;
des Vaters Augen waren immer wieder auf den Sohn gerichtet und wurden
feucht. "Ich wusste, es wuerde solches Ende mit ihm nehmen", sagte er,
drehte sich um und ging hinaus. Die Mutter setzte sich auf einen Schemel
zu Fuessen Thorbjoerns und weinte, sprach aber nicht. Thorbjoern wollte
sprechen, fuehlte jedoch, dass es ihm zu schwer fiel, und schwieg darum.
Aber bestaendig sah er seine Mutter an, und sie hatte frueher nie einen
solchen Glanz in seinen Augen bemerkt, noch empfunden, dass sie so schoen
wie jetzt waren, und das nahm sie fuer ein schlechtes Zeichen. "Gott der
Herr steh' Dir bei," stiess sie hervor, "ich weiss, es ist Saemunds Tod,
wenn Du von uns gehst." Thorbjoern sah sie an; seine Augen, sein Gesicht
waren starr. Sein Blick drang ihr tief in die Seele, und sie begann das
Vaterunser fuer ihn zu beten; denn sie hielt seine Stunden fuer gezaehlt.
Und als sie so bei ihm sass, ging es ihr durch den Sinn, wie ueberaus lieb
sie alle gerade ihn hatten; und jetzt war nicht eins von seinen
Geschwistern zu Hause. Da schickte sie zur Alm, um Ingrid und den
juengern Bruder zu holen; dann setzte sie sich wieder an das Bett. Er sah
sie unverwandt an; und sein Blick wirkte auf sie wie ein Gesangbuchlied,
das sie sanft auf zu Hoeherem fuehrte; und die alte Ingebjoerg wurde
andaechtiglich ergriffen, nahm die Bibel und sagte: "Jetzt will ich laut
zu Deinem Frommen lesen, auf dass es Dir gut ergehe." Da sie ihre Brille
nicht bei der Hand hatte, schlug sie eine Stelle auf, die sie von ihrer
Kinderzeit noch so ungefaehr auswendig konnte, und die Stelle war aus
dem Evangelium Johannis. Sie konnte nicht wissen, ob er es hoere, denn er
lag nach wie vor starr da,--aber sie las,--wenn nicht fuer ihn, so fuer
sich selbst.
Bald kam Ingrid nach Hause, um die Mutter abzuloesen; aber da schlief
Thorbjoern gerade. Sie weinte unaufhoerlich; sie hatte schon geweint, ehe
sie von der Alm fortging; denn sie dachte an Synnoeve, die ohne Nachricht
blieb.--Dann kam der Doktor und untersuchte. Thorbjoern hatte einen
Messerstich in die Seite bekommen und noch andere Verletzungen, aber der
Doktor sagte nichts, und es fragte ihn keiner. Saemund begleitete ihn in
die Krankenstube, stellte sich neben ihn und blickte ihm bestaendig ins
Gesicht, ging mit hinaus, da der Doktor ging, half ihm hinauf auf seinen
zweiraedrigen Wagen und nahm den Hut ab, als der Doktor sagte, er werde
am naechsten Tage wiederkommen. Dann drehte er sich zu seiner Frau um,
die neben ihm stand: "Wenn der Mann nichts sagt, steht es schlecht",
seine Lippen zitterten, er drehte sich auf den Hacken um und ging
querfeldein.
Niemand wusste, wo er steckte, er kam weder am selben Abend, noch in der
Nacht, sondern erst den naechsten Morgen nach Hause, und da sah er so
finster aus, dass sich keiner zu fragen getraute. Er selbst sagte nur:
"Na?"--"Er hat geschlafen," sagte Ingrid, "aber er ist so von Kraeften,
dass er nicht die Hand heben kann." Saemund wollte in die Krankenstube,
aber dicht vor der Tuer machte er Kehrt.
Der Doktor kam am naechsten Tage wieder und auch die folgenden Tage.
Thorbjoern konnte sprechen, aber er durfte sich nicht bewegen. Ingrid sass
am meisten bei ihm, auch die Mutter oft und sein juengerer Bruder; aber
er richtete keine Frage an sie und sie nicht an ihn. Der Vater war
niemals in der Stube. Die anderen sahen, dass der Kranke das merkte; er
blickte gespannt hin, sobald die Tuer aufging; jedenfalls doch, weil er
den Vater erwartete. Schliesslich fragte ihn Ingrid, wen er wohl
ausserdem noch gern sehen moechte? "Ach, mich will ja keiner sehen",
antwortete er. Das wurde Saemund wiedererzaehlt; der entgegnete im
Augenblick nichts, und als an diesem Tage der Doktor kam, war er nicht
zu Hause. Aber ein Stueck Weges vom Hofe erwartete er ihn bei der
Rueckfahrt; er hatte auf dem Grabenrand gesessen, stand auf, als der
Wagen vorbeifuhr, gruesste und fragte nach dem Zustand seines Sohnes. "Sie
haben ihm boese mitgespielt", lautete kurz die Antwort. "Wird er
durchkommen?" fragte Saemund und bastelte am Bauchgurt des Pferdes.
"Danke, der Gurt sitzt ja gut", sagte der Doktor. "Nicht stramm genug",
antwortete Saemund. Dann waren beide eine Zeitlang stumm; der Doktor sah
ihn an; Saemund arbeitete eifrig an dem Gurt herum, blickte aber nicht
auf. "Du hast gefragt, ob er durchkommen wird; ja, das glaube ich wohl",
sagte der Doktor langsam; Saemund blickte schnell auf. "Dann ist keine
Lebensgefahr mehr?" fragte er. "Seit ein paar Tagen nicht mehr",
antwortete der Doktor. Da rollten Traenen aus Saemunds Augen; er wischte
sie ab, aber sie kamen wieder, "'s ist 'ne reine Schande, wie lieb ich
den Jungen habe," schluchzte er, "aber einen praechtigem Burschen hat's
im ganzen Gau noch nicht gegeben." Der Doktor wurde geruehrt: "Warum hast
Du nicht schon frueher gefragt?"--"Ich haett' es nicht hoeren koennen",
antwortete Saemund und wollte die Traenen herunterschlucken; aber es
gelang ihm nicht; "und dann waren die Frauensleute dabei," fuhr er fort,
"die sahen immer hin, ob ich Dich nicht fragen wolle, und da kriegte
ich's nicht fertig." Der Doktor liess ihm Zeit, wieder ordentlich zu sich
zu kommen, und nun blickte Saemund ihn fest an: "Wird er wieder ganz
gesund?" fragte er ploetzlich. "Soweit es moeglich ist; uebrigens laesst
sich darueber mit Sicherheit nichts sagen." Da wurde Saemund ruhig und
nachdenklich. "Soweit es moeglich ist", murmelte er und blickte zu Boden.
Der Doktor wollte ihn nicht stoeren; es war etwas in dem Mann vor ihm,
das es ihm verbot. Ploetzlich hob Saemund den Kopf: "Ich danke fuer die
Auskunft", sagte er, reichte dem Doktor die Hand und ging nach Hause.
Waehrenddessen sass Ingrid bei dem Kranken. "Wenn Du es hoeren kannst, will
ich Dir etwas vom Vater erzaehlen", sagte sie. "Erzaehle", antwortete er.
"An dem Abend, als der Doktor zum ersten Male hier war, war Vater
ploetzlich weg, und niemand wusste, wo er war. Da war er zum
Hochzeitshause gegangen; den Leuten wurde schlecht zumute, als er
eintrat. Er setzte sich an den Tisch und trank mit den andern; und der
Braeutigam hat spaeter erzaehlt, er habe geglaubt, Vater sei ins Taumeln
gekommen. Aber dann erst hub er an, nach der Rauferei zu fragen, und
erhielt auch genauen Bericht. Nun kam Knud; Vater wuenschte, Knud solle
erzaehlen, und ging auf den Hof zu der Stelle hin, wo Ihr gerauft hattet.
Die ganze Gesellschaft ging mit. Knud erzaehlte, wie Du mit ihm
umgesprungen seist, nachdem Du ihm die Hand lahm geschlagen hattest;
aber als er nun nicht weiter mit der Sprache heraus wollte, richtete
Vater sich hoch auf und fragte: ob das vielleicht dann so zugegangen
waere--und im selben Augenblick hatte er schon Knud vorn an der Brust
gepackt, dann hob er ihn hoch und warf ihn auf die Steinfliessen, wo noch
Blut von Dir klebte; mit der linken Hand drueckte er ihn nieder, mit der
Rechten zog er sein Messer; Knud wechselte die Farbe und alle Gaeste
standen stumm dabei. Einige hatten gesehen, dass Vater geweint hat; aber
getan hat er Knud nichts. Der lag da und ruehrte sich nicht. Vater riss
ihn wieder hoch, warf ihn eine Weile darauf wieder zu Boden. 'Es faellt
einem recht schwer, Dich entwischen zu lassen', sagte er und nahm ihn
scharf aufs Korn, indem er ihn festhielt.
Zwei alte Frauen gingen vorbei und die eine sagte: 'Denk an Deine
Kinder, Saemund Granliden', und sofort, so erzaehlen die Leute, hat Vater
den Knud losgelassen, und bald darauf war er herunter vom Hof; aber
Knud drueckte sich zwischen den Haeusern fort von der Hochzeit und wurde
nicht mehr gesehen."
Kaum war Ingrid mit ihrer Erzaehlung fertig, da oeffnete sich die Tuer;
jemand sah hinein, und das war der Vater. Sie ging gleich aus der Stube;
Saemund trat ein. Wovon Vater und Sohn miteinander gesprochen haben, das
hat niemand erfahren; die Mutter, die an der Tuer stand und lauschte,
glaubte doch einmal verstanden zu haben, dass sie darueber redeten, ob
Thorbjoern wieder ganz gesund werden koenne oder nicht. Aber sie war ihrer
Sache nicht sicher, und hineingehen wollte sie nicht, solange Saemund
drin war. Als er herauskam, waren seine Zuege sehr sanft, seine Augen
etwas geroetet. "Wir werden ihn wohl behalten," sagte er im Vorbeigehen
zu Ingebjoerg, "aber unser Herrgott weiss, ob er wieder ganz gesund wird."
Ingebjoerg fing zu weinen an und ging ihrem Manne nach; auf der Treppe
zum Schuppen setzten sie sich nebeneinander, und sie besprachen
mancherlei.
Als aber Ingrid leise wieder zu Thorbjoern hineinkam, lag er da mit einem
Zettel in der Hand und sagte ruhig und langsam: "Den Zettel gib Synnoeve,
sobald Du sie triffst." Als Ingrid gelesen hatte, was darauf stand,
wandte sie sich ab und weinte, denn auf dem Zettel stand:
"An die hochgeschaetzte Jungfrau Synnoeve, Tochter des Guttorm Solbakken.
Wenn Du diese Zeilen gelesen hast, so soll es aus sein zwischen uns
beiden. Denn ich bin nicht der Mann, der fuer Dich bestimmt ist. Unser
Herrgott sei mit uns beiden.
Thorbjoern, Sohn des Saemund Granliden."
Sechstes Kapitel
Synnoeve hatte an dem Tage, nachdem Thorbjoern auf der Hochzeit gewesen,
von dem Vorfall erfahren. Sein juengerer Bruder war mit der Nachricht
auf die Alm gekommen; aber Ingrid hatte ihn auf dem Flur abgefasst und
ihm eingeschaerft, wie weit er erzaehlen solle. Synnoeve wusste also nicht
mehr, als dass Thorbjoern mit Wagen und Ladung umgekippt, dann nach
Nordhoug um Hilfe gegangen und dabei mit Knud in Streit geraten war; er
habe etwas abgekriegt, liege auch zu Bett; aber es sei nicht gefaehrlich.
Eine Geschichte, die Synnoeve mehr boese als traurig stimmte; und je mehr
sie darueber nachdachte, desto mutloser wurde sie. Wie fest hatte er ihr
versprochen, sich so zu benehmen, dass ihre Eltern nichts gegen ihn sagen
konnten! Aber auseinanderbringen sollte das ihn und sie doch nicht!
Die Verbindung zwischen Tal und Alm war spaerlich, und die Zeit dehnte
sich, bis Synnoeve weitere Nachricht bekam. Die Ungewissheit drueckte sie
schwer; Ingrid wollte auch nicht wiederkommen,--es musste also etwas
besonderes vorgehen. Sie war abends nicht mehr in der Stimmung zu
singen, um das Vieh nach Hause zu locken, und schlief nachts nicht gut,
weil ihr Ingrid fehlte. Dadurch war sie am Tage muede, und somit wieder
ihr Herz nicht gerade leichter. Sie ging umher und wirtschaftete,
scheuerte Kuebel und Toepfe, machte Kaese, setzte Milch an, aber ohne
rechte Freude an der Arbeit, und Thorbjoerns juengerer Bruder, sowie der
andere Junge, die zusammen hueteten, hielten es nun fuer ausgemacht, dass
mit ihr und Thorbjoern etwas los sein muesse, und das gab ihnen oben auf
der Weide Stoff fuer vieles Gerede.
Am Nachmittag des achten Tages, seit Ingrid nach Hause gerufen worden,
verspuerte Synnoeve staerkere Herzbeklemmung denn je. Nun war schon soviel
Zeit vergangen, und sie hatte noch immer keine genaue Nachricht. Sie
liess ihre Arbeit liegen und setzte sich hin, um auf das Kirchspiel
hinunterzuschauen; das gab ihr etwas wie einen Zusammenhang mit denen
unten, und ganz allein mit sich mochte sie nicht sein. Dabei wurde sie
muede, legte den Kopf auf den Arm und schlief sofort ein; aber die Sonne
stach und ihr Schlaf war sehr unruhig. Sie glaubte sich zu Solbakken in
der Bodenkammer, wo ihre Sachen standen und sie gewoehnlich schlief; die
Blumen dufteten so schoen zu ihr hinauf; aber nicht mit dem Duft wie
sonst; mehr wie Heidekraut. Woher mag das wohl kommen? dachte sie und
sah durch das offene Fenster. Ja, da stand Thorbjoern unten im Garten und
pflanzte Heidekraut ein. "Aber, Liebster, warum tust Du das?" fragte
sie. "Die Blumen wollen nicht wachsen", sagte er und liess sich nicht
stoeren. Da tat es ihr um die Blumen leid, und sie bat ihn schliesslich,
sie ihr herauf zubringen. "Ja, gern", antwortete er, sammelte die
herausgezogenen Blumen und machte sich auf den Weg; aber nun sass sie gar
nicht mehr in der Bodenkammer, denn er konnte sofort zu ihr. In
demselben Augenblick kam ihre Mutter dazu. "In Jesu Namen, will der Ekel
von Junge zu Dir?" rief sie, sprang dazwischen und stellte sich vor ihn
hin. Das wollte er sich nicht gefallen lassen, und nun fingen die beiden
an, zu ringen. "Mutter, Mutter, er will mir ja nur meine Blumen
bringen", bat Synnoeve und weinte. "Das hilft nichts", sagte die Mutter
und ging ihm staerker zuleibe. Synnoeve wurde aengstlich, so aengstlich;
sie wusste nicht, wem von den beiden sie den gluecklichen Ausgang des
Ringens wuenschen sollte; verlieren aber sollte keiner. "Seht Euch mit
den Blumen vor", rief sie; doch sie rangen immer heftiger und heftiger,
und die schoenen Blumen wurden dabei ueberall umhergestreut, von der
Mutter zertreten, von Thorbjoern zertreten; Synnoeve weinte. Als
Thorbjoern aber die Blumen hingeworfen hatte, wurde er mit einem Male
furchtbar haesslich, ganz widerlich; das Haar auf seinem Kopfe wuchs,
sein Gesicht verlaengerte sich, die Augen bekamen einen wilden Ausdruck
und mit spitzen Klauen griff er nach der Mutter. "Nimm Dich in acht,
Mutter; siehst Du nicht, das ist nicht er, das ist ein andrer--nimm
Dich in acht!" schrie sie und wollte hin und der Mutter helfen, konnte
sich aber nicht vom Fleck ruehren.--Da hoerte sie ihren Namen rufen;
dann noch einmal. Und im Nu verschwand Thorbjoern und auch die Mutter.
"Ja", antwortete Synnoeve und erwachte. "Synnoeve!" klang es von neuem.
"Ja", rief sie und blickte auf. "Wo bist Du denn?" Das ist Mutter,
dachte Synnoeve, stand auf und ging auf den Platz zu, wo die Mutter mit
einem Esskorb in der Hand stand, sich mit der anderen die Augen
beschattete und nach ihr ausschaute.
"Hier liegst Du und schlaefst auf der kalten Erde?" sagte die
Mutter. "Ich war so muede," antwortete Synnoeve, "und hatte mich nur
einen Augenblick hingelegt, und da bin ich mit einemmal fest
eingeschlafen."--"Davor musst Du Dich hueten, mein Kind----Hier in dem
Korb habe ich Dir etwas mitgebracht; ich habe gestern gebacken, weil
Vater eine laengere Reise machen will." Aber Synnoeve fuehlte, etwas
anderes muesse die Mutter hergefuehrt haben, und sie meinte nicht ohne
Grund von ihr getraeumt zu haben. Karen--so hiess ihre Mutter--war, wie
gesagt, klein und schmaechtig von Gestalt, hatte blondes Haar, und blaue
Augen, die rastlos umherblickten. Sie laechelte ein wenig, wenn sie
sprach; aber nur wenn sie mit Fremden sprach. Ihr Gesichtsausdruck war
sehr scharf geworden; sie war hastig in ihren Bewegungen und machte sich
immer etwas zu tun.--Synnoeve bedankte sich fuer das Mitgebrachte, nahm
den Deckel vom Korb und wollte nachsehen, was darin war. "Das kannst Du
spaeter tun", sagte die Mutter; "ich habe wohl bemerkt, dass Du Toepfe und
Kuebel noch nicht abgewaschen hast; das musst Du immer besorgen, mein
Kind, ehe Du schlafen gehst."--"Ja, das war auch nur heute."--"Komm
jetzt, ich will Dir helfen, da ich doch nun mal hier bin," fuhr Karen
fort, und schuerzte sich auf. "Du musst Dich an Ordnung gewoehnen, ob ich
Dich nun unter Augen habe oder nicht." Sie ging in die Milchkammer, und
Synnoeve folgte ihr langsam. Nun nahmen sie die Gefaesse herunter und
wuschen auf; die Mutter untersuchte, wie die Wirtschaft imstande sei,
fand es nicht schlecht, gab eifrig Anweisungen und half auch Synnoeve
beim Ausfegen. Und damit vergingen ein oder zwei Stunden. Waehrend der
Arbeit hatte sie der Tochter erzaehlt, was sie zu Hause gemacht hatten
und wie sie durch die Vorbereitungen fuer Vaters Reise in Anspruch
genommen war. Dann fragte sie Synnoeve, ob sie auch nicht vergessen habe
jeden Abend, vor dem Schlafengehen, in Gottes Wort zu lesen. "Denn das
darf man niemals unterlassen, sonst ist es mit der Arbeit am anderen
Tage schlecht bestellt."
Als sie nun fertig waren, gingen sie hinaus und setzten sich, um auf die
Kuehe zu warten; und als sie dasassen, fragte die Mutter nach Ingrid; sie
wollte wissen, ob sie nicht bald wieder heraufkomme. Synnoeve wusste nicht
mehr darueber als die Mutter. "Ja, so kann es einem Menschen ergehen",
sagte die Mutter und Synnoeve begriff sofort, dass sich das nicht auf
Ingrid bezog; sie wollte gern einem weiteren Gespraech ueber diesen
Gegenstand vorbeugen, fand aber nicht den Mut. "Wer unseren Herrgott
nicht im Herzen traegt, der wird an ihn erinnert, wenn er's am wenigsten
erwartet", sagte die Mutter. Synnoeve erwiderte kein Wort. "Ich habe
immer gesagt: aus dem Burschen wird nichts.--Ist das ein Benehmen?
Pfui!"--Sie hatten sich beide hingekauert und blickten vor sich hin;
aber keine sah die andere an. "Hast Du gehoert, wie es ihm geht?" fragte
die Mutter, und warf ihr einen kurzen Blick zu. "Nein", antwortete
Synnoeve.--"Es soll schlecht um ihn stehen", sagte die Mutter. Ein Druck
legte sich auf Synnoeves Brust. "Ist es gefaehrlich?" fragte sie. "Ja, der
Messerstich in der Seite;--und dann soll er noch am ganzen Leibe
zerschlagen sein." Synnoeve fuehlte, wie ihr das Blut in das Gesicht
schoss; schnell drehte sie sich zur Seite, damit die Mutter es nicht
sehen sollte. "Ja, aber es hat wohl im ganzen nicht viel zu sagen?"
fragte sie so ruhig, wie sie vermochte; doch der Mutter war es
aufgefallen, dass Synnoeves Atem heftig ging, und darum entgegnete sie:
"Ach nein, das wohl nicht." Da daemmerte es Synnoeve auf, dass etwas sehr
Schlimmes passiert war. "Liegt er zu Bett?" fragte sie.--"Ja, natuerlich.
Wie muss das seine Eltern treffen,--solch brave Leute. Gut erzogen haben
sie ihn ja auch, so dass unser Herrgott nicht mit ihnen darueber in das
Gericht gehen kann." Synnoeve wurde so beklommen zumut, dass sie sich kaum
noch fassen konnte. Da fuhr die Mutter fort: "Nun zeigt es sich, wie gut
es war, dass sich niemand an ihn gebunden hat. Unser Herrgott lenkt alles
zum besten." Vor Synnoeves Augen schien sich alles zu drehen; sie glaubte
vom Berg herunterzustuerzen.
"Ich habe immer zu Vater gesagt: Gott schuetze uns; wir haben nur die
eine Tochter, und fuer die muessen wir sorgen. Vater ist ja etwas weich,
so brav er sonst ist; aber da ist es gut, dass er sich dort Rat holt, wo
er ihn findet; und das ist in Gottes Wort." Als nun Synnoeve noch bei all
ihrem Kummer daran denken musste, wie liebevoll ihr Vater immer gegen sie
war, da wurde es ihr immer schwerer, die Traenen hinunterzuwuergen; aber
es nuetzte nichts--sie fing zu weinen an.--"Du weinst?" fragte die Mutter
und sah sie an; aber Synnoeve liess sich nicht richtig ansehen. "Ja, ich
musste an ihn denken, an Vater, und da----", und nun stroemten die
Traenen.--"Was hast Du denn nur, mein liebes Kind?"--"Ach, ich weiss
selbst nicht recht ... das ist so ploetzlich ueber mich gekommen ...
vielleicht hat er Unglueck auf der Reise", schluchzte Synnoeve.--"Wie
kannst Du solchen Unsinn reden," sagte die Mutter, "warum soll nicht
alles gut abgehen?--Nach der Stadt und auf ebenen, breiten
Fahrwegen."--"Ja, denke nur ... wie es ihm gegangen ist ... dem andern",
schluchzte Synnoeve.--"Ja, dem!--Aber Dein Vater faehrt doch nicht wie
toll darauf los, sollt' ich meinen. Der kommt sicher ohne Unfall nach
Hause,--sofern unser Herrgott seine Hand ueber ihn haelt."
Die Mutter machte sich ueber Synnoeves Traenen, die gar nicht aufhoeren
wollten, allmaehlich Gedanken. "Es gibt vieles auf der Welt, das schwer
genug zu ertragen ist; aber da muss man sich damit troesten, dass noch
Schwereres haette kommen koennen", meinte sie. "Der Trost ist recht
schwach", sagte Synnoeve und weinte heftig. Die Mutter konnte es nicht
ueber das Herz bringen, ihr das zu antworten, was sie dachte; sie sagte
nur: "Unser Herrgott verhaengt so manches ueber uns auf sichtbare
Weise,--das hat er wohl auch diesmal getan"; dann stand sie auf, denn
die Kuehe bruellten schon auf dem Hang; das Gelaeut erklang, die Jungen
jodelten, und langsam kam der Zug heran, weil das Vieh satt und ruhig
war. Da bat die Mutter Synnoeve, ihm mit ihr entgegen zu gehen; Synnoeve
stand auf und folgte ihrer Mutter; aber sehr langsam.
Karen begruesste nun eifrig die Herde;--da kam eine Kuh nach der andern;
die Kuehe erkannten sie wieder und bruellten;--sie streichelte Tier fuer
Tier, und freute sich, dass sie sich so herausgemacht hatten. "Ja", sagte
sie, "unser Herrgott ist dem nahe, der ihm nah ist." Sie half nun die
Kuehe hineinbringen; denn es wollte heut mit Synnoeve gar nicht flecken;
Karen sagte weiter nichts und half ihr auch noch beim Melken, obgleich
sie nun laenger oben bleiben musste, als sie sich vorgenommen hatte. Als
dann noch die Milch durchgeseiht war, machte sie sich fertig, nach Hause
zu gehen; Synnoeve wollte sie begleiten. "Nein," sagte die Mutter, "Du
bist muede, die Ruhe wird Dir gut tun." Dann ergriff sie den leeren Korb,
gab ihrer Tochter die Hand, blickte sie fest an und sagte dabei: "Ich
komme bald wieder, um zu sehen, wie es Dir geht----halt Dich zu uns und
denke nicht an andere."
Kaum war die Mutter ausser Sehweite, da ueberlegte Synnoeve, woher sie am
schnellsten einen Boten nach Granliden bekommen koenne; sie rief
Thorbjoerns juengeren Bruder, um ihn hinunterzuschicken; aber als er kam,
meinte sie, dass es doch zu heikel sei, sich ihm anzuvertrauen, und
sagte: "Lass nur, Du kannst wieder gehen." Sie wollte selbst hinunter;
Gewissheit musste sie haben; es war eine Suende von Ingrid, dass sie ihr
gar keine Nachricht zukommen liess. Die Nacht war hell, der Granlidener
Hof nicht so entfernt, dass sie den Weg nicht machen konnte, wenn ihr
Herz sie trieb. Waehrend sie nun noch dasass und darueber nachsann, fasste
sie in Gedanken alles zusammen, was ihr die Mutter gesagt hatte, und
fing wieder an zu weinen; aber jetzt zauderte sie nicht mehr, wie sie es
den ganzen Tag ueber getan hatte, band sich ein Tuch um und stahl sich
ueber einen Schleichweg hinunter, damit es die Jungen nicht merkten.
Je weiter sie kam, desto mehr eilte sie; zuletzt sprang sie den Fusssteig
hinab; dabei loesten sich kleine Steine und rollten hinunter. Sie
erschrak. Obgleich sie wusste, dass das Geraeusch nur von den rollenden
Steinen kam, war es ihr doch, als befinde irgendein Wesen sich in der
Naehe; sie musste stehen bleiben und lauschen. Es war aber nichts;
schneller sprang sie talwaerts; ihr Fuss stiess nun gegen einen grossen
Stein, der mit dem einen Ende aus dem Wege hervorstak, herausgedraengt
wurde und hinunterflog. Das gab ein Getoese, es prasselte in den Bueschen;
ihr wurde bange, und um so mehr, als sie nun genau wahrnahm, dass etwas
unten auf dem Wege sich aufrichtete und bewegte. Zuerst glaubte sie an
ein Raubtier; sie blieb mit verhaltenem Atem stehen; die Gestalt dort
unten stand gleichfalls still. "Hoi--ho!" hoerte sie rufen. Ihre Mutter!
Das erste, was Synnoeve tat, war, sich schleunigst zu verstecken. Sie
wartete dann eine ganze Zeit, um sich zu vergewissern, ob die Mutter sie
auch nicht erkannt habe und zurueckkomme; aber das war nicht der Fall.
Dann wartete sie noch laenger, um die Mutter recht weit voraus zu lassen;
als sie sich nun wieder auf den Weg machte, ging sie vorsichtig, und
bald naeherte sie sich dem Hof.
Ihr wurde wieder etwas beklommen ums Herz, als sie ihn erblickte, und
das nahm mehr und mehr zu, je naeher sie kam. Der Hof lag in tiefer
Stille; die Arbeitsgeraete standen an die Waende gelehnt, Holz lag
gehauen und aufgestapelt, und die Axt war in den Hackeklotz getrieben.
Sie ging vorbei und hin bis zur Tuer; dort machte sie noch einmal Halt,
sah sich um und lauschte; nichts ruehrte sich. Und als sie noch dastand
und sich ueberlegte, ob sie in die Bodenkammer zu Ingrid hinaufgehen
solle oder nicht, da musste sie daran denken, dass in ebensolcher Nacht
Thorbjoern vor einigen Jahren in Solbakken gewesen war und ihr die Blumen
eingepflanzt hatte. Hastig zog sie die Schuhe aus und schlich die Treppe
hinauf.
Ingrid bekam einen grossen Schreck, als sie erwachte und sah, dass es
Synnoeve war, die sie geweckt hatte.--"Wie geht es ihm?" fluesterte
Synnoeve. Da wurde Ingrid ganz wach, erinnerte sich an alles und wollte
sich erst anziehen, um nicht sofort antworten zu muessen. Aber Synnoeve
setzte sich auf die Bettkante, bat liegen zu bleiben und wiederholte
ihre Frage.
"Jetzt geht's besser," antwortete Ingrid im Fluesterton, "ich komme bald
nach oben zu Dir."--"Liebe Ingrid, Du musst mir nichts verhehlen; Du
kannst mir nichts so Schlimmes erzaehlen, das ich mir nicht schon
schlimmer vorgestellt habe." Ingrid versuchte noch sie zu schonen; aber
die Furcht ihrer Freundin zwang ihr die Worte heraus und liess keine Zeit
zu Ausfluechten. Gefluesterte Fragen, gefluesterte Antworten; die tiefe
Stille ringsumher machte beides noch ernster; die Zeit der Unterredung
wurde zu einer feierlichen, zu einer Weihestunde, in der man auch der
herbsten Wirklichkeit gerade in das Auge zu sehen wagt. Doch beide waren
ueberzeugt, dass Thorbjoerns Schuld diesmal gering war, und dass er nichts
begangen hatte, das sich zwischen ihn und ihr Mitgefuehl stellen konnte.
Da weinten sich beide frei aus, aber leise,--und Synnoeve weinte am
staerksten; sie sass ganz zusammengekauert auf der Bettkante. Ingrid
suchte sie durch Erinnerungen aufzuheitern: wie froh und vergnuegt waren
sie alle drei so manchesmal gewesen! Aber nun passierte es wie so oft,
dass jede winzige Erinnerung an Tage voll Sonnenschein in Kummer und
Traenen zerrann.
"Hat er nach mir gefragt?" fluesterte Synnoeve.--"Er hat fast gar nicht
gesprochen."--Ploetzlich erinnerte sich Ingrid des Zettels, und das fiel
ihr arg auf die Seele.--"Faellt's ihm zu schwer, zu sprechen?"--"Das weiss
ich nicht--er denkt wohl desto mehr."--"Liest er in der Bibel?"--"Mutter
liest ihm vor; jetzt muss sie es alle Tage tun."--"Was sagt er
dann?"--"Er spricht fast gar nicht, hab' ich Dir ja gesagt; er liegt
still da und sieht vor sich hin."--"Liegt er in der bunten
Stube?"--"Ja."--"Mit dem Kopf zum Fenster?"--"Ja." Sie blieben eine
Weile stumm; dann sagte Ingrid: "Das kleine Sankthans-Spiel, das Du ihm
geschenkt hast, haengt am Fenster und dreht sich."
"Jetzt ist mir alles ganz gleich," sagte Synnoeve ploetzlich und
entschieden; "nichts auf der Welt soll mich von ihm trennen; es mag
kommen, wie es will." Ingrid war sehr befangen. "Der Doktor weiss noch
nicht, ob er wieder ganz gesund wird", fluesterte sie.
Da hob Synnoeve ihren Kopf und sah Ingrid mit verhaltenem Weinen und
stumm an; dann liess sie ihn wieder sinken und sass in tiefen Gedanken da;
die letzten Traenen rannen ueber ihr Gesicht; es folgten keine mehr, sie
faltete die Haende, verharrte aber sonst regungslos; sie schien einen
grossen Entschluss zu fassen. Mit einemmal stand sie auf, laechelte, beugte
sich ueber Ingrid und gab ihr einen langen, heissen Kuss. "Bleibt er siech,
so werde ich ihn pflegen. Jetzt rede ich mit meinen Eltern."
Das ruehrte Ingrid tief, aber bevor sie sprechen konnte, fuehlte sie, wie
ihre Hand erfasst wurde: "Leb' wohl, Ingrid, ich gehe nun wieder allein
zurueck."--Und Synnoeve wandte sich schnell der Tuer zu.
"Der Zettel!" fluesterte Ingrid ihr nach.--"Was fuer ein Zettel?" fragte
Synnoeve. Ingrid war schon aufgestanden, suchte ihn hervor und brachte
ihn der Freundin; aber waehrend sie ihn mit der linken Hand ihr unter
das Brusttuch schob, umschlang sie den Hals Synnoeves mit der rechten,
gab ihr den Kuss wieder, und ihre grossen warmen Traenen fielen auf das
Gesicht der Wartenden. Dann draengte Ingrid sie sanft hinaus und schloss
die Tuer; sie hatte nicht den Mut, das weitere zu sehen.
Synnoeve ging langsam die Treppen hinunter, aber da sie zu sehr mit ihren
Gedanken beschaeftigt war, machte sie unvorsichtigerweise ein lautes
Geraeusch dabei, erschrak, lief durch den Flur, griff nach ihren Schuhen
und eilte, den Zettel in der Hand, an den Haeusern vorbei, ueber den
Hofraum und direkt zum Gitter; dort blieb sie stehen, begann den Hang
hinan zu steigen schnell und schneller, denn ihr Blut war in Wallung
geraten. So schritt sie aus, sang leise vor sich hin, lief immer
ungestuemer, bis sie zuletzt muede war und sich hinsetzen musste. Da
erinnerte sie sich des Zettels.----
Als die Schaeferhunde am naechsten Morgen laut wurden, die Hirtenjungen
erwachten und die Kuehe gemolken und dann herausgelassen werden sollten,
war Synnoeve noch nicht zurueck.
Als die Jungen sich darueber wunderten und einander fragten, wo sie wohl
sein koenne, und entdeckten, dass sie nachts gar nicht in ihrem Bett
gewesen war,--da kam Synnoeve. Sie war sehr bleich und still. Ohne ein
Wort zu reden, schickte sie sich an, das Fruehstueck fuer die Jungen zu
bereiten, legte ihnen den Vorrat zurecht, den sie fuer den Tag mitnehmen
sollten, und half spaeter beim Melken.
Der Nebel drueckte noch auf die niedriger liegenden Haenge, der Tau
glitzerte vom Heidekraut ueber die braunrote Felsflaeche; es war etwas
kalt, und wenn der Hund bellte, erklang ringsherum Antwort. Die Herde
wurde hinausgelassen; die Kuehe bruellten in die frische Luft und Tier auf
Tier zog den Viehsteig hinab; aber dort sass schon der Hund, erwartete
sie und hielt sie solange zurueck, bis alle zur Stelle waren; dann liess
er sie weiter ziehen; die Herdenschellen laeuteten ueber die Haenge, der
Hund klaeffte, so dass es widerhallte, und die Jungen wetteiferten im
Jodeln. Aus all diesem Wirrwarr von Toenen ging Synnoeve fort und hin zu
dem Platz, wo sie und Ingrid frueher immer gesessen hatten. Sie weinte
nicht, sondern sass still da, blickte starr vor sich hin und verspuerte
nur ab und zu etwas von dem vergnueglichen Laerm, der sich weit und weiter
entfernte und mit der groesseren Entfernung besser ineinanderfloss. Dabei
fing sie an leise zu singen, dann immer lauter und zuletzt sang sie mit
klarer voller Stimme ein Lied, das sie nach einem anderen, ihr aus der
Kinderzeit bekannten, umgedichtet hatte:
Hab Dank fuer alles, was da geschehn,
Seit wir als Kinder im Walde spielten.
Ich dachte, das Spiel sollte weiter gehn,
Bis wir am Himmelstor hielten.
Ich dachte das Spiel sollte weitergehn
Von dort, wo die Birken uns Obdach boten,
Bis hin, wo die Solbakkenhaeuser stehn
Und zu dem Kirchlein, dem roten.
Ich harrte so manchen Abend hell
Und liess den Blick an den Tannen hangen;
Doch Schatten warf das dunkelnde Fjell,
Und Du, Du kamst nicht gegangen.
Ich harrte, harrte------die Welt entschlief.
Ich lauschte, spaehte, wieder und wieder,
Doch die Leuchte schwelte und brannte tief
Und die Sonne ging auf--und ging nieder.
Die armen Augen spaehten zu viel,
Sie taten nur immer nach einem schauen,
Nun wissen sie laengst kein ander Ziel,
Und brennen unter den Brauen.
Sie sagen, mir koennte viel Trost geschehen
Im Kirchlein hinter der Fagerleite;
Doch bittet mich nicht dorthin zu gehen!
Er saesse mir dort zur Seite.
Doch gut, so weiss ich doch, wer es war,
Der die Hoefe tat geneinander legen
Und junge Augen schuf warm und klar
Und Waelder durchzog mit Wegen.
Doch gut, so weiss ich doch, wer es war,
Der jene Kirche dort schuf zum Beten
Und machte, dass sie dort Paar um Paar
Vor seinen Altar treten.
Siebentes Kapitel
Gute Zeit darauf sassen Guttorm und Karen in der grossen, hellen Stube in
Solbakken zusammen und lasen sich aus neuen Buechern vor, die sie aus der
Stadt bekommen hatten. Vormittags waren sie in der Kirche gewesen; denn
es war Sonntag,--dann hatten sie einen kleinen Rundgang durch die Felder
gemacht, um zu sehen, wie Saaten und Fruechte standen, und um zu
ueberlegen, was Acker und was Brache im naechsten Jahr werden solle. So
waren sie langsam von einem Stueck Land zum andern gewandert, und sie
fanden, dass in ihrer Zeit das Gut sich recht gehoben habe. "Gott weiss,
was einmal draus wird, wenn wir nicht mehr sind", hatte Karen gesagt;
darauf hatte Guttorm sie aufgefordert, mit ihm nach Hause zu gehen, um
in den neuen Buechern zu lesen: "Denn man tut gut, sich Gedanken, wie Du
sie ausgesprochen hast, fernzuhalten."
Nun hatten sie ein Buch beendet, und Karen war der Ansicht, dass die
alten besser seien: "Die neuen sind ja nur aus den alten
abgeschrieben."--"Daran mag etwas Wahres sein; Saemund hat heut in der
Kirche zu mir gesagt, dass die Kinder auch nur wieder wie die Eltern
sind."--"Ja, Du und Saemund, Ihr habt lange genug heute miteinander
geredet."--"Saemund ist ein verstaendiger Mann."--"Aber ich fuerchte, er
ist wenig unserm Herrn und Heiland ergeben."--Hierauf antwortete
Guttorm nichts.----"Wo mag denn Synnoeve jetzt sein?" fragte die
Mutter.--"Oben in ihrer Kammer", antwortete er.--"Du hast ja selbst
vorhin bei ihr gesessen; wie war sie denn?"--"Ach--"--"Du solltest sie
nicht soviel allein lassen."--"Da kam jemand."--Die Frau blieb einen
Augenblick still.--"Wer war's?"--"Ingrid Granliden."--"Ich dachte, sie
ist noch auf der Alm."--"Sie ist heute nach Hause gekommen, weil ihre
Mutter in die Kirche wollte."--"Ja, die hat sich ja auch heute dort mal
sehen lassen."--"Sie hat viel zu tun."--"Das haben andre auch, aber
wohin es einen zieht, dahin kommt er doch."--Guttorm antwortete nicht.
Nach einer Weile sagte Karen: "Ausser Ingrid waren heute alle Granlidener
in der Kirche."--"Ja, wohl, um Thorbjoern wieder zum erstenmal
hinzubegleiten."--"Er sah schlecht aus."--"Nicht besser, als zu erwarten
war. Ich habe mich gewundert, dass er sich schon soweit erholt
hat."--"Ja, er hat sich mit seiner Torheit viel zugezogen."--Guttorm
blickte vor sich hin: "Er ist doch noch jung."--"Es ist kein fester Kern
in ihm, kein Verlass."
Guttorm hatte die Ellbogen auf den Tisch gestuetzt, drehte ein Buch in
der Hand, oeffnete es, tat, als wenn er darin lese, und liess die Worte
dabei fallen: "Er soll bestimmt wieder ganz gesund werden."--Die Mutter
nahm auch ein Buch zur Hand: "Das waere dem huebschen Burschen wirklich zu
wuenschen," sagte sie; "unser Herrgott stehe ihm bei, dass er dann bessern
Gebrauch davon macht."--Nun lasen alle beide, dann sprach Guttorm beim
Umblaettern: "Er hat sie heut den ganzen Tag nicht angesehen."--"Ja, das
hab' ich auch bemerkt; er blieb still auf seinem Platz, bis sie fort
war." Eine Weile darauf aeusserte Guttorm: "Glaubst Du, dass er sie
vergessen wird?"--"Das waere jedenfalls das Beste."
Guttorm las weiter, seine Frau blaetterte.
"Es ist mir weiter nicht angenehm, dass Ingrid immer bei ihr sitzt",
sagte sie.--"Synnoeve hat ja fast keine Menschenseele, mit der sie reden
kann."--"Sie hat uns."--Da blickte Vater Guttorm sie an: "Wir wollen
doch nicht zu streng sein." Seine Frau schwieg; nach einer Weile
erwiderte sie: "Ich habe es ja auch nicht verboten." Der Vater legte das
Buch fort, stand auf und sah aus dem Fenster. "Dort geht Ingrid", sagte
er. Kaum hatte die Mutter das gehoert, so stand sie gleichfalls auf und
lief schnell aus der Stube. Der Vater blieb noch lange am Fenster, dann
drehte er sich um und ging auf und ab; bald kam Karen wieder und stellte
sich vor ihn hin: "Ja, das hab' ich mir gleich gedacht", sagte sie,
"Synnoeve sitzt oben und weint; aber sowie ich komme, dann kramt sie
unten in ihrer Truhe"; und sie fuhr fort und schuettelte den Kopf: "Nein,
es tut nicht gut, dass Ingrid bei ihr sitzt."--Dann machte sie sich mit
dem Abendessen zu schaffen und ging haeufig durch die Tuer aus und ein.
Einmal, als sie gerade draussen war, kam Synnoeve still und mit etwas
geroeteten Augen in die Stube; sie schluepfte leicht an ihrem Vater, dem
sie in das Gesicht sah, vorueber und hin zum Tisch, setzte sich und nahm
ein Buch vor. Nach einem Weilchen legte sie es wieder fort und fragte
ihre Mutter, ob sie ihr helfen koenne. "Ja, das tu nur," antwortete
Karen, "Arbeit ist fuer alles gut."
Synnoeve uebernahm den Tisch zu decken; der stand unweit vom Fenster. Der
Vater, der bisher auf- und abgegangen war, kam nun dorthin und sah
hinaus. "Die Gerste, die der Regen 'runtergedrueckt hat, kommt, glaub'
ich, wieder hoch", sagte er. Da stellte sich Synnoeve neben ihn und sah
mit hinaus. Er wandte sich zu ihr,--seine Frau war gerade in der
Stube--und so strich er nur mit der einen Hand ueber Synnoeves Hinterkopf;
dann nahm er seinen Gang wieder auf.
Sie assen; aber in tiefer Stille; die Mutter sprach an diesem Tage das
Gebet sowohl vor wie nach Tisch; und als alle aufgestanden waren,
wuenschte sie, sie sollten nun in der Bibel lesen und zusammen singen:
"Gottes Wort gibt Frieden, und das ist doch im Hause der groesste Segen."
Dabei sah sie Synnoeve an, die mit niedergeschlagenen Augen dastand.
"Jetzt will ich Euch eine Geschichte erzaehlen," sprach die Mutter
weiter, "von der jedes Wort wahr ist, und ganz gut fuer den, der darueber
nachdenken will."----
Und sie erzaehlte: "In meiner Jugend lebte in Houg ein Maedchen, die
Enkeltochter eines alten, schriftgelehrten Amtmanns. Er hatte sie, als
sie ganz jung war, zu sich genommen, um in seinem Alter Freude an ihr zu
haben, und so lernte sie natuerlich Gottes Wort und gutes Benehmen und
Sitte. Sie fasste schnell auf, kam gut vorwaerts und ueberholte im Lauf der
Zeit uns alle; sie konnte schreiben, konnte rechnen, konnte ihre
Schulbuecher und fuenfundzwanzig Kapitel der Bibel auswendig, als sie
fuenfzehn Jahr alt war; dessen erinnere ich mich, als wenn es heute waere.
Sie hielt mehr vom Lernen als vom Tanzen, und war darum selten bei
lauten Festlichkeiten, doch haeufiger oben in ihres Grossvaters Stube bei
den vielen Buechern zu sehen. Jedesmal, wenn wir mit ihr zusammenkamen,
stand sie da, als wenn sie mit ihren Gedanken gar nicht zu uns gehoerte,
und wir sagten uns: 'Wenn wir doch nur so klug waeren, wie Karen Hougen!'
Sie sollte den Alten spaeter beerben, und viele gute Burschen boten sich
an, mit ihr mal auf Teilung zu gehen; aber alle bekamen Koerbe. Zur
selben Zeit kam der Pastorssohn aus dem Seminar nach Hause; er hatte
dort nicht gut getan, immer nur Sinn fuer wilde Streiche gehabt und mehr
boese Geschichten wie gute im Kopf; jetzt trank er sogar. 'Nimm Dich vor
ihm in acht', sagte der Grossvater, 'ich bin viel mit den Vornehmen
zusammen gewesen, und nach meiner Erfahrung ist ihnen weniger zu trauen
als den Bauern.'--Karen hoerte immer mehr auf ihn als auf alle
andern--und als sie spaeter den Pastorssohn traf, ging sie ihm aus dem
Wege; denn er hatte es auf sie abgesehen. Nirgends konnte sie mehr hin,
ohne ihm zu begegnen. 'Geh weg,' sagte sie, 'es hilft Dir doch nichts.'
Aber er lief ihr immer wieder nach, und so geschah es, dass sie zuletzt
doch mal stillstehn und ihn anhoeren musste. Huebsch genug war er; als er
aber zu ihr sagte, dass er nicht ohne sie leben koenne, da trieb er sie
damit weg. Nun lauerte er ihr auf; fortwaehrend umkreiste er ihr Haus,
aber sie kam nicht vor die Tuer; nachts stand er unter ihrem Fenster;
aber sie liess sich nicht blicken; er sagte, er werde sich ein Leid
antun; aber Karen wusste, was sie wusste. Da fing er wieder an, mehr zu
trinken.--'Nimm Dich in acht,' sagte der Alte, 'das ist alles
Teufelslist.'
Eines Tages, als Karen in ihrer Stube war, stand ploetzlich, ohne dass
man wusste, wie er hereingekommen war, der Pastorssohn vor ihr. 'Jetzt
toete ich Dich', sagte er. 'Ja, wenn Du Dich getraust!' antwortete sie.
Da fing er zu weinen an und sagte, dass es in ihrer Macht stehe, einen
ordentlichen Menschen aus ihm zu machen. 'Kannst Du ein halbes Jahr das
Trinken lassen?' sagte sie. Und er liess es ein halbes Jahr. 'Glaubst Du
mir jetzt?' fragte er. 'Nicht bis Du Dich ein halbes Jahr allen lauten
Vergnuegungen fern gehalten hast.' Das tat er. 'Glaubst Du mir jetzt?'
fragte er. 'Nicht, wenn Du jetzt nicht fortreist und Dein Examen
machst.' Auch das tat er, und nach einem Jahr kam er als richtiger
Pastor zurueck. 'Glaubst Du mir jetzt?' fragte er und hatte noch dabei
Pastorenmantel und Kragen angelegt. Jetzt will ich Dich ein paarmal
Gottes Wort verkuendigen hoeren.'
Und das tat er klar und rein, wie es einem Pastor ziemt; er redete
ueber seine eigene Niedrigkeit, und wie leicht der Sieg sei, wenn man
ernstlich kaempfe, und von der Bedeutung der Worte Gottes, wenn man erst
hin zu ihnen gefunden habe. Dann ging er wieder zu Karen. 'Ja, jetzt
glaube ich, dass Du nach der wahren Erkenntnis lebst,' sagte Karen, 'und
nun will ich Dir erzaehlen, dass ich schon drei Jahre mit meinem Vetter
Andreas Hougen verlobt bin, und am naechsten Sonntag sollst Du uns in der
Kirche aufbieten.'----"
Damit schloss die Mutter. Synnoeve hatte anfangs gar nicht auf die
Geschichte geachtet; dann aber staerker und staerker und zuletzt hing sie
foermlich an jedem Wort. "Folgt nichts weiter?" fragte sie sehr bange.
"Nein," antwortete die Mutter. Der Vater sah die Mutter an; da blickte
die Mutter etwas unsicher zur Seite, dann sagte sie nach kurzem
Nachdenken, und fuhr dabei mit den Fingern ueber die Tischplatte: "Es mag
wohl noch etwas folgen;----aber das ist ja gleich."--"Folgt noch etwas?"
fragte Synnoeve und wandte sich zu ihrem Vater, der ihr davon zu wissen
schien.--"Oh--ja; aber wie Mutter sagt: das ist ja gleich."--"Wie erging
es ihm?" fragte Synnoeve. "Ja, darum handelt sich's ja gerade",
antwortete der Vater und sah die Mutter an; die hatte sich mit ihren
Schultern an die Wand gelehnt und sah beide an.--"Wurde er ungluecklich?"
fragte Synnoeve leise. "Wir machen den Schluss dort, wo er gemacht werden
soll", sagte die Mutter und stand auf; der Vater ebenfalls; Synnoeve
etwas spaeter.
Achtes Kapitel
Wieder vergingen einige Wochen, da schickte sich eines Morgens zu frueher
Stunde alles in Solbakken zum Kirchgang an; es sollte heute Konfirmation
sein,--in diesem Jahre etwas zeitiger als gewoehnlich,--und wie immer bei
solcher Gelegenheit wurden die Haeuser zugeschlossen; denn alle gingen
mit. Fahren wollten sie nicht; das Wetter war klar, wenn auch in der
Fruehe etwas winterlich kalt und rauh; der Tag schien recht schoen zu
werden. Der Weg zog sich rund um das Kirchspiel und an Granliden vorbei,
liess den Hof links in kurzer Entfernung liegen und erreichte nach einer
Viertelmeile die Kirche. Das meiste Korn war schon geschnitten und in
Haufen geschichtet; die meisten Kuehe waren von der Alm getrieben und
gingen kauend an Stricken auf Stoppeln und Gras; die Felder hatten sich
zum zweitenmal begruent oder schimmerten weissgrau; ringsherum dehnte
sich der Wald in seiner Farbenbuntheit; die Birke schon kahler, die Espe
blassgoldig, die Eberesche mit vertrockneten, runzligen Blaettern, doch
voll roter Beeren. Es hatte einige Tage stark geregnet; das niedre
Gestruepp, das sich an den Wegkanten hoch arbeitete oder im Wegsande
stand und nieste, erschien reingewaschen und frisch. Aber die Felsen
fingen an sich schwerer ueber das Land zu neigen, je aerger sie der
beutegierige Herbst entkleidete und ihnen ein ernstes Aussehen gab;
wogegen die Felsbaeche, die im Sommer manchmal nur ein Scheindasein
fuehrten, sich wild tummelten und mit grossem Laerm herunterfuhren;
besonders wuchtig und prasselnd tat das der Granlidener, und namentlich
unten im Geroell, wo der Fels nicht laenger mit wollte, sondern sich nach
innen zurueckzog. Dort nahm der Bach auf dem Gestein einen tuechtigen
Anlauf und sprang mit derartigem Jauchzen herunter, dass der Fels
erbebte. Gewaschen wurde der fuer seine Verraeterei, denn der Wasserfall
schickte ihm seine kribblichsten Strahlen gerade ins Gesicht. Einige
neugierige Eisenbuesche, die sich dem Abhang genaehert hatten und beinahe
fortgeschwemmt waeren, schlucksten jetzt krampfhaft im Wassersbade, denn
der Giessbach war heut nicht eben sparsam.
Thorbjoern ging mit seinen Eltern, seinen beiden Geschwistern und den
uebrigen Hausleuten gerade daran vorbei und sah es sich mit ihnen an; er
war wieder ganz zu Kraeften gekommen und hatte sich schon ebenso tuechtig
wie frueher an der Arbeit seines Vaters beteiligt; die zwei waren fast
unzertrennlich; so auch heut.--"Ich glaube, hinter uns kommen die
Solbakkener", sagte der Vater. Thorbjoern blickte sich nicht um; aber die
Mutter setzte hinzu: "Jawohl, das sind sie;----aber ich sehe
nicht------sie sind ja auch noch so weit." Entweder gingen nun die
Granlidener schneller, oder die Solbakkener langsamer, denn der Abstand
wurde immer groesser und groesser; zuletzt verloren sie sich ganz aus den
Augen. Es schienen heut viele Menschen zur Kirche zu wollen; der lange
Weg war ganz schwarz von Fussgaengern, Fahrenden und Reitern; die Pferde
waren jetzt im Herbst mutig und wenig daran gewoehnt, mit anderen
zusammen zu sein; sie wieherten unaufhoerlich, und es steckte eine Unruhe
in ihnen, die das Fahren gefaehrlich, aber sehr vergnueglich machte.
Je mehr sie sich der Kirche naeherten, desto groesseren Laerm machten die
Pferde; jedes, das ankam, wieherte zu den schon dort stehenden hinueber;
und diese zerrten am Halfter, trampelten mit den Hinterbeinen und
antworteten den Ankoemmlingen. Alle Hunde aus dem Kirchspiel, die in der
Woche aus weiter Ferne auf einander gelauscht, sich gereizt und
angeklaefft hatten, trafen sich jetzt vor der Kirche und stuerzten sich
paarweise oder rudelweise Hals ueber Kopf auf die Felder zu einer
gehoerigen Balgerei. Die Menschen standen laengs der Kirchenmauer und den
Haeusern, fuehrten Gespraeche im Fluesterton und sahen sich nur von der
Seite an. Der Weg vor der Mauer war nicht breit, die Haeuser lagen unweit
von ihr auf der Seite gegenueber; und gern standen die Frauen und Maedchen
an der Mauer, die Maenner und Burschen vor den Haeusern. Erst spaeter
fanden sie den Mut, zueinander hinueberzugehen. Sahen sich Bekannte auf
geringen Abstand, dann taten sie, als saehen sie sich nicht, bis nach
altem Brauch die Zeit gekommen war;--es konnte ja passieren, dass ein
Ausweichen nicht moeglich gewesen, dass sie sich begruessen mussten; aber
dann geschah es mit halb abgewandtem Gesicht und knappen Worten; worauf
sich beide Teile mit Vorliebe nach ihren verschiedenen Richtungen
zurueckzogen. Als die Granlidener herankamen, wurde es fast noch stiller
wie bisher; Saemund hatte nicht viele zu begruessen, und so ging es schnell
durch die Reihen; aber die Frauen blieben gleich bei den Vordersten
stehen. Deshalb mussten die Maenner, als sie zur Kirche wollten, erst
wieder den Weg zurueck und zu den Frauen hinueber; in demselben Augenblick
fuhren drei Wagen hintereinander, schaerfer als alle frueher gekommenen,
heran und verlangsamten nicht einmal ihre und Fahrt, als sie in die
Menge einbogen. Saemund und Thorbjoern, die beinahe ueberfahren wurden,
blickten zu gleicher Zeit auf; im ersten Wagen sassen Knud Nordhoug und
ein alter Mann; im zweiten seine Schwester und ihr Mann; im dritten die
Eltern, die sich des Hofes begeben hatten. Vater und Sohn sahen sich an.
In Saemunds Gesicht veraenderte sich kein Zug; Thorbjoern wurde ganz blass;
schnell blickten beide wieder weg und geradeaus; dabei wurden sie die
Solbakkener gewahr, die direkt vor ihnen Halt gemacht hatten, um
Ingebjoerg und Ingrid zu begruessen. Die Ankunft der Wagen hatte ihr
Gespraech abgeschnitten, sie verfolgten mit den Augen die Fahrenden, und
es verging eine Weile, bis sie von ihnen ablassen konnten. Als sie
allmaehlich die Ueberraschung verschmerzt hatten und nach einem Uebergang
suchten, stiessen ihre Blicke auf Saemund und Thorbjoern, die dastanden und
hinstarrten. Guttorm drehte sich um; aber seine Frau richtete sofort
ihre Augen auf Thorbjoern; Synnoeve, die fuehlte, dass er sie ansah,
wendete sich Ingrid zu und nahm sie bei der Hand, um sie zu begruessen,
obgleich sie es schon einmal getan hatte. Aber alle merkten zu gleicher
Zeit, dass ihre Dienstboten und ihre Bekannten ohne Ausnahme sie
beobachteten, und nun schritt Saemund direkt hinueber und gab Guttorm
mit abgewandtem Gesicht die Hand: "Dank fuer das vorige Mal!"--"Dir
selber Dank fuer das vorige Mal."--Ebenso sagte seine Frau: "Dank fuer
das vorige Mal!"--"Dir selber Dank fuer das vorige Mal"; aber sie
blickte gar nicht dabei auf. Thorbjoern ging seinem Vater nach und tat
wie er; Saemund kam zu Synnoeve; sie war die erste, die er ansah; sie
sah auch ihn an, vergass aber dabei zu sagen: "Dank fuer das vorige
Mal"; nun kam Thorbjoern; er sagte nichts; sie sagte nichts; sie gaben
sich die Hand; aber nur ganz lose; keins von beiden schlug die Augen
auf, keins konnte den Fuss von der Stelle bewegen.--"Das wird sicher
praechtiges Wetter heut", sagte Karen Solbakken und behielt rastlos die
beiden im Auge. Saemund war der erste, der ihr antwortete: "Jawohl,
der Wind treibt die Regenwolken weg."--"Das ist gut fuers Getreide,
das noch draussen steht und trockenes Wetter braucht", sagte
Ingrid Granliden und fing an mit den Fingern auf Saemunds Rock
herumzubuersten, vermutlich, weil sie glaubte, dass er staubig
sei.--"Unser Herrgott hat uns ein gutes Jahr beschert; aber ob alles
richtig unter Dach kommt, das ist noch ungewiss", sagte Karen Solbakken
wieder und sah bestaendig auf die beiden, die noch immer regungslos
dastanden. "Das kommt auf die Zahl der Arbeitskraefte an", sagte
Saemund und stellte sich vor sie hin, dass sie nicht dorthin sehen
konnte, wohin sie gern wollte, "ich habe mir gedacht, wenn sich ein
paar Hoefe zusammentaeten, wuerd' es besser gehen."--"Sie wollen aber
vielleicht das trockene Wetter zu derselben Zeit ausnutzen", sagte
Karen und trat einen Schritt zur Seite.--"Na ja," sagte Ingebjoerg und
stellte sich neben ihren Mann, so dass Karen gar nicht dorthin sehen
konnte, wohin sie gern wollte; "aber auf manchen Feldern ist das Korn
frueher reif als auf anderen; Solbakken ist uns oft vierzehn Tage
voraus."--"Da koennten wir einander ja gut aushelfen", sagte Guttorm
langsam, und naeherte sich einen Schritt. Karen warf ihm einen
schnellen Blick zu.--"Es koennte jedoch auch vielerlei dazwischen
kommen", fuegte er hinzu.--"So ist es", sagte Karen und machte einen
Schritt nach der einen, dann einen Schritt nach der anderen Seite, dann
noch einen und endlich einen zurueck.--"Ja, oft steht einem vielerlei
im Wege", sagte Guttorm nicht ohne seinen Mund ein klein wenig zum
Lachen zu verziehen.--"Wenn das so ist...", sagte Guttorm; aber seine
Frau warf schnell dazwischen: "Menschenkraft reicht nicht weit; Gottes
Kraft ist die groesste, sollte ich glauben, und auf ihn kommt es
an."--"Er wird wohl nichts besonderes einzuwenden haben, wenn wir
uns in Solbakken und Granliden bei der Ernte helfen?" sagte Saemund.
"Nein," versetzte Guttorm, "dagegen kann er nichts einwenden"; und
er blickte ernst seine Frau an. Die suchte dem Gespraech eine andere
Wendung zu geben. "Heut ist lebhafter Kirchgang," sagte sie; "es tut
einem wohl, die Menschen zu sehen, die zum Gotteshause streben."
Keiner schien ihr antworten zu wollen,--da sprach Guttorm: "Ich glaube
wohl, die Gottesfurcht nimmt zu; jetzt kommen mehr in die Kirche als
in der Zeit, da ich jung war."--"Ja, ja,--das Volk vermehrt sich",
sagte Saemund.--"Es sind wohl viele darunter--vielleicht der
groesste Teil,--die nur die Gewohnheit hertreibt", erwiderte Karen
Solbakken.--"Vielleicht die juengeren", sagte Ingebjoerg; und Saemund
darauf: "Die wollen sich wohl gern hier treffen."--"Habt Ihr gehoert,
dass sich der Pastor um eine andere Pfarre beworben hat?" sagte Karen
und suchte dem Gespraech abermals eine Wendung zu geben. "Das waere
schlimm," versetzte Ingebjoerg, "er hat alle meine Kinder getauft und
auch konfirmiert."--"Nun soll er sie wohl auch noch erst trauen?"
fragte Saemund und biss auf einen Span, den er gefunden hatte.--"Ich
wundere mich,--der Gottesdienst muss doch bald anfangen", sagte
Karen und sah nach der Kirchentuer.--"Ja, hier draussen ist es heut
heiss", antwortete Saemund.--"Komm, Synnoeve, wir wollen jetzt
hineingehen."--Synnoeve fuhr zusammen; denn sie hatte gerade mit
Thorbjoern gesprochen.--"Willst Du nicht warten, bis es laeutet?" sagte
Ingrid und schielte verstohlen nach Synnoeve; "dann koennen wir alle
zusammengehen", setzte sie zu. Synnoeve wusste nicht, was sie antworten
sollte. Saemund drehte sich um und sah sie an. "Wart's ab, dann laeutet
es bald--fuer Dich", sagte er. Synnoeve wurde ganz rot; ihre Mutter
sandte Saemund einen boesen Blick; aber der laechelte ihr zu: "Das
wird so, wie unser Herrgott will; hast Du das nicht vorhin selbst
gesagt?"--Und dann schlenderte er voraus, auf die Kirche zu; die
anderen folgten ihm.
Vor der Kirchentuer entstand ein Gedraenge und bei naeherer Untersuchung
fand es sich, dass sie noch gar nicht offen war. Gerade als einige
fortgingen, um nach dem Grund zu fragen, wurde sie aufgemacht, und die
Menschen stroemten hinein; aber etliche gingen wieder zurueck, wodurch die
Herankommenden voneinander getrennt wurden. Oben an der aeusseren Wand der
Kirche standen zwei Maenner im Gespraech; der eine von ihnen,--gross und
derb, mit blondem, aber struppigem Haar und einer Stumpfnase,--das war
Knud Nordhoug; als er die Granlidener unweit vor sich sah, brach er das
Gespraech ab; es wurde ihm etwas wunderlich zumut,--aber er blieb stehen.
Saemund musste gerade an ihm vorbei, und tat's nicht, ohne ihm einige
Blicke zuzuwerfen; Knud schlug die Augen nicht nieder; aber sie
flackerten doch etwas. Dann kam Synnoeve; und sobald sie unerwartet Knud
vor sich sah, wurde sie leichenblass. Da schlug Knud die Augen nieder und
trat von der Wand zurueck, um fortzugehen. Er hatte kaum ein paar
Schritte gemacht, da sah er vier Gesichter, deren Augen auf ihn
gerichtet waren; Guttorm und seine Frau, Ingrid und Thorbjoern. Verwirrt
wie er war, ging er direkt auf sie zu, so dass er bald wider Wissen und
Willen fast Kopf an Kopf mit Thorbjoern stand; erst schien er sich
beiseite druecken zu wollen; aber der Menschen wegen, die kamen und
gingen, machte sich das nicht so leicht. Ihre Begegnung erfolgte gerade
auf den Steinfliessen vor dem Kircheneingang; oben auf der Schwelle der
Vorhalle war Synnoeve stehen geblieben; Saemund etwas hinter ihr; sie
konnten von ihrem hoeheren Platz aus deutlich von allen draussen gesehen
werden und alle sehen. Fuer Synnoeve war alles andere versunken; sie
starrte nur auf Thorbjoern; ebenso Saemund, seine Frau, das Ehepaar aus
Solbakken und Ingrid. Das merkte und fuehlte Thorbjoern; er stand wie
festgenagelt; aber Knud dachte, dass er jetzt etwas tun muesse, und darum
streckte er die eine Hand etwas vor, aber er sagte nichts. Auch
Thorbjoern streckte eine Hand vor; aber nicht soweit, dass sich die
Haende beider fassen konnten. "Dank fuer..." fing Knud an, besann sich
jedoch schnell, dass dieser Gruss nicht recht hierher passte, und trat
einen Schritt zurueck. Thorbjoern sah hoch, sein Blick traf Synnoeve, die
weiss wie Schnee war. Er tat einen tuechtigen Schritt vorwaerts, ergriff
kraeftig Knuds Hand und sagte, sodass es die Naechsten hoeren konnten:
"Dank fuer das vorige Mal--das kann uns beiden eine gute Lehre gewesen
sein."
Knud gab einen Laut, ungefaehr wie einen Schluckser, von sich und
versuchte zwei- oder dreimal etwas zu sagen; aber es gelang ihm nicht.
Thorbjoern hatte nichts mehr zu sagen und wartete--er sah nicht auf; er
wartete nur. So fiel kein Wort mehr zwischen beiden, doch wie Thorbjoern
noch immer dastand und dabei sein Gesangbuch in den Haenden herumdrehte,
fiel es zur Erde. Sofort bueckte sich Knud, hob es auf und reichte es
ihm. "Ich danke Dir", sagte Thorbjoern, der sich gleichfalls gebueckt
hatte; er blickte auf, aber da Knud wieder zu Boden schaute, dachte
Thorbjoern: das beste ist, ich gehe jetzt. Und dann ging er.
Die anderen gingen ebenfalls, und als sich Thorbjoern hingesetzt hatte
und eine Weile darauf zu den Frauen hinuebersah, traf sein Blick
Ingebjoerg, die ihm muetterlich zulaechelte, und Karen Solbakken, die
sicher darauf gewartet hatte, er moege hinuebersehen; denn sobald er sie
ansah, nickte sie ihm dreimal zu; und als ihn dies stutzig machte,
nickte sie wieder dreimal, und noch freundlicher als zuvor.--Vater
Saemund fluesterte ihm in das Ohr: "Das habe ich mir gleich gedacht." Das
Einleitungsgebet war gesprochen, das erste Lied aus dem Gesangbuch
gesungen, schon stellten sich die Konfirmanden auf, da erst fluesterte
Saemund wieder: "Aber dem Knud wird's nicht leicht, gut zu sein; lasse es
immer recht weit von Granliden nach Nordhoug bleiben."
Die Konfirmation begann; der Pastor trat hervor, und die Kinder stimmten
das Einsegnungslied von Kingo an. Wenn nun dieser Kinderchor und nur
dieser Kinderchor so voll Vertrauen und so hell singt, dann werden die
aelteren Leute sehr geruehrt, und besonders diejenigen, die ihre eigene
Konfirmation noch frischer im Gedaechtnis haben. Wenn dann tiefe Stille
eintritt, und der Pastor, seit mehr als zwanzig Jahren derselbe, der fuer
jeden einzelnen immer eine schoene Stunde uebrig gehabt hatte, da er ihn
auf ein Hoeheres hingewiesen,--wenn dieser Pastor die Haende faltet und zu
reden anhebt, dann waechst die Ruehrung in der Gemeinde. Und den Kindern
kommen die Traenen, wenn er sich an die Eltern wendet und sie auffordert,
fuer ihre Kinder zum lieben Gott zu beten. Thorbjoern, der vor kurzem dem
Tode nahe gewesen und unlaengst noch geglaubt hatte, er werde sein
Lebenlang siech bleiben, weinte heftig, besonders als die Kinder ihr
Geluebde ablegten, und alle in der tiefsten Ueberzeugung, dass sie es auch
halten koennten. Er sah nicht ein einzigesmal zu den Frauen hinueber; aber
nach dem Gottesdienst ging er zu Ingrid und fluesterte ihr etwas ins Ohr;
dann ging er schnell durch das Gedraenge hinaus. Einige wollten wissen,
dass er ueber den Huegel dem Walde zu statt auf der Fahrstrasse geschritten
sei; aber sicher wussten sie es auch nicht. Saemund suchte ihn, gab es
aber auf, als er entdeckte, dass Ingrid ebenfalls fort war; dann suchte
er die Solbakkener; Guttorm und Karen liefen ueberall herum und fragten
jeden nach Synnoeve; aber zufaellig hatte keiner sie gesehen. Da zogen sie
nach Hause, jedes Ehepaar fuer sich, doch ohne ihre Kinder.
Doch weit vorn auf der Strasse gingen Synnoeve wie auch Ingrid. "Fast tut
es mir leid, dass ich mitgekommen bin", sagte jene.--"Jetzt ist es nicht
mehr so gefaehrlich; Vater weiss es ja", antwortete die andere.--"Aber er
ist doch nicht mein Vater", sagte Synnoeve. "Wer weiss?" entgegnete
Ingrid--und dann sprachen sie nicht mehr darueber.--"Hier sollten wir ja
warten", sagte Ingrid, als sie bei einer scharfen Wegkante an einen
dichten Wald kamen.--"Er hat einen weiten Umweg zu machen", versetzte
Synnoeve.--"Er ist aber schon da", fuegte Thorbjoern hinzu, der hinter
einem grossen Stein gestanden hatte und nun hervortrat.
Er hatte sich alles, was er sagen wollte, fix und fertig im Kopf zurecht
gelegt, und er hatte nicht wenig zu sagen. Aber heut sollte es auch
frisch heraus, weil sein Vater es wusste und damit einverstanden war; das
glaubte Thorbjoern nach den Vorgaengen heute bei und in der Kirche
bestimmt annehmen zu koennen. Den ganzen Sommer hatte er sich nach einer
Aussprache gesehnt, und da musste er doch heute freier reden koennen als
frueher!
"Am besten gehen wir wohl auf dem Waldweg," sagte er, "da kommen wir
rascher vorwaerts." Die beiden Maedchen sagten nichts, aber folgten ihm.
Eigentlich hatte er sofort mit Synnoeve reden wollen; aber dann wollte er
doch lieber bis jenseits des Huegels warten, und dann, bis sie den Sumpf
hinter sich hatten; dort aber meinte er, sie muessten erst weiter in den
Wald hineinkommen. Ingrid, die recht gut merkte, dass die entscheidenden
Worte zwischen den beiden nicht flott in Fluss gerieten, verlangsamte
ihre Schritte, und blieb mehr und mehr zurueck, bis sie schliesslich nicht
mehr zu sehen war. Synnoeve tat, als merke sie das nicht, bueckte sich
hier und da nach einer Beere am Wegsaum, und pflueckte sie.
"Das muesste doch merkwuerdig zugehen, wenn ich nicht mit der Sprache
heraus koennte," dachte Thorbjoern, und so sagte er: "Schoenes Wetter
heute."--"Recht schoenes Wetter", antwortete Synnoeve. Sie schritten ein
Stueckchen weiter, sie suchte Beeren--und er, er ging daneben.--"Das war
huebsch von Dir, dass Du mitgekommen bist", sagte er dann; sie entgegnete
nichts.--"Wir haben einen sehr langen Sommer gehabt", fing er wieder an;
aber darauf antwortete sie gar nichts.--Nein, solange wir gehen, dachte
Thorbjoern, kommen wir nicht ordentlich zum Reden. "Wollen wir nicht auf
Ingrid warten?" fragte er.--"Ja, das wollen wir", entgegnete Synnoeve und
blieb stehen. Hier gab es keine Beeren, und so konnte sie sich auch
nicht danach buecken; das hatte Thorbjoern ganz gut gesehen; aber Synnoeve
pflueckte einen langen Grashalm, und nun stand sie da und zog die Beeren
auf dem Halm auf.
"Heute musste ich immer an die Zeit denken, wie wir zusammen zur
Konfirmation gegangen sind", sagte er. "Daran musste ich auch immer
denken", erwiderte sie.--"Seitdem ist eine Menge passiert"--und da sie
still blieb, fuhr er fort: "aber meistens Geschichten, die wir nicht
erwartet haben." Synnoeve hatte viel mit Halm und Beeren zu tun und musste
den Kopf dabei senken; er trat einen Schritt vor sie hin, um ihr in das
Gesicht zu sehen; doch als ob sie's merke, veraenderte sie ihre Stellung
so, dass er gezwungen wurde, sich wieder anders zu drehen. Da bekam er
fast Angst, dass er seine Angelegenheit nicht vorwaerts bringe. "Synnoeve,
Du hast mir doch etwas zu sagen?" Sie sah auf und lachte. "Was soll ich
Dir zu sagen haben?" Er gewann seinen alten Mut wieder und wollte sie
umfassen; aber als er ihr nahe kam, traute er sich nicht recht und
fragte nur ganz geduckt: "Ingrid hat doch mit Dir geredet?"--"Ja",
antwortete sie. "Dann musst Du auch etwas wissen", sprach er weiter. Sie
schwieg. "Dann musst Du auch etwas wissen", wiederholte er, und trat noch
einmal auf sie zu. "Du musst wohl auch etwas wissen", entgegnete
sie;--ihr Gesicht konnte er nicht sehen. "Ja", sagte er, und wollte ihre
eine Hand fassen; aber sie war gerade zu sehr mit dem Halm beschaeftigt.
"Dumme Geschichte das," sagte er, "Du machst mich immer
kleinmuetig."--Weil er nicht bemerken konnte, dass sie darueber laechelte,
wusste er nicht, wie er fortfahren sollte. "Kurz und gut," stiess er
ploetzlich mit starker, aber doch etwas unsicherer Stimme vor: "Was hast
Du mit dem Zettel gemacht?" Sie antwortete nicht; wandte sich aber ab.
Er folgte ihrer Bewegung, legte die eine Hand auf ihre Schulter und
neigte sich ihr zu: "Antworte mir", fluesterte er.----"Ich hab' ihn
verbrannt."----
Er nahm sie und drehte sie zu sich hin, aber als er sah, dass ihr die
Traenen in die Augen traten, da blieb ihm nichts anderes uebrig als sie
loszulassen;--das ist doch aergerlich, dass ihr die Traenen so locker
sitzen, dachte er. Mit einem Mal sagte sie;--jedoch ganz leise: "Warum
hast Du den Zettel geschrieben?"--"Das hat Ingrid Dir ja gesagt."--"Ja
wohl; aber--sehr boese und hart war's von Dir."--"Vater hat's
gewollt."--"Trotzdem--"--"Er hat geglaubt, ich wuerde mein ganzes Leben
lang ein kranker Mensch bleiben; aber jetzt bin ich soweit, dass ich fuer
Dich sorgen kann", sagte er.
Ingrid erschien unten am Huegel, und da machten sich die beiden wieder
auf den Weg.
"Damals, als ich glaubte, ich koennte Dich nicht mehr kriegen, warst Du
mir am naechsten", sprach er.--"Wenn man allein ist, geht man pruefend in
sich", erwiderte sie.--"Ja, da zeigt sich's am besten, wer die groesste
Macht ueber uns hat", sagte Thorbjoern und schritt ernst neben ihr her.
Jetzt pflueckte sie keine Beeren mehr. "Willst Du ein paar haben?" fragte
sie und reichte ihm den Halm hin. "Danke", antwortete er und hielt ihre
Hand fest. "Dann ist es wohl besser, es bleibt beim alten", brachte er
mit etwas schwankender Stimme hervor.--"Ja", fluesterte sie unhoerbar, und
wandte den Kopf ab; nun gingen sie weiter, und solange sie schwieg,
traute er sich nicht, sie zu beruehren oder mit ihr zu sprechen; aber
sein ganzer Koerper wurde mit einemmal so leicht, so leicht--und beinahe
waere er hingepurzelt. Vor seinen Augen flimmerte und brannte es; und da
Synnoeve und er nun auf einen Huegel kamen, von dem sie Solbakken gut
uebersehen konnten, war es ihm, als sei er sein ganzes Leben dort drueben
zu Hause gewesen, und habe Heimweh dahin gehabt. "Ich gehe gleich mit
ihr hinueber," dachte er, schritt aus, und schoepfte sich aus dem Bilde,
das sich ihm bot, immer neuen Mut, so dass sein Vorsatz sich mit jedem
Schritt befestigte. "Vater hilft mir," dachte er; "ich ertrag's nicht
laenger", und er ging schnell und schneller, immer geradeaus. Kirchspiel
und Hof lagen in hellem Licht. "Ja, heute! Nicht eine Stunde wart' ich
laenger," und er fuehlte sich so stark, dass er im Augenblick nicht wusste,
wie er das betaetigen solle.
"Du reisst mir ja beinah aus," hoerte er eine sanfte Stimme hinter sich
rufen. Es war Synnoeve; vergebens hatte sie versucht, ihm nachzukommen,
und musste es jetzt aufgeben. Er schaemte sich recht, kehrte um, ging mit
ausgestreckten Armen auf sie zu und dachte: jetzt will ich sie mal
gleich hoch in die Luft schwenken; aber als er bei ihr war, liess er es
lieber bleiben. "Ich gehe zu schnell", sagte er. "Ja, viel zu schnell",
antwortete sie.
Nun waren sie der Landstrasse nahe; Ingrid, die in der ganzen Zeit
unsichtbar geblieben, war auf einmal dicht hinter ihnen. "Nun duerft Ihr
nicht laenger zusammengehen", sagte sie. Das war Thorbjoern etwas zu frueh,
er erschrak; auch Synnoeve wurde etwas beklommen. "Ich habe Dir noch so
viel zu sagen", fluesterte er. Sie konnte ein leichtes Laecheln nicht
unterdruecken. "Ja, ja," sagte er, "das naechste Mal"--und ergriff ihre
Hand.
Mit klarem, vollem Blick sah sie zu ihm auf; ihm wurde ganz warm, und
wieder schoss ihm der Gedanke durch den Kopf: "Ich gehe gleich mit ihr."
Da zog sie behutsam ihre Hand zurueck, wandte sich ruhig zu Ingrid, sagte
ihr Lebewohl und schritt langsam zur Strasse hin. Und er, er blieb, wo er
war.
Die Geschwister gingen durch den Wald nach Hause. "Habt Ihr Euch
ausgesprochen?" fragte Ingrid.--"Nein, der Weg war zu kurz", antwortete
er; aber ging so schnell, als ob er nichts mehr hoeren wolle.
"Na?" sagte Saemund und sah vom Mittagessen auf, als die Geschwister in
die Stube traten. Thorbjoern antwortete nicht; er ging zu der Bank der
gegenueberliegenden Wand, vermutlich, um seinen Rock auszuziehen; Ingrid
ging ihm nach und kicherte. Saemund fing wieder an zu essen, blickte
dann und wann auf Thorbjoern, tat dabei, als sei er mit dem Essen sehr
beschaeftigt, lachte leise vor sich hin und ass weiter. "Komm her und iss,"
rief er, "sonst wird das Essen kalt."--"Danke, ich habe keinen Hunger",
antwortete Thorbjoern und setzte sich. "So?"--und Saemund ass. Nach einem
Weilchen sagte er: "Ihr wart ja heut mit einemmal aus der Kirche."--"Wir
hatten mit jemand zu reden", erwiderte Thorbjoern und hockte mit krummem
Buckel.--"Na, habt Ihr denn mit ihm geredet?"--"Das weiss ich fast selber
nicht", versetzte Thorbjoern.--"Den Teufel auch", brummte Saemund und ass.
Es dauerte nicht lange mehr, da war er fertig und stand auf; er ging zum
Fenster, blieb stehen und sah hinaus; bald darauf drehte er sich um:
"Du, komm, wir wollen ein bisschen aus und uns die Felder besehen."
Thorbjoern stand auf. "Nein, zieh Dir erst den Rock an." Thorbjoern, der
in Hemdsaermeln dagesessen hatte, nahm einen alten Arbeitsrock, der
hinter ihm hing.--"Siehst Du nicht, dass ich den guten anhabe?" rief
Saemund. Nun zog Thorbjoern auch seinen Sonntagsrock an. Dann gingen sie
fort; Saemund voran, Thorbjoern hinterher.
Sie nahmen die Richtung der Fahrstrasse. "Wollen wir nicht zur Gerste?"
fragte Thorbjoern. "Nein, zum Weizen", antwortete Saemund. Gerade als sie
auf die Strasse kamen, fuhr ein Wagen langsam auf sie zu. "Der Wagen ist
aus Nordhoug", sagte Saemund.--"Das Jungvolk von Nordhoug sitzt drin",
fuegte Thorbjoern hinzu; Jungvolk bedeutet naemlich das junge Paar.
Der Wagen hielt, als die Granlidener herankamen. "Wirklich ein Staat von
Frauenzimmer ist die Marit Nordhoug", fluesterte Saemund, und wandte kein
Auge von ihr; sie sass etwas zurueckgelehnt im Wagen und hatte ein Tuch
lose um den Kopf, ein andres um den Nacken und die Brust geschlungen;
sie blickte steif vor sich hin und auf die beiden Fussgaenger. Der Mann
sah sehr blass und mager und noch sanfter als frueher aus, etwa wie
einer, der Kummer hat und sich ihn nicht vom Herzen reden kann.
"Ihr seid wohl aus, um nach dem Korn zu sehen?" fragte er.--"Das will
ich meinen", antwortete Saemund.--"Gut steht's dies Jahr."--"Hat schon
schlechter gestanden."--"Ihr kommt heute spaet zurueck", sagte
Thorbjoern.--"Hatte zu vielen Adieu zu sagen."--"Was?--willst Du denn
verreisen?" fragte Saemund.--"Ja, das will ich, ja."--"Weit?"--"Ach,
ja."--"Wie weit denn?"--"Nach Amerika."--"Nach Amerika?" riefen die
beiden Granlidener auf einmal. "Ein Mann, der sich eben erst verheiratet
hat!" setzte Saemund hinzu. Der Mann laechelte. "Ich glaube, ich bleibe
von wegen meinem Fuss hier, sprach der Fuchs, da sass er im Eisen fest."
Marit sah ihn und darauf die anderen an; eine leichte Roete flog ueber ihr
Gesicht; aber kein Zug veraenderte sich.--"Die Frau geht wohl mit?"
fragte Saemund.--"Nein, das tut sie nicht."--"In Amerika soll man's
leicht zu was bringen", sagte Thorbjoern,--er hatte die Empfindung, das
Gespraech duerfe nicht stocken.--"Na, ja", sagte der Mann.--"Aber Nordhoug
hat doch guten Boden und ist gross", versetzte Saemund.--"Es sind zu viele
drauf", antwortete der Mann; seine Frau sah ihn wieder an. "Der eine
steht dem andern im Wege", fuegte er hinzu.
"Glueckliche Reise!" sagte Saemund und gab ihm die Hand. "Gott lasse Dich
finden, was Du suchst."
Thorbjoern blickte seinem Schulkameraden lange und fest in die Augen:
"Ich moechte spaeter noch mit Dir reden", sagte er.--"Es tut einem gut,
wenn man mit jemand reden kann", antwortete der Mann und schrapte mit
dem Peitschenstiel auf dem Boden des Wagens.
"Komm doch mal zu uns", sagte Marit; und Thorbjoern und Saemund sahen fast
verdutzt die Frau an; es war ihnen immer wieder etwas Neues, dass sie
eine so sanfte Stimme hatte.
Das Paar fuhr weiter; langsam rollte der Wagen dahin; eine kleine
Staubwolke umkreiste ihn, die Abendsonne senkte ihre Strahlen gerade
auf ihn herunter; vom dunklen Friesrock des Mannes hoben sich flimmernd
und schimmernd die seidenen Tuecher der Frau ab;--ein Huegel kam; der
Wagen verschwand.
----Lange schritten Vater und Sohn nebeneinander her, bis einer ein Wort
sprach. "Ich glaube, ich irre mich nicht; es wird lange dauern, bis der
wiederkommt", meinte Thorbjoern, und Saemund antwortete: "Ist auch das
beste, wenn einer sein Glueck nicht im Lande gefunden hat."--Und sie
schritten wieder stumm weiter. "Du gehst ja am Weizen vorbei", rief
Thorbjoern. "Den besehen wir uns auf dem Rueckweg";--und sie schritten
weiter. Thorbjoern mochte nicht recht fragen wohin; denn die Granlidener
Feldmark liessen sie hinter sich.
Neuntes Kapitel
Als Synnoeve rot im Gesicht und atemlos eintrat, waren Guttorm und Karen
Solbakken schon mit dem Essen fertig. "Aber liebes Kind, wo bist Du denn
gewesen?" fragte die Mutter.--"Ich bin mit Ingrid etwas
zurueckgeblieben", antwortete Synnoeve, und knuepfte sich gemach ein paar
Tuecher ab; der Vater suchte im Schrank nach einem Buch. "Was habt Ihr
denn solange zu reden gehabt?"--"Ach, nichts besonderes."--"Dann war' es
besser gewesen, Du haettest auf dem Kirchgang keinen Umweg gemacht."--Sie
stand auf und stellte der Tochter zu essen hin. Nachdem Synnoeve sich an
den Tisch gesetzt hatte, fragte die Mutter, die ihren Platz ihr
gegenueber wieder eingenommen hatte: "Hast Du vielleicht noch mit andern
geredet?"--"Ja, noch mit manchem", antwortete Synnoeve.--"Das Kind muss
doch mit Leuten reden", sagte Guttorm. "Gewiss muss sie das," versetzte
die Mutter etwas sanfter; "aber sie haette doch mit ihren Eltern gehen
koennen."--Darauf bekam sie keine Antwort.
"Das war ein herrlicher Kirchgang heut," fing sie wieder an, "die
Jugend in der Kirche tut einem gut."--"Man denkt an seine eignen
Kinder", setzte Guttorm hinzu.--"Da hast Du recht," sagte die Mutter,
und seufzte; "keiner weiss, wie es ihnen mal gehen wird." Guttorm sprach
lange kein Wort. "Wir haben Gott herzlich dafuer zu danken," sagte er
endlich, "dass er uns eines gelassen hat." Die Mutter wischte mit den
Fingern ueber den Tisch und blickte nicht auf; "sie ist doch unsere
groesste Freude", sprach sie leise; "sie ist auch nicht aus der Art
geschlagen", fuegte sie noch leiser hinzu. Es entstand eine lange Pause.
"Ja, sie hat uns immer grosse Freude gemacht," sagte Guttorm, und etwas
spaeter mit weicher Stimme: "Gott schenke ihr Glueck!"--Die Mutter wischte
mit den Fingern ueber den Tisch; eine Traene fiel darauf, und sie wischte
sie weg.--"Warum isst Du denn nicht?" fragte Guttorm, als er nach einem
Weilchen aufblickte.--"Danke, ich bin satt", antwortete Synnoeve. "Aber
Du hast ja noch gar nichts gegessen," sagte nun auch die Mutter, "und Du
hast einen so weiten Weg gemacht."--"Ich kann nicht", entgegnete Synnoeve
und zupfte eifrig am Zipfel ihres Brusttuchs.--"Iss, mein Kind",
wiederholte der Vater.--"Ich kann nicht", sagte Synnoeve abermals und
fing zu weinen an.--"Aber, liebes Kind, warum weinst Du denn?"--"Ich
weiss nicht", und sie schluchzte. "Sie weint so leicht", sagte die
Mutter, der Vater stand auf und ging an das Fenster. "Dort kommen zwei
Maenner auf den Hof zu", sagte er. "Was? jetzt am spaeten Nachmittag?"
fragte die Mutter und ging auch an das Fenster. Sie sahen lange hinaus.
"Wer kann denn das bloss sein?" sprach sie, aber nicht gerade, als ob
sie fragen wollte. "Ich weiss nicht", versetzte Guttorm, und sie sahen
und sahen. "Das verstehe ich nicht recht", sagte sie.--"Ich auch
nicht", sagte er.--"Aber sie muessen es doch sein", sagte sie endlich.
"Allerdings", bekraeftigte Guttorm. Die Maenner kamen naeher und naeher;
der aeltere blieb stehen und blickte zurueck; der juengere gleichfalls;
dann schritten sie weiter.
"Verstehst Du, was sie wollen?" fing Karen wieder an, in demselben Ton
wie vorhin. "Nein, das versteh' ich nicht", versetzte Guttorm. Die
Mutter drehte sich um, ging zum Tisch, nahm das Geschirr ab und raeumte
etwas auf. "Du musst Deine Tuecher wieder umbinden," sprach sie zu
Synnoeve; "es kommt Besuch."
Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da oeffnete Saemund die Tuer und trat
ein; Thorbjoern hinter ihm. "Gesegnete Mahlzeit", sagte Saemund, blieb
einen Augenblick an der Tuer stehen und trat dann langsam ein, um jeden
einzelnen zu begruessen; Thorbjoern folgte. Sie kamen zuletzt zu Synnoeve,
die noch in einer Ecke mit dem Tuch in der Hand stand, nicht wusste, ob
sie es umbinden sollte, ja, kaum wusste, ob sie es in der Hand hielt.
"Nehmt Platz, wo Ihr wollt", sagte die Frau. "Danke, der Weg hier
herueber ist nicht weit gewesen", antwortete Saemund, setzte sich aber
doch; Thorbjoern neben ihn. "Ihr wart ja heut nach der Kirche mit
einemmal fort", sagte Karen. "Wir haben Euch gesucht", antwortete
Saemund. "Heut waren viele Menschen da", sagte Guttorm. "Sehr viele
Menschen," wiederholte Saemund, "es war ein schoener Kirchtag."--"Ja, wir
haben eben davon gesprochen", sagte Karen.--"Es ist einem bei solcher
Konfirmation so wunderlich zumute, wenn man selber Kinder hat", fuegte
Guttorm hinzu. Seine Frau rueckte auf der Bank etwas ab. "Ja, freilich,"
sagte Saemund, "da denkt man ernstlich ueber sie nach,--und deshalb habe
ich mich hierher auf den Weg gemacht", sprach er weiter, sah sich fest
und sicher um, nahm den Kautabak aus dem Mund, schob ein anderes Stueck
hinein, und legte das alte behutsam in eine Messingdose. Guttorm, Karen
und Thorbjoern sahen unruhig hierhin und dorthin.--"Ich dachte mir, ich
muesste mit Thorbjoern mal hergehen," begann Saemund langsam; "allein
haette er es wohl sobald nicht fertig gekriegt und haette sich auch
allein nicht gut Bescheid holen koennen", dabei blinzelte er zu Synnoeve
hinueber, die das merkte. "Die Sache liegt nun so, dass er seinen Sinn auf
sie gerichtet hat, auf sie, die Synnoeve, seit der Zeit, da er Verstand
genug fuer so etwas hatte; und es liegt wohl ebenfalls einigermassen so,
dass sie auch ihren Sinn auf ihn gerichtet hat. Und da meine ich, ist es
das beste, wenn die beiden fuer immer zusammenkommen. Damals, als ich
sah, dass er sich selber nicht im Zaum halten konnte, geschweige denn
andere, da war ich wenig dafuer. Aber jetzt glaube ich, ich kann fuer ihn
buergen; und kann ich's nicht, so kann sie's; denn sie hat die groesste
Macht ueber ihn.--Was meint Ihr also dazu? Wollen wir sie zusammentun?
Das hat ja weiter keine grosse Eile, aber ich weiss auch nicht, warum wir
noch damit warten wollen. Du, Guttorm, bist ein Mann mit Vermoegen; meins
ist kleiner und geht mal spaeter in mehrere Teile; aber ich denke, die
Sache laesst sich doch machen. Jetzt sagt also Eure Meinung frei heraus;
das Maedchen frage ich zuletzt, denn ich glaube, ich weiss, was sie will!"
Also sprach Saemund. Guttorm sass krumm auf der Bank, legte abwechselnd
eine Hand ueber die andere und machte mehrmals Miene, sich aufzurichten,
indem er jedesmal staerker Atem holte; aber erst nach dem vierten- und
fuenftenmal bekam er den Ruecken gerade, strich mit der Hand ueber das
Knie, und sah seine Frau an, streifte aber gleichzeitig Synnoeve mit den
Blicken. Karen sass am Tisch und wischte mit den Fingern darueber hin.
"Nun ja--das ist ein schoener Antrag", sagte sie. "Ja, ich meine, wir
sollen ihn mit Dank annehmen", sagte Guttorm laut, und seiner Stimme war
eine betraechtliche Erleichterung anzuhoeren; dann sah er von seiner Frau
fort und auf Saemund, der die Arme gekreuzt und den Ruecken an die Wand
gelehnt hatte. "Wir haben nur die eine Tochter," sagte Karen, "wir
muessen's uns erst ueberlegen."--"Dem steht weiter nichts im Wege,"
erwiderte Saemund, "aber ich weiss nicht, warum Ihr nicht gleich antworten
koennt, brummte der Baer, als er den Bauern gefragt hatte, ob er nicht
seine Kuh kriegen koenne."--"Gewiss koennen wir gleich antworten",
versetzte Guttorm und sah seine Frau an. "Thorbjoern kann aber manchmal
so wild sein", sagte sie, blickte jedoch nicht auf. "Das hat sich
gebessert," erwiderte Guttorm; "Du weisst, was Du heut selber gesagt
hast!"----Das Ehepaar sah sich abwechselnd an; das dauerte eine volle
Minute. "Koennten wir uns auf ihn verlassen", sagte die Frau. "Ja,"
ergriff nun Saemund wieder das Wort, "was das betrifft, kann ich nur
sagen, was ich vorhin gesagt habe; mit der Fahrt geht's gut, wenn sie
die Zuegel haelt. Sie hat eine Macht ueber ihn, wie man sich's kaum
vorstellen kann. Das ist mir damals klar geworden, als er zu Hause bei
mir krank lag und noch nicht wusste, was mit ihm wuerde, ob er wieder
aufkomme oder nicht."--"Du musst nicht so hartnaeckig sein," sagte
Guttorm, "Du weisst doch, was sie selber will, und wir leben doch nur fuer
sie." Da blickte Synnoeve zum erstenmal auf und sah ihren Vater gross und
dankbar an. "Ach ja," begann Karen, nachdem es eine Weile still gewesen,
und wischte mit den Fingern ueber den Tisch; "wenn ich solange dagegen
war, dann habe ich's nicht schlecht gemeint.--Ich war wohl nicht so
hart, wie sich's anhoerte"; sie blickte auf und lachte; aber es wollten
ihr Traenen kommen. Da stand Guttorm auf. "So ist denn in Gottes Namen
das eingetroffen, was ich am meisten auf der Welt gewuenscht habe", sagte
er und ging auf Synnoeve zu. "Ich habe gar keine Angst deswegen gehabt,"
sagte Saemund und stand ebenfalls auf; "was zusammen soll, das kommt
zusammen." Und er ging auf Synnoeve zu. "Na, was meinst Du dazu, mein
Kind?" sagte die Mutter, und ging nun auch auf Synnoeve zu.
Die sass immer noch da; alle umstanden sie mit Ausnahme von Thorbjoern,
der dort sass, wo er sich zuerst hingesetzt hatte. "Du musst aufstehen,
mein Kind", fluesterte die Mutter ihr zu; sie stand auf und laechelte,
wandte sich ab und weinte.--"Unser Herrgott sei Dein Geleit jetzt wie
alle Zeit", sagte die Mutter, umarmte sie und weinte mit ihr zusammen.
Die beiden Maenner traten zurueck; jeder ging zu seinem alten Platz.
"Du musst zu ihm hingehen", sagte die Mutter immer noch unter Traenen,
liess sie los und schob sie sanft vorwaerts. Synnoeve tat einen Schritt;
aber blieb stehen, weil sie nicht weiter konnte; Thorbjoern sprang auf,
ging auf sie zu, ergriff ihre Hand, wusste nicht, wie er sich benehmen
sollte, und blieb Hand in Hand mit ihr stehen, bis sie ihre sacht
zurueckzog. Dann standen sie schweigend nebeneinander.
Lautlos oeffnete sich die Tuer, und ein Kopf erschien im Rahmen. "Ist
Synnoeve hier?" fragte jemand bedaechtig. Es war Ingrid Granliden.
"Jawohl, hier ist sie, komm nur herein", antwortete ihr Vater. Ingrid
zauderte. "Komm nur; hier steht alles ganz gut", fuegte er hinzu. Alle
sahen sie an. Sie schien etwas verlegen; "ich bin aber nicht allein
hier", sagte sie. "Wer ist denn noch da?" fragte Guttorm. "Mutter!"
erwiderte sie leise. "Immer herein mit ihr!" riefen alle vier in der
Stube auf einmal. Und die Hausfrau ging ihr entgegen, waehrend die
anderen sich freudestrahlend ansahen.--"Komm nur, Mutter, Du kannst gern
herein", hoerten sie Ingrid sagen.--Und herein kam Ingebjoerg mit ihrer
weissen Haube. "Ich hab's wohl gemerkt," sagte sie, "wenn Saemund seinen
Mund auch nicht auftun kann; und da hielten die Ingrid und ich es nicht
laenger aus--wir mussten her."--"Und hier stehen die Dinge so, wie Du's
wuenschst", sagte Saemund und machte Platz, damit sie besser
herankoenne.--"Gott segne Dich, mein Kind, dafuer, dass Du ihn an Dich
geknuepft hast," sprach sie zu Synnoeve, und umarmte und streichelte sie;
"Du hast solange, solange fest zu ihm gehalten, und jetzt ist alles
gekommen, wie Du es gewollt hast." Und sie streichelte ihr die Backen
und das Haar, und ueber ihr eigenes Gesicht rannen Traenen, aber sie
beachtete sie nicht; sie trocknete nur Synnoeve die Traenen ab. "Ja, er
ist ein lieber, ein tuechtiger Junge," sagte sie, "und jetzt bin ich auch
seinetwegen ganz sicher"; und sie zog die neue Tochter inniger in ihre
Arme. "Mutter weiss mehr in ihrer Kueche," sagte Saemund, "als wir, die in
der Sache drinstehen."
Die Traenen und die Ruehrung liessen allmaehlich nach; die Hausfrau begann
an das Abendessen zu denken, und forderte Ingridchen auf, ihr zu helfen,
"denn Synnoeve ist heute abend zu nichts zu gebrauchen." Und so gingen
die beiden an die Arbeit und kochten Rahmgruetze. Die Maenner gerieten in
ein Gespraech ueber die Ernte und dergleichen. Thorbjoern hatte sich an das
Fenster gesetzt; Synnoeve schlich zu ihm hin und legte die Hand auf seine
Schulter. "Wonach siehst Du?" fragte sie.
Da wendete er ihr seinen Kopf zu, sah sie lange und mit sanfter
Zaertlichkeit an, dann blickte er wieder hinaus: "Ich sehe nach Granliden
hinueber," sagte er, "es ist so wunderlich, Granliden von hier aus zu
sehen."
* * * * *
ARNE
Erstes Kapitel
Dort unten zwischen zwei Felsen war eine tiefe Schlucht; durch diese
Schlucht wand sich schwerfaellig ueber Geroell und Steine ein wasserreicher
Fluss. Hoch und steil stieg es zu beiden Seiten an, und die eine Felswand
war ganz nackt; unten aber, so nahe am Fluss, dass im Fruehling und im
Herbst das Wasser ihn benetzte, draengte sich ein praechtiger Wald
zusammen, schaute in die Hoehe und schaute vor sich und konnte weder
hierhin, noch dahin.
"Wie waer's, wenn wir den Felsen bekleideten?" sagte eines Tages der
Wacholder zu einer fremdlaendischen Eiche, der er naeher stand als allen
andern. Die Eiche blickte nach unten, um dahinterzukommen, wer da
eigentlich spreche; dann sah sie wieder empor und schwieg. Der Fluss ging
so schwer, dass er schaeumte; der Nordwind fegte durch die Schlucht und
heulte in den Klueften; der nackte Felsen neigte sich schwer nach vorn
und fror;--"wie waer's, wenn wir den Felsen bekleideten?" sagte der
Wacholder zu der Fichte an seiner andern Seite. "Wenn einer es tun soll,
muessten wir es wohl sein", sagte die Fichte; sie fasste sich in den Bart
und sah zu der Birke hinueber; "was meinst Du dazu?"--Die Birke aber
lugte bedaechtig zu dem Felsen empor; so schwer neigte er sich ueber sie,
dass sie kaum atmen zu koennen meinte; "wir wollen uns in Gottes Namen ans
Werk machen", sagte die Birke, und wenn sie auch nicht mehr als drei
waren, so uebernahmen sie doch die Aufgabe, den Felsen zu bekleiden. Der
Wacholder ging voran.
Als sie ein Stueck gegangen waren, begegneten sie dem Heidekraut. Der
Wacholder wollte gerade dran vorbei. "Nein, lass das Heidekraut
mitgehen", sagte die Fichte. Und das Heidekraut voran. Bald fing der
Wacholder an abzurutschen. "Halt Dich an mir fest", sagte das
Heidekraut. Das tat der Wacholder, und wo nur ein winziger Riss war,
steckte das Heidekraut den Finger hinein, und wo es erst den Finger fest
hatte, bekam der Wacholder die ganze Hand hinein. So krochen und
krabbelten sie hinan, die Fichte muehselig hinterher, und die Birke auch.
"Es ist ein herrliches Werk", sagte die Birke.
Der Felsen aber begann zu ueberlegen, was das wohl fuer Kruppzeug sein
mochte, das an ihm in die Hoehe kletterte. Und als er ein paar hundert
Jahre darueber nachgedacht hatte, schickte er einen kleinen Bach
hinunter, der es sich ansehen sollte. Es war noch im Vorfruehling und der
Bach noch schmal, als er an das Heidekraut kam. "Liebes gutes
Heidekraut, willst Du mich nicht durchlassen; ich bin so klein", sagte
der Bach. Das Heidekraut hatte es sehr eilig, hob sich nur ein bisschen
und arbeitete weiter. Der Bach drunter durch und vorwaerts. "Lieber guter
Wacholder, willst Du mich nicht durchlassen? Ich bin so klein." Der
Wacholder sah ihn scharf an, aber wenn das Heidekraut ihn durchgelassen
hatte, konnte er es ja auch tun. Der Bach drunter durch und vorwaerts; er
kam jetzt an die Stelle, wo die Fichte schnaufend die Hoehe hinanstieg.
"Liebe gute Fichte, willst Du mich nicht durchlassen? Ich bin so klein",
sagte der Bach, kuesste der Fichte die Fuesse und schmeichelte sich bei ihr
ein. Da wurde die Fichte verlegen und liess ihn durch. Die Birke aber
machte Platz, noch ehe der Bach etwas sagte. "Hihihi", kicherte der Bach
und schwoll an. "Hahaha", lachte der Bach und schwoll noch mehr an.
"Hohoho", bruellte der Bach und warf Heidekraut und Wacholder und Fichte
und Birke auf die Nase und trug sie auf seinem Ruecken durch die hohen
Berge. Der Felsen stand viel hundert Jahre und dachte nach, ob er an
diesem Tage wohl gelaechelt hatte.
Es war klar: der Felsen wollte nicht bekleidet sein. Das Heidekraut
aergerte sich so, dass es ganz gruen wurde, und dann zog es von dannen.
"Nur guten Mut!" sagte das Heidekraut.
Der Wacholder kauerte an der Erde und sah auf das Heidekraut; und er
kauerte so lange da, bis er ganz aufrecht sass. Er kraute sich die Haare,
machte sich auf den Weg und biss sich so fest, dass er meinte, der Felsen
muesse es fuehlen. "Willst Du mich nicht, so will ich Dich." Die Fichte
kruemmte ihre Zehen, um zu fuehlen, ob sie wohl heil seien, dann hob sie
den einen Fuss hoch, der war heil, besah dann den andern, der war auch
heil, dann alle beide. Sie untersuchte erst, wo sie gegangen war, dann
wo sie gelegen hatte, und schliesslich wo sie jetzt gehen musste. Dann
schlenderte sie los und tat, als waere sie ihr Lebtag nicht gefallen. Die
Birke hatte sich graesslich schmutzig gemacht; sie stand jetzt auf und
putzte sich. Und dann ging's weiter, schneller und schneller, vorwaerts
und seitwaerts, in Sonnenschein und Regenwetter. "Was ist denn da nur
los?" sagte der Felsen, wenn die Sommersonne ihn beschien, wenn der Tau
glitzerte und die Voegel sangen, wenn die Waldmaus piepte und der Hase
sprang und das Wiesel sich kreischend versteckte.
Dann kam der Tag, da das Heidekraut mit einem Auge ueber den Bergrand
sehen konnte. "Aber nein, nein, nein!" sagte das Heidekraut,--und weg
war es. "Meine Guete, was mag das Heidekraut bloss sehen?" sagte der
Wacholder und kam so weit heran, dass er hinueberschauen konnte. "Aber
nein, nein!" rief er und war weg. "Was hat denn der Wacholder heute?"
sagte die Fichte und machte ganz lange Schritte in der Sonnenhitze. Bald
konnte sie sich denn auch auf die Zehen stellen und hinueberlugen. "Nein,
so was!" Zweige und Nadeln straeubten sich ihr vor Verwunderung. Sie
kletterte weiter, kam oben an und weg war sie. "Was moegen all die andern
da sehen, bloss ich nicht?" sagte die Birke, hob ihr Kleid sorglich hoch
und trippelte hinterher. Sie tauchte gleich mit dem ganzen Kopf ueber dem
Bergrand auf. "A--a--ah!--da steht ja wohl ein ganzer Wald von Fichten
und Heidekraut und Wacholder und Birken oben auf der Hoehe und wartet
auf uns", sagte die Birke, und ihre Blaetter zitterten im Sonnenschein,
dass der Tau spruehte. "Ja, so geht's, wenn man ans Ziel kommt", sagte der
Wacholder.
Zweites Kapitel
Oben in Kampen wurde Arne geboren. Seine Mutter hiess Margit und war das
einzige Kind auf dem Pachthof Kampen. In ihrem achtzehnten Jahr blieb
sie einmal auf einem Tanz zurueck; ihre Begleiter waren schon fort, und
da dachte Margit, der Nachhauseweg wuerde nicht laenger werden, wenn sie
noch einen Tanz abwarte. Und so geschah es, dass Margit so lange dablieb,
bis der Spielmann, Schneider Nils, ploetzlich die Geige weglegte, wie er
immer tat, wenn er betrunken war, die andern traellern liess, sich das
schoenste Maedel holte, die Fuesse so sicher aufsetzte wie die Takte in
einem Lied, und mit dem Stiefelabsatz dem Laengsten, der da war, den Hut
vom Kopf herunterholte.--"Ho!" schrie er dabei.--
Als Margit an diesem Abend nach Hause ging, spielte der Mond so
wunderbar schoen auf dem Schnee. Als sie in die Kammer kam, wo sie
schlief, musste sie noch einmal aus dem Fenster sehen. Sie zog das Mieder
aus und blieb noch eine Weile so stehen. Da merkte sie, dass sie fror,
zog sich schnell aus und kroch tief unter ihre Felldecke. In dieser
Nacht traeumte Margit von einer grossen roten Kuh, die sich auf ihr Feld
verlaufen hatte. Sie sollte sie hinausjagen, aber wie sie sich auch
abmuehte, sie konnte nicht vom Fleck kommen. Die Kuh stand ganz ruhig da
und frass so lange, bis sie satt und rund war, und inzwischen schaute sie
immer einmal aus grossen, schweren Augen zu ihr hin.
Als das naechste Mal wieder Tanz im Dorf war, war auch Margit wieder da.
Sie mochte den Abend nicht tanzen; sie sass also und lauschte dem Spiel,
und es schien ihr ganz merkwuerdig, dass auch die andern nicht mehr Lust
dazu hatten. Aber als es spaeter wurde, stand der Spielmann auf, um zu
tanzen. Er ging ploetzlich geradenwegs auf Margit Kampen zu. Sie wusste
kaum, wie ihr geschah, aber sie tanzte mit Schneider Nils.
Bald wurde das Wetter waermer, und man tanzte nicht mehr. In diesem
Fruehjahr nahm Margit sich so sehr eines kleinen Lammes an, das ihnen
krank geworden war, dass die Mutter es beinahe uebertrieben fand. "Es ist
doch bloss ein Lamm", sagte die Mutter. "Ja, aber es ist krank", sagte
Margit.
Sie war lange nicht in der Kirche gewesen; sie goenne es lieber der
Mutter, sagte sie, und einer muesse doch zu Hause bleiben. Eines Sonntags
im Sommer, als das Wetter so schoen war, dass das Heu sehr gut einen Tag
draussen bleiben konnte, sagte die Mutter, jetzt koennten sie ruhig beide
gehen. Margit konnte nicht viel darauf sagen und zog sich an, aber als
sie so weit kamen, dass sie die Kirchenglocken hoeren konnten, fing sie zu
weinen an. Die Mutter wurde leichenblass; sie gingen weiter, die Mutter
voran, sie hinterher, hoerten die Predigt, sangen die Choraele bis zu Ende
mit, hoerten das Gebet mit an und liessen es auslaeuten, bis sie gingen.
Aber als sie wieder zu Hause waren, nahm die Mutter Margits Kopf
zwischen beide Haende und sagte: "Verbirg mir nichts, mein Kind!"
Wieder kam der Winter, und Margit tanzte nicht. Aber Schneider Nils
spielte auf, trank mehr als je und schwenkte immer zum Schluss das
schoenste Maedel in der Runde. Es wurde als Tatsache erzaehlt, dass er
kriegen koenne, welche er wolle von den stattlichsten Bauerntoechtern im
Kirchspiel; einige fuegten hinzu, Eli Boeen habe selbst den Freiwerber fuer
ihre Tochter Birgit gemacht, die sich in Liebe zu ihm verzehrte.
Eben zu dieser Zeit war's, als die Hausmannstochter von Kampen ein Kind
ueber die Taufe hob; es bekam den Namen Arne, Schneider Nils aber sollte
der Vater sein.
Am Abend dieses selben Tages war Nils auf einer grossen Hochzeit; da
trank er sich voll. Er weigerte sich, zu spielen, und tanzte immerzu
und litt beinahe keinen andern auf dem Tanzboden. Als er aber zu Birgit
Boeen trat und sie aufforderte, schlug sie es ihm ab. Er lachte kurz auf,
drehte sich auf dem Absatz herum und bekam die erste beste zu packen.
Sie straeubte sich. Er blickte zu ihr hinunter; es war eine kleine
Dunkle, die lange dagesessen und zu ihm hingeglotzt hatte und jetzt ganz
blass war. Er bog sich ein wenig zu ihr hinunter und fluesterte: "Magst Du
mit mir nicht tanzen, Karen?" Sie antwortete nicht. Er fragte noch
einmal. Da antwortete sie ebenso leise, wie er fragte: "Der Tanz koennte
weiter gehen, als mir lieb waere."--Er trat langsam von ihr zurueck, aber
als er mitten im Saal stand, machte er einen Luftsprung und tanzte
allein den Halling. Keiner ausser ihm tanzte; alle standen schweigend da
und sahen zu.
Dann ging er hinaus auf die Scheunendiele, warf sich auf die Erde und
weinte.
Margit sass mit ihrem kleinen Jungen zu Hause. Sie hoerte von Nils, er
jage von Tanz zu Tanz, schaute den Jungen an und weinte, schaute ihn
wieder an und war froh. Das erste, was sie dem Knaben beibrachte, war
Papa zu sagen; aber das sagte sie nur, wenn die Mutter, oder vielmehr
die Grossmutter, wie sie fortan hiess, nicht in der Naehe war. Die Folge
davon war, dass das Kind zu seiner Grossmutter Papa sagte. Es kostete
Margit viel Muehe, ihm das wieder abzugewoehnen, und sie trug hierdurch
dazu bei, fruehzeitig sein Begriffsvermoegen zu bilden. Er war noch
ziemlich klein, als er schon wusste, dass Schneider Nils sein Vater
sei,--und als er in das Alter kam, wo alles Abenteuerliche einen Reiz
hat, erfuhr er auch, was fuer ein Kerl Schneider Nils eigentlich sei. Die
Grossmutter hatte streng verboten, auch nur seinen Namen zu nennen; ihr
Hauptehrgeiz war, aus Kampen einen Bauernhof zu machen, damit die
Tochter und der Junge keine Sorgen haetten. Sie nutzte die bedraengte Lage
des Besitzers aus, erwarb die Wirtschaft, bezahlte jedes Jahr ab und
stand der Arbeit wie ein Mann vor, war sie doch seit vierzehn Jahren
Witwe. Kampen war ein grosser Hof und wurde noch immer erweitert, so dass
er jetzt schon vier Kuehe und sechzehn Schafe ernaehrte und halben Anteil
an einem Pferd hatte.
Schneider Nils trieb sich unterdes in der Gegend herum; seine Einnahmen
hatten abgenommen, teils weil er weniger darauf ausging, teils auch,
weil er nicht mehr so war wie frueher. Er legte sich immer mehr aufs
Geigenspiel, und die Gelage und damit die Schlaegereien und schlimmen
Tage wurden haeufiger. Es gab Leute, die ihn klagen gehoert haben wollten.
Arne war vielleicht sechs Jahr alt, als er eines Tags im Winter im Bett
herumrutschte; die Bettdecke war das Segel, und er steuerte mit einer
grossen Kelle. Die Grossmutter sass in der Stube und spann, hatte so ihre
Gedanken und nickte manchmal vor sich hin, als stuende das fest, was sie
dachte. Da merkte der Junge, dass er unbeobachtet war, und da sang er die
Weise vom Schneider Nils, so wie er sie gelernt hatte, in ihrer ganzen
Roheit und Wildheit:
So du nicht gestern erst kommen bist,
Hast du vom Schneider Nils wohl gehoert, und wie stark er ist.
So du nicht bloss ueber Nacht her verschlagen,
Ward dir wohl kund, wie er warf den Knut Storedragen.
Den Ola-Per hat er auf sein Scheundach gehoben,--
"'s naechste Mal bleibst du drei Wochen droben!"
Hans Bugge war ein Mann, von Ansehn nicht gering,
Land und Strand war nicht sicher, wo sein Fuss ging.
"Hallo, Schneider Nils, wo pfloegst du gern der Ruh?
So spuck' ich auf den Fleck und leg' dich selber dazu!"
"Du komm nur erst heran, so werd' ich dir's sagen!
Meinst, es langt schon dein Maul, einen Mann zu erschlagen!"
Beim ersten Gang war noch nichts gebrochen.
Beide Kerle standen noch fest in den Knochen.
Beim zweiten Gang strauchelte Bugge-Hans.
"Wirst mued', Bugge? He, 's ist ein harter Tanz!"
Beim dritten Gang stuerzt' er, spie Blut auf die Diel'--
"Hast wacker gespuckt, Kerl!"--"Verdammt! Wie ich fiel!"
Weiter sang der Junge nicht; es gab noch zwei Verse, die die Mutter ihn
wohl nicht gelehrt hatte:
Sahst du je eines Baums Schatten auf jungem Schnee?
Sahst du je, wie Nils eine Jungfrau anlacht, he?
Hast du je Schneider Nils den Halling tanzen sehn?
Bist du ein Maedel, so geh;--sonst ist's um dich geschehn.
Diese beiden Verse kannte aber die Grossmutter und sie fielen ihr ein,
zumal weil sie nicht gesungen wurden. Zu dem Knaben sagte sie nichts,
zur Mutter aber sagte sie: "Bringe dem Jungen Deine eigene Schande nur
gut bei,--vergiss die beiden letzten Verse nicht!"--
Schneider Nils war durch das Trinken so heruntergekommen, dass er nicht
mehr der alte war. Die Leute meinten, es gehe mit ihm zu Ende.
Da geschah es, dass zwei Amerikaner ins Dorf kamen, und als sie hoerten,
in der Naehe sei eine Hochzeit, da wollten sie gleich hin, um Sitten und
Gebraeuche kennen zu lernen. Hier spielte Nils. Sie gaben jeder einen
Taler fuer die Spielkasse und baten um den Halling. Niemand wollte den
tanzen, so sehr auch darum gebeten wurde. Jeder einzelne bat Nils, ihn
selbst zu tanzen; "er koenne es doch am besten." Er weigerte sich, aber
nur um so hartnaeckiger wurde die Aufforderung, zuletzt wurde sie
einstimmig, und das gerade hatte er gewollt. Er gab die Fiedel einem
andern, zog den Rock aus, nahm die Muetze ab, trat in den Kreis und
laechelte. Jetzt folgte ihm die alte Aufmerksamkeit, und das gab ihm auch
die alte Kraft. Die Zuschauer draengten sich so dicht wie moeglich
zusammen, die hintersten kletterten auf Tische und Baenke, ein paar
Maedchen standen hoeher als alle andern,--und die vorderste von
ihnen,--die Grosse mit dem hellen, braeunlichschimmernden Haar und den
blauen, tiefliegenden Augen unter der kraeftigen Stirn und mit einem
breiten Munde, der oft laechelte und sich dann immer nach einer Seite
verzog,--war Birgit Boeen. Nils gewahrte sie, als er zu den Deckenbalken
emporsah. Die Geige setzte ein, tiefe Stille entstand, und er trat zum
Tanz an. Er warf sich auf den Boden, schob sich im Takt der Musik halb
auf der Seite an der Erde hin, schlenkerte mit den Beinen, warf sie ab
und zu kreuzweis unter sich, sprang wieder auf, stellte sich wie zum
Wurf bereit und ging dann wieder schraeg wie vorhin. Die Fiedel wurde von
tuechtiger Hand gestrichen. Die Weise wurde immer feuriger. Nils bog den
Kopf immer weiter zurueck, und ploetzlich lag der Stiefelabsatz am
Deckenbalken, dass der Staub herunterrieselte. Alle lachten und
kreischten um ihn herum, die Maedchen hielten den Atem an. Die Melodie
jauchzte dazwischen und trieb zu immer tolleren Spruengen an. Er
widerstand ihr auch nicht, bog den Koerper vornueber, huepfte im Takt,
richtete sich wie zum Wurf auf, hielt sie aber nur zum Narren, kam
wieder ins Schlendern, und wie es aussah, als denke er gar nicht an
Springen, da donnerte sein Stiefelabsatz gegen den Deckenbalken, und
noch einmal, dann ein Purzelbaum vornueber, hintenueber--und immer stand
er wieder kerzengrade auf den Fuessen. Jetzt mochte er nicht mehr. Die
Fiedel machte ein paar kecke Laeufe, ging in einen tieferen Ton ueber, in
dem sie zitternd verhallte, und erstarb in einem einzelnen langen Strich
auf der Basssaite. Die Gruppen zerstreuten sich; lebhaftes Gespraech, in
das sich Rufe und Gekreisch mischten, loeste die Stille ab. Nils lehnte
sich gegen die Wand; da kamen die Amerikaner mit ihrem Dolmetscher hin
zu ihm und gaben ihm jeder fuenf Taler. Wieder Stille.
Die Amerikaner sprachen ein paar Worte mit ihrem Dolmetscher; darauf
fragte dieser, ob Nils als ihr Diener mit ihnen gehen wolle; er solle
bekommen, was er verlange. "Wohin?" fragte Nils; die andern draengten
sich so nahe wie moeglich heran. "Hinaus in die Welt", war die Antwort.
"Wann?" fragte Nils, blickte mit strahlendem Gesicht umher, begegnete
Birgit Boeens Augen und liess sie nicht mehr los.--"In einer Woche, wenn
wir zurueckkommen", war die Antwort.--"Es kann schon sein, dass ich bis
dahin bereit bin", sagte Nils und wog seine beiden Fuenftalerstuecke in
der Hand.--Er hatte einen Arm auf die Schulter eines Mannes gestuetzt,
der neben ihm stand, und er zitterte so, dass der Mann ihn auf die Bank
setzen wollte.
"Es hat nichts auf sich", sagte Nils, machte ein paar unsichere Schritte
ueber die Diele, trat dann fest auf, drehte sich um und bestellte einen
Hoppser.
Die Maedchen standen vorn, er schaute sich lange und pruefend um, und ging
dann geradenwegs auf Eine im dunklen Rock zu, und das war Birgit Boeen.
Er streckte ihr die Hand hin und sie gab ihm beide; da lachte er, wich
zurueck, nahm Eine neben ihr und tanzte uebermuetig mit der davon. Das Blut
schoss Birgit in Hals und Gesicht. Ein grosser Mann mit einem guetigen
Gesicht stand hinter ihr; er nahm sie bei der Hand und tanzte mit
ihr--dicht hinter Nils her. Der sah es, und es geschah vielleicht aus
Versehen, dass er so heftig gegen sie antanzte, dass der Mann und Birgit
mit grossem Gepolter zu Fall kamen. Gelaechter und Gejohle erhob sich
ringsum. Birgit stand muehsam auf, ging beiseite und weinte bitterlich.
Der Mann mit dem gutmuetigen Gesicht kam langsamer in die Hoehe, ging aber
dann gleich auf Nils zu, der immer noch tanzte. "Hoer' mal einen
Augenblick auf", sagte der Mann. Nils achtete dessen nicht, und da
packte ihn der Mann am Arm. Nils riss sich los und sah ihn gross an. "Ich
kenne Dich nicht", sagte er laechelnd. "Nein, aber jetzt wirst Du mich
kennen lernen", sagte der Mann mit dem guetigen Gesicht und versetzte
ihm einen Schlag gegen das eine Auge. Nils, der darauf nicht gefasst
gewesen war, stuerzte mit hartem, schwerem Fall gerade auf die scharfe
Kante vom Feuerherd; er wollte sich gleich wieder aufrichten, vermochte
es aber nicht; ihm war das Rueckgrat gebrochen.
Auf Kampen war eine grosse Veraenderung vor sich gegangen. Die Grossmutter
hatte in der letzten Zeit gekraenkelt; als das anfing, hatte sie emsiger
als je gespart, um den Hof von Schulden frei zu machen. "Dann hast Du
und der Junge soviel, wie Ihr braucht. Und laesst Du einen herein, der es
Euch durchbringt, dann drehe ich mich im Grabe um." Gegen den Herbst zu
hatte sie auch die Freude, dass sie mit dem letzten Rest der Schuld zum
ehemaligen Haupthof hinaufhumpeln konnte, und froh war sie, als sie
wieder daheim auf der Bank sass und sagen konnte: "Jetzt hab' ich's
erreicht." Aber in der gleichen Stunde kam auch die Krankheit bei ihr
zum Ausbruch; sie musste ins Bett und stand nicht mehr auf. Ihre Tochter
liess sie an einem freien Platz auf dem Kirchhof begraben; sie bekam
einen schoenen Grabstein, auf dem ihr Name und ihr Alter standen und ein
Gesangbuchvers aus dem Kingo. Zwei Wochen, nachdem sie unter der Erde
lag, war aus ihrem schwarzen Sonntagskleid ein Anzug fuer den Knaben
gemacht, und als er den anhatte, wurde ihm so feierlich zumut, als waere
die Grossmutter wiedergekommen. Aus eigenem Antrieb setzte er sich vor
das grossgedruckte Gesangbuch, aus dem die Grossmutter jeden Sonntag
vorgelesen und gesungen hatte; er schlug es auf; ihre Brille lag darin.
Die hatte der Junge zu ihren Lebzeiten nie anruehren duerfen; jetzt nahm
er sie aengstlich in die Hand, setzte sie sich auf die Nase und sah
wieder ins Buch. Es war ihm wie Nebel vor den Augen. Das ist doch
merkwuerdig, dachte der Junge; damit konnte die Grossmutter Gottes Wort
lesen. Er hielt sie hoch gegen das Licht, um zu sehen, woran es liegen
koenne, und--da lag die Brille in Scherben auf der Erde!
Ihm wurde angst und bange, und als im selben Augenblick die Tuer
aufging, meinte er, nun werde die Grossmutter hereinkommen; es war aber
seine Mutter, und hinter ihr her kamen sechs Maenner, die unter grossem
Laerm und Getrampel eine Tragbahre trugen und sie mitten im Zimmer auf
den Boden hinsetzten. Die Tuer blieb weit hinter ihnen offen stehen, so
dass es kalt in der Stube wurde.
Auf der Bahre lag ein Mann mit dunklem Haar und bleichem Gesicht; die
Mutter ging weinend umher. "Legt ihn behutsam aufs Bett", bat sie und
griff selbst mit zu. Wie aber die Maenner ihn hineintrugen, knirschte
etwas unter ihren Fuessen. "Ach, das ist bloss Grossmutters Brille", dachte
der Junge, sagte es aber nicht.
Drittes Kapitel
Das war, wie gesagt, im Herbst. Acht Tage, nachdem Schneider Nils zu
Margit Kampen gebracht war, kam von den Amerikanern die Nachricht, er
moege sich bereit halten. Er wand sich gerade in furchtbaren Schmerzen
und schrie, indem er die Zaehne zusammenbiss: "Lass sie zur Hoelle fahren!"
Margit stand, als habe sie keine Antwort bekommen. Er bemerkte das, und
nach einer Weile wiederholte er langsam und matt: "Lass sie--reisen!"
Zum Winter war er so weit, dass er aufrecht sitzen konnte, wenn auch
seine Gesundheit fuer immer zerruettet war. Als er das erstemal auf war,
holte er seine Geige hervor und stimmte sie, wurde aber so aufgeregt,
dass er wieder ins Bett musste. Er war sehr wortkarg, doch umgaenglich, und
nach einiger Zeit fing er an, den Knaben zu unterrichten und Arbeit ins
Haus zu nehmen. Hinaus kam er nicht, und mit denen, die ihn besuchten,
sprach er nicht. In der ersten Zeit trug Margit ihm die Dorfneuigkeiten
zu, aber er war immer verstimmt hinterher; da liess sie es sein.
Gegen den Fruehling sassen er und Margit laenger als gewoehnlich nach dem
Abendbrot zusammen und besprachen etwas. Der Junge wurde ins Bett
geschickt. Anfang des Fruehlings wurden sie von der Kanzel aufgeboten und
dann in aller Stille getraut.
Er arbeitete auf dem Felde mit und machte alles verstaendig und
ordentlich. Margit sagte zu dem Jungen: "Wir haben Nutzen von ihm und
Freude. Nun musst Du aber auch artig und gehorsam sein und ihm alles zu
Liebe tun."
Margit war bei ihrem Kummer doch immer recht bluehend gewesen; sie hatte
ein rosiges Gesicht und sehr grosse Augen, die noch groesser aussahen, weil
sie in einem dunklen Ringe lagen. Sie hatte volle Lippen, ein rundliches
Gesicht und sah frisch und stark aus, obwohl sie gar nicht so grosse
Kraefte hatte. In dieser Zeit sah sie huebscher aus als je und sang nach
ihrer Art in einemfort bei der Arbeit.
Da kam ein Sonntagnachmittag, an dem Vater und Sohn fortgingen, um zu
sehen, wie dies Jahr die Aecker staenden. Arne sprang um seinen Vater
herum und schoss mit einem Flitzbogen; Nils hatte ihn dem Jungen selbst
gemacht. So ging es bergan auf den Weg zu, der von Kirche und Pfarrhaus
in das sogenannte Breite Dorf hinunterfuehrte. Nils setzte sich auf einen
Stein am Wegrand und versank in Gedanken, sein Junge schoss den Weg
entlang und sprang dem Pfeil nach, in der Richtung auf die Kirche zu.
"Nicht zu weit", sagte der Vater. Wie der Knabe mitten im besten Spiel
war, blieb er lauschend stehen. "Vater, ich hoere Musik." Der lauschte
auch; man hoerte Geigenklaenge, zuweilen uebertoent von Rufen und wildem
Laerm, dabei bestaendig Wagengerassel und Hufschlag; es war ein Brautzug,
der von der Kirche heimkehrte. "Komm her, Junge", rief der Vater, und
Arne hoerte am Ton, dass er schnell kommen muesse. Der Vater war eilig
aufgestanden und versteckte sich hinter einem dicken Baum. Der Junge
hinterher;--"nicht hierher, dahin!" Der Junge hinter einen
Erlenbusch.--Schon bog die Wagenreihe um den Birkenwald, sie kamen in
rasender Fahrt, die Pferde schaeumten, die betrunkenen Menschen
kreischten und johlten. Vater und Sohn zaehlten die Wagen; es waren im
ganzen vierzehn. Im ersten sassen zwei Spielleute, und der Brautmarsch
klang durch die klare Luft; ein Bursch stand hinten und lenkte die
Pferde. Dann kam die Braut mit der hohen Krone, die in der Sonne
schimmerte; sie laechelte, und dabei verzog sich der Mund nach der einen
Seite; neben ihr sass ein Mann im blauen Anzug mit einem guetigen Gesicht.
Dann kam das Gefolge, die Maenner sassen den Frauen auf dem Schoss,
hintenauf sassen Kinder, Betrunkene fuhren zu Sechsen in einem
Einspaenner, der Marketender sass im letzten Wagen und hatte ein Fass mit
Branntwein auf dem Schoss. Sie zogen unter Gesang und Gejohle vorbei und
jagten in gewaltiger Eile die Anhoehe hinunter; das Geigenspiel, das
Gekreisch und das Wagengerassel klang aus der Staubwolke hinter ihnen
heraus; dann trug der Wind einen vereinzelten Aufschrei herueber, dann
nur noch ein dumpfes Droehnen und dann nichts mehr. Nils stand noch immer
unbeweglich; der Junge kam zuerst wieder zum Vorschein.
"Wer war das, Vater?" Aber der Junge fuhr zusammen, denn sein Vater
machte ein so boeses Gesicht. Arne stand ganz still und wartete auf die
Antwort; dann stand er immer noch still, weil er keine bekam.
Schliesslich, schliesslich wurde ihm die Zeit lang, und er wagte ein:
"Wollen wir jetzt gehen?" Nils stand noch immer, als blicke er dem
Brautzuge nach, raffte sich jetzt zusammen und ging; Arne hinterher. Er
legte einen Pfeil auf den Bogen, schoss ihn ab und lief hinterdrein.
"Tritt das Gras nicht 'runter", sagte Nils kurz. Der Junge liess den
Pfeil liegen und kehrte um. Nach einer Weile hatte er das wieder
vergessen, und als sein Vater einmal still stand, legte er sich hin und
schlug Rad. "Tritt mir das Gras nicht 'runter, hab' ich gesagt"; dabei
wurde er am Arm gepackt und in die Hoehe gerissen, als solle der Arm aus
dem Gelenk gehen. Fortan ging er ganz still hinterher.
In der Tuer wartete Margit auf sie; sie kam gerade aus dem Kuhstall, wo
sie tuechtige Arbeit gehabt haben musste, denn ihr Haar war zerzaust, ihr
Hemd nicht sauber und ihr Kleid auch nicht; aber sie stand in der Tuer
und lachte: "Ein paar Kuehe hatten sich losgerissen und trieben allerhand
Unfug; jetzt sind sie wieder fest."--"Du koenntest Dich Sonntags auch
wohl ein bisschen ordentlich anziehen", sagte Nils, indem er an ihr
vorbei in die Stube ging. "Ja, jetzt habe ich Zeit, mich anzuziehen, wo
meine Arbeit getan ist", sagte Margit und ging hinterher. Sie fing auch
gleich damit an und sang, waehrend sie sich putzte. Nun sang Margit recht
huebsch, aber bisweilen war ihre Stimme ein bisschen hart. "Hoer' mit dem
Gegroehle auf", sagte Nils; er hatte sich der Laenge nach aufs Bett
geworfen. Margit hielt inne. Da kam der Junge hereingestuermt: "Hier ist
ein grosser schwarzer Hund auf dem Hof, ein haesslicher Koeter--!"--"Halt's
Maul, Junge", sagte Nils vom Bett her und streckte einen Fuss hervor, um
damit auf den Boden zu stampfen: "Den Bengel muss der Teufel reiten",
brummte er dann und zog den Fuss wieder in die Hoehe. Die Mutter drohte
dem Knaben. "Du siehst doch, dass Vater nicht gut aufgelegt ist", meinte
sie. "Moechtest Du etwas starken Kaffee mit Sirup haben?" fragte sie; sie
wollte ihn gern wieder versoehnen. Das war ein Getraenk, das die
Grossmutter sehr geliebt hatte und die andern auch. Nils mochte es gar
nicht, aber er hatte es doch getrunken, weil die andern es auch taten.
"Moechtest Du nicht etwas starken Kaffee mit Sirup haben?" wiederholte
Margit, weil er das erstemal nicht geantwortet hatte. Nils stuetzte sich
auf die Ellbogen und bruellte: "Meinst Du, ich will dies Gemantsch
hinunterwuergen?"--Margit war hoechlichst erstaunt, nahm ihren Jungen mit
und ging hinaus.
Sie hatten verschiedenes draussen zu tun und kamen erst zum Abendbrot
wieder hinein. Da war Nils verschwunden. Arne wurde aufs Feld geschickt,
um ihn zu rufen, fand ihn aber nirgends. Sie warteten, bis das Essen
beinahe kalt geworden war, assen dann, und noch immer war Nils nicht da.
Margit wurde unruhig, schickte den Jungen ins Bett und wartete. Kurz
nach Mitternacht kam Nils. "Wo bist Du denn gewesen, Schatz?" fragte
sie. "Was geht Dich das an?" antwortete er und liess sich langsam auf der
Bank nieder. Er war betrunken.
In der naechsten Zeit war Nils oft im Dorf, und bestaendig kam er bezecht
heim. "Ich halt' es hier zu Hause bei Dir nicht aus", sagte er einmal,
als er kam. Sie versuchte, sich mit Sanftheit zu verteidigen; da
stampfte er mit den Fuessen auf und hiess sie schweigen; wenn er betrunken
sei, so sei es ihre Schuld; wenn er schlecht sei, so sei es auch ihre
Schuld; wenn er fuer sein ganzes Leben ein Krueppel und ein ungluecklicher
Mensch sei, so sei auch das ihre Schuld, ihre und ihres verfluchten
Bengels Schuld. "Warum bist Du mir bestaendig nachgelaufen?" sagte er
schluchzend. "Was hatte ich Dir getan, dass Du mich nicht in Frieden
lassen konntest?"--"Gott soll mich behueten und bewahren," sagte Margit,
"ich waere Dir nachgelaufen?"--"Ja, das bist Du!" schrie er und stand
auf, und weinend fuhr er fort: "Jetzt hast Du es ja, wie Du es haben
wolltest. Ich wanke jetzt hier von Baum zu Baum und sehe Tag fuer Tag
mein eigen Grab vor Augen. Aber ich haette in Herrlichkeit und Freuden
mit der schoensten Bauerntochter im ganzen Dorf leben koennen; ich haette
reisen koennen, soweit die Sonne reicht,--haettest Du mit Deinem
verdammten Bengel mir nicht den Weg versperrt." Sie versuchte wieder,
sich zu verteidigen; "es sei doch auf keinen Fall die Schuld des
Jungen." "Bist Du nicht still, dann kriegst Du eins!" und er schlug sie.
Wenn er am andern Tage seinen Rausch ausgeschlafen hatte, schaemte er
sich und war, besonders zu dem Jungen, sehr freundlich. Aber bald war er
von neuem betrunken, und dann schlug er sie wieder; schliesslich schlug
er die Mutter beinahe jedesmal, wenn er betrunken war; der Junge weinte
und jammerte, da schlug er ihn auch. Zuweilen wurde seine Reue so gross,
dass er aus dem Hause musste. In dieser Zeit lockte ihn das Tanzen wieder;
wie frueher spielte er dazu auf und nahm den Jungen mit, dass er ihm den
Kasten trage. Da sah der Junge mancherlei. Die Mutter weinte, dass er mit
musste, wagte es aber nicht zum Vater zu sagen. "Denk an den lieben Gott
und lerne nichts Schlechtes", flehte sie und liebkoste ihn. Beim Tanz
aber war es sehr lustig, und zu Haus bei der Mutter war es gar nicht
lustig. Er wandte sich immer mehr von ihr ab und dem Vater zu. Sie sah
es und schwieg. Beim Tanz lernte er manche Weise, und die sang er
nachher dem Vater vor. Dem machte es Spass, und zuweilen brachte der
Junge ihn zum Lachen. Das schmeichelte dem Jungen so, dass er sich fortan
Muehe gab, soviele Lieder wie moeglich zu lernen; bald merkte er sich
auch, welche Art von Liedern der Vater am liebsten mochte, und bei
welchen Stellen er lachte. Wenn so etwas nicht in den Liedern war, dann
legte der Junge es, so gut er konnte, hinein; das gab ihm fruehzeitig
Uebung, Worte nach einer Melodie zusammenzusetzen. Spottlieder und
haessliche Dinge ueber Leute, die zu Ansehen und Wohlstand gekommen, waren
dem Vater die liebsten, und der Junge sang sie.
Die Mutter wollte ihn abends immer gern mit in den Kuhstall nehmen;
allerhand Vorwaende fand er, um dem zu entgehen; wenn aber alles nichts
nuetzte und er mit musste, dann sprach sie gar erbaulich mit ihm von Gott
und allem Guten und schloss meistens damit, dass sie ihn unter heissen
Traenen in die Arme nahm und ihn bat, ihn anflehte, kein schlechter
Mensch zu werden.
Die Mutter unterrichtete ihn, und der Junge war ausserordentlich
gelehrig. Sein Vater war ungeheuer stolz darauf und sagte ihm--besonders
wenn er betrunken war--, er habe seinen Kopf.
Beim Tanz pflegte nun der Vater, wenn der Rausch ihn unterkriegte, Arne
aufzufordern, den Leuten etwas vorzusingen. Er tat es und sang, unter
Gelaechter und Beifall, ein Lied nach dem andern; der Beifall machte dem
Sohn beinahe noch mehr Spass als dem Vater, und schliesslich wollten die
Lieder, die er singen konnte, gar kein Ende mehr nehmen. Besorgte
Muetter, die es mitanhoerten, gingen selbst zu seiner Mutter und sprachen
mit ihr darueber, weil der Inhalt der Lieder nicht so war, wie er sein
sollte. Die Mutter nahm sich ihren Jungen vor und verbot ihm bei Gott
und allem Guten, solche Lieder zu singen, und da war es dem Jungen, als
ob alles, was ihm Spass mache, der Mutter nicht recht sei. Er erzaehlte
zum erstenmal seinem Vater, was die Mutter gesagt hatte. Das musste sie
schwer buessen, als der Vater wieder einmal betrunken war; er sparte immer
alles bis dahin auf. Da aber wurde es dem Knaben klar, was er getan
hatte, und in seiner Seele bat er Gott und sie um Verzeihung, da er sich
nicht ueberwinden konnte, es offenkundig zu tun. Die Mutter war guetig wie
immer gegen ihn, und das schnitt ihm ins Herz.
Einmal vergass er es aber. Er hatte die Gabe, alle Leute nachmachen zu
koennen; besonders konnte er ihre Sprache und ihren Gesang nachmachen.
Die Mutter kam eines Abends in die Stube, als der Junge seinen Vater
damit unterhielt, und als sie wieder draussen war, kam der Vater auf
den Einfall, er solle den Gesang der Mutter nachmachen. Er weigerte sich
anfangs; sein Vater aber, der im Bett lag und sich vor Lachen
schuettelte, bestand darauf, dass er auch nachmachen sollte, wie die
Mutter sang. "Sie ist ja nicht da," dachte der Junge, "und kann es nicht
hoeren", und er machte ihr nach, wie ihre Stimme manchmal klang, wenn sie
heiser und traenenerstickt war. Der Vater lachte, dass es dem Jungen fast
unheimlich wurde, und er hoerte von selbst auf. Da kam die Mutter von der
Kueche herein, sah den Jungen lange und traurig an, holte eine
Milchschuessel vom Brett und trug sie hinaus.
Ihn ueberlief es siedend heiss; sie hatte alles gehoert. Er sprang vom
Tisch, auf dem er gesessen hatte, herunter, ging hinaus, warf sich auf
die Erde und haette sich am liebsten darin begraben. Es liess ihm keine
Ruh, er stand auf und wollte weiter fort. Er ging an der Scheune vorbei,
und dahinter sass die Mutter und naehte gerade an einem schoenen neuen Hemd
fuer ihn. Sie pflegte sonst, wenn sie so dasass, ein Kirchenlied bei der
Arbeit zu singen; jetzt aber sang sie nicht. Sie weinte auch nicht, sie
sass nur und naehte. Da konnte Arne es nicht laenger aushalten; er warf
sich vor ihr ins Gras nieder, blickte zu ihr auf und schluchzte, dass er
am ganzen Koerper bebte. Die Mutter liess die Arbeit sinken und nahm
seinen Kopf zwischen ihre Haende. "Armer Arne", sagte sie und legte ihren
Kopf an seinen. Er machte nicht den Versuch, ein Wort zu sagen, sondern
weinte, wie er nie zuvor geweint hatte. "Ich wusste ja, Du bist im Grunde
gut", sagte seine Mutter und strich ihm uebers Haar. "Mutter, Du darfst
nicht nein sagen, wenn ich Dich um etwas bitte", war das erste, was er
sagen konnte. "Du weisst, das tue ich auch nicht", antwortete sie. Er
versuchte, seiner Traenen Herr zu werden und dann stiess er, den Kopf in
ihrem Schoss, heraus: "Mutter--sing mir etwas vor!"--"Ich kann ja nicht,
mein Junge", sagte sie leise.--"Mutter, sing' mir etwas vor," flehte der
Junge, "oder ich glaube, ich darf Dir nie mehr in die Augen sehen." Sie
strich ihm uebers Haar, schwieg aber. "Mutter, sing doch, sing, hoerst Du!
Sing doch!" bettelte er, "oder ich gehe so weit weg, dass ich nie mehr
nach Hause kommen kann." Und waehrend der grosse vierzehnjaehrige Junge so
dalag, den Kopf in der Mutter Schoss, fing sie, ueber ihn gebeugt, zu
singen an:
Der du, Herr, um mein Sorgen weisst,
Schuetze mir meinen Jungen!
Schick ihm deinen Heiligen Geist,
Kommt er zum Strande gesprungen!
Glatt ist der Sand, das Wasser bewegt;
Aber wenn er den Arm um ihn legt,
Tut ihm die Welle nicht Schaden,
Bis du ihn rettest voll Gnaden.
Bange sitzt die Mutter zu Haus:
Ob ihm ein Unglueck geschehen?
Tritt in die Tuere, ruft hinaus...
Nichts ist zu hoeren, zu sehen.
Troestet sich endlich: ob hier, ob da
Du und er, ihr seid ihm ja nah;
Jesulein, ihm zur Seiten,
Wird ihn nach Haus geleiten.
Sie sang mehrere Verse; Arne lag ganz still; ein wohltuender Frieden kam
ueber ihn, und er fuehlte eine erquickende Muedigkeit. Das letzte, was er
deutlich hoerte, war von Jesus; da tat sich eine helle Welt vor ihm auf,
und ihm war, als singe da ein Chor von zwoelf oder dreizehn Stimmen; die
Stimme seiner Mutter hoerte er aber aus allen heraus. Schoenere Toene hatte
er nie gehoert; er bat, man solle ihn so singen lehren. Er meinte es zu
koennen, wenn er ganz leise singe, und so sang er denn ganz leise, sang
noch einmal ganz leise und immer noch leiser, und es klang schon ganz
holdselig, als er vor Freude darueber mit kraeftiger Stimme einsetzte, und
weg war es. Er wachte auf, sah sich um und lauschte, hoerte aber nichts
als das ewige Rauschen des Wassers und den kleinen Bach, der mit leisem
stetigen Plaetschern dicht an der Scheune vorbeifloss. Die Mutter war
fort; sie hatte das halbfertige Hemd und ihre Jacke ihm unter den Kopf
geschoben.
Viertes Kapitel
Als nun die Zeit gekommen war, da das Vieh in den Wald auf die Weide
getrieben werden sollte, wollte er es hueten. Sein Vater war dagegen; er
habe bis jetzt doch noch nie das Vieh gehuetet und sei jetzt schon im
fuenfzehnten Jahr. Er wusste aber so schoen zu bitten, dass er zuletzt
seinen Willen bekam, und den ganzen Fruehling, Sommer und Herbst ueber war
er nur zum Schlafen zu Hause, sonst aber den lieben langen Tag allein im
Walde.
In seine Einsamkeit da oben nahm er seine Buecher mit; er las und
schnitt Buchstaben in die Baumrinden; er ging sinnend und sehnsuechtig
einher und sang; aber wenn er abends nach Hause kam, war der Vater
haeufig betrunken, misshandelte die Mutter, verwuenschte sie und das ganze
Dorf, und sprach davon, dass er einmal die weite, weite Welt haette sehen
koennen. Da kam auch ueber den Jungen die Sehnsucht, in die Welt zu
ziehen. Zu Hause war es schrecklich, und seine Buecher lockten ihn
hinaus, und manchmal war's ihm, als locke ihn auch die Luft ueber den
hohen Bergen.
Da geschah es, dass er im Mittsommer mit Kristian, dem aeltesten Sohn des
Kapitaens zusammentraf, der mit dem Knecht in den Wald gekommen war, um
die Pferde nach Hause zu reiten. Er war ein paar Jahr aelter als Arne,
leichtherzig und lustig, unbestaendig in seinen Gedanken, aber trotz
allem stark an Willen. Er sprach hastig und abgerissen, am liebsten von
zwei Dingen zu gleicher Zeit, ritt ungesattelte Pferde, schoss die Voegel
im Fluge, fischte mit Fliegen und kam Arne wie der Inbegriff aller
Vollkommenheit vor. Er hatte auch die Wanderlust und erzaehlte Arne von
fremden Laendern, dass ringsum alles Glanz war; er bemerkte Arnes Freude
am Lesen, und da brachte er ihm die Buecher mit, die er selbst gelesen
hatte; wenn Arne sie aus hatte, bekam er neue; des Sonntags sass er
selbst neben ihm und zeigte ihm, wie er Erdkunde und Landkarten zu
studieren habe, und den ganzen Sommer und Herbst lernte Arne soviel, dass
er ganz blass und mager wurde.
Im Winter durfte er zu Hause weiter lernen, weil er im naechsten Jahr
konfirmiert werden sollte, ausserdem aber auch mit dem Vater gut
umzugehen verstand. Er ging jetzt wohl in die Schule, aber in der Schule
machte er am liebsten die Augen zu und traeumte sich nach Hause zu seinen
Buechern; er hatte ja auch unter den Bauernjungen keinen Kameraden mehr.
Mit den Jahren schlug der Vater die Mutter immer mehr, und auch seine
Trunksucht und seine koerperlichen Schmerzen nahmen zu. Und weil Arne
trotzdem bei ihm sitzen und ihn unterhalten musste, um der Mutter fuer
eine Stunde Frieden zu schaffen, und oft Dinge sagen musste, die er jetzt
aus tiefstem Herzen verabscheute, so bekam er einen Hass auf seinen
Vater. Den verschloss er ebenso tief in sich wie die Liebe zu seiner
Mutter. Kam er mit Kristian zusammen, so war viel von grossen Reisen und
von den Buechern die Rede; selbst dem Freunde verschwieg er, wie es bei
ihm zu Hause zuging. Aber manches Mal, wenn er von diesen weitgreifenden
Gespraechen allein heimwaerts zog und daran dachte, was ihm nun wieder
bevorstehen mochte, weinte er und betete zu dem Gott ueber den Sternen,
er moege es fuegen, dass er bald in die Ferne ziehen duerfe.
Im Sommer wurden Kristian und er konfirmiert. Kurz darauf setzte
Kristian seinen Plan durch. Sein Vater musste ihn fortlassen, damit er
Seemann werden konnte; er schenkte Arne seine Buecher, versprach fleissig
zu schreiben--und reiste ab.
Nun stand Arne allein.
In dieser Zeit bekam er wieder Lust, Verse zu machen. Er flickte nicht
mehr an alten herum, er machte neue und legte all sein Leid hinein.
Aber ihm war schliesslich das Herz zu schwer, und der Kummer verleidete
ihm die Lieder. In langen schlaflosen Naechten wurde es ihm jetzt zur
Gewissheit, dass er es nicht laenger ertragen konnte, sondern weit, weit
fort wandern wollte und Kristian suchen--und keinem Menschen ein Wort
davon sagen. Er dachte an die Mutter und was aus ihr werden wuerde, und
er konnte ihr kaum in die Augen sehen.
Da sass er eines Abends spaet auf und las. Wenn es ihm wie ein Alb auf der
Brust lag, nahm er seine Zuflucht zu den Buechern und merkte nicht, dass
sie das Gift noch schaerfer machten. Der Vater war auf einer Hochzeit,
wurde aber noch diesen Abend zurueckerwartet; die Mutter war muede und
hatte Angst vor ihm, deshalb hatte sie sich schlafen gelegt. Arne fuhr
bei einem schweren Fall auf der Diele und bei dem Gepolter von etwas
Hartem an der Tuer zusammen. Da kam sein Vater nach Hause.
Arne machte die Tuer auf und sah ihn an. "Du bist es, mein kluger Junge!
Komm, hilf Deinem Vater auf!" Arne hob ihn auf und fuehrte ihn zur Bank.
Er nahm den Geigenkasten, trug ihn auch hinein und machte die Tuer zu.
"Ja, schau' mich nur an, Du kluger Junge; schoen sehe ich jetzt nicht
aus; das ist Schneider Nils nicht mehr. Das sag'--ich Dir,--damit
Du--nie Schnaps trinkst; das ist--der Satan, die Welt und unser eigen
Fleisch----, er widersteht den Hoffaertigen, den Demuetigen aber schenkt
er Gnade.----O je, o je!--Wie weit ist es mit mir gekommen!"
Er sass eine Weile ganz still, dann sang er schluchzend:
"Herr, mein Erloeser, Jesus Christ,
Hilf mir, wenn mir zu helfen ist;
Lieg' ich auch tief im Suendenschlamm,
Bin ich Dein Kind doch, Du Gotteslamm!"
"Herr, ich bin nicht wert, dass Du unter mein Dach kommst, aber sprich
nur ein Wort."--Er warf sich vornueber, verbarg das Gesicht in den Haenden
und weinte wie im Krampf. Lange lag er so, und dann sagte er wortgetreu
aus der Bibel her, wie er es vor mehr als zwanzig Jahren gelernt hatte:
"Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir!--Er
aber antwortete und sprach: 'Es ist nicht recht, dass man den Kindern das
Brot nehme und werfe es vor die Hunde.'--Sie aber sprach: 'Ja Herr,
essen doch aber die Huendlein von den Brosamen, die von ihres Herrn
Tische fallen.'"
Er schwieg, doch sein Weinen war jetzt befreiter und ruhiger.
Die Mutter war schon lange wach geworden, hatte aber nicht hinzusehen
gewagt. Jetzt, da er wie ein Erloester weinte, stuetzte sie sich auf die
Ellbogen und sah ihn an.
Kaum aber wurde Nils sie gewahr, als er ihr zubruellte: "Na, was guckst
Du?--Du willst wohl sehen, was Du aus mir gemacht hast. Ja, so sehe ich
jetzt aus, so und nicht anders!"--Er stand auf, und sie kroch unter die
Decke. "Na, kriech nur nicht weg, ich finde Dich doch", sagte er und
hielt die rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger tastend vor
sich.--"Kille, kille!" sagte er, zog ihr die Decke weg und drueckte ihr
den Zeigefinger auf die Gurgel.
"Vater!" sagte Arne.
"Nein, wie verschrumpft und klapprig Du geworden bist. Da ist nicht viel
dran. Kille, kille!" Die Mutter umspannte mit ihren beiden Haenden
krampfhaft seine, konnte sich nicht losmachen und kruemmte sich in einen
Knaeuel zusammen.
"Vater!" sagte Arne.
"Na, jetzt kommt Leben in Dich. Wie sie sich windet, das alte Gespenst!
Kille, kille!"
"Vater!" sagte Arne, und die Stube fing an, sich um ihn zu drehen.
"Kille, kille, sag' ich!"--Sie liess seine Haende los und ergab sich.
"Vater!" rief Arne. Er rannte in die Ecke, wo eine Axt stand.
"Du schreist wohl aus Trotz nicht? Nimm Dich aber in acht; ich hab'
solche schreckliche Lust bekommen. Kille, kille!"
"Vater!" schrie Arne und packte die Axt, blieb aber wie angewurzelt
stehen; denn in demselben Augenblick richtete der Vater sich auf, stiess
einen gellenden Schrei aus, griff sich nach der Brust und sank um;
"Jesus Christus!" sagte er und lag ganz still.
Arne wusste nicht mehr, wo er eigentlich war; er erwartete, die Stube
muesse auseinanderbersten und ein helles Licht irgendwo hineinfallen. Die
Mutter atmete schwer, als waelzte sie eine Last von sich ab. Schliesslich
richtete sie sich halb auf und sah den Vater lang ausgestreckt auf dem
Fussboden liegen und den Sohn mit einer Axt daneben stehen.
"Gott Du Barmherziger, was hast Du getan?"--schrie sie und sprang aus
dem Bett, warf sich einen Rock ueber und kam heran. Da war ihm, als loeste
sich seine Zunge. "Er ist von selbst umgefallen", sagte er
leise.--"Arne, Arne, das glaube ich Dir nicht," sagte die Mutter laut
und strafend, "jetzt sei Gott mit Dir!" und sie warf sich jammernd ueber
die Leiche. Der Junge aber erwachte aus seiner Betaeubung und fiel auch
auf die Knie: "So wahr ich der Gnade Gottes teilhaftig werden will, er
ist auf der Stelle umgefallen."----"So ist Gott der Herr selbst hier
gewesen", sagte sie leise, kauerte sich zusammen und starrte vor sich
hin.
Nils lag noch unveraendert und steif da; Mund und Augen waren offen. Die
Haende hatten sich einander genaehert, als wollten sie sich falten, waren
aber dazu nicht mehr imstande gewesen. "Fass Deinen Vater an, Du bist
kraeftig; hilf mir ihn aufs Bett legen." Und sie nahmen ihn und betteten
ihn; sie drueckte ihm Augen und Mund zu, streckte ihn aus und faltete ihm
die Haende.
Dann standen sie beide da und schauten ihn an. Nichts von dem, was sie
bis jetzt erlebt hatten, war so bedeutungsvoll und so inhaltsschwer wie
diese Stunde. Wenn der Boese leibhaftig da gewesen war, so hatte doch
auch Gott der Herr hier gestanden; es war nur eine kurze Begegnung
gewesen. Alles Vorangegangene war nun abgetan.
Es war kurz nach Mitternacht, und sie wollten bei dem Toten wachen, bis
der Tag kam. Arne zuendete auf dem Herde ein helles Feuer an, die Mutter
setzte sich daneben. Und wie sie so dasass, ging ihr durch den Sinn,
wieviele boese Tage sie mit Nils gehabt hatte, und da dankte sie Gott in
heissem, inbruenstigem Gebet fuer das, was er getan. "Ich habe doch aber
auch manchen guten Tag gehabt", sagte sie und weinte, als bereue sie ihr
Dankgebet, und schliesslich war sie so weit, die groesste Schuld auf sich
zu nehmen, die sie aus Liebe zu dem Toten gegen Gottes Gebot gehandelt
hatte, ihrer Mutter ungehorsam gewesen und deshalb durch diese ihre
suendige Liebe gestraft worden war.
Arne setzte sich ihr gegenueber. Die Mutter blickte zum Bett
hinueber:--"Arne, Du darfst nicht vergessen, dass ich um Deinetwillen das
alles erduldet habe", schluchzte sie und hungerte nach einem lieben
Wort, das ihr in ihren Selbstanklagen Stuetze und ein Trost in der
kommenden Zeit sein sollte. Der Junge bebte und konnte nicht antworten.
"Du darfst mich nie verlassen", schluchzte sie.--Da wurde ihm mit einem
Male klar, was sie in dieser ganzen Zeit des Jammers gewesen war, und
wie grenzenlos verlassen sie waere, wenn er zum Lohn fuer ihre grosse Treue
jetzt von ihr ginge. "Nie, nie", fluesterte er und wollte hin zu ihr,
hatte aber nicht die Kraft dazu. So sassen sie, und ihr heftiges Weinen
floss ineinander. Sie betete laut, bald fuer den Toten, bald fuer sich und
den Jungen, und sie weinten, und sie betete wieder, und dann weinten sie
wieder. Dann sagte sie: "Arne, Du hast solch schoene Stimme; setz' Dich
zu Deinem Vater und sing ihm was vor."
Und es war, als komme neue Kraft ueber ihn. Er stand auf und holte das
Gesangbuch, zuendete einen Kienspan an und setzte sich, den Span in der
einen Hand, das Gesangbuch in der andern, ans Kopfende des Bettes und
sang mit klarer Stimme den 127. Choral des Kingo:
"Herr, o lass deinen Zorn jetzt fahren,
Wolle die blutige Zuchtrute sparen,
Die deines Grimmes Wucht uns kuendigt,
Weil wir gesuendigt!"
Fuenftes Kapitel
Arne wurde wortkarg und menschenscheu; er huetete das Vieh und machte
Verse. Er ging ins zwanzigste Jahr, und noch immer huetete er das Vieh.
Er lieh sich vom Pfarrer Buecher und las; aber das war auch das einzige,
was er tat.
Der Pfarrer liess ihn auffordern, die Lehrerstelle anzunehmen, "denn das
Kirchspiel muesse Nutzen aus seinen Faehigkeiten und Kenntnissen ziehen".
Arne antwortete nicht; am andern Tage aber, waehrend er die Schafherde
vor sich her trieb, machte er ein Lied:
Boecklein junges, Laemmlein mein,
Geht's auch oft ueber Stock und Stein
Hoch auf schroffe Fjelle,--
Folg' du nur brav deiner Schelle!
Boecklein junges, Laemmlein mein,
Halt dein Fell mir hell und rein!
Mutter will vom Boecklein,
Wenn es schneit, sein Roecklein.
Boecklein junges, Laemmlein mein,
Pfleg' mir auch dein Baeuchlein fein!
Siehst nicht, kleiner Toeffel,
Mutters Suppenloeffel?
In seinem zwanzigsten Jahr wurde er eines Tages zufaellig Zeuge eines
Gespraechs zwischen seiner Mutter und der Frau des frueheren Hofbesitzers;
sie waren im Streit ueber das Pferd, das ihnen gemeinsam gehoerte. "Ich
will abwarten, was Arne dazu sagt", meinte seine Mutter. "Ach, der
Faulpelz," antwortete die andre, "der moechte wohl, das Pferd triebe sich
im Walde 'rum, gerade wie er." Da schwieg die Mutter, so beredt sie
vorhin gewesen war.
Arne wurde feuerrot. Dass die Mutter um seinetwillen spoettische Worte
hoeren musste, hatte er noch nie bedacht, und vielleicht hatte sie schon
gar viele hoeren muessen. Warum hatte sie ihm das nicht gesagt?
Er dachte lange darueber nach, und da fiel ihm ein, dass die Mutter fast
nie mit ihm sprach; er aber auch nicht mit ihr. Mit wem sprach er
ueberhaupt?
An manchem Sonntag, wenn er still zu Hause sass, haette er gern seiner
Mutter die Predigt vorgelesen, weil ihre Augen nicht mehr gut waren; sie
hatte all ihr Lebtag zu viel geweint. Aber es war nichts draus geworden.
Manch liebes Mal hatte er ihr aus seinen eigenen Buechern vorlesen
wollen, wenn es so still im Hause war, und er dachte, sie muesse sich
langweilen. Aber es war nichts draus geworden.
"Ja, dann ist's nicht anders. Ich lasse das Hueten sein und gehe zu
Mutter hinunter." Er wartete ein paar Tage und befestigte sich in seinem
Entschluss; die Herde liess er weit in den Wald hineingehen und dichtete
ein Lied:
Im Dorfe, da ist Unruh, im Walde laesst sich's ruhn,
Es pfaendet hier kein Amtmann, dort pfaenden zweie nun.
Hier dreht nicht um die Kirche wie dort sich steter Zwist;
Doch kommt's vielleicht daher, dass hier noch keine Kirche ist.
Wie ruhig ist's im Walde; nur gruendlich rupft allhier
Der Habicht einen Spatzen aus reiner Wissbegier,
Und nur der Adler wuergt hier ein arm Geschoepf zu Tod,
Weil arge Langeweile sonst ihn umzubringen droht.
Ein Baum wird umgehauen, beim andern fault der Stamm;
Dem Rotfuchs fiel gen Abend anheim das weisse Lamm.
Der ward vom Wolf zerrissen, und beide wurden zahm;
Denn Arne schoss das Woelflein tot, bevor der Morgen kam.
Soviel kann sich ereignen im Wald und auf der Au;
Da gilt's nur aufzupassen, dass man nichts Falsches schau'.
'nen Burschen, der den Vater erschlug, sah ich im Traum;
Ich weiss nicht wo, doch denk' ich mir, es war im Hoellenraum.
Er kam nach Hause und sagte seiner Mutter, sie moege sich im Dorf nach
einem andern Huetejungen umsehn; er selbst wolle sich jetzt lieber um
den Hof bekuemmern. So geschah es; aber seine Mutter kam immer mit
Ermahnungen; er solle sich nicht bei der Arbeit ueberanstrengen. Sie
setzte ihm in dieser Zeit auch so gutes Essen vor, dass er oft ganz
beschaemt war; aber er sagte nichts.
Er trug sich mit einem Liede, dessen Kehrreim war: "Ueber die hohen
Berge." Er wurde aber nie damit fertig, und das lag hauptsaechlich daran,
dass er den Kehrreim in jeder zweiten Zeile haben wollte; zuletzt gab er
es auf.
Mehrere der Lieder aber, die er gedichtet hatte, kamen unter die Leute
und fanden Beifall; manche haetten gern mit ihm geredet, zumal sie ihn
noch als Knaben gekannt hatten. Arne aber hatte Angst vor allen, die er
nicht kannte, und dachte schlecht von ihnen, vor allem weil er glaubte,
sie daechten schlecht von ihm.
Bei allen Feldarbeiten stand ihm ein Mann in mittleren Jahren zur Seite,
Knut vom Oberland, der die Angewohnheit hatte, mitunter zu singen, aber
immer dasselbe Lied. Als das ein paar Monate so fortgegangen war, dachte
Arne, er muesse ihn doch mal fragen, ob er nicht noch andere Weisen
koenne. "Nein", sagte der Mann. So gingen einige Tage hin, und als der
Mann wieder einmal sein Lied sang, fragte Arne: "Wie ist es gekommen,
dass Du dies eine gelernt hast?"--"Ach, das kam so", sagte der Mann.
Gleich darauf ging Arne ins Haus; da aber sass die Mutter und weinte, was
er seit des Vaters Tode nicht mehr gesehen hatte. Er tat, als bemerke
er's nicht, und ging wieder auf die Tuer zu; aber er fuehlte, wie die
Mutter ihm schwermuetig nachsah, und musste stehen bleiben.--"Warum weinst
Du, Mutter?"--fuer eine Weile blieben seine Worte der einzige Laut in der
Stube, und deshalb stellte sich die Frage ihm immer wieder, so dass er
schliesslich fuehlte, sie habe nicht zart genug geklungen. Er fragte also
noch einmal: "Warum weinst Du, Mutter?"
"Ach, ich weiss auch nicht"; aber nun weinte sie noch mehr. Er stand
eine ganze Zeit da, und dann sagte er so mutig, wie er konnte: "Du
weinst ueber was Bestimmtes." Wieder blieb es still. Er fuehlte sich sehr
schuldig, obwohl sie nichts gesagt hatte und er nichts Bestimmtes wusste.
"Es kam so ueber mich", sagte die Mutter. Nach einer Weile fuegte sie
hinzu: "Ich bin ja im Grunde so gluecklich", und dann weinte sie wieder.
Arne aber ging schnell hinaus; es zog ihn zu der Felswand hin. Er setzte
sich so, dass er hinunterschauen konnte, und wie er dasass, kamen ihm auch
die Traenen. "Wenn ich nur wuesste, worueber ich weine", sagte Arne.
Ueber ihm auf dem umgepfluegten Acker aber sass Knut und sang sein Lied:
"Ingerid Sletten von Sillegjord
Hatte weder Silber noch Gold,
Nur ein bunt Haeubchen, drin braeutlich hold
Einst Mutter zur Kirche fuhr.
Nur dies Vermaechtnis von Elternhand,--
Hatte sonst nichts in Keller noch Schrein;
Doch ihr arm Haeubchen vom Muetterlein
Wog schwerer als aller Tand.
Sie barg es zwanzig Jahre fromm
Vor Licht und Tageslaut.
--Ich trag' es wohl noch einmal als Braut
Wann ich zum Herrgott komm'!
Sie barg es dreissig Jahre lang
Im Truhendaemmer traut.
--Ich trag' es doch noch als frohe Braut,
Auf meinem Ehrengang.
Und vierzig Jahre gingen ins Land,
Sie hat noch der Mutter gedacht.
--Mein Haeubchen alt, nun glaub' ich sacht,
Die Zeit fuer uns entschwand.
Sie geht es holen, dem Tode nah,
Ihr Herz schlug so stark dazu;
Sie hastet sich hin nach der alten Truh',--
Da war kein Faedchen mehr da."
Arne sass, als kaemen die Toene fern von den Halden her. Er stieg zu Knut
hinauf. "Hast Du noch eine Mutter?" fragte er.--"Nein."--"Hast Du noch
einen Vater?"--"Ach nein, keinen Vater."--"Sind sie schon lange
tot?"--"O ja, schon lange."
"Du hast wohl nicht viele, die Dich lieb haben?"--"O nein, nicht
viele."--"Hast Du hier jemand?"--"Nein, hier nicht."--"Aber fern in
Deiner Heimat?"--"O nein, dort auch nicht."--"Hast Du denn gar keinen,
der Dich lieb hat?"--"Nein, keinen."
Aber Arne verliess ihn, und so lieb hatte er seine Mutter, als solle ihm
das Herz springen, und er hatte das Gefuehl, als werde es hell ueber ihm.
Himmlischer Vater, dachte er, Du hast mir sie gegeben und durch sie so
unsaeglich viel Liebe, und ich gehe achtlos an ihr vorueber--und wenn ich
sie einmal haben moechte, dann ist sie vielleicht nicht mehr da. Er
wollte hin zu ihr, bloss um sie zu sehen. Unterwegs aber fiel ihm
ploetzlich ein: "Weil Du sie gering geachtet hast, wirst Du vielleicht
bald damit gestraft weiden, dass Du sie verlierst!"--Er blieb auf dem
Fleck stehen. "Allmaechtiger Gott, was soll dann aus mir werden?"
Ihm war's, als geschehe jetzt ein Unglueck zu Haus; er setzte in grossen
Spruengen auf das Haus zu, der kalte Schweiss stand ihm auf der Stirn, und
die Fuesse beruehrten kaum die Erde. Er riss die Stubentuer auf. Die Mutter
hatte sich schlafen gelegt, der Mond fiel ihr gerade auf das Gesicht;
sie lag und schlummerte wie ein Kind.
Sechstes Kapitel
Einige Tage darauf beschlossen Mutter und Sohn, die sich seitdem inniger
aneinander angeschlossen hatten, bei Verwandten auf einem Nachbarhof
eine Hochzeit mitzumachen. Die Mutter war seit ihrer Maedchenzeit auf
keinem Fest mehr gewesen.
Die beiden kannten fast alle Gaeste nur dem Namen nach, und Arne kam es
besonders sehr merkwuerdig vor, dass ihn alle ansahen, wo er sich blicken
liess.
Auf der Diele fiel hinter ihm ein Wort,--bestimmt wusste er es nicht,
aber er glaubte es gehoert zu haben, und jeder Blutstropfen siedete in
ihm, wenn er daran dachte.
Dem Mann, der es gesagt hatte, ging er nun unaufhoerlich nach und
schliesslich setzte er sich neben ihn. Aber als er an den Tisch trat,
schien es ihm, als nehme das Gespraech schnell eine andere Wendung.
"Na, jetzt will ich mal 'ne Geschichte erzaehlen, an der man sieht, dass
nichts so fein gesponnen ist, es kommt schliesslich doch an die Sonnen",
sagte der Mann, und Arne hatte das Gefuehl, er sehe ihn dabei an. Es war
ein haesslicher Mensch mit duennem roten Haar ueber einer hohen runden
Stirn. Darunter lagen ein Paar sehr kleine Augen und eine kleine
Kartoffelnase; der Mund aber war sehr gross und hatte wulstige Lippen von
weisslicher Farbe. Wenn er lachte, sah man die beiden Gaumen. Seine Haende
lagen auf dem Tisch: sie waren sehr grob und plump, das Handgelenk aber
war duenn. Er hatte einen stechenden Blick und sprach schnell, aber es
kostete ihn Anstrengung. Man nannte ihn den Maulhelden, und Arne wusste,
dass Schneider Nils ihm in alten Tagen uebel mitgespielt hatte.
"Ja, es gibt viel Suende in dieser Welt; sie ist uns naeher, als wir
glauben----. Aber das ist gleich. Jetzt sollt Ihr etwas sehr Haessliches
hoeren. Die Aelteren unter Euch werden sich wohl noch an Alf, an den
Ranzen-Alf erinnern. 'Werd' schon wiederkommen!' sagt Alf; die Redensart
stammt von ihm; denn wenn er einen Handel abgeschlossen hatte--und
handeln konnte der Kerl!--dann schwang er seinen Ranzen auf den Ruecken;
'werd' schon wiederkommen!' sagt Alf. Teufel, war das ein Kerl, ein
Prachtkerl, ein Hauptkerl war der Alf, der Ranzen-Alf!----Ja, und dann
kam die Sache mit ihm und dem grossen Faulpelz. Der Faulpelz,--ja, Ihr
kennt den Faulpelz doch?--gross war er, und faul war er auch. Er
vergaffte sich in ein rabenschwarzes Pferd, mit dem der Ranzen-Alf
einherkam und das wie ein Frosch huepfte. Und eh' es dem Faulpelz noch
recht zum Bewusstsein kam, hatte er fuenfzig Taler fuer die Maehre bezahlt.
Der Faulpelz, so lang wie er war, auf einen Wagen 'rauf, um mit dem
Fuenfzigtalerpferd Parade zu fahren; aber er mochte peitschen und
fluchen, dass der Hof in einer Staubwolke lag,--das Pferd lief
seelenruhig auf jede Tuer und jede Mauer los, die irgend da war;--denn es
hatte den Star.--Von Stund an lagen sich diese beiden ueberall in den
Haaren wie zwei Kampfhaehne. Der Faulpelz wollte sein Geld wieder haben;
aber keinen roten Heller bekam er. Der Ranzen-Alf pruegelte ihn durch,
dass die Borsten stoben. 'Werd' schon wiederkommen', sagte Alf. Teufel,
war das ein Kerl, ein Prachtkerl, ein Hauptkerl war der Alf, der
Ranzen-Alf.--Na, dann gingen ein paar Jahre hin, wo er sich nicht mehr
sehen liess.--Es mochte wohl so zehn Jahre spaeter sein, als er auf dem
Kirchberg ausgerufen wurde, weil ihm eine grosse Erbschaft zugefallen
war. Der Faulpelz hoerte es mit an. 'Das konnte ich mir denken,' sagte
er, 'dass das Geld den Ranzen-Alf suche und nicht die Leute.'--Nun sprach
man hin und her ueber Alf; und soviel wurde geschwatzt, dass man
schliesslich heraus hatte, er waere zuletzt diesseits des Roerenbergs
gewesen, aber nicht drueben. Ja, Ihr kennt doch den Weg ueber den Roeren
noch, den alten Weg?
"Der Faulpelz aber war seit einiger Zeit zu grosser Macht und
Herrlichkeit gelangt sowohl was seinen Hof betraf, wie ueberhaupt.
Ausserdem hatte er sich auf die Froemmigkeit verlegt, und alle waren
ueberzeugt, er werde nicht auf einmal um nichts und wieder nichts
fromm,--frommer als die andern. Man fing an, allerlei ueber ihn zu
munkeln.--Es war zu der Zeit, als die Strasse ueber den Roeren verlegt
werden sollte; die Alten hatten immer geradeaus gewollt, deshalb fuehrte
der Weg direkt ueber den Roeren; wir dagegen wollen alles huebsch eben
haben, und deshalb geht jetzt der Weg unten am Fluss entlang. Da gab es
eine Sprengerei und eine Wirtschaft, dass man meinte, der ganze Roeren
fiele herunter. Allerhand Wegebaumeister kamen, am haeufigsten aber der
Amtmann, weil er ja doppelte Freifahrt hat. Und als sie nun eines Tages
da in dem Geroell schaufelten, wollte einer einen Stein wegnehmen, bekam
aber statt dessen eine Hand zu fassen, die aus dem Steinhaufen
heraussah, und so stark war diese Hand, dass der, der sie gefasst hatte,
mit ihr zuruecktaumelte. Der sie aber gefasst hatte, war der
Faulpelz.--Der Amtsvorsteher war in der Naehe; er wurde geholt, und dann
grub man die ganzen Gebeine eines Menschen aus. Ein Arzt wurde auch
geholt! Der setzte alles so kunstgerecht zusammen, dass bloss noch das
Fleisch fehlte. Die Leute behaupteten aber, das Gerippe muesse genau so
gross sein wie der Ranzen-Alf. 'Ich werd' schon wiederkommen', sagt Alf.
Jedwedem einzelnen kam es merkwuerdig vor, dass eine tote Hand einen Kerl
wie den Faulpelz so einfach umwerfen konnte, wo sie gar nicht einmal
ausschlug. Der Amts Vorsteher sagte ihm das auf den Kopf zu,--natuerlich
dass keiner es hoerte. Da fing aber der Faulpelz zu fluchen an, dass es dem
Amtsvorsteher ganz schwarz vor den Augen wurde. 'Ja, ja', sagte der
Amtsvorsteher, 'wenn Du es nicht gewesen bist, so bist Du wohl der
rechte Mann, heute nacht bei dem Gerippe zu schlafen, ja?'--'Das will
ich meinen', antwortete der Faulpelz. Und nun band der Doktor das
Gerippe in den Gelenken zusammen und legte es auf das eine Bett in der
Baracke. In das andere sollte sich der Faulpelz legen; der Amtsvorsteher
aber lag, in seinen Mantel gehuellt, draussen dicht an der Wand.--Als es
dunkel wurde und der Faulpelz zu seinem Schlafkameraden hineinmusste, war
es gerade, als wenn die Tuer sich von selbst hinter ihm schloesse, und er
stand im Dunkeln. Da fing der Faulpelz an, Choraele zu singen, denn er
hatte eine maechtige Stimme. 'Warum singst Du Choraele?' fragte der
Amtsvorsteher draussen an der Wand. 'Wer weiss, ob fuer ihn gelaeutet
worden ist, antwortete der Faulpelz. Dann fing er zu beten an, so laut er
konnte. 'Warum betest Du?' fragte der Amtsvorsteher draussen an der Wand.
'Er ist doch sicher ein grosser Suender gewesen', antwortete der Faulpelz.
Dann blieb es eine lange Zeit still, und der Amtsvorsteher war nahe am
Einschlafen. Da bruellte es drinnen, dass die Huette bebte: 'Ich werd'
schon wiederkommen!'--Ein Hoellenlaerm erhob sich; 'her mit meinen fuenfzig
Talern', bruellte der Faulpelz, dann ein Aufschrei und ein Gekrach; der
Amtsvorsteher hin zur Tuer, die Leute kamen mit Stangen und Fackeln, und
da lag der Faulpelz mitten auf dem Boden, und das Gerippe lag ueber
ihm--."
Es war totenstill am Tisch. Schliesslich sagte einer, indem er sich seine
Wasserpfeife ansteckte: "Er ist ja wohl an dem Tage verrueckt
geworden."--"Ja, das stimmt."
Arne fuehlte, dass alle ihn ansahen, und deshalb konnte er die Augen nicht
aufschlagen. "Wie ich gesagt habe," warf der erste hin, "es ist nichts
so fein gesponnen, es kommt doch an die Sonnen."--"Na, jetzt will ich
mal von einem erzaehlen, der seinen eignen Vater schlug", sagte ein
blonder, dicker Mann mit einem runden Gesicht. Arne wusste kaum noch, wo
er hinsollte.
"Es war einmal in einer angesehenen Familie in Hardanger ein Raufbold;
der hatte schon manchen untergekriegt. Sein Vater und er waren uneins
ueber das Altenteil, und es kam so weit, dass der Mann in seinem Hause und
ausserhalb keinen Frieden mehr hatte.--Dadurch wurde er immer schlimmer,
und sein Vater ueberwachte ihn. 'Ich lasse mir von keinem was sagen',
sagte der Sohn. 'Aber von mir, so lange ich lebe', sagte der
Vater.--'Bist Du nicht gleich still, dann schlag' ich Dich', sagte der
Sohn und stand auf.--'Ja, wag' es nur, und es wird Dir nie gut gehen in
der Welt', antwortete der Vater und stand auch auf.--'Meinst Du?'--und
der Sohn drang auf ihn ein und schlug ihn nieder. Der Vater aber wehrte
sich nicht, verschraenkte die Arme und liess ihn machen, was er
wollte.--Der Sohn misshandelte ihn, packte ihn und schleppte ihn zur Tuer:
'Ich will Frieden im Hause haben!'--Aber als sie an die Tuer kamen,
richtete der Vater sich auf. 'Nicht weiter als bis zur Tuer,' sagte er,
'so weit habe ich meinen Vater auch geschleppt.' Der Sohn achtete nicht
darauf, sondern zerrte den Kopf ueber die Tuerschwelle. 'Nicht weiter als
bis zur Tuer, sag' ich!' Der Alte sprang auf, warf den Sohn vor seine
Fuesse und zuechtigte ihn wie ein Kind."--"Das war haesslich", sagten
Verschiedene. "Seinen eignen Vater schlaegt man doch nicht!" glaubte Arne
einen sagen zu hoeren, aber er wusste es nicht genau.
"Jetzt will ich Euch etwas erzaehlen", sagte Arne; er stand mit
leichenblassem Gesicht auf und wusste noch nicht, was er sagen wollte. Er
sah nur die Worte wie grosse Schneeflocken um sich herum stieben; "es
geht aufs Geratewohl!" und er fing an.
"Ein Zwerg begegnete einmal einem Burschen, der weinend seines Weges
ging. 'Vor wem hast Du am meisten Angst,' fragte der Zwerg, 'vor Dir
selbst oder vor andern?' Der Bursch aber weinte, weil ihm in der Nacht
getraeumt hatte, er habe seinen boesen Vater erschlagen muessen, und
deshalb antwortete er: 'Ich habe am meisten Angst vor mir selbst.'--'So
sollst Du vor Dir selbst Ruhe haben und nie mehr weinen, denn fortan
sollst Du nur mit den andern im Krieg liegen.' Und der Zwerg ging seines
Weges. Der erste aber, den der Bursch traf, lachte ihn aus, und deshalb
musste der Bursch ihn wieder auslachen. Der zweite, den er traf, schlug
ihn; der Bursch musste sich verteidigen und schlug ihn wieder. Der
dritte, den er traf, wollte ihn toeten, und deshalb musste er ihn selbst
umbringen. Alle Leute aber redeten Boeses von ihm, darum konnte er von
allen Menschen auch nur Boeses reden. Sie riegelten Schraenke und Tueren
vor ihm zu, so dass er sich stehlen musste, was er brauchte, sogar seine
Nachtruhe musste er sich stehlen. Weil er nun nie etwas Gutes tun konnte,
musste er eben Boeses tun. Da sagte das ganze Dorf: 'Den Burschen muessen
wir uns vom Halse schaffen; er ist zu schlecht', und eines schoenen Tags
schafften sie ihn aus dem Wege. Der Bursch wusste aber gar nicht, dass er
etwas Boeses getan hatte; deshalb kam er nach seinem Tode geradenwegs zum
lieben Gott. Da sass auf einer Bank sein Vater, den er gar nicht
totgeschlagen hatte, und gegenueber auf einer andern Bank sassen alle, die
ihn gezwungen hatten, Boeses zu tun. 'Vor welcher Bank hast Du Angst?'
fragte der liebe Gott, und der Bursch zeigte auf die lange. 'So setz'
Dich neben Deinen Vater', sagte der liebe Gott, und der Bursch wollte es
tun. Da stuerzte sein Vater von der Bank herunter und hatte eine
klaffende Wunde im Nacken. Auf seinem Platz aber stand ein Phantom des
Burschen selbst, nur mit leichenblassem Gesicht und von Reue verzerrten
Mienen; und ein anderes mit dem Gesicht eines Saeufers und schlotternden
Gliedern, und noch eins mit irren Augen, zerrissenen Kleidern und einem
grauenvollen Lachen. 'So haette es Dir auch gehen koennen', sagte der
liebe Gott.--'Ja, waere das moeglich?' sagte der Bursch und griff nach dem
Saum von Gottes Gewand. Da fielen beide Baenke vom Himmel hinunter, und
der Bursch stand vor dem lieben Gott und lachte. 'Denke dran, wenn Du
aufwachst', sagte der liebe Gott,--und im selben Augenblick wachte der
Bursch auf. Der Bursch aber, der all das getraeumt hat, bin ich, und die
ihn in Versuchung fuehren, weil sie schlecht von ihm denken, seid Ihr.
Vor mir selbst habe ich keine Angst mehr; aber ich habe vor Euch Angst.
Hetzt nicht das Boese in meine Seele, denn ich weiss nicht, ob auch ich
einst den Saum von Gottes Gewand fassen kann."
Er stuerzte hinaus, und die Maenner blickten einander an.
Siebentes Kapitel
Es war am naechsten Tag auf demselben Hof in der Scheune; Arne hatte sich
zum erstenmal in seinem Leben betrunken, war krank davon geworden und
hatte nun bald vierundzwanzig Stunden in der Scheune gelegen. Jetzt
richtete er sich empor, stuetzte sich auf die Ellbogen und hielt ein
Selbstgespraech: "----Alles, was ich anfasse, wird Feigheit. Dass ich als
Junge nicht davonlief, war Feigheit; dass ich auf den Vater mehr hoerte
als auf die Mutter, war Feigheit; dass ich ihm die haesslichen Lieder
vorsang, war Feigheit. Ich fing das Viehhueten an; aus Feigheit;--und das
Lesen--nun ja, auch aus Feigheit: ich wollte mich nur vor mir selber
verstecken. Als erwachsener Bursch stand ich der Mutter nicht gegen den
Vater bei--Feigheit; dass ich ihn in jener Nacht nicht--hu!--Feigheit!
Ich haette wohl gewartet, bis sie tot gewesen waere;----ich konnte es
hinterher zu Hause nicht aushalten--Feigheit; ich zog aber auch nicht
meiner Wege--Feigheit; ich tat nichts, ich huetete das Vieh,--Feigheit.
Ich hatte freilich der Mutter versprochen, zu bleiben, aber ich waere
schon feig genug gewesen, den Schwur zu brechen, wenn ich nicht Angst
gehabt haette, unter fremde Menschen zu muessen. Denn ich habe Angst vor
den Menschen, hauptsaechlich wohl, weil ich glaube, sie sehen, wie
garstig ich bin. Weil ich aber Angst vor ihnen habe, rede ich Boeses von
ihnen--verfluchte Feigheit! Ich mache Verse aus Feigheit. Ich wage nicht
ueber meine eigenen Angelegenheiten nachzudenken und mische mich deshalb
in die Sachen andrer Leute,--und das nennt man Dichten!--Ich haette mich
hinsetzen sollen und weinen, dass die Berge zu Wasser werden, ja, das
haette ich; aber ich sage nur: Seht, seht! und wiege mich in Nichtstun
ein. Und selbst meine Lieder sind feig; denn waeren sie mutig, so wuerden
sie besser sein. Ich habe Angst vor starken Gedanken wie vor allem
Starken ueberhaupt; schwinge ich mich einmal dazu auf, so ist es aus
Wut, und Wut ist Feigheit. Ich bin klueger, tuechtiger, belesener, als ich
aussehe; ich bin besser als mein Geschwaetz; aber aus Feigheit wage ich
mich nicht so zu geben wie ich bin. Pfui, sogar Schnaps habe ich aus
Feigheit getrunken; ich wollte den Schmerz betaeuben! Pfui, es schmeckte
schrecklich, aber ich trank doch, trank doch; trank meines Vaters
Herzblut, und doch trank ich! Meine Feigheit hat keine Grenzen; das
allerfeigste aber ist doch, dass ich hier sitze und mir selbst das alles
sagen kann.-- ... Mich toeten? Prost Mahlzeit! Dazu bin ich zu feig. Und
dann glaube ich doch auch an Gott,--ja, ich glaube an Gott. Ich moechte
gern hin zu ihm; aber die Feigheit haelt mich von ihm zurueck. Eine grosse
Veraenderung, die scheut ein Feigling. Aber wenn ich's versuchte, so gut
ich's vermag? Allmaechtiger Gott! Wenn ich's versuchte? Muesste mich
kurieren, so gut mein Milchsuppenleben es vertruege; denn Knochen habe
ich ja nicht mehr im Leibe, nicht mal Knorpeln, bloss etwas Fluessiges,
Weichliches.--Wenn ich es versuchte--mit guten, milden Buechern,--hab'
Angst vor den starken--; mit schoenen Maerchen und Sagen und allem, was
sanft ist,--und dann jeden Sonntag eine Predigt und jeden Abend ein
Gebet. Und tuechtige Arbeit, damit die Religion Ackerland hat; in die
Traegheit kann man nichts saeen. Wenn ich's versuchte; Du lieber, guter
Gott meiner Kindheit, wenn ich's versuchte!"
Da oeffnete jemand die Scheunentuer, stuerzte auf die Diele mit
leichenblassem Gesicht, obwohl ihr der Schweiss heruntertropfte,--es war
seine Mutter. Schon den zweiten Tag suchte sie ihren Sohn. Sie rief
seinen Namen, stand aber nicht still um zu lauschen, sondern rief nur
und lief in alle Ecken, bis er hinten von dem Heuschober her, wo er lag,
Antwort gab. Da stiess sie einen lauten Schrei aus, sprang leichtfuessiger
als ein Junge in den Heuhaufen hinein und beugte sich ueber ihn:--"Arne,
Arne, bist Du hier! So hab' ich Dich doch gefunden; ich hab' seit
gestern gesucht; ich hab' die ganze Nacht durch gesucht! Armer lieber
Arne! Ich hab' gesehen, dass sie Dir weh getan haben! Ich haette so gern
mit Dir gesprochen und Dich getroestet; aber ich darf ja nie mit Dir
sprechen!----Arne, ich sah, dass Du trankst! Ach, Du allmaechtiger Gott!
Lass mich das nie wieder sehen!"--Es dauerte eine ganze Weile, bis sie
weiterreden konnte. "Gott schuetze Dich, mein Kind, ich habe gesehen, dass
Du getrunken hast!--Ploetzlich warst Du mir weg, betrunken und so
vernichtet vom Schmerz,--und ich rannte in alle Haeuser; ich war weit
draussen auf dem Felde; ich fand Dich nicht; ich habe in jedem Gebuesch
gesucht; ich habe alle Leute gefragt; hier bin ich auch gewesen, aber Du
hast mir nicht geantwortet----Arne, Arne! Ich ging am Fluss entlang, aber
er schien mir nirgends tief genug--" sie schmiegte sich enger an
ihn.--"Da wurde es mir so leicht ums Herz: Du waerest sicher nach Hause
gegangen, und ich brauchte kaum eine Viertelstunde zu dem Weg; ich
machte die Tuer auf und suchte in jedem Raum, und dann erst fiel mir ein,
dass ich ja selbst den Schluessel hatte; Du konntest ja nicht
hineingeschluepft sein.--Arne! heut nacht habe ich den ganzen Weg an
beiden Seiten abgesucht; bis zur Kampenschlucht wagte ich gar nicht zu
gehen!--Wie ich hierhergekommen bin, weiss ich nicht; keiner hat mir's
gesagt, aber der liebe Gott hat mir eingegeben, Du muesstest hier sein!"
Er versuchte sie zu beruhigen. "Arne, Du wirst doch nie wieder Schnaps
trinken?"--"Nein, da kannst Du ganz ruhig sein."--"Sie sind wohl
schlecht zu Dir gewesen? Waren sie schlecht zu Dir?"--"Ach nein,
nur--ich war so feig." Er legte einen Nachdruck auf dies Wort.--"Ich
kann das gar nicht verstehen, dass sie schlecht zu Dir waren. Aber was
haben sie Dir denn getan? Du sagst mir nie etwas", und sie fing wieder
zu weinen an.--"Du sagst mir ja auch nie etwas", sagte Arne
sanft.--"Daran bist Du schuld, Arne. Ich bin von Deinem Vater das
Stillschweigen so gewohnt gewesen,--Du haettest mir ein bisschen auf den
Weg helfen muessen!--Herrgott, wir haben doch weiter nichts als uns; und
wir haben soviel zusammen ausgestanden."--"Wir wollen versuchen, ob es
nicht besser werden kann", fluesterte der Bursch.------"Naechsten Sonntag
will ich Dir die Predigt vorlesen."--"Da segne Dich Gott fuer!"
"Du, Arne!"--"Ja?"--"Ich muss Dir etwas sagen."--"Sag' es, Mutter."--"Ich
habe gesuendigt an Dir; ich habe etwas Unrechtes getan."--"Du, Mutter?"
und es ruehrte ihn so, dass seine seelensgute, geduldige Mutter sich
anklagte, sie habe gesuendigt an ihm, der nie etwas wirklich Gutes fuer
sie getan hatte, dass er den Arm um sie legte, sie streichelte und in
Traenen ausbrach.--"Ja, ganz bestimmt, aber ich konnte eben nicht
anders."--"Ach, Du hast mir nie ein Unrecht getan."--"O doch;--aber Gott
weiss: ich tat es nur aus Liebe zu Dir. Aber Du wirst es mir verzeihen,
ja?"--"Ja, ich werde es Dir verzeihen."--"So will ich es Dir ein
andermal erzaehlen;--aber Du musst es mir verzeihen!"--"Ja, ja,
Mutter!"--"Siehst Du, daher kam es wohl, dass es mir so schwer wurde, mit
Dir zu reden; ich hatte gesuendigt an Dir."--"Herrgott, sprich nicht so,
Mutter!"--"Ich bin froh, dass ich wenigstens soviel gesagt habe."--"Wir
beiden wollen mehr zusammen reden, Mutter!"--"Ja, das wollen wir,--und
dann liest Du mir doch auch die Predigt vor?"--"Ja, das tue
ich."--"Armer Arne! Gott segne Dich!"--"Ich glaube, das beste ist, wir
gehen nach Hause."--"Ja, gehen wir nach Hause."--"Du siehst Dich ja so
um, Mutter."--"Ja, in dieser selben Scheune hat Dein Vater auch gelegen
und hat geweint."--"Der Vater?" fragte Arne und wurde ganz blass.--"Der
arme Nils! Es war an dem Tage, als Deine Taufe war.----
Du siehst Dich ja so um, Arne."
Achtes Kapitel
Von dem Tag an, da Arne sich aufrichtigen Herzens bemuehte, inniger mit
seiner Mutter zu verkehren, wurde auch sein Verhaeltnis zu den andern
Menschen besser. Er sah sie mehr mit den sanften Augen seiner Mutter an.
Aber es wurde ihm oft schwer, seinem Vorsatz treu zu bleiben; denn seine
tiefsten Gedanken verstand die Mutter nicht immer,--hier ist ein Lied
aus jener Zeit:
"Es war ein so schoener, sonniger Tag,
Es litt mich nicht laenger drinnen;
Ich schlenderte waldwaerts und lag und lag
Und liess die Gedanken spinnen.
Doch die Emse kroch und die Muecke stach
Und die Brems' und die Wespe taten's ihr nach."
"Lieber Junge, willst Du denn bei dem Prachtwetter nicht draussen
bleiben?"--sagte Mutter, sass dabei auf dem Altan und sang:
"Es war ein so schoener, sonniger Tag,
Es litt mich nicht lange drinnen;
Ich ging auf die Wiese und lag und lag
Und summte so recht in Sinnen.
Da kamen Nattern, drei Ellen lang,
Und wollten sich sonnen--doch ich entsprang."
"Bei solch einem Gotteswetter koennen wir barfuss laufen",--sagte Mutter
und zog die Socken aus.
"Es war ein so schoener, sonniger Tag,
Es litt mich nicht lange drinnen;
Ich sprang in ein Boot und lag und lag
Und lauschte dem Raunen und Rinnen.
Da hat mir die Sonne die Nase zerbrannt.
Immer alles mit Mass! Und ich ging an Land."
"Jetzt werden wir 's Heu wohl trocken hereinbringen",--sagte Mutter und
warf's mit dem Rechen durcheinander.
"Es war ein so schoener, sonniger Tag,
Es litt mich nicht lange drinnen;
Ich klomm auf 'nen Baum; potz Donnerschlag,
Hier treibt ihr mich nicht von hinnen!
Da rutscht' eine Raupe mir vorn in die Brust,--
Ich huepfte und schrie; das war eine Lust!"
"Na, wenn die Kuh heut den Koller nicht kriegt, so kriegt sie ihn nie",
sagte Mutter und blinzelte hinauf in die Glut.
"Es war ein so schoener, sonniger Tag,
Es litt mich nun einmal nicht drinnen;
So ruht' ich nicht, bis ich im Wasserfall lag:
Da war wohl nun Ruh zu gewinnen.
Die Sonne schien weiter, indes ich versank,--
Und ist dies Lied deines,--bist du's, der ertrank."
"Bloss drei solche sonnige Tage, und alles ist unter Dach",--sagte Mutter
und ging mein Bett machen.
Trotzdem wurde das Zusammenleben mit der Mutter mit jedem Tage ein
groesseres Glueck fuer ihn. Was sie nicht verstand, schlug ebensogut eine
Bruecke zu ihm wie das, was sie verstand. Denn ueber alles, was sie nicht
verstand, dachte er nur um so eingehender nach, und sie wurde ihm nur
lieber dadurch, dass er nach allen Seiten die Grenzen in ihr erkannte.
Ja, sie wurde ihm unendlich teuer!
Arne hatte sich als Kind nichts aus Maerchen gemacht. Jetzt als
erwachsener Mensch bekam er Sehnsucht nach Maerchen, und sie hatten
Volkssagen und Heldenlieder im Gefolge. In sein Herz kam eine seltsame
Sehnsucht; er ging viel allein, und manches, worauf er zuvor gar nicht
geachtet hatte, erschien ihm wunderbar schoen. Zu der Zeit, als er mit
seinen Altersgenossen zum Konfirmandenunterricht gegangen war, hatten
sie haeufig an einem grossen See vor dem Pfarrhaus gespielt, dem
sogenannten schwarzen See, weil er gar so tief und schwarz dalag. Dieser
See kam ihm jetzt in den Sinn, und eines Abends stieg er da hinauf.
Er setzte sich unter einen Busch dicht neben dem Pfarrhof; der lag an
einem sehr steilen Abhang, der schliesslich zu einer hohen Felswand
anstieg; genau so war es am andern Ufer, so dass von beiden Seiten lange
Schlagschatten ueber den See fielen: in der Mitte aber war ein schoener
silbriger Wasserstreifen geblieben. Alles lag in tiefer Ruhe; die Sonne
war im Sinken; leises Glockenlaeuten klang vom andern Ufer
herueber,--sonst aber war es ganz still. Arne schaute nicht geradeaus,
sondern hinunter auf den Grund des Sees, weil die Sonne vorm Untergehen
eine zittrige Roete drueber hinausgesandt hatte. Unten traten die Felsen
etwas zur Seite, so dass ein langgestrecktes, niederes Tal entstand,
gegen das das Wasser schlug. Aber es sah aus, als neigten sich die
Felsen langsam zueinander, um das zwischen ihnen liegende Tal
gewissermassen zu schaukeln. Ein Gehoeft lag in dem Tal neben dem andern;
Rauchwoelkchen stiegen empor und verteilten sich; die gruenen Felder
dampften; Boote, mit Heu beladen, kamen an Land. Er sah viele Menschen
hin und her gehen, hoerte aber kein Geraeusch. Seine Augen wandten sich
von diesem Bilde zum Strand hinueber, wo nur Gottes duesterer Wald sich
erhob. Durch den Wald und am See entlang hatten die Menschen sich wie
mit einem Finger einen Weg gemacht, denn man sah einen Staubstreifen
sich gleichmaessig hindurchschlaengeln. Den verfolgte er mit den Augen bis
genau der Stelle gegenueber, wo er sass; da hoerte der Wald auf; die Felsen
traten mehr zurueck, und gleich lag wieder ein Gehoeft neben dem andern.
Da standen noch groessere Haeuser als unten im Grunde, rot angestrichen,
mit groesseren Fenstern, die in der Sonne brannten. Helles Sonnenlicht lag
auf den Hoehen; auch das kleinste Kind, das da spielte, war deutlich zu
sehen; blendend weisser Sand lag hart am See; da sprangen Kinder mit ein
paar Hunden herum. Aber auf einmal war alles sonnenverlassen und schwer,
die Haeuser waren dunkelrot, die Wiese schwarzgruen, der Sand grauweiss,
die Kinder wie kleine Kluempchen; eine Nebelwand war ueber den Bergen
aufgestiegen und hatte die Sonne verdeckt. Arnes Auge fluechtete aufs
neue zum Wasser hinunter; da aber fand er das Ganze wieder. Die Felder
wogten, der Wald zog sich schweigend hin, hoch oben lagen die Haeuser und
schauten hernieder, die Tueren standen offen, und die Kinder liefen aus
und ein. Maerchen und Kindertraeume kamen wie kleine Fische nach der
Angel, stoben auseinander, kamen wieder, spielten herum, bissen aber
nicht an.
"Wir wollen uns hier hinsetzen, bis Deine Mutter nachkommt; die Frau
Pfarrer wird ja auch mal fertig werden."--Arne schrak zusammen; es
hatte sich jemand dicht hinter ihn gesetzt. "Aber ich koennte doch
ganz gut bloss noch diese eine Nacht hier bleiben", sagte flehend eine
traenenerstickte Stimme; sie mochte einem nicht ganz erwachsenen Maedchen
gehoeren. "Hoer' jetzt auf zu weinen; es ist recht haesslich, dass Du
weinst, weil Du nach Hause zu Deiner Mutter sollst." Es war eine sanfte
Stimme, die langsam sprach und einem Manne gehoerte. "Darueber weine ich
ja nicht."--"Worueber weinst Du denn sonst?"--"Weil ich nicht mehr mit
Mathilde zusammen sein kann."
So hiess die einzige Tochter des Pfarrers, und es fiel Arne ein, dass ein
Bauernmaedchen mit ihr zusammen erzogen war. "Das konnte ja doch nicht
ewig dauern."--"Ja, aber einen Tag doch noch, Vater!" und sie schluchzte
bitterlich.--"Es ist das beste, Du faehrst gleich mit nach
Hause;--vielleicht ist es schon zu spaet."--"Zu spaet? Warum? Wie meinst
Du das?"--"Du bist als Bauernmaedchen geboren, und ein Bauernmaedchen
sollst Du bleiben; 'ne Zierpuppe koennen wir uns nicht leisten."--"Ich
koennte doch auch ein Bauernmaedchen sein, wenn ich hier bliebe."--"Das
verstehst Du nicht."--"Ich habe doch immer Bauerntracht angehabt."--"Das
allein macht's nicht."--"Ich habe doch auch gesponnen und gewebt und
kochen gelernt."--"Das ist es auch nicht."--"Ich kann doch genau so
sprechen wie Du und die Mutter."--"Auch das ist's nicht."--"Ja, dann
weiss ich nicht, was es sein kann", sagte das Maedchen und lachte.--"Das
wird sich ja herausstellen;--ich habe bloss Angst, Du denkst jetzt schon
zuviel."--"Denkst, denkst! Das sagst Du immer; ich denke ueberhaupt
nicht", sie fing wieder zu weinen an.--"Ach, Du bist ein
Windbeutel!"--"Das hat der Herr Pfarrer nie zu mir gesagt."--"Nein, aber
ich sage es jetzt."--"Windbeutel? Ist so was erhoert? Ich will aber kein
Windbeutel sein!"--"Was willst Du denn sonst sein?"--"Was ich sein
moechte? Ist so 'was erhoert? Nichts moechte ich sein."--"Nun, so sei doch
ein Nichts!" Da lachte das Maedchen. Nach einer Weile sagte sie
ernsthaft: "Es ist graesslich von Dir, dass Du sagst, ich bin ein
Nichts."--"Herrgott, wenn Du es doch selbst sein moechtest!"--"Nein, ich
moechte kein Nichts sein."--"Gut, so sei alles!"--Das Maedchen lachte.
Nach einer Weile sagte sie mit betruebter Stimme: "So hat mich der Herr
Pfarrer nie zum Narren gehabt."--"Nein, er hat bloss einen Narren aus Dir
gemacht."--"Der Herr Pfarrer? So nett bist Du nie zu mir gewesen wie der
Herr Pfarrer."--"Das waere ja auch noch schoener."--"Saure Milch kann nie
suess werden."--"Doch, wenn man Kaese davon macht."--Da lachte das Maedchen
laut auf. "Da kommt Deine Mutter!" Gleich wurde sie wieder ernst.
"So ein redseliges Frauenzimmer wie die Frau Pfarrer hab' ich mein
Lebtag nicht gesehen", gellte jetzt eine scharfe, hastige Stimme
dazwischen. "Schnell, Baard, steh auf und mach' das Boot klar! Wir
kommen sonst heut abend nicht mehr nach Hause.--Die Frau hat gesagt, ich
soll aufpassen, dass Eli immer trockne Fuesse hat. Musst schon selbst drauf
passen! Und jeden Morgen spazieren laufen wegen der Bleichsucht!
Bleichsucht hin, Bleichsucht her!--Steh doch auf, Baard, und mach' das
Boot klar; ich muss heut abend noch den Teig anruehren!"--"Der Koffer ist
noch nicht da", sagte er und blieb ruhig liegen. "Der Koffer soll auch
gar nicht mit; der soll bis zum naechsten Sonntag hier bleiben. Hoerst
Du, Eli, steh auf; nimm Dein Buendel und komm! Steh doch auf,
Baard!"--Sie fort, das Maedchen hinter ihr her. "Komm doch; aber so komm
doch!" klang es von unten herauf. "Hast Du nachgesehen, ob der Zapfen im
Boot steckt?" fragte Baard und blieb ruhig liegen. "Ja, der steckt
drin", und Arne hoerte, wie sie ihn mit einer Schoepfkelle festklopfte.
"Aber so steh doch auf, Baard! Wir koennen doch nicht die Nacht ueber hier
liegen bleiben?"--"Ich warte auf den Koffer."--"Aber Du meine Guete, ich
habe Dir doch gesagt, er soll bis zum naechsten Sonntag hier
bleiben."--"Da kommt er schon", sagte Baard. Und sie hoerten
Wagengerassel. "Aber ich habe doch gesagt, er soll bis zum naechsten
Sonntag hier bleiben."--"Ich habe aber gesagt, er soll gleich
mit."--Ohne weiteres lief die Frau nun zum Wagen und trug Buendel, Korb
und sonst ein paar Kleinigkeiten ins Boot hinunter. Da erhob Baard sich
auch, stieg hinauf und lud sich den Koffer auf.
Hinter dem Wagen aber kam ein Maedel hergelaufen im Strohhut und mit
flatternden Haaren; das war das Pfarrerstoechterlein. "Eli, Eli!" rief
sie schon von weitem. "Mathilde, Mathilde!" antwortete ihr die andere,
lief hinauf und ihr entgegen. Sie trafen oben auf dem Huegel zusammen,
fielen sich in die Arme und weinten. Dann nahm Mathilde etwas auf, was
sie so lange ins Gras gesetzt hatte; es war ein Vogelbauer. "Du sollst
den Narrifas haben, wirklich, Mutter will's auch. Du sollst jetzt den
Narrifas haben, ja, wirklich--und: denk auch mal an mich--und komm ...
komm ... komm oft heruebergerudert zu mir"; und sie weinten beide
bitterlich. "Eli! komm doch, Eli! Du kannst da doch nicht stehen
bleiben!" klang es von unten herauf.--"Aber ich will mit," sagte
Mathilde, "ich will mit Dir hinueber und heut nacht bei Dir
schlafen!"--"Ja, ja, ja!"--und eng umschlungen liefen sie an die
Landungsstelle hinunter. Nach einer Weile gewahrte Arne das Boot auf dem
See; Eli stand mit dem Vogelbauer aufrecht hinten am Steuer und winkte;
Mathilde sass am Steg und weinte.
Da blieb sie sitzen, solange das Boot auf dem Wasser war; bis zu den
roten Haeusern war's, wie gesagt, nicht weit, und Arne blieb auch sitzen.
Auch er verfolgte das Boot mit den Augen. Es kam bald in den Schatten
hinein, und er wartete, bis es anlegte; dann sah er sie im Wasser, und
hier folgte er ihnen zu den Haeusern hin, bis zu dem allerschoensten. Er
sah die Mutter zuerst hineingehen, sah den Vater mit dem Koffer und
schliesslich die Tochter, soweit er sie an der Groesse unterscheiden
konnte. Nach einer Weile kam die Tochter wieder heraus und setzte sich
vor die Tuer, wahrscheinlich um in dem letzten Sonnenstrahl noch einmal
herueberzuschauen. Das Pfarrerstoechterlein aber war schon fort, und nur
er sass noch und sah ihr Bild im Wasser. "Ob sie mich wohl sieht?"----
Er stand auf und ging; die Sonne war hinunter, der Himmel aber war so
hell und klarblau, wie er in Sommernaechten ist. Von Wasser und Land
stieg der Dunst zu beiden Seiten an den Felsen hoch; die Gipfel aber
blieben frei und schauten zueinander hinueber. Er klomm hoeher hinauf; das
Wasser wurde schwaerzer und tiefer und gewissermassen dichter. Das Tal
unten im Grunde wurde kuerzer und schob sich weiter ans Wasser heran; die
Felsen rueckten dem Auge naeher und verschwammen in einen Klumpen, denn
das Sonnenlicht zieht Grenzen. Selbst der Himmel kam tiefer hernieder,
und alles wurde freundlich und traulich.
Neuntes Kapitel
Liebe und Frauen begannen in seinen Gedanken eine Rolle zu spielen; die
Heldenlieder und die alten Geschichten liessen sie ihm in einem
Zauberspiegel sehen--wie das Bild des Maedchens im Wasser. Er starrte
bestaendig hinein, und nach jenem Abend kam die Lust ueber ihn, es zu
besingen; denn es war ihm naeher gerueckt. Aber der Gedanke entschluepfte
ihm und kam zurueck mit einem Liede, von dem er selbst nichts wusste; es
war, als habe ein anderer es fuer ihn gedichtet:
Jung Venevil huepfte auf leichtem Schuh
Ihrem Liebsten zu.
Da klang's ihr entgegen wie Lerchenschlag:
"Guten Tag! guten Tag!"
Und all die kleinen Voeglein sangen lustig mit im Hag:
"Zum Fest Sankt Johanns
Da gibt's Lachen und Tanz;
Doch nicht aus jedem Kraenzlein wird ein hochzeitlicher Kranz!"
Sie flocht ihm eins aus den Veiglein der Au:
"Meine Aeuglein blau!"
Hoch warf er's empor in den Lenzsonnenschein:
"Leb' wohl, Freundin mein!"
Und jubelte und stuermte wie ein Fuellen feldein:
"Zum Fest Sankt Johanns..."
Sie flocht ihm eines aus ihrem hellen Haar:
"Du nimmst es, nicht wahr?"
Sie flocht, sie bot ihm zum seligen Bund
Ihren roten Mund:
Er nahm und bekam ihn--und ihr Herz in Flammen stund.
Sie flocht eines weiss in ein Lilienband:
"Meine rechte Hand."
Und eines, zu dem sie Blutrosen schnitt:
"Meine linke mit."
Er nahm sie alle beide,--doch sein Blick zur Seite glitt.
Sie flocht eins aus Blumen ueberallher:
"Ich fand nicht mehr!"
Sank weinend zu Boden, flocht weiter ohne Ruh:
"Nimm die, alle, du!"
Er sagte nichts und nahm sie nur--und floh den Bergen zu.
Sie flocht ihm eins ohne Farben ganz:
"Meinen Hochzeitskranz!"
Sie flocht, bis sie nichts mehr vor Traenen sah:
"Setz' dir den auf, ja?"
Doch da sie sich tat wenden, stand niemand mehr da.
Und weiter flocht sie, versunken ganz
An dem Hochzeitskranz.
Doch jetzt war es laengst uebers Fest Sankt Johanns,
Weit der Lenz und sein Glanz:
Noch aus Eisblumen flocht sie--doch im Flechten zerrann's...
"Zum Fest Sankt Johanns--
Da gibt's Lachen und Tanz;
Doch nicht aus jedem Kraenzlein wird ein hochzeitlicher Kranz!"
Es war die Wehmut in ihm, die auf das erste Liebesbild, das durch seine
Seele zog, ihre tiefen Schatten warf. Eine doppelte Sehnsucht: jemanden
lieb zu haben und etwas Grosses zu werden, die beiden Wuensche
verschmolzen in eins. In dieser Zeit arbeitete er wieder an dem Gedicht
"Ueber die hohen Berge", aenderte dran herum, sang und dachte bei sich
selbst: "Es wird schon noch gluecken; ich singe solange, bis ich den Mut
finde." Er vergass die Mutter in diesen seinen Wandergedanken nicht; er
troestete sich naemlich mit dem Vorsatz: sobald er festen Fuss in der
Fremde gefasst habe, wuerde er sie holen und ihr ein Los bereiten, wie er
es daheim nimmermehr sich oder ihr schaffen koenne. Mitten in diese grosse
Sehnsucht hinein aber stahl sich etwas Stilles, Frisches, Feines,
huschte weg und kam wieder, tauchte auf und verschwand, und da er zum
Traeumer geworden war, hatten diese unwillkuerlichen Gedanken weit mehr
Macht ueber ihn, als ihm selber bewusst war.
Im Dorf lebte ein vergnueglicher alter Mann, Ejnar Aasen mit Namen. Als
Zwanzigjaehriger hatte er sich das Bein gebrochen; seit der Zeit ging er
am Stock; aber wo er mit seinem Stock angehumpelt kam, ging es lustig
zu. Der Mann war reich; ein grosses Gehoelz von Nussstraeuchern lag auf
seinem Grund und Boden, und an einem recht schoenen, sonnigen Tag im
Herbst pflegte eine ganze Schar froehlicher Maedchen bei ihm zum
Nusspfluecken versammelt zu sein. Tags war grosse Bewirtung und abends
Tanz. Bei den meisten Maedchen hatte er Gevatter gestanden; denn er stand
beim halben Dorf Gevatter; alle Kinder nannten ihn Pate, und alt und
jung sprach es nach.
Der Pate war mit Arne sehr gut bekannt und mochte ihn um seiner Lieder
willen gern leiden. Jetzt lud er ihn zur Nussernte ein. Arne erroetete und
machte Ausfluechte; er sei es nicht gewoehnt, mit Frauenzimmern zusammen
zu sein, sagte er. "So musst Du Dich dran gewoehnen", antwortete der Pate.
Arne konnte nachts bei dem Gedanken nicht schlafen; Furcht und Sehnsucht
stritten in ihm: aber das Ende vom Lied war: er ging hin und war der
einzige Bursch unter all den Frauenzimmern. Er konnte sich eine
Enttaeuschung nicht verhehlen; das waren nicht solche, wie er sie
besungen hatte, auch nicht solche, vor denen er Angst gehabt hatte. Sie
machten eine Wirtschaft, wie er sein Lebtag nicht gesehen hatte, und am
meisten wunderte er sich darueber, dass sie ueber nichts und wieder nichts
lachen konnten; und wenn drei lachten, dann lachten die andern fuenf
auch, bloss weil die drei lachten. Alle benahmen sich, als lebten sie Tag
fuer Tag zusammen, und viele hatten sich bis jetzt noch nie gesehen. Wenn
sie den Zweig erhaschten, nach dem sie in die Hoehe sprangen, lachten sie
drueber, und wenn sie ihn nicht erhaschten, lachten sie auch. Sie balgten
sich um den Nusshaken; die ihn eroberten, lachten, und die ihn nicht
eroberten, lachten auch. Der Pate humpelte am Stock hinter ihnen her und
trieb allen moeglichen Schabernack mit ihnen. Die er haschte, lachten,
weil er sie haschte; und die er nicht haschte, lachten, weil er sie
nicht haschte. Alle miteinander aber lachten sie ueber Arne, weil er
solch ein ernstes Gesicht machte, und als er dann lachen musste, lachten
sie, weil er endlich lachte.
Schliesslich setzten sie sich auf eine Anhoehe, der Pate in die Mitte und
die Maedchen alle um ihn herum. Da hatte man einen weiten Blick; die
Sonne stach, aber sie kuemmerten sich nicht drum, bewarfen sich mit den
Nussschalen und den Huelsen und gaben dem Paten die Kerne. Der Pate
versuchte sie zum Schweigen zu bringen und schlug mit seinem Stock um
sich, soweit er reichte, denn er wuenschte, jetzt solle etwas erzaehlt
werden, etwas recht Lustiges. Aber sie zum Geschichtenerzaehlen zu
bewegen, schien schwieriger zu sein, als einen bergab sausenden Wagen
aufzuhalten. Der Pate fing an; manche wollten nichts hoeren, denn seine
Geschichten kannten sie schon; aber schliesslich hoerte doch alles zu. Und
ehe sie sich's versahen, waren sie mitten drin im besten Erzaehlen. Da
wunderte sich Arne wieder ueber eins: so lebhaft sie vorhin gewesen
waren, so ernst waren jetzt ihre Geschichten. Sie handelten meistens von
Liebe.
"Aber Du, Aase, kennst eine huebsche; das weiss ich noch vom vorigen
Jahr", sagte der Pate und wandte sich an ein stattliches Maedel mit einem
gutmuetigen, rundlichen Gesicht; sie sass und flocht ihrer juengeren
Schwester, die den Kopf in ihren Schoss gelegt hatte, das Haar. "Die
kennen aber wohl viele", antwortete sie. "Erzaehl' sie doch", baten alle.
"Ich will mich nicht lange noetigen lassen", sagte sie und erzaehlte und
sang, waehrend sie immer weiter flocht:
"Es war einmal ein Bursch, der huetete das Vieh, und er trieb die Herde
am liebsten an einem breiten Fluss entlang. Wenn er hoeher hinaufkam, war
da ein Felsen, der soweit in den Fluss hinausragte, dass der Bursch nach
der andern Seite hinueberrufen konnte. Denn drueben auf der andern Seite
war ein Hirtenmaedchen, das er den ganzen Tag ueber vor Augen hatte, ohne
zu ihr kommen zu koennen.
Dei' Blas'n, des geht mir
Ganz sakrisch in's Bluet.
Geh, Deandl, wie hoasst denn?
Du g'fallst mer so guet!
Ein paar Tage lang wiederholte er dieselbe Frage und schliesslich bekam
er Antwort:
Mit der Liab' in dein' Herz'n
Und dein' Bockshuet a'm Kopf--
Schwimm 'rueber, wenns d'Schneid hast,
Du damischer Tropf!
Da war der Bursch so klug wie vorher und nahm sich vor, sich nicht
weiter um sie zu kuemmern. Das ging aber nicht so einfach; denn er mochte
die Herde treiben, wohin er wollte, immer zog es ihn wieder zum Felsen
hin. Da wurde dem Burschen bange, und er rief:
Wo hat denn dei' Vota
Sei' Huett'n hi'baut,
Dass koaner am Kirchgang
Di nie net derschaut?
Der Bursch glaubte naemlich halb und halb, sie muesse eine Waldhexe sein.
Mei' Vota is tot
Und die Huett'n verbrennt--
I hab' no' mei' Lebtag
Koan' Pfarrer net 'kennt.
Hieraus wurde der Bursch ebensowenig klug. Den Tag ueber war er auf dem
Felsen; des Nachts traeumte er, sie tanze um ihn herum, und jedes Mal,
wenn er sie haschen wollte, schlage sie mit einem langen Kuhschweif nach
ihm. Er fand kaum noch Schlaf; arbeiten konnte er auch nicht mehr, und
es war um den Burschen uebel bestellt.
Wenns d'a Trud bist, na mog i
Nix wissn vo' dir,
Aber bist nur a Deandl,
Na ko'st red'n mit mir.
Aber es kam keine Antwort, und da stand es bei ihm fest, sie muesse eine
Waldhexe sein. Er gab das Viehhueten auf, aber da wurde es auch nicht
besser; denn wo er ging und stand, und was er auch tat, immer dachte er
an die schoene Waldhexe, die das Horn blies.
Als er eines Tages stand und Holz hackte, kam ein Maedchen ueber den Hof
gegangen, das leibhaftig wie die Waldhexe aussah. Aber als sie naeher
herankam, war sie es doch nicht. Das ging ihm im Kopf herum; da kam das
Maedchen zurueck, und von weitem war es die Waldhexe, und er lief ihr
entgegen. Aber sowie sie naeher herankam, war sie es doch nicht.
Fortan mochte der Bursch sein, wo er wollte, in der Kirche, beim Tanz
oder bei andrer Geselligkeit,--das Maedchen war auch da; von weitem sah
sie aus wie die Waldhexe, in der Naehe war sie eine andere; er fragte sie
dann, ob sie es sei oder ob sie es nicht sei; sie aber lachte ihn aus.
Man kann gerade so gut hineinspringen wie hineinkriechen, dachte der
Bursch, und also heiratete er das Maedchen.
Als das aber geschehen war, mochte er das Maedel nicht mehr leiden. War
er fern von ihr, so sehnte er sich nach ihr; war er bei ihr, so sehnte
er sich nach einer, die er nicht sah. Deshalb behandelte der Bursch
seine Frau schlecht; sie ertrug es und schwieg.
Eines Tages aber, als er die Pferde holen wollte, kam der Bursch an den
Felsen, setzte sich nieder und rief:
Der Mond und die Sterndln
Und 's Wasser derzua--
Es rihrt si weitum nix--
Nur i hob koan Ruah.
Es tat dem Burschen wohl, da zu sitzen, und von nun an ging er immer
hin, wenn es ihm zu Haus nicht gefiel. Seine Frau weinte, wenn er fort
war.
Eines Tages aber, als er so dasass, da sass auch die Waldhexe leibhaftig
am andern Ufer und blies ihr Horn!
Da bist ja, da hockst ja
Und blas't wie net g'scheit!
Und i muess grod woana--
Tuet jed's, wos eahm g'freit.
Da antwortete sie:
Deine Aeugerln mach zue,
Ueber d' Ohr'n ziag dein' Huet!
Schau mi net an, hoer' mi net an--
'S tuet d'r net guet!
Da wurde aber dem Burschen bange, und er ging wieder nach Hause. Doch es
dauerte nicht lange, da war er seiner Frau so ueberdruessig, dass er wieder
in den Wald zu seinem Platz am Felsen musste. Da klang es ihm entgegen:
Mir hat's alleweil traamt:
Es fangt mi no wer!--
Ja, Gernhab'n is leicht,
Aber Fanga is schwer...
Der Bursch fuhr in die Hoehe und schaute sich um, und da schluepfte ein
gruener Rock zwischen den Bueschen hin. Er hinterher. Nun ging die Jagd
durch den ganzen Wald. So leichtfuessig, wie die Waldhexe war, konnte kein
Menschenkind sein; er warf einmal ums andere die Schlinge nach ihr; sie
lief immer gleich schnell weiter. Aber endlich begann sie muede zu
werden, das sah der Bursch an den Fussspuren; doch er sah auch an ihrer
ganzen Gestalt, dass sie wirklich die Waldhexe war und keine andere.
Jetzt hab' ich Dich', dachte der Bursch, und stuerzte mit einem Mal so
ungestuem auf sie zu, dass er und die Waldhexe ein ganzes Stueck den Abhang
hinunterkugelten, bis sie liegen blieben. Da lachte die Waldhexe, dass es
in den Bergen klang, wie dem Burschen schien; er nahm sie auf den Schoss,
und sie war genau so schoen, wie er sich seine eigne Frau gewuenscht
hatte. 'O sag', wer bist Du nur, Du Suesse?' fragte der Bursch und
streichelte sie, und ihr gluehten die Backen. 'Aber mein Gott, ich bin
doch Deine eigene Frau', sagte sie."
Die Maedchen lachten und machten sich ueber den Burschen lustig. Der Pate
aber fragte Arne, ob er auch gut zugehoert habe.
----"Na, jetzt will ich mal was erzaehlen", sagte eine Kleine mit einem
runden Gesichtchen und einer winzig kleinen Nase.
"Es war einmal ein sehr kleiner Bursch; der wollte gern ein kleines
Maedel heiraten. Erwachsen waren sie alle beide, aber sie waren gar klein
von Gestalt. Und der Bursch konnte mit der Werbung nicht ins reine
kommen. Er war in der Kirche an ihrer Seite, aber dann wurde immer vom
Wetter gesprochen; er war beim Tanz mit ihr zusammen und tanzte sie fast
kaputt; aber sagen tat er nichts. 'Du musst schreiben lernen, dann geht's
leichter', sagte er sich,--und der Bursch machte sich ans Schreiben; er
dachte immer, es sei nicht schoen genug, und deshalb uebte er ein halbes
Jahr, bis er an einen Brief denken konnte. Nun galt es, ihn ihr so
zuzustecken, dass keiner es sah, und einmal hinter der Kirche traf es
sich so, dass sie allein standen. 'Ich hab' einen Brief fuer Dich', sagte
der Bursch. 'Aber ich kann kein Geschriebenes lesen', antwortete das
Maedchen.--Na, da stand der Bursch da.--Er zog nun bei dem Vater des
Maedchens in Dienst und wich ihr den lieben langen Tag nicht von der
Seite. Einmal war er nahe daran zu reden; er tat schon den Mund auf,
aber da flog ihm eine grosse Fliege hinein.--'Wenn bloss keiner kommt und
sie mir wegschnappt', dachte der Bursch. Aber es kam keiner und
schnappte sie ihm weg, denn sie war gar so klein.--Aber schliesslich kam
doch einer; denn der war auch nur so klein. Der Bursch merkte recht gut,
was er wollte, und als die beiden zusammen auf die Altane gingen, setzte
der Bursch sich vors Schluesselloch. Jetzt warb der da drinnen um sie.
'Herrjeh, ich Dummkopf, dass ich mich nicht beeilt habe!' dachte der
Bursch. Der da drinnen kuesste das Maedel mitten auf den Mund.--'Das
schmeckt gewiss gut', dachte der Bursch. Der da drinnen aber nahm das
Maedel auf den Schoss. 'Ist das 'ne Welt!' sagte der Bursch und fing zu
weinen an. Das hoerte das Maedchen und ging an die Tuer: 'Was willst Du
eigentlich von mir, Du dummer Bengel; kannst Du mich nicht in Ruh
lassen'--'Ich?--ich moechte bloss bitten, dass ich Dein Brautfuehrer sein
darf.'--'Nein, das sollen meine Brueder sein', antwortete das Maedchen und
warf die Tuer zu.--Na, da hatte der Bursch das Nachsehen"
Die Maedchen lachten sehr ueber diese Geschichte und warfen sich dann
wieder mit Nussschalen.
Der Pate wuenschte, Eli Boeen solle etwas erzaehlen. Was denn aber?! Ja,
sie solle erzaehlen, was sie ihm auf der Anhoehe erzaehlt hatte, als er das
letztemal bei ihnen war, damals als sie ihm die neuen Strumpfbaender
geschenkt hatte. Es dauerte eine Weile, bis Eli sich entschloss, denn sie
lachte fuerchterlich; aber dann erzaehlte sie:
"Ein Maedchen und ein Bursch gingen zusammen spazieren. 'O sieh bloss die
Drossel, die hinter uns herfliegt', sagte das Maedchen. 'Die fliegt
hinter mir her', sagte der Bursch.--'Kann ebensogut hinter mir sein',
antwortete das Maedchen.--'Das werden wir bald sehen', meinte der Bursch;
Jetzt gehst Du den unteren Weg und ich den oberen, und da hinten treffen
wir wieder zusammen.' Das taten sie. 'Ist sie etwa nicht mit mir
geflogen?' fragte der Bursch, als sie wieder zusammenkamen. 'Nein, sie
ist ja hinter mir hergeflogen', antwortete das Maedchen.--'Dann muessen
hier zwei sein.' Sie gingen zusammen ein Stueck weiter; aber es war doch
bloss eine; der Bursch behauptete, sie fliege auf seiner Seite, das
Maedchen dagegen behauptete, sie fliege auf ihrer. 'Ich schere mich den
Teufel um die Drossel', sagte der Bursch. 'Na, ich auch', antwortete das
Maedchen.--Sowie sie das aber gesagt hatten, war auch die Drossel
verschwunden. 'Das war auf Deiner Seite', sagte der Bursch. 'Na, ich
danke schoen! ich hab' genau gesehen, dass es auf Deiner war.----Aber
da!--da ist sie ja wieder!' rief das Maedchen. 'Ja, auf meiner Seite!'
rief der Bursch. Nun wurde aber das Maedchen boese. 'Ich verdiente ja den
Strick, wenn ich noch weiter mit Dir ginge!' und damit ging sie ihren
eignen Weg.--Da verliess die Drossel den Burschen, und es wurde ihm so
langweilig, dass er zu rufen anfing. Sie antwortete. 'Ist die Drossel bei
Dir?' rief der Bursch. 'Nein, aber ist sie bei Dir?'--'Ach nein! Du musst
wieder herkommen, dann fliegt sie vielleicht auch wieder mit,' Und das
Maedchen kam. Sie fassten sich an der Hand und gingen zusammen weiter.
'Kiwitt, kiwitt, kiwitt, kiwitt!' klang es neben dem Maedchen. 'Kiwitt,
kiwitt, kiwitt, kiwitt!' klang es neben dem Burschen. 'Kiwitt, kiwitt,
kiwitt, kiwitt, kiwitt, kiwitt, kiwitt, kiwitt', rief es an allen
Seiten, und als sie hinsahen, flogen hunderttausend Millionen Drosseln
um sie herum. 'Nein, wie seltsam!' sagte das Maedchen und blickte zu dem
Burschen auf. 'Gott schuetze Dich!' sagte der Bursch und strich dem
Maedchen ueber die Wange."
Diese Geschichte fanden alle Maedchen sehr schoen.
Dann schlug der Pate vor, sie sollten erzaehlen, was sie diese Nacht
getraeumt haetten, und dann wollte er entscheiden, wer den schoensten Traum
gehabt habe. Nein, erzaehlen zu sollen, was sie getraeumt hatten! Nein, so
was! Und es entstand ein Gelaechter und Getuschle ohne Ende. Dann aber
sagte eine nach der andern, sie habe solchen schoenen Traum heut nacht
gehabt; so schoen wie der, den sie gehabt haetten, koennt' er aber auf
keinen Fall gewesen sein, sagten wieder andere. Und schliesslich wollten
sie alle gern ihre Traeume erzaehlen. Aber es durfte nicht laut sein; nur
einer sollte es hoeren, aber nicht der Pate. Arne sass still ein Stueckchen
abseits,--dem konnte man sie erzaehlen.
Arne setzte sich unter eine Hasel, und dann kam die zu ihm hin, die
zuerst erzaehlt hatte. Sie besann sich eine ganze Zeit, dann aber
erzaehlte sie: "Mir traeumte, ich staende an einem grossen Wasser. Da sah
ich einen ueber das Wasser gehen; wer's war, sag' ich nicht. Er setzte
sich in eine grosse Seerose hinein und sang. Ich aber stieg auf eins der
grossen Blaetter, die die Seerose hat, und die auf dem Wasser schwimmen;
auf dem wollte ich zu ihm hinueberrudern. Aber kaum stand ich auf dem
Blatt, als es mit mir zu sinken begann, so dass ich Angst bekam und
weinte. Da ruderte er in der Seerose heran, zog mich zu sich in die
Blume hinein und fuhr mit mir ueber das ganze Wasser.--War das nicht ein
schoener Traum?"
Nun kam die Kleine, die vorhin die Geschichte von den Kleinen erzaehlt
hatte: "Mir traeumte, ich haette einen kleinen Vogel gefangen, und ich
freute mich so, und wollte ihn auch nicht loslassen, bis ich zu Haus in
der Stube sei. Aber da konnte ich ihn nicht los lassen, weil sonst die
Eltern mir gesagt haetten, ich solle ihn wieder hinausbringen. So ging
ich mit ihm auf den Boden; aber da schlich lauernd die Katze umher, und
so konnte ich ihn hier doch auch nicht loslassen. Da wusste ich meiner
Seele keinen Rat und ging in die Scheune. Gott, da waren so viele
Ritzen, wie leicht haette er durchschluepfen koennen. Na, da ging ich
wieder auf den Hof hinunter, und da stand einer, wer, sag' ich nicht. Er
spielte mit einem ganz grossen Hund. 'Ich moechte lieber mit Deinem Vogel
spielen', sagte er und kam ganz nahe heran. Ich lief fort, und er und
der grosse Hund hinterher, und ich lief ueber den ganzen Hof; da aber
machte Mutter die Tuer auf, zog mich hinein und warf die Tuer zu. Draussen
aber stand der Bursch mit dem Gesicht an den Scheiben und lachte.
'Guck', hier ist der Vogel!' sagte er--und denk nur, da hatte er den
Vogel.--War das nicht ein huebscher Traum?"
Dann kam die, die von den Drosseln erzaehlt hatte. Eli hatten sie zu ihr
gesagt. Das war dieselbe Eli, die er an jenem Abend im Boot und im
Wasser gesehen hatte. Es war dieselbe und auch wieder nicht dieselbe; so
gross und schoen sass sie da mit dem feinen Gesicht und der schlanken
Gestalt. Sie wollte sich halb totlachen, und so dauerte es eine ganze
Zeit, bis sie soweit war; dann aber erzaehlte sie: "Ich hatte mich so
sehr drauf gefreut, heute ins Nussholz zu kommen, und da traeumte mir heut
nacht, ich saesse hier auf dem Huegel. Die Sonne schien, und ich hatte den
ganzen Schoss voll Nuesse. Aber da war auf einmal ein kleines Eichhoernchen
mitten unter den Nuessen; es hockte auf meinem Schoss und ass die ganzen
Nuesse auf.--War das nicht ein komischer Traum?"
Und noch mehr Traeume wurden ihm erzaehlt; dann aber sollte er sagen,
welcher der schoenste sei. Er bat sich Bedenkzeit aus, und unterdes zog
der Pate mit der ganzen Schar zum Gehoeft hinunter, und Arne sollte
nachkommen. Sie sprangen die Anhoehe hinab, stellten sich, als sie in die
Ebene gekommen waren, in Reihen auf und wanderten singend heimwaerts.
Er sass allein und lauschte dem Gesang; die Sonne fiel gerade auf die
Maedchenschar, so dass ihre weissen Hemdaermel schimmerten. Dann und wann
fasste die eine die andre um; sie tanzten ueber die Wiese hin, der Pate
mit dem Stock hinterher, weil sie ihm das Grummet niedertraten. Arne
dachte nicht mehr an die Traeume; er sah bald ueberhaupt nicht mehr zu den
Maedchen hin; seine Gedanken zogen sich wie feine Sonnenfaeden ueber das
Tal, und er sass allein auf dem Huegel und spann. Ehe er's recht wusste,
war er mitten in einem dichten Gewebe von Schwermut; er sehnte sich
hinaus in die Welt, wie noch nie. Er nahm sich das feste Versprechen ab,
sowie er nach Hause komme, mit der Mutter drueber zu reden; es mochte
gehen, wie es wolle.
Seine Gedanken wurden immer maechtiger und stroemten in das Lied aus:
"Ueber die hohen Berge." So schnell waren ihm nie die Worte gekommen und
nie hatten sie sich so sicher aneinandergefuegt; sie waren fast wie die
Maedchen, die im Kreise auf dem Huegel sassen. Er hatte ein Stueck Papier
bei sich und schrieb auf seinen Knien, und als er das Lied zu Ende
geschrieben hatte, stand er wie erloest auf, mochte nicht unter Menschen,
sondern ging den Waldweg heimwaerts, obschon er wusste, er werde dann die
Nacht mit zu Hilfe nehmen muessen. Als er unterwegs zum erstenmal Rast
machte, wollte er das Lied herausholen und es weithin schmettern; aber
da hatte er es liegen lassen, wo er es gemacht hatte.
--Eins der Maedchen suchte ihn auf dem Huegel und fand ihn nicht, wohl
aber das Lied.
Zehntes Kapitel
Mit der Mutter zu reden, war leichter gedacht als getan. Er machte
Anspielungen auf Kristian und die Briefe, die nicht kamen; aber die
Mutter wandte ihm den Ruecken, und tagelang hinterher war ihm, als habe
sie rotgeweinte Augen. Er hatte auch noch ein anderes Merkmal dafuer, wie
es stand,--naemlich, dass er besonders gutes Essen bekam.
Eines Tages musste er hinauf in den Wald und Holz holen. Der Weg fuehrte
mitten durch den Forst, und gerade an der Stelle, wo er Holz faellen
wollte, wurden im Herbst immer Preisselbeeren gepflueckt. Arne hatte die
Axt aus der Hand gelegt, um die Jacke auszuziehen, und wollte gerade an
die Arbeit gehen, als zwei Maedchen mit ihren Beerentoepfen des Wegs
kamen. Er versteckte sich lieber, als mit Maedchen zusammenzutreffen, und
das tat er jetzt auch.
"Nein, aber nein, die vielen Beeren! Eli, Eli!"--"Ja, ja, ich
sehe schon!"--"Aber so geh doch nicht weiter! hier sind ja
Eimervoll!"--"Raschelt es da nicht im Busch?"--"Ach, wirklich!" und die
Maedchen draengten sich aneinander und fassten sich um. Sie standen eine
lange Zeit so still, dass sie kaum atmeten. "Es ist doch wohl nichts; wir
wollen ruhig pfluecken."--"Ja, ich glaub' auch, wir pfluecken ruhig."--Und
nun pflueckten sie.--"Es war nett von Dir, Eli, dass Du heut ins Pfarrhaus
kamst.--Hast Du mir denn auch was zu erzaehlen?"--"Ich bin bei dem Paten
gewesen."----"Ja, das hast Du mir gesagt;--aber hast Du mir nichts von
dem Bewussten zu erzaehlen?"--"O doch!"--"Ach wirklich? Eli, ist das wahr?
Schnell, so erzaehl' doch!"--"Er ist wieder bei uns gewesen!"--"Ist nicht
moeglich!"--"Doch, ganz gewiss; die Eltern taten, als saehen sie es nicht;
ich aber lief auf den Boden und versteckte mich."--"Weiter, weiter! Kam
er dann nach?"--"Ich glaube, Vater hatte ihm gesagt, wo ich war; Vater
ist doch immer so!"--"Und dann kam er? Setz' Dich, setz' Dich hier zu
mir!--Also, dann kam er?"--"Ja, aber gesagt hat er nicht viel; er war so
schuechtern."--"Jedes Wort muss ich wissen, hoerst Du, jedes Wort!"--"Hast
Du Angst vor mir?" sagte er. "Warum sollt' ich Angst haben?" sagte ich.
"Du weisst, was ich von Dir will", sagte er und setzte sich neben mich
auf die Truhe.--"Neben Dich!"--"Und dann fasste er mich um die
Taille."--"Um die Taille, ist's moeglich?"--"Ich wollte mich gern wieder
frei machen, aber er wollte mich nicht loslassen. Liebe Eli, sagte
er--", sie lachte und die andere lachte auch.--"Nun? Nun?"--"Willst Du
meine Frau sein?"--"Ha, ha, ha!"--"Ha, ha, ha."--Und dann beide: "Ha,
ha, ha, ha, ha, ha, ha!--"
Endlich musste das Lachen doch ein Ende nehmen, und dann blieb es lange
still; da fragte die erste ganz leise: "Du,--war das nicht komisch, als
er Dich um die Taille fasste?"
Entweder antwortete die andere hierauf nicht oder doch so leise, dass man
es nicht hoeren konnte, vielleicht auch nur mit einem Laecheln. Nach einer
Weile fragte die erste: "Haben Deine Eltern nachher was gesagt?"--"Vater
kam herauf und sah mich an, aber ich verkroch mich immer; denn er
lachte, wenn er mich ansah."--"Aber Deine Mutter?"--"Nein, die sagte
nichts; aber sie war nicht so streng wie sonst."--"Ja, Du hast ihn also
ausgeschlagen?"--"Natuerlich."--Dann blieb es wieder lange still.
"Du?"--"Ja--?"--"Glaubst Du, zu mir kommt auch mal so einer?"--"Ja,
natuerlich!"--"Waer's moeglich!--Haha!--Du, Eli!--Und wenn der mich nun um
die Taille fasste?"--Sie steckte den Kopf weg.
Da gab es ein Lachen und Fluestern und Tuscheln.
Bald brachen die Maedchen auf; sie hatten weder Arne, noch die Axt, noch
die Jacke gesehen, und er war recht froh darueber.
Einige Tage darauf nahm er Knut als Paechter zu sich nach Kampen. "Du
sollst nicht mehr so allein sein", sagte Arne.
Arne selbst hatte seinen festen Plan. Er hatte frueh mit der Saege
umgehen gelernt; denn er hatte manches bei sich zu Hause gezimmert. Nun
wollte er dies Handwerk betreiben; denn er hatte das Gefuehl, es sei gut,
eine bestimmte Arbeit zu haben. Es war auch gut fuer ihn, dass er unter
Leute kam, und er veraenderte sich allmaehlich so, dass ihn Sehnsucht
danach fasste, wenn er einmal eine Stunde allein war. Es machte sich, dass
er den Winter ueber in der Pfarre zu tischlern bekam, und dort waren die
beiden Maedchen oft zusammen. Wenn er sie sah, ueberlegte Arne, wer es
wohl sein moege, der um Eli Boeen warb.
Es traf sich, dass er einmal die Pfarrerstochter und Eli spazieren fahren
musste; er hatte gute Ohren, konnte aber doch nicht hoeren, worueber sie
sprachen; ab und zu redete Mathilde mit ihm; dann lachte Eli und steckte
den Kopf weg. Schliesslich fragte Mathilde, ob es wahr sei, dass er
dichten koenne. "Nein", sagte er schnell; da lachten die beiden,
schwatzten und lachten wieder. Fortan war er nicht mehr gut auf sie zu
sprechen und tat, als seien sie Luft.
Einmal sass er in der Gesindestube, wo die Leute tanzten; Mathilde und
Eli kamen beide, um zuzusehen. In ihrer Ecke, wo sie standen, stritten
sie sich ueber irgend etwas; Eli wollte nicht, Mathilde wollte aber, und
sie siegte. Da kamen sie beide auf ihn zu, verbeugten sich und fragten,
ob er tanzen koenne. Er sagte nein, und da drehten sie sich um, lachten
und liefen weg. Dies ewige Gelache, dachte Arne und wurde ganz ernst.
Aber der Pfarrer hatte einen kleinen Pflegesohn von zehn, zwoelf Jahren,
den Arne sehr gern hatte; bei dem Jungen lernte Arne tanzen, wenn's
keiner sah.
Eli hatte einen kleinen Bruder im selben Alter wie der Pflegesohn des
Pfarrers. Die beiden waren Spielkameraden, und Arne machte ihnen
Schlitten und Schneeschuhe und Schlingen, und sprach viel mit ihnen von
ihren Schwestern, besonders von Eli. Eines Tages richtete ihm Elis
Bruder aus, er solle sein Haar nicht so lottrig tragen. "Wer hat das
gesagt?"--"Das hat Eli gesagt; aber ich soll nicht sagen, dass sie's
gesagt hat."--Kurze Zeit drauf liess er bestellen, Eli moege ein bisschen
weniger lachen. Der Junge kam zurueck mit der Bestellung, Arne moege
endlich ein bisschen mehr lachen.
Einmal wollte der Junge etwas haben, was Arne geschrieben hatte. Arne
liess es ihm und dachte nicht weiter an die Sache. Nach einiger Zeit
wollte der Junge Arne mit der Nachricht erfreuen, die beiden Maedchen
faenden seine Schrift sehr schoen. "Haben sie sie denn gesehen?"--"Ja, ich
habe doch fuer sie drum gebeten."--Arne ersuchte die Jungens, ihm etwas
zu bringen, was ihre Schwestern geschrieben hatten; sie taten es auch;
Arne strich alle Schreibfehler mit einem Zimmermannsbleistift an und bat
die Jungens, es so hinzulegen, dass es leicht zu finden sei. Nachher fand
er das Papier in seiner Rocktasche wieder; darunter aber stand:
"Verbessert von einem eingebildeten Gecken."
Tags drauf war Arnes Arbeit in der Pfarre zu Ende, und er begab sich
nach Hause. So sanft wie diesen Winter hatte die Mutter ihn seit jener
traurigen Zeit kurz nach dem Tode des Vaters nicht mehr gesehen. Er las
ihr die Predigt vor, ging mit ihr in die Kirche und war sehr gut gegen
sie. Aber sie wusste recht wohl, es geschah hauptsaechlich, um ihre
Zustimmung zu erlangen, dass er im Fruehling auf Reisen gehen duerfe. Da
kam eines Tages von Boeen ein Bote mit der Anfrage, ob er nicht zum
Tischlern hinkommen koenne.
Arne wurde ganz beklommen zumut, und er sagte ja, als ob er sich es
nicht weiter ueberlege. Sowie der Bote fort war, sagte die Mutter: "Du
kannst Dich freilich wundern! Von Boeen!"--"Ist denn das so merkwuerdig?"
fragte Arne, sah sie aber nicht an. "Von Boeen!" rief die Mutter noch
einmal.--"Na, warum nicht daher gerade so gut wie von einem andern Hof?"
Er blickte ein wenig auf.--"Von Boeen und Birgit Boeen!--Wo doch Baard um
Birgits willen Deinen Vater zum Krueppel geschlagen hat!"---"Was sagst
Du?" rief jetzt der Bursch. "Das war Baard Boeen?"
Mutter und Sohn standen da und sahen sich an. Ein ganzes Leben zog an
ihnen vorueber, und einen Augenblick lang sahen sie den schwarzen Faden,
der sich durch alle Ereignisse hindurchzog. Nachher erzaehlten sie sich
von jener Glanzzeit des Vaters, da die alte Eli Boeen selbst um ihn fuer
ihre Tochter Birgit geworben und einen Korb bekommen hatte; sie
vergegenwaertigten sich alles bis zu dem Augenblick, da Nils
zusammenbrach, und sie fanden beide, Baards Schuld sei die kleinere
gewesen. Aber der den Vater zum Krueppel geschlagen hatte, war eben doch
er gewesen.
"Bin ich noch immer mit dem Vater nicht fertig?" dachte Arne da und
beschloss, sofort hinzugehen.
Als Arne mit der Handsaege auf der Schulter ueber das Eis auf Boeen zuging,
fand er das Gehoeft sehr schoen. Das Haus sah immer aus, als sei es
neugestrichen; ihn fror ein bisschen, und deshalb kam das Haus ihm wohl
so traulich vor. Er trat nicht gleich ein, sondern ging oben herum, wo
der Kuhstall lag; da stand eine Schar langhaariger Ziegen im Schnee und
knabberte die Rinde von Tannenzweigen; ein Schaeferhund lief auf der
Scheunenbruecke hin und her und bellte, als kaeme der Boese auf den Hof,
aber sowie Arne stillstand, wedelte er mit dem Schwanz und liess sich
streicheln. Die Kuechentuer an der hinteren Seite des Hauses ging haeufig
auf, und Arne schaute jedesmal hin; aber entweder war es die Kuhmagd mit
ihren Eimern oder die Schaffnerin, die den Ziegen etwas hinwarf. Drinnen
in der Scheune wurde emsig gedroschen, und vorm Holzschauer zur Linken
stand ein Knecht und hackte Holz; hinter ihm waren viele Haufen
aufgeschichtet.--Arne stellte seine Saege hin und ging in die Kueche;
weisser Sand lag auf dem Fussboden und feinzerpflueckter Wacholder war
darueber gestreut; an den Waenden blitzten die Kupferkessel, und allerhand
Kruege standen in Reih und Glied. Das Mittagessen wurde gekocht, und er
fragte, ob Baard zu sprechen sei. "Geh nur in die Stube!" sagte eine
Magd und wies nach der Tuer; er ging; an der Tuer war keine Klinke,
sondern ein Messinggriff; drinnen war es hell und freundlich, die Decke
mit vielen Rosen bemalt, die Schraenke rot, mit dem Namen des Besitzers
in schwarz darauf, das Bett genau so, nur mit blauen Streifen am Rande.
Hinten am Ofen sass ein breitschultriger Mann mit einem guetigen Gesicht
und langem gelben Haar und legte Reifen um einige Eimer; an dem langen
Tisch sass eine Frau mit einer Haube auf dem Kopf, in einem
enganschliessenden Kleid, hoch und schlank. Sie teilte einen Haufen Korn
in zwei Haelften. Sonst war weiter niemand in der Stube.
"Guten Tag und gute Verrichtung!" sagte Arne und nahm die Muetze ab.
Beide blickten auf; der Mann laechelte und fragte, wer er sei. "Der hier
tischlern soll."--Der Mann laechelte weiter und sagte, indem er den Kopf
senkte und seine Arbeit wieder aufnahm: "Ach, Arne Kampen."--"Arne
Kampen?" rief die Frau und starrte ihn an. Der Mann blickte kurz auf und
laechelte wieder: "Der Sohn von Schneider Nils"; damit machte er sich
wieder an die Arbeit.
Eine Weile drauf stand die Frau auf, ging an das Gesims, drehte sich um,
ging an den Schrank, kehrte wieder um, und waehrend sie im Tischkasten
kramte, fragte sie ohne aufzusehen: "Soll der hier arbeiten?"--"Ja, das
soll er", sagte der Mann, auch ohne aufzusehen. "Dir bietet wohl keiner
einen Stuhl an", wandte er sich zu Arne. Der setzte sich dicht an die
Tuer; die Frau ging hinaus, der Mann arbeitete; deshalb fragte Arne, ob
er auch anfangen koenne. "Wir wollen erst Mittag essen."
Die Frau kam nicht wieder herein; aber als wieder die Kuechentuer aufging,
kam Eli. Sie tat erst, als saehe sie ihn nicht; als er aufstand und auf
sie zugehen wollte, blieb sie stehen und drehte sich um, um ihm die Hand
zu geben; aber sie sah ihn dabei nicht an. Sie wechselten ein paar
Worte; der Vater arbeitete.--Sie trug das Haar in Flechten, hatte ein
Kleid mit engen Aermeln an, war zierlich und schlank mit runden
Handgelenken und kleinen Haenden. Sie deckte den Tisch; das Gesinde ass in
der andern Stube, Arne mit der Familie in dieser Stube; zufaellig wurde
heute getrennt gegessen, sonst assen alle in der grossen hellen Kueche am
selben Tisch.--"Kommt Mutter nicht?" fragte der Mann.--"Nein, sie ist
auf dem Boden und wiegt Wolle."--"Hast Du sie gerufen?"--"Ja, aber sie
sagt, sie mag nicht essen."--Eine Weile war's still. "Es ist doch kalt
auf dem Boden."--"Sie wollte nicht, dass ich einheize."
Nach dem Mittagessen arbeitete Arne; am Abend war er wieder bei ihnen in
der Stube. Jetzt war die Frau auch da. Die Frauen naehten; der Mann
bastelte an allerlei kleineren Sachen herum; Arne half ihm; es blieb
stundenlang still, denn Eli, die sonst wohl das Wort fuehrte, sagte jetzt
auch nichts. Mit Entsetzen dachte Arne, so sei es auch wohl oft zu Hause
bei ihm; aber es war, als komme ihm das jetzt erst zum Bewusstsein. Eli
seufzte einmal tief auf, als habe sie es jetzt lange genug ausgehalten,
und dann fing sie zu lachen an. Da lachte der Vater auch, und Arne fand
es ebenfalls komisch und stimmte mit ein; fortan sprachen sie allerhand;
schliesslich bloss er und Eli, und der Vater warf ab und zu ein Wort
dazwischen. Als aber Arne einmal eine ganze Zeitlang geredet hatte,
blickte er zufaellig auf; da begegnete er Mutter Birgits Augen; sie hatte
die Arbeit sinken lassen und sass und stierte ihn an. Jetzt nahm sie die
Arbeit schnell auf, aber beim ersten Wort, das er sagte, blickte sie
wieder in die Luft.
Es wurde Schlafenszeit, und jeder begab sich in seine Kammer. Arne
wollte sich den Traum merken, den er die erste Nacht auf einer neuen
Stelle haette; aber es war kein Sinn darin. Tagsueber hatte er wenig oder
nichts mit dem Bauer selbst gesprochen; in der Nacht aber traeumte er
einzig und allein von ihm. Das letzte war, dass Baard am Tisch sass und
mit Schneider Nils Karten spielte. Der machte ein wuetendes Gesicht und
war ganz blass; Baard aber laechelte und zog die Karten zu sich herueber.
Arne war nun mehrere Tage da, waehrend deren so gut wie nichts
gesprochen, wohl aber sehr viel gearbeitet wurde. Nicht bloss in der
Wohnstube war es still, auch das Gesinde und die Tageloehner, sogar die
Maegde sagten nichts. Auf dem Hof war ein alter Hund, der bellte
jedesmal, wenn Fremde kamen; nie aber hoerten die Leute den Hund bellen,
ohne dass einer sagte: "Kusch!" und dann schlich er knurrend beiseite und
legte sich wieder hin. Daheim in Kampen war eine grosse Wetterfahne auf
dem Dach, die sich im Winde drehte; hier war eine noch groessere Fahne,
die Arne auffiel, weil sie sich nicht drehte. Wenn nun der Wind heftig
wehte, muehte sich die Fahne loszukommen, und Arne sah solange hin, bis
es ihn aufs Dach trieb, die Fahne loszumachen. Sie war nicht
festgefroren, wie er dachte, aber ein Pflock war eingeschlagen, dass die
Fahne stillstehen sollte; den zog Arne heraus und warf ihn hinunter. Der
Pflock traf Baard, der gerade des Wegs kam. Er blickte nach oben. "Was
machst Du da?"--"Ich mache die Fahne los."--"Tu's nicht; sie kreischt,
wenn sie geht." Arne sass rittlings auf dem Dachfirst: "Das ist doch
besser, als wenn sie stillschweigt." Baard sah zu Arne hinauf und Arne
zu Baard hinunter; da laechelte Baard: "Wer kreischen muss, wenn er
sprechen will, tut doch wohl besser zu schweigen, mein' ich."
Nun kann es vorkommen, dass irgend ein Wort lange, nachdem es gesprochen
ist, noch nachhallt, zumal wenn es das letzte war. Dies Wort folgte
Arne, wie er in der Kaelte vom Dach herunterkletterte, und es war ihm
noch gegenwaertig, als er abends in die Stube trat. Da stand Eli im
Abenddaemmer am Fenster und schaute ueber das Eis hin, das im Mondschein
blinkte. Er ging an das andre Fenster und schaute gleich ihr hinaus.
Drinnen war es warm und still, draussen war es kalt; ein scharfer
Abendwind strich durch das Tal und ruettelte an den Baeumen, dass die
Schatten, die sie im Mondschein warfen, nicht still lagen, sondern auf
dem Schnee hin- und herhuschten und schlichen. Vom Pfarrhaus herueber
drang ein Lichtschein, glomm auf und verwehte oder nahm mancherlei
Gestalten und Farben an, wie es einem immer vorkommt, wenn man zu lange
hinstarrt. Darueber stand der Felsen, an seinem Grunde finster und
geheimnisvoll, mondhell aber auf den hoeheren Schneefeldern. Der Himmel
oben war ausgestirnt und fern an einer Seite ein zittriges Nordlicht,
das sich aber nicht vorwagte. Ein Stueck vom Fenster entfernt, unten am
Wasser, standen Baeume, und ihre Schatten stahlen sich zueinander hin;
eine grosse Esche aber stand einsam und zeichnete Figuren auf den Schnee.
Es war sehr still; nur manchmal inzwischen kreischte und heulte es in
langgezogenen klagenden Lauten. "Was ist das?" fragte Arne.--"Das ist
die Wetterfahne", sagte Eli, und dann fuegte sie leise wie fuer sich
selbst hinzu: "Sie muss losgegangen sein." Arne aber war wie einer, der
etwas sagen wollte und es doch nicht konnte. Jetzt sagte er: "Weisst Du
noch das Maerchen von den Drosseln, die sangen?"--"Ja."--"Ach,
richtig--Du hast es ja selbst erzaehlt.----Es war ein schoenes
Maerchen."--Sie sagte mit so sanfter Stimme, dass er sie gewissermassen zum
erstenmal zu hoeren meinte: "Mir ist so oft, als singt etwas, wenn es
ganz still ist."--"Das ist das Gute in uns." Sie blickte ihn an, als
liege ein Zuviel in der Antwort; sie schwiegen hinterher auch beide.
Dann fragte sie, waehrend sie mit dem Finger auf den Scheiben malte:
"Hast Du kuerzlich ein Gedicht gemacht?" Da wurde er rot, das sah sie
aber nicht. Deshalb fragte sie noch einmal: "Wie machst Du es, wenn Du
dichtest?"--"Moechtest Du es gern wissen?"--"O ja."--"Ich achte auf die
Gedanken, die die andern sich entschluepfen lassen", antwortete er
ausweichend.--Sie schwieg lange, denn sie machte wohl die Probe auf
dieses Lied oder jenes, ob sie den Gedanken gehabt und sich hatte
entschluepfen lassen.--"Das ist doch seltsam", sagte sie wie zu sich
selbst und fing wieder an, auf den Scheiben zu malen.--"Ich habe ein
Gedicht gemacht, als ich Dich zum erstenmal sah".--"Wo war
das?"--"Drueben beim Pfarrhof an dem Abend, als Du den Hof
verliessest;--ich hab' Dich im Wasser gesehen."--Sie lachte und stand
eine Weile still: "Lass mich das Lied hoeren."--Arne hatte nie zuvor so
etwas getan; jetzt aber versuchte er, ihr das Lied vorzusingen.
"Jung Venevil huepfte auf leichtem Schuh
Ihrem Liebsten zu" usw.
Eli war ganz Ohr; sie stand noch so, als es schon lange zu Ende war.
Schliesslich rief sie: "Nein, wie schade um sie!"--"Mir ist beinahe, als
haett' ich es gar nicht selbst gemacht", sagte er: denn er war nun
verlegen, weil er es hergesagt hatte. Er konnte auch nicht begreifen,
wie er auf den Gedanken gekommen war. Er stand und sann dem Liede nach.
Da sagte sie: "Aber mir soll's doch wohl nicht so gehen?"--"Nein, nein,
nein;--ich habe eigentlich an mich selbst dabei gedacht."--"Soll es Dir
denn so ergehen?"--"Ich weiss nicht;--aber damals empfand ich so;--ja,
ich begreife es gar nicht; aber mir war damals so schwer ums
Herz."--"Das ist doch seltsam"; sie malte wieder auf den Scheiben.
Das naechste Mal, als Arne zum Mittagessen erschien, ging er zuerst ans
Fenster. Draussen war es grau und trueb, drinnen warm und gut; an die
Scheibe aber war mit dem Finger geschrieben: "Arne, Arne, Arne" und
immerzu "Arne"; das war das Fenster, wo Eli am Abend vorher gestanden
hatte.
Am Tage darauf aber kam Eli nicht hinunter; sie war krank. Sie war
ueberhaupt die ganze Zeit ueber nicht recht munter; sie sagte es selbst,
und man konnte es ihr auch ansehen.
Elftes Kapitel
Den naechsten Tag kam Arne herein und erzaehlte, was er eben auf dem Hof
erfahren hatte: naemlich dass Mathilde, die Tochter des Pfarrers, in die
Stadt gefahren sei; sie selbst glaube, nur fuer ein paar
Tage,--tatsaechlich aber solle sie ein Jahr oder zwei dort bleiben. Eli
hatte bis jetzt keine Ahnung davon; sie wurde ohnmaechtig und sank um.
Arne hatte so etwas nie vorher gesehen, und geriet in grosse Angst; er
rannte nach den Maegden, die nach den Eltern, und die aus dem Hause; der
ganze Hof geriet in Aufregung; der Schaeferhund klaeffte auf der
Scheunenbruecke. Als Arne spaeter wieder hineinkam, lag die Mutter vorm
Bett auf den Knien; der Vater stuetzte der Kranken den Kopf. Die Maegde
liefen hin und her, eine nach Wasser, eine andere nach Tropfen, die im
Schrank standen, eine dritte knoepfte der Kranken die Jacke am Hals auf.
"Gott sei Dir gnaedig!" sagte die Mutter; "es war doch nicht richtig, dass
wir nichts gesagt haben Du wolltest es ja so haben, Baard. O, Gott sei
Dir gnaedig!" Baard antwortete nicht. "Ich hab' es ja gleich gesagt, aber
nichts geschieht nach meinem Willen. Gott helfe Dir! Immer bist Du so
haesslich zu ihr, Baard. Du weisst eben nicht, wie ihr zumut ist; Du weisst
ja nicht, wie's ist, wenn man einen lieb hat!" Baard antwortete nicht.
"Sie ist nicht so wie die andern, die einen Kummer schon vertragen
koennen; sie wirft er um, die Aermste, so schmaechtig wie sie ist. Und
ueberhaupt jetzt, da sie sowieso schon nicht ganz gesund ist. Wach' doch
auf, mein Kind, wir wollen auch immer gut zu Dir sein! Wach' doch auf,
Eli, mein Kind und mach uns nicht solche Sorge!" Da sagte Baard:
"Entweder schweigst Du zuviel oder Du redest zuviel"; er sah zu Arne
hin, als moechte er nicht, dass der alles mitanhoere, und als solle er
lieber gehen. Weil aber die Maegde in der Stube blieben, so blieb Arne
auch da, doch er ging ans Fenster. Jetzt kam die Kranke soweit zu sich,
dass sie um sich schauen konnte und die Anwesenden erkannte; aber da kam
ihr auch die Erinnerung wieder, und sie schrie auf: "Mathilde!" und
brach in ein krampfhaftes Weinen und Schluchzen aus, dass es schrecklich
mitanzuhoeren war. Da suchte die Mutter sie zu beruhigen; der Vater
stellte sich so, dass sie ihn sehen konnte, aber die Kranke stiess sie
weg. "Weg!" rief sie; "ich habe Euch nicht lieb, weg!"--"Jesus Christus,
Du hast Deine Eltern nicht lieb?" sagte die Mutter.--"Nein! Ihr seid
hart gegen mich und nehmt mir die einzige Freude, die ich habe!"--"Eli,
Eli! sei nicht so heftig", bat die Mutter herzlich.--"Doch, Mutter!"
schrie sie, "einmal muss ich es sagen! Doch, Mutter! Ihr wollt mich mit
dem schrecklichen Menschen verheiraten, und ich will ihn nicht. Ihr
sperrt mich hier ein, wo ich jedes Mal froh bin, wenn ich herauskann.
Und Ihr nehmt mir Mathilde, die einzige auf der Welt, die ich lieb habe,
und nach der ich mich sehne. O Gott, was soll aus mir werden, wenn
Mathilde nicht mehr hier ist,--besonders jetzt, da ich soviel, soviel
auf dem Herzen habe, dass ich mir keinen Rat weiss, wenn ich nicht mit
einem darueber reden kann!"--"Aber Du warst ja doch jetzt seltner bei
ihr", sagte Baard.--"Was tut das, wenn ich sie drueben am Fenster weiss!"
erwiderte die Kranke und weinte wie ein Kind, so dass es Arne war, als
habe er bis zu diesem Tage noch keinen Menschen weinen hoeren.--"Du
konntest sie aber doch von hier aus nicht sehen", sagte Baard.--"Ich sah
aber das Haus", sagte sie, und die Mutter fuegte erregt hinzu: "So was
verstehst Du eben nicht." Da sagte Baard nichts mehr. "Jetzt kann ich
nie mehr ans Fenster!" sagte Eli. "Morgens, wenn ich aufstand, ging ich
hin; abends sass ich da im Mondschein, und dahin ging ich, wenn ich
weiter keinen hatte, zu dem ich gehen konnte. Mathilde, Mathilde!" Sie
wand sich im Bett und bekam wieder einen Weinkrampf. Baard setzte sich
auf einen Schemel und blickte sie an.
Eli wurde aber nicht so schnell besser, wie man wohl angenommen hatte.
Gegen Abend gewahrten sie erst, dass eine langwierige Krankheit im Anzug
war, die ihr sicher schon lange in den Gliedern gelegen hatte, und Arne
wurde hereingerufen, um sie in ihre Kammer tragen zu helfen. Sie war
ohne Bewusstsein, war sehr bleich und lag ganz still; die Mutter setzte
sich zu ihr, der Vater stand am Fussende des Bettes und sah sie lange an;
nachher ging er hinunter an seine Arbeit. Arne ging auch; aber abends
beim Schlafengehen betete er fuer sie, betete, dass sie, die so jung und
schoen war, es gut im Leben haben, und dass keiner sie um ihr Glueck
bringen moege.
Tags drauf sassen die Eltern beisammen und besprachen etwas, als Arne
hineinkam; die Mutter hatte geweint. Arne fragte, wie es gehe; beide
dachten, der andere werde antworten, und deshalb dauerte es eine ganze
Zeit, bis Antwort kam; schliesslich aber sagte der Vater: "Es geht recht
schlecht."--Spaeter erfuhr Arne, Eli sei die ganze Nacht ohne Bewusstsein
gewesen oder habe dummes Zeug geredet, wie der Vater sagte. Jetzt lag
sie in heftigem Fieber, erkannte niemand, wollte keine Speise zu sich
nehmen und die Eltern sassen eben und berieten, ob sie den Doktor holen
sollten. Als sie nachher nach oben gingen und bei der Kranken blieben
und Arne wieder allein war, hatte er die Empfindung, da oben sei Leben
und Tod zugleich; er aber sei ausgeschlossen.
Nach einigen Tagen wurde es etwas besser. Als der Vater einmal bei ihr
wachte, hatte sie den Einfall: Narrifas, der Vogel, den Mathilde ihr
geschenkt hatte, solle bei ihr vorm Bett stehen. Da sagte Baard der
Wahrheit gemaess, in all dem Wirrwarr habe man den Vogel vergessen, und er
sei gestorben. Die Mutter kam gerade in die Tuer, als Baard das erzaehlte,
und sie schrie auf: "Herrjeh, was bist Du fuer ein ruecksichtsloser
Mensch, Baard, dem kranken Kind so was zu erzaehlen! Siehst Du, da wird
sie uns wieder ohnmaechtig; Gott verzeih Dir die Suende!" Immer, wenn die
Kranke zu sich kam, rief sie nach dem Vogel, sagte, es koenne Mathilde
unmoeglich gut gehen, da der Vogel gestorben sei, wollte hin zu ihr und
fiel von neuem in Ohnmacht. Baard stand da und sah es mit an, bis es ihm
zu bunt wurde. Da wollte er auch helfen; die Mutter aber schob ihn
beiseite und sagte, sie werde schon allein auf die Kranke acht geben. Da
sah Baard sie beide lang an, schob dann mit beiden Haenden seine Muetze
zurecht, drehte sich um und ging.
Spaeter kamen der Pfarrer und seine Frau herueber, denn die Krankheit
hatte Eli mit neuer Macht gepackt, und es wurde so schlimm, dass keiner
wusste, ob es zum Leben oder zum Tode gehe.
Der Pfarrer wie auch seine Frau machten Baard Vorwuerfe, er sei zu hart
gegen das Kind; sie erfuhren die Geschichte mit dem Vogel, und da sagte
ihm der Pfarrer rund heraus, das sei eine Roheit; er wolle das Kind zu
sich ins Haus nehmen, sagte er, sobald sie hinuebergeschafft werden
koenne; die Frau Pfarrer wollte ihn zuletzt gar nicht mehr sehen, sie
weinte und sass bei der Kranken, liess den Doktor holen, nahm selbst seine
Anordnungen entgegen und kam dann taeglich einigemal herueber, um Eli
vorschriftsgemaess zu pflegen. Baard ging draussen auf dem Hof von einer
Stelle zur andern, am liebsten so, dass er allein war, stand oft lange,
lange auf einem Fleck, schob dann mit beiden Haenden seine Muetze zurecht
und nahm irgend eine Arbeit vor.
Die Mutter sprach nicht mehr mit ihm. Sie sahen sich kaum. Ein paarmal
am Tage ging er zu der Kranken hinauf; dann zog er unten auf der Treppe
die Schuhe aus, legte die Muetze draussen hin und oeffnete behutsam die
Tuer. Sowie er hereinkam, drehte Birgit sich um, als habe sie ihn nicht
gesehen, sass zusammengekauert da, den Kopf in die Haende gestuetzt und
starrte vor sich hin auf die Kranke. Die lag still und bleich und wusste
nicht, was um sie her vorging. Baard stand eine Weile am Fussende des
Bettes, sah sie beide an und sagte nichts. Wenn die Kranke sich einmal
bewegte, als wolle sie aufwachen, dann stahl er sich ebenso leise,
wieder aus der Stube, wie er gekommen war.
Oft dachte Arne, wie jetzt zwischen Mann und Frau und zwischen Kind und
Eltern Worte gefallen seien, die lange sich angesammelt hatten und
schwer wieder vergessen werden konnten. Er sehnte sich fort von hier,
obwohl er gern vorher gewusst haette, wie es Eli gehe. Das werde er ja
aber auch wohl erfahren, dachte er, ging also zu Baard und sagte, er
wolle nach Hause. Die Arbeit, um derentwillen er gekommen war, sei
fertig. Baard sass draussen auf dem Hauklotz, als Arne kam und ihm das
sagte. Er sass da, ganz gebueckt, und scharrte mit einem Pflock im Schnee;
den Pflock kannte Arne; es war derselbe, der die Wetterfahne gehemmt
hatte. Baard blickte nicht auf; er sagte: "Es ist hier wohl
augenblicklich nicht gut sein,--aber mir ist, als moecht' ich Dich nicht
fortlassen." Weiter sagte Baard nichts, und Arne auch nicht. Er blieb
eine Weile stehen, ging dann weg und nahm eine Arbeit vor, als sei es
abgemacht, dass er bleiben solle.
Spaeter, als Arne zum Essen hineingerufen wurde, sass Baard noch immer auf
dem Hauklotz. Da ging Arne zu ihm und fragte, wie es Eli heut gehe. "Es
ist wohl heute sehr schlimm," sagte Baard, "ich sah, dass ihre Mutter
weint." Arne war's, als heisse ihn einer sich hinsetzen, und er setzte
sich Baard gegenueber auf einen Baumstamm. "Ich habe in diesen Tagen viel
an Deinen Vater gedacht", sagte Baard so unvermittelt, dass Arne nichts
darauf erwidern konnte. "Du weisst wohl, was zwischen uns vorgefallen
ist?"--"Ich weiss es."--"Ja, Du weisst aber vermutlich nur die eine Haelfte
und schreibst mir die ganze Schuld zu." Arne antwortete nach einer
Weile: "Du hast doch gewiss Deinem Gott Rechenschaft darueber gegeben, wie
mein Vater jetzt auch."--"Ach ja, wie man's nehmen will", versetzte
Baard. "Als ich vorhin diesen Pflock wiederfand, kam es mir so
merkwuerdig vor, dass Du hierherkommen musstest und die Fahne losmachen. Je
eher, je besser, dachte ich." Er hatte die Muetze abgenommen und sass und
sah in sie hinein.
Arne begriff noch nicht, dass er hiermit meinte, er wolle jetzt mit ihm
ueber seinen Vater reden. Ja, er begriff es auch noch nicht, als Baard
schon im besten Zuge war, so wenig sah das Baard aehnlich. Aber was in
seinem Herzen voraufgegangen sein mochte, merkte er, je weiter die
Erzaehlung vorschritt, und hatte er vorher vor diesem schwerfaelligen,
aber grundehrlichen Menschen Achtung gehabt, so wurde sie nicht kleiner
hierdurch.
"Ich mochte wohl so vierzehn Jahr sein", sagte Baard und hielt inne, wie
bei der ganzen Erzaehlung ab und zu, sagte ein paar Worte, hielt wieder
inne, aber so, dass seine Erzaehlung ein Gepraege bekam, als sei jedes Wort
wohlerwogen. "Ich mochte wohl so vierzehn Jahr sein, als ich Deinen
Vater, der im selben Alter war, kennen lernte.--Er war sehr wild und
duldete keinen ueber sich. Und er hat es mir nie vergessen koennen, dass
ich bei der Konfirmation der erste war und er der zweite.--Oft wollte er
mit mir anbinden, aber es kam nie soweit, wahrscheinlich war keiner von
uns seiner selbst sicher.--Aber merkwuerdig ist, dass er jeden Tag eine
Pruegelei hatte und nie ein Unglueck daraus entstand; nur das eine Mal, wo
ich dazwischen kommen musste, ging es so schlimm ab, wie es nur gehen
konnte;--aber freilich: ich hatte auch sehr lange gewartet.----
Nils lief allen Maedchen nach und sie ihm. Eine bloss wollte ich haben,
aber die nahm er mir bei jedem Tanz weg, bei jeder Hochzeit, bei jedem
Fest; das war die, mit der ich jetzt verheiratet bin.------Mich packte
oft die Lust, wenn ich so dasass, mich um dieser Sache willen mit ihm zu
messen; aber ich hatte Angst, ich koenne verlieren, und wusste, dass ich
damit auch sie verlieren wuerde. Wenn alle andern fort waren, machte ich
dieselben Kraftproben, die er gemacht hatte, schnellte gegen den Balken,
gegen den er geschnellt war; aber wenn er das naechste Mal mir das
Maedchen wieder vor der Nase wegschnappte, wagte ich mich doch nicht mit
ihm einzulassen,--obgleich--einmal geschah es doch, als er naemlich
gerade vor meinen Augen mit dem Maedchen schoen tat--da nahm ich einen
ausgewachsenen Burschen und legte ihn, als sei's Kinderspiel, ueber den
Dachbalken. Damals ist er auch ganz blass geworden------
Wenn er noch gut zu ihr gewesen waere; aber er betrog sie, und das Abend
fuer Abend. Ich glaube, sie hatte ihn nach jedem Mal bloss noch
lieber.--So stand es, als das letzte geschah. Ich dachte, jetzt mag es
biegen oder brechen. Unser Herrgott hat wohl nicht gewollt, dass er es so
weitertreiben sollte, deshalb fiel er haerter, als ich gewollt
hatte.--Ich habe ihn nachher nie wiedergesehen."
Sie schwiegen eine ganze Zeit, schliesslich fuhr Baard fort:
"Ich warb wieder um sie. Sie sagte nicht ja, nicht nein, und da dachte
ich, es wuerde spaeter besser werden. Wir heirateten uns; die Hochzeit war
unten im Tal bei einer Base, die sie beerbte. Wir fingen gross an, und
unser Hab und Gut hat sich noch weiter vermehrt. Unsere Hoefe lagen
nebeneinander, und nun wurden sie vereinigt, wie es von klein auf mein
Wunsch gewesen war.--Aber vieles andere ging nicht nach meinem
Wunsch."--Er sass lange wortlos da; Arne dachte eine Weile, er weine; das
war aber nicht der Fall. Nur seine Stimme war noch sanfter denn
gewoehnlich, als er nun fortfuhr:
"Anfangs war sie still und sehr traurig. Ich konnte ihr nichts zum
Troste sagen, und so schwieg ich. Spaeter nahm sie manchmal dies unstete
Wesen an, das Du vielleicht auch bemerkt hast; es war doch wenigstens
eine Veraenderung, und so schwieg ich auch dazu.--Aber einen wirklich
frohen Tag habe ich nicht gehabt, seit ich verheiratet bin, und das sind
jetzt an die zwanzig Jahre."------
Hier brach er den Pflock in zwei Stuecke; dann sass er eine ganze Zeit und
sah die Stuecke an.
"----Als Eli heranwuchs, dachte ich, sie habe mehr Freude als hier, wenn
sie unter Fremden waere. Ich habe nur selten etwas gewollt; das meiste
ist aber schief gegangen,--und dies auch. Die Mutter sass und sehnte sich
nach dem Kinde, wenn auch nur das bisschen Wasser zwischen ihnen lag,
und schliesslich merkte ich: da drueben die Pfarre ist auch nicht das
richtige, denn die Pfarrersleute sind so recht gutmuetige Hanswurste;
aber ich merkte es zu spaet. Sie ist jetzt wohl weder Vater noch Mutter
zugetan!"
Die Muetze hatte er wieder abgenommen; jetzt fielen ihm die langen Haare
in die Augen; er strich sie weg und setzte sich mit beiden Haenden die
Muetze auf, als wolle er gehen; aber als er sich zum Haus umwandte, um
aufzustehen, blieb er noch und fuegte mit einem Blick nach dem Fenster
der Bodenkammer hinzu:
"Ich hielt es fuer das beste, Mathilde und sie naehmen nicht Abschied
voneinander;--aber das war verkehrt. Ich sagte ihr, der kleine Vogel sei
tot, denn meine Schuld war es doch, und da hielt ich es fuer richtiger,
es einzugestehen; aber das war auch verkehrt. Und so ist es mit allem.
Ich habe immer das beste gewollt, aber immer ist es zum Unsegen
geworden, und jetzt ist es soweit gekommen, dass Frau und Tochter
schlecht von mir reden und ich hier allein und verlassen herumlaufe."
Eine Magd rief zu ihnen hinauf, das Essen werde kalt. Baard stand auf.
"Ich hoere die Pferde wiehern", sagte er; "sie muessen wohl vergessen
sein"; damit ging er in den Stall, um ihnen Heu zu geben.
Zwoelftes Kapitel
Eli war sehr schwach nach ihrer Krankheit; die Mutter sass Tag und Nacht
bei ihr und kam niemals nach unten; der Vater machte oben seine
gewohnten Besuche auf Socken und legte die Muetze draussen vor der Tuer ab.
Arne war noch immer auf dem Hof; er und der Vater sassen abends zusammen;
er hatte Baard sehr liebgewonnen; Baard war ein belesener, scharf
denkender Mensch, hatte aber sozusagen Angst vor dem, was er wusste. Wenn
nun Arne ihm zurechthalf und ihm manches erzaehlte, was er noch nicht
gewusst hatte, dann war Baard sehr dankbar.
Eli durfte nun schon zuweilen auf sein, und je mehr es mit ihr vorwaerts
ging, desto mehr Einfalle hatte sie. So auch eines Abends, als Arne in
der Stube unter Elis Kammer sass und mit lauter Stimme sang: da kam die
Mutter hinunter und bestellte von Eli, er moege doch hinauf kommen und
singen, damit sie die Worte besser verstehen koenne. Arne hatte
vielleicht schon hier unten Eli zuliebe gesungen, denn als die Mutter
dies sagte, wurde er rot und stand auf, als wolle er sein Tun ableugnen,
wiewohl keiner es behauptet hatte. Er fasste sich aber schnell und sagte
ausweichend, er koenne nur so wenig singen. Die Mutter aber meinte, wenn
er allein sei, schiene das gar nicht der Fall zu sein.
Arne gab nach und ging. Er hatte Eli seit dem Tage nicht gesehen, da er
sie hatte hinauftragen helfen; er dachte, sie muesse sich jetzt sehr
veraendert haben, und das machte ihn ein bisschen aengstlich. Aber als er
leise die Tuer oeffnete und eintrat, war es stockfinster im Zimmer, und er
konnte nichts sehen. Er blieb an der Tuer stehen. "Wer ist da?" fragte
Eli leise und deutlich. "Arne Kampen", entgegnete er behutsam, damit die
Worte recht weich klaengen.--"Es ist nett, dass Du kommst."--"Wie geht es
Dir, Eli?"--"Danke, jetzt geht es besser."
"Setz' Dich doch, Arne", sagte sie eine Weile drauf, und Arne tastete
sich zu einem Stuhl hin, der am Fussende des Bettes stand. "Es tat mir
wohl, Dich singen zu hoeren, Du musst mir hier oben etwas
vorsingen."--"Wenn ich nur etwas koennte, was hierherpasste."--Es blieb
eine Zeitlang still; dann sagte sie: "Sing einen Choral!" und das tat
er, und zwar ein Stueck aus einem Konfirmationslied. Als er zu Ende war,
hoerte er sie weinen, und deshalb wagte er nicht weiter zu singen; nach
einer Weile aber sagte sie: "Sing' noch so eins", und er sang noch eins,
diesmal ein sehr bekanntes Kirchenlied. "Ueber wievieles hab' ich nicht
nachgedacht, als ich hier so lag", sagte Eli. Er wusste nicht, was er
darauf sagen solle, und hoerte ihr leises Weinen in der Dunkelheit. Eine
Uhr tickte hinten an der Wand, holte zum Schlage aus und schlug dann.
Eli atmete ein paarmal tief auf, als wolle sie ihre Brust erleichtern,
und dann sagte sie: "Man weiss so wenig, kennt weder Vater noch
Mutter.--Ich bin nicht lieb zu ihnen gewesen,--und deshalb war's mir so
eigen, jetzt das Konfirmationslied zu hoeren."
Wenn man im Dunkeln miteinander redet, ist man viel aufrichtiger, als
wenn einer des andern Gesicht sieht; man sagt auch wohl mehr.
"Das war ein gutes Wort", sagte Arne; er musste daran denken, was sie
damals gesagt hatte, als sie krank wurde. Das wusste sie, und deshalb
sagte sie: "Waere dies alles mir nun nicht geschehen, so haett' es
Gott weiss wie lange gedauert, bis ich mich zu Mutter hingefunden
haette."--"Sie hat jetzt mit Dir gesprochen?"--"Jeden Tag; weiter hat
sie nichts getan."--"Da hast Du wohl manches gehoert."--"Das
kannst Du glauben."--"Sie hat wohl auch von meinem Vater
gesprochen."--"Ja."----"Denkt sie noch an ihn?"--"Sie denkt an
ihn."--"Er ist nicht gut zu ihr gewesen."--"Arme Mutter!"--"Aber am
schlechtesten war er gegen sich selbst."
Jeder dachte etwas, was er dem andern nicht sagen mochte. Eli fand
zuerst Worte: "Du sollst Deinem Vater gleichen."--"Man sagt es",
antwortete er ausweichend; ihr fiel der Ton nicht auf, und deshalb fing
sie nach einer Weile wieder an: "Konnte er auch dichten?"--"Nein."
"Sing mir ein Lied,----eins, das Du selbst gemacht hast." Aber Arne
pflegte nicht gern zuzugeben, dass die Lieder, die er sang, von ihm
selbst waren. "Ich habe keins", sagte er. "Doch hast Du das, und Du
singst mir auch eins vor, wenn ich Dich drum bitte."--Was er fuer keinen
andern je getan haette, das tat er nun fuer sie. Er sang naemlich folgendes
Lied:
Mit Blatt und Knospen stand fertig der Baum.
"Soll ich--?" blies der Fruehfrost aus dem eisigen Raum.
"Nein, Liebster, sei lind,
Bis wir Blueten worden sind!"
So baten die Knospen tief in ihrem Traum.
Der Baum trug Blueten, die Nachtigall sang,
"Soll ich--?" rief der Wind und schuettelte sie lang'.
"Nein, lass, lieber Wind,
Bis wir Fruechte worden sind!"
So baten all die Blueten und zitterten bang.
Und der Baum reifte Fruechte in der Sommersonnenglut.
"Soll ich----?" fragte laechelnd das junge schoene Blut.
"Ja, du darfst, lieb Kind!
Nimm so viele, wie da sind!"
Sprach der Baum und beugte sein schwellendes Gut.
Das Lied benahm ihr fast den Atem. Er sass nachher auch da, als habe er
mehr gesungen, als er eigentlich wahr haben wollte.
Das Dunkel liegt schwer ueber denen, die beisammen sitzen und nicht
sprechen moegen; sie sind sich niemals naeher als gerade dann. Er hoerte
es, wenn sie sich nur regte, wenn sie nur mit der Hand ueber die Decke
strich, wenn sie nur einmal etwas tiefer atmete als gewoehnlich.
"Arne--, koenntest Du mich nicht dichten lehren?"--"Hast Du es nie
versucht?"--"Doch, jetzt in den letzten Tagen; aber ich bringe kein Lied
zustande."--"Was hast Du denn darin sagen wollen?"--"Etwas von Mutter,
die Deinen Vater so lieb hatte."--"Das ist ein schwieriger Stoff."--"Mir
sind auch darueber die Traenen gekommen."--"Du musst nicht nach Stoffen
suchen; sie kommen von selbst."--"Wie denn?"--"Wie alles Liebe: wenn Du
es am wenigsten erwartest."--Sie schwiegen beide. "Mich wundert, Arne,
dass Du Dich von hier fortsehnst, wo Du doch soviel Schoenes in Dir
hast."--"Weisst Du denn, dass ich mich fortsehne?"--Sie antwortete nicht;
sie lag ganz still wie in Gedanken. "Arne, Du darfst nicht fort!" sagte
sie, und das ging ihm warm zu Herzen.--"Manchmal hab' ich auch weniger
Lust dazu."--"Deine Mutter muss Dich sehr lieb haben. Ich moechte Deine
Mutter einmal sehen!"--"Komm doch mal nach Kampen, wenn Du erst wieder
gesund bist." Und da stellte er sie sich auf einmal vor, wie sie in
Kampen in der hellen Stube sass und auf die Berge schaute; sein Herz fing
zu klopfen an, und das Blut schoss ihm ins Gesicht. "Es ist warm hier
drinnen", sagte er und stand auf.
Sie hoerte es. "Willst Du schon gehen?" sagte sie, und er setzte sich
wieder.
"----Du musst oefter zu uns kommen;--Mutter hat Dich so lieb."--"Ich
selbst moechte auch gern;--aber ich muss doch ein Gewerbe treiben."--Eli
schwieg eine Weile, als denke sie nach. "Ich glaube," sagte sie, "Mutter
wollte Dich um etwas bitten----"
Er hoerte, wie sie sich im Bett aufrichtete. Kein Laut war in der Kammer
zu hoeren und auch unten nicht, ausser der Uhr, die an der Wand tickte. Da
stiess sie heraus:
"Wollte Gott, es waere Sommer!"
"Es waere Sommer!" Und vor seiner Phantasie erstanden Bilder von feuchtem
Laub und Herdengelaeut, von Jodeln auf Bergeshoehen und Gesang in den
Taelern. Der Schwarze See lag und schimmerte in der Sonne und die Gehoefte
wiegten sich drin. Eli kam heraus und setzte sich draussen hin wie an
jenem Abend. "Wenn es Sommer waere," sagte sie, "und ich auf dem Huegel
saesse, glaube ich ganz bestimmt, ich koennte ein Lied dichten!"
Er lachte und fragte: "Wovon sollte es denn handeln?"--"Von etwas
Leichtem, von--ja, ich weiss selbst nicht."
"Sag' es, Eli!" er stand vor Freude auf, ueberlegte aber und setzte sich
wieder.
"Das sag' ich Dir um keinen Preis der Welt!"--lachte sie.--"Ich habe Dir
doch was vorgesungen, als Du mich drum batest."--"Das ist wahr;--aber
nein, nein!"--"Eli, glaubst Du, ich mache mich ueber den kleinen Vers
lustig, den Du gedichtet hast?"--"Nein, das glaube ich nicht, Arne;
aber ich hab' ihn nicht selbst gemacht."--"Ist er von einem
andern?"--"Ja, es ist mir so zugeweht."--"So kannst Du es mir doch
sagen."--"Nein, nein, so ist es ja auch nicht, Arne; quael' mich nicht
laenger." Sie barg wohl den Kopf im Kissen, denn das letzte war kaum zu
hoeren. "Eli, jetzt bist Du nicht so nett zu mir, wie ich zu Dir gewesen
bin!" er stand auf. "Arne, das ist doch etwas ganz anderes!--Du
verstehst mich nicht!--aber es war--ich weiss selbst nicht--ein
andermal--sei mir nicht boese, Arne! geh nicht fort!" sie fing zu weinen
an.
"Eli, was ist Dir?" er lauschte. "Bist Du krank?" das glaubte er selbst
nicht. Sie weinte noch immer; ihm war, er muesse jetzt entweder vorwaerts
oder zurueck. "Eli!"--"Ja"; sie fluesterten beide. "Gib mir die Hand!" Sie
antwortete nicht; er lauschte angestrengt, gespannt,--tastete ueber die
Decke und fasste eine kleine, warme Hand, die frei lag.
Da knarrte die Treppe, und sie liessen sich los. Es war die Mutter mit
Licht. "Ihr sitzt auch zu lange im Dunkeln", sagte sie und stellte den
Leuchter auf den Tisch. Aber weder Eli noch er konnten das Licht
vertragen; sie vergrub das Gesicht in den Kissen, er hielt sich die Hand
vor die Augen. "Ach ja, es tut zuerst ein bisschen weh", sagte die
Mutter, "aber das geht vorueber."
Arne suchte auf dem Fussboden nach seiner Muetze, die er gar nicht bei
sich gehabt hatte, und dann ging er.
Tags darauf hoerte er, Eli werde am Nachmittag ein bisschen
herunterkommen. Er packte sein Handwerkszeug zusammen und verabschiedete
sich. Als sie nach unten kam, war er fort.
Dreizehntes Kapitel
Spaet kommt der Fruehling in die Berge. Die Post, die den Winter dreimal
in der Woche den Koenigsweg entlang faehrt, geht schon im April nur noch
einmal, und dann fuehlen die Bergbewohner, dass draussen der Schnee fort
und das Eis gebrochen ist, dass die Dampfer verkehren und der Pflug die
Erde aufwuehlt. Hier liegt der Schnee noch drei Ellen hoch; das Vieh
bruellt in den Staellen, und die Voegel kommen geflogen, verkriechen sich
aber und frieren. Ab und zu erzaehlt ein Wanderer, er habe seinen Wagen
unten im Tal gelassen, und er hat Blumen mit und zeigt sie; die hat er
am Wegrand gepflueckt. Da faehrt eine Unruhe in die Leute dort oben; sie
gehen umher und plaudern, schauen nach der Sonne aus und ueber das Land
hin, wieviel sie wohl taeglich schaffe. Sie streuen Asche auf den Schnee
und denken an die Menschen, die jetzt Blumen pfluecken.
In solcher Zeit war's, als die alte Margit Kampen zur Pfarre gegangen
kam und den Herrn Pfarrer sprechen wollte. Und sie wurde in sein
Arbeitszimmer hinaufgefuehrt, wo der Pfarrer, ein schmaechtiger,
hellblonder Mann, die grossen Augen hinter einer Brille, sie freundlich
empfing, sie gleich erkannte und sie bat, Platz zu nehmen. "Ist es
wieder was mit Arne?" fragte er, als haetten sie schon haeufiger ueber
diesen Fall gesprochen. "Ja, Gott helfe mir," sagte Margit, "ich kann ja
nie was andres als gutes von ihm sagen, und doch ist es so schwer"; sie
sah sehr sorgenvoll aus. "Ist denn wieder die alte Sehnsucht ueber ihn
gekommen?" fragte der Pfarrer. "Schlimmer als je", sagte die Mutter.
"Ich glaube nimmer, dass er bei mir bleibt, wenn der Fruehling
kommt."--"Er hat doch versprochen, Dich nie zu verlassen."--"Freilich;
aber Herrgott,--er weiss sich ja selbst keinen Rat; wenn ihm der Sinn in
die Welt steht, muss er eben gehen. Was soll dann aber aus mir werden?"
"Ich glaube, schliesslich wird er Dich doch nicht allein lassen", sagte
der Pfarrer. "Nein, natuerlich; aber wenn er es nun zu Hause nicht
aushalten kann? Soll ich es da auf mein Gewissen laden, ihm im Wege zu
stehen; manchmal denke ich, ich muesse ihn selbst bitten zu reisen."
"Woher weisst Du, dass er jetzt noch groessere Sehnsucht hat als
frueher?"--"Ach,--aus vielen Dingen. Seit dem Mittwinter hat er keinen
einzigen Tag mehr im Dorf gearbeitet. Dagegen ist er dreimal nach der
Stadt gefahren und jedesmal lange weggeblieben. Er spricht fast nie,
wenn er arbeitet, und das hat er doch sonst oft getan. Er kann
stundenlang allein oben an dem kleinen Bodenfenster sitzen und nach den
Bergen schauen, dorthin, wo die Kampenschlucht ist; da kann er Sonntags
den ganzen Nachmittag sitzen, und oft, wenn es mondhell ist, bleibt er
dort bis tief in die Nacht hinein."--"Liest er Dir nie etwas
vor?"--"Natuerlich, jeden Sonntag liest er mir vor und singt, aber immer
so ein bisschen in Eile, ausser wenn er beinahe zu viel des Guten
tut."--"Spricht er dann nie mit Dir?"--"Oft macht er so lange Pausen,
dass ich heimlich vor mich hinweine. Das sieht er dann und faengt zu reden
an, aber immer von den leichten Dingen, nie von den schwereren." Der
Pfarrer ging auf und ab, dann blieb er stehen und fragte: "Warum sagst
Du ihm das nicht?"--Es dauerte lange, bis sie hierauf etwas antwortete;
sie seufzte ein paarmal, schaute zu Boden und zur Seite und faltete ihr
Taschentuch zusammen. "Ich bin heute hergekommen, um mit dem Herrn
Pfarrer ueber etwas zu reden, was mir schwer auf der Seele
liegt."--"Sprich frei heraus; es wird Dich erleichtern."--"Ja, es wird
mich erleichtern; denn ich habe es jetzt viele Jahre lang allein mit mir
herumgeschleppt, und es wird mit jedem Jahre schwerer."--"Was ist es,
liebe Frau?"--Sie zoegerte eine Weile, dann sagte sie: "Ich habe eine
grosse Suende an meinem Sohn begangen", sie fing zu weinen an. Der Pfarrer
trat dicht vor sie hin: "Gesteh' sie mir, dann wollen wir zusammen zu
Gott beten, dass sie Dir vergeben werde."
Margit schluchzte und wischte sich die Traenen ab, sie fing aber wieder
zu weinen an, als sie sprechen wollte, und so geschah es noch ein
paarmal. Der Pfarrer troestete sie und sagte, es koenne doch gewiss keine
so grosse Schuld sein, sie sei wohl zu streng gegen sich usw. Margit
aber weinte und hatte nicht den Mut, zu beginnen, bis der Pfarrer sich
neben sie setzte und ihr gut zuredete. Da kam es denn allmaehlich aus ihr
heraus: "Der Junge hat es als Kind schlecht gehabt, und da hat er die
Wanderlust bekommen. Dann kam er mit Kristian zusammen, mit dem, der
jetzt drueben beim Goldgraben schwer reich geworden ist. Kristian gab
Arne so viele Buecher, dass er anders wurde als wir; sie sassen naechtelang
zusammen, und als Kristian fortging, wollte der Junge ihm nach. Zu der
Zeit aber kam sein Vater ums Leben, und der Junge versprach, mich nie zu
verlassen. Mir war zumut wie einer Henne, die ein Entenei ausgebruetet
hat; als das Junge Luft gekriegt hatte, wollte es fort aufs grosse
Wasser, und ich lief schreiend am Ufer hin und her. Konnte er auch
selbst nicht fort, so konnten es doch seine Lieder, so dass ich jeden
Morgen glaubte, sein Bett muesse leer sein.
Da geschah es, dass ein Brief aus sehr weiter Ferne fuer ihn eintraf, und
der musste von Kristian sein. Gott verzeihe mir, dass ich ihn an mich nahm
und ihn versteckte. Ich dachte, hiermit habe es sein Bewenden, aber da
kam noch einer, und hatte ich den ersten versteckt, so musste ich auch
den andern verstecken. Aber war es nicht, als wollten die Briefe ein
Loch in die Truhe brennen, in der sie lagen,--denn denken musste ich
dran, sowie ich die Augen aufschlug, bis ich sie wieder zumachte. Was
Verkehrteres gab es auf der Welt nicht wieder,--es kam noch ein dritter!
Den habe ich wohl eine Viertelstunde in der Hand gehalten; ich trug ihn
drei Tage lang auf der Brust und ueberlegte hin und her, ob ich ihm wohl
den Brief geben oder ob ich ihn zu den andern legen solle; aber
vielleicht war er maechtig genug, den Jungen von mir fortzulocken,----ich
konnte nichts dafuer, aber ich legte ihn zu den andern. Jetzt ging ich
taeglich angstvoll um die Truhe herum und dachte an die Briefe, die noch
kommen konnten. Vor jedem Menschen, der auf den Hof kam, hatte ich
Angst; sassen wir in der Stube, und einer fasste an die Tuerklinke, dann
zitterte ich; denn es konnte doch ein Brief sein, und dann wuerde er ihn
bekommen. Wenn er im Dorf war, lief ich zu Hause herum und dachte, jetzt
kriegt er da draussen vielleicht einen Brief, und darin steht von denen,
die schon vorher angelangt sind! Wenn er nach Hause kam, forschte ich
schon von weitem in seinem Gesicht, und Herrgott, wie war ich froh, wenn
er laechelte, weil er ja dann nichts bekommen hatte! Er war jetzt auch so
huebsch geworden wie sein Vater, nur blonder und sanfter. Und dann hatte
er eine so schoene Stimme;--wenn er draussen vor der Tuer in der Abendsonne
sass, zu den Halden hinaufsang und auf die Antwort lauschte, dann fuehlte
ich, dass ich ihn nicht entbehren konnte!--Wenn ich ihn bloss sah oder
doch wusste, er war irgendwo in der Naehe und freute sich ueber irgend
etwas, und er hatte nur manchmal inzwischen ein gutes Wort fuer mich,
dann wuenschte ich mir nichts mehr auf der Welt und ich bereute keine
Traene, die ich geweint hatte.
Aber gerade als es schien, er fuehlte sich wohler und ginge lieber unter
Menschen, da kam ein Bote von der Posthalterei, jetzt sei der vierte
Brief gekommen, und darin seien zweihundert Taler!--Ich dachte, ich
sollte auf der Stelle umsinken: Was sollte ich jetzt tun? Den Brief
konnte ich ja beiseite schaffen, aber das Geld? Ich fand ein paar Naechte
keinen Schlaf wegen dieses Geldes; ich hatte es manchmal auf dem Boden,
manchmal im Keller hinter einer Tonne, und einmal war ich so
verzweifelt, dass ich es vors Fenster legte, wo er es finden konnte. Als
ich ihn kommen hoerte, nahm ich es doch wieder fort. Schliesslich aber
fand ich einen Ausweg: ich gab ihm das Geld und sagte, es habe von
Mutters Lebzeiten her noch ausgestanden. Er vergrub es in die Erde, wie
ich mir gedacht hatte, und da kam es nicht weg. Aber dann musste es
geschehen, dass er gerade in dem Herbst eines Abends dasass und sich
wunderte, dass Kristian ihn so ganz vergessen habe!
Da brach die Wunde wieder auf, und das Geld brannte mir auf der Seele;
Suende war es, und genuetzt hatte die Suende nichts!
Eine Mutter, die sich an ihrem Kind versuendigt, ist die ungluecklichste
aller Muetter;--und doch hab' ich es nur aus Liebe getan.--So soll ich
wohl auch damit gestraft werden, dass ich mein Liebstes verliere. Denn
seit dem Mittwinter hat er die Weise wiedergefunden, die er singt, wenn
er sich hinaussehnt; die hat er von Kind an gesungen, und ich kann sie
nicht hoeren, ohne zu erbleichen. Dann bin ich zu allem moeglichen
imstande, und hier sollst Du sehen,"--sie holte ein Stueck Papier aus
ihrem Mieder, faltete es auseinander und gab es dem Pfarrer, "hier ist
etwas, woran er zuweilen schreibt; das geht gewiss nach der Melodie. Ich
habe es mitgebracht, weil ich solch feine Schrift nicht lesen kann; sieh
doch zu, ob da etwas vom Wandern drin steht.--"
Es stand nur eine Strophe auf dem Papier. Von der zweiten Strophe hier
eine ganze und dort eine halbe Zeile, als sei es eine Weise, die er
vergessen hatte, und die ihm jetzt Vers fuer Vers wieder einfiel. Der
erste Vers aber lautete:
Koennt', o koennt' ich hinueber schaun
Ueber die hohen Berge!
Seh' nur immer den Gletscher blaun,
Rings die Waelder empor sich baun.
Ob sie die Gipfel stuermen,
Die sich wie Burgen tuermen?
"Steht was vom Wandern drin?" fragte Margit und hing an den Augen des
Pfarrers. "Ja, vom Wandern ist es", antwortete er und liess das Blatt
sinken. "Wusst' ich's doch! O Gott, ich kannte die Melodie ja!" Mit
gefalteten Haenden sass sie da und schaute den Pfarrer an, bang und
gespannt, waehrend eine Traene nach der andern ihr ueber die Backen lief.
Aber hier wusste der Pfarrer ebensowenig Rat wie sie. "Das muss der
Bursch mit sich allein abmachen", sagte er. "Das Leben wird um
seinetwillen nicht anders; es kommt nur darauf an, ob er selbst einmal
mehr darin sehen kann. Jetzt scheint er es draussen erjagen zu
wollen."--"Aber, Herr Pfarrer, das ist ja gerade wie mit der Frau",
sagte Margit.--"Mit welcher Frau?" fragte der Pfarrer.--"Ja, die sich
den Sonnenschein einfangen wollte, statt sich ein Fenster in die Wand zu
machen."--Der Pfarrer war erstaunt ueber ihren Scharfsinn; aber es war
nicht das erstemal, wenn sie auf diesen Gegenstand kam. Margit hatte ja
sieben, acht Jahre lang an weiter nichts gedacht. "Meinst Du, dass er
fortgeht? Was soll ich tun? Und das Geld? Und die Briefe?" Das alles
stuermte zu gleicher Zeit auf sie ein. "Ja, die Sache mit den Briefen war
nicht recht. Dass Du ihm etwas vorenthalten hast, was ihm gehoert, ist
schwer zu entschuldigen. Schlimmer aber ist noch, dass Du einen
Mitchristen Deinem Sohn gegenueber in ein schlechtes Licht gesetzt hast,
einen, der es nicht verdient hat, und besonders einen, den er sehr lieb
hatte, und der ihm auch herzlich zugetan war. Wir wollen Gott bitten,
dass er Dir verzeiht; wir wollen ihn beide bitten." Margit senkte den
Kopf; sie hatte noch immer die Haende gefaltet: "Wie wollte ich ihn um
Verzeihung bitten, wenn ich nur erst wuesste, ob er bleibt!"--Sie
verwechselte wohl den lieben Gott mit Arne. Der Pfarrer tat, als merke
er es nicht. "Moechtest Du es ihm jetzt gleich eingestehen?" fragte er.
Sie schaute unverwandt zu Boden und sagte leise: "Wenn ich noch ein
wenig warten koennte, taete ich es gern." Sie sah nicht, wie der Pfarrer
laechelte; er fragte: "Glaubst Du nicht, Deine Suende wird groesser, je
laenger Du mit dem Eingestaendnis zoegerst?"--Sie hatte mit beiden Haenden
an ihrem Taschentuch zu tun, legte es in ein ganz kleines Viereck
zusammen und versuchte, es noch kleiner zu machen; aber es wollte nicht
gehen: "Ich habe Angst, wenn ich die Geschichte mit den Briefen
eingestehe, dann zieht er fort."--"Du vertraust also nicht auf
Gott?"--"Doch, natuerlich", sagte sie schnell; dann fuegte sie leise
hinzu: "Aber wenn er mich nun doch verliesse?"--"Du hast also mehr Angst
davor, dass er fortgeht, als davor, in Deiner Suende zu verharren?" Margit
hatte ihr Taschentuch wieder auseinandergenommen; sie fuehrte es jetzt an
die Augen, denn ihr kamen die Traenen. Der Pfarrer aber sass eine Weile
und betrachtete sie; dann sprach er weiter: "Warum hast Du mir denn die
ganze Geschichte erzaehlt, wenn Du nicht irgendeinen Zweck damit
verbinden wolltest?" Er wartete eine ziemliche Weile, aber sie
antwortete nicht. "Hattest Du vielleicht geglaubt, Deine Suende wuerde
kleiner, nachdem Du sie gebeichtet?"--"Das glaubte ich", sagte sie
leise, den Kopf noch tiefer auf die Brust gesenkt. Der Pfarrer laechelte
und stand auf. "Ja, ja, meine gute Margit, Du musst so handeln, dass Du
auf Deine alten Tage Freude davon hast."--"Koennte ich nur die Freude
behalten, die ich habe", sagte sie, und der Pfarrer dachte, sie koenne
sich kein groesseres Glueck denken, als in dieser bestaendigen Angst zu
leben. Er laechelte, waehrend er sich seine Pfeife stopfte. "Wenn hier
doch ein kleines Maedchen waere, das sich ihn eroberte; dann solltest Du
sehen, er bliebe!"--Sie sah rasch auf und folgte dem Pfarrer mit den
Augen, bis er vor ihr stehen blieb: "Eli Boeen--? Was?" Sie wurde rot und
blickte wieder zu Boden; aber sie antwortete nicht. Der Pfarrer stand da
und wartete und sagte schliesslich, diesmal aber ganz leise: "Wenn wir es
so einrichteten, dass sie oefter hier im Pfarrhaus zusammenkaemen?" Sie
blinzelte zu dem Pfarrer hinauf, um zu sehen, ob es ihm auch voller
Ernst sei. Aber sie wagte nicht so recht, daran zu glauben. Der Pfarrer
setzte sich wieder in Bewegung, stand dann aber still: "Hoer' mal,
Margit! Wenn man's bei Licht besieht, war das am Ende Dein ganzes
Anliegen heute?"--Sie sah zu Boden, steckte ein paar Finger in das
zusammengefaltete Taschentuch und holte einen Zipfel hervor: "Nun ja,
Gott verzeih mir's: das wollte ich ja gerade."--Der Pfarrer brach in ein
herzliches Lachen aus und rieb sich die Haende: "Vielleicht wolltest Du
das schon, als Du das letztemal hier warst?"--Sie zog den Zipfel weiter
heraus, zerrte und zupfte daran: "Da Du es nun doch mal sagst,--ja, das
war es."--"Haha, haha! O Margit, Margit!----Na, wir wollen sehen, was
sich machen laesst; denn, dass ich's nur gestehe, meine Frau und meine
Tochter haben schon laengst denselben Gedanken gehabt wie Du."--"Ist es
moeglich?" Sie blickte so gluecklich und so verschaemt zugleich auf, dass
der Pfarrer so recht seine Freude an ihrem offnen, huebschen Gesicht
hatte, auf dem sich in allem Leid und aller Angst das Kind erhalten
hatte. "Ja, ja, Margit, Dir, die soviel Liebe in sich hat, wird auch von
Deinem Gott und Deinem Sohn um Deiner Liebe willen vergeben werden, was
Du getan hast. Du bist ja auch genug gestraft durch die staendige grosse
Angst, in der Du gelebt hast; wir werden jetzt sehen, ob Gott ihr ein
schnelles Ende bereiten will, denn will er das, dann hilft er uns jetzt
auch ein wenig." Sie stiess einen langen Seufzer aus und noch einen und
noch einen, bedankte sich, knixte und ging und knixte an der Tuer noch
einmal. Aber sie war kaum draussen, als sie ganz veraendert war. Sie sah
mit einem schnellen, vor Dankbarkeit strahlenden Blick zum Himmel auf
und stieg eilig die Treppe hinunter; immer mehr beeilte sie sich, je
weiter sie sich von den Menschen entfernte, und so leichtfuessig, wie sie
an diesem Tage auf Kampen zuschritt, war sie seit vielen, vielen Jahren
den Weg nicht mehr gegangen. Als sie so nahe gekommen war, dass sie sehen
konnte, wie der Rauch dicht und lustig aus dem Schornstein aufstieg,
segnete sie das Haus und den ganzen Hof und den Pfarrer und Arne, und
dann fiel ihr ein, dass es ja Rauchfleisch zu Mittag gab, ihr
Lieblingsessen.
Vierzehntes Kapitel
Kampen war ein schoener Hof; er lag mitten in der Ebene, die unten von
der Kampenschlucht, oben von der Dorfstrasse begrenzt wurde; jenseits vom
Wege war dichter Wald, weiter oben erhob sich die Bergwand, und
dahinter standen schneebedeckt die blauen Hoehen. Auf der andern Seite
der Kampenschlucht war ebenfalls ein breiter Hoehenzug, der im Anfang
sich um den ganzen Schwarzen See an der Seite hinzog, wo Boeen lag, nach
Kampen zu hoeher wurde, aber gleichzeitig beiseite trat vor der breiten
Talsenkung, dem Niederdorf, das hier unten anfing; denn Kampen war der
letzte Hof im Oberdorf.
Die Haupttuer des Wohnhauses ging auf den Weg hinaus; von ihr bis zur
Strasse mochten ein paar tausend Schritt sein; ein Fusssteig mit dichten
Birken zu beiden Seiten fuehrte hinauf. Rechts und links von dem Rodeland
lag Wald; Aecker und Wiesen des Hofes konnten nach Belieben vergroessert
werden; es war in jeder Hinsicht eine vorzuegliche Ackerwirtschaft. Vorm
Hause lag ein kleiner Garten. Arne bestellte ihn nach der Anleitung
seiner Buecher; links vom Hause befanden sich die Viehstaelle und die
andern Wirtschaftsgebaeude; sie waren fast alle neu errichtet und
bildeten mit dem Wohnhaus ein Viereck. Das Wohnhaus war rotgestrichen,
mit weissen Fensterrahmen und Tueren, hatte zwei Stockwerke, war mit Torf
gedeckt, und auf dem Dach wuchs allerlei Buschwerk; der eine Giebel trug
eine Stange, auf der sich ein eiserner Hahn mit hohem Schweif drehte.
Der Fruehling war in die Gebirgsdoerfer gekommen; es war ein
Sonntagmorgen, die Luft etwas trueb, aber ruhig und nicht kalt; der Nebel
hing dicht ueber dem Walde, aber Margit meinte, er werde sich im Lauf des
Tages lichten. Arne hatte seiner Mutter die Predigt vorgelesen und
Choraele gesungen, und das hatte ihm gut getan; jetzt war er in vollem
Staat, um nach dem Pfarrhaus hinaufzugehen. Er machte die Tuer auf, der
frische Laubgeruch schlug ihm entgegen, der Garten war taufrisch und
beugte sich unter dem Morgennebel, von der Kampenschlucht her aber
brauste es mit starkem, stossweisem Donnern, dass einem Hoeren und Sehen
verging.
Arne schritt bergan. Je weiter er sich vom Wasserfall entfernte, desto
mehr verlor das Gedroehn alles Grauen und legte sich zuletzt wie ein
tiefer Orgelton ueber die ganze Landschaft.
"Gott sei mit ihm auf allen Wegen!" sagte die Mutter, sie oeffnete das
Fenster und sah ihm nach, bis die Buesche ihn verdeckten. Der Nebel
lichtete sich immer mehr, die Sonne brach durch, auf den Feldern und im
Garten wurde es lebendig; dort sprosste Arnes Werk in frischem Wachstum
und trug der Mutter Duft und Freude zu. Der Fruehling ist schoen fuer
einen, der einen langen Winter gehabt hat.
Arne hatte nichts Bestimmtes in der Pfarre zu tun; er wollte nur nach
den Zeitungen fragen, die er mit dem Pfarrer zusammen hielt. Kuerzlich
hatte er die Namen einiger Norweger gelesen, die es durch Goldgraben in
Amerika zu etwas gebracht hatten, und unter diesen war auch Kristian
gewesen. Jetzt war zu Arne das Geruecht gedrungen, Kristian werde zu
Hause erwartet. Hierueber wuerde er auch wohl oben in der Pfarre Sicheres
erfahren,--und verhielt es sich wirklich so, dass Kristian schon jetzt in
der Stadt war, dann wollte Arne in der Zeit zwischen der
Fruehjahrsbestellung und der Heuernte zu ihm hin. Daran musste er denken,
bis er an die Stelle gekommen war, wo er den Schwarzen See und drueben am
andern Ufer Boeen ueberblicken konnte. Auch da lichtete sich der Nebel,
die Sonne spielte auf den Haengen, die Berge hatten helle Spitzen, trugen
aber den Nebel noch in ihrem Schoss; an der rechten Seite verdunkelte der
Wald das Wasser, vor den Haeusern aber war es etwas seichter, und da
schimmerte der weisse Sand in der Sonne. Mit einem Schlage waren seine
Gedanken in dem rotgetuenchten Hause mit den weissen Tueren und
Fensterrahmen, wonach er sein eigenes gestrichen hatte. Er dachte nicht
an die ersten schweren Tage, die er dort gehabt, er dachte bloss an den
Sommer, den sie beide vor sich gesehen hatten, er und Eli, dort oben an
ihrem Krankenbett. Seitdem war er nicht wieder dagewesen seitdem wollte
er auch nicht mehr hin, um alles in der Welt nicht. Wenn seine Gedanken
nur dran ruehrten, wurde er rot und verlegen, und doch geschah das jeden
einzigen Tag und viele Male am Tage, und wenn ihn etwas aus dem Dorf
vertreiben konnte, so war es gerade dies.
Er ging sehr schnell, als wolle er die Staette weit hinter sich lassen;
aber je weiter er ging, desto naeher hatte er Boeen vor sich, und desto
haeufiger sah er auch hinueber. Der Nebel war ganz verschwunden, der
Himmel klar von einer Bergkette zur andern, Voegel schwebten in der
sonnenfrohen Luft und riefen sich zu, die Felder antworteten mit
Millionen von Blumen; kein Wasserfall zwang die Freude aufs Knie wie zu
andaechtiger Unterwerfung, nein, lebensfroh, hingerissen sang, blinkte
und jubelte sie himmelwaerts ohn' Ende!
Arne hatte sich gluehendheiss gelaufen; er warf sich am Fuss einer Anhoehe
ins Gras, blickte nach Boeen hinueber und drehte sich auf die Seite, um
nicht laenger dahinzusehen. Da hoerte er ueber sich singen, so rein, wie er
nie zuvor hatte singen hoeren; es jauchzte hin ueber die Wiese durch das
Vogelgezwitscher, und ehe er noch die Melodie recht erkannte, verstand
er schon die Worte; denn das war die Melodie, die ihm die liebste war,
und auch die Worte waren es, die er von Kind an in sich getragen
hatte,--und die er am selben Tage vergass, als er sie endlich geformt
hatte! Er sprang auf, als wolle er sie haschen, blieb aber stehen und
lauschte; der erste Vers, der zweite, der dritte, der vierte von seinem
eigenen vergessenen Liede schwebte zu ihm hernieder:
Koennt', o koennt' ich hinueber schaun
Ueber die hohen Berge!
Seh' nur immer den Gletscher blaun,
Rings die Waelder empor sich baun.
Ob sie die Gipfel stuermen,
Die sich wie Burgen tuermen?
Adler schweben mit starkem Schlag
Ueber die hohen Berge,
Rudern im jungen, kraftvollen Tag,
Senken zu Tal sich, wo jeder mag,
Stillen ihr schweifend Gelueste,
Spaehn nach der fremdesten Kueste.
Laubschwerer Apfelbaum, den nichts zieht
Ueber die hohen Berge,--
Der da blueht, wenn der Winter flieht,
Der es traegt, wenn der Sommer schied;--
Was deine Voegel singen,
Bleibt dir ein taubes Klingen.
Wer sich seit zwanzig Jahren gesehnt
Ueber die hohen Berge,
Wer die Arme sich wund gedehnt,
Fruchtlos immer sich aufgelehnt,
Hoert, was die Voegel singen,
Die deine Zweige tragen.
Toerichte Schwaetzer, was kamt ihr hierher
Ueber die hohen Berge,
Liesst eure Nester da draussen leer,
Floehet von Sonne, Menschen, Meer,--
Nur dass ihr einen verlachtet,
Der hier schwingenlos schmachtet?
Soll ich denn niemals, niemals fort
Ueber die hohen Berge,--
Bis mich entseelt dieser Schreckensort,
Bis er vereist mir mein letztes Wort?
Bis sie nach Hangen und Harren
Mich hier im Keller verscharren!
Lasst mich hinaus! o weit, weit, weit
Ueber die hohen Berge!
Hier tropft traege wie Blei die Zeit,
Und mein Mut so nach Leben schreit,--
Lasst ihn zur Sonne, zum Hellen,
Nicht an der Felswand zerschellen!
_Einmal_, das weiss ich, da reicht es hinaus
Ueber die hohen Berge.
Wartest du, Herr, schon im Himmelshaus?
Hast schon dein Wort fuer mein Trachten kraus?
Doch--wenn das Tor noch nicht offen,
Lass mich ein Weilchen noch hoffen!
Arne stand, bis der letzte Vers, das letzte Wort verklungen war. Wieder
hoerte er die Voegel schaekern und lachen, doch er wagte sich nicht zu
ruehren. Wissen, wer es war, musste er aber; er hob den Fuss und schlich so
behutsam, dass nicht einmal das Gras raschelte. Ein kleiner Schmetterling
setzte sich gerade vor seinem Fuss auf eine Blume, flatterte in die Hoehe,
flog ein kleines Stueck weiter, flatterte wieder in die Hoehe, flog wieder
ein kleines Stueck und flatterte wieder hoch und so ging es den ganzen
Abhang, den er hinaufklomm. Dann kam ein dichtes Gebuesch, und er wollte
nicht weiter, denn jetzt konnte er alles sehen; ein Vogel flog
aufgeschreckt aus dem Busch auf, kreischte und schwebte ueber den Abhang
weg; da blickte das Maedchen auf, das dort sass; er duckte sich tief zur
Erde und hielt den Atem an, das Herz klopfte ihm, er hoerte jeden Schlag,
er lauschte und wagte kein Blatt anzuruehren; denn das war sie ja,--war
Eli!--Nach langer, langer Zeit sah er ein klein wenig in die Hoehe und
waere gar zu gern einen Schritt naeher gegangen; aber der Vogel konnte
unter dem Busch sein Nest haben, und das durfte er nicht zertreten. Er
lugte also durch die Blaetter, je nachdem sie zur Seite wehten oder sich
zusammenschlossen. Die Sonne fiel voll auf Eli; sie sass da in einem
schwarzen, aermellosen Kleid und hatte einen Strohhut auf dem Kopf, der
einem Jungen gehoeren musste; er sass nicht fest und rutschte immer nach
einer Seite. Auf dem Schoss hatte sie ein Buch, ausserdem aber einen
grossen Haufen Feldblumen; ihre rechte Hand spielte wie in Gedanken
damit, die linke hatte sie aufs Knie gestuetzt, und ihr Kopf ruhte darin.
Sie blickte nach der Richtung, wohin der Vogel geflogen war, und es war
ungewiss, ob sie geweint hatte.
Etwas Schoeneres hatte Arne sein Lebtag weder gesehen, noch ertraeumt; die
Sonne warf aber auch all ihr Gold ueber sie und ueber die Staette, wo sie
sass, und das Lied umschwebte sie, wiewohl es laengst ausgesungen war, so
dass seine Gedanken und sein Atem, ja, sogar sein Herzschlag im Takte
danach gingen.
Sie nahm das Buch und schlug es auf, machte es aber schnell wieder zu
und sass wie zuvor, waehrend sie anfing, leise vor sich hinzusummen. Es
war das Lied: "Mit Blatt und Knospen stand fertig der Baum"--er hoerte
es, obwohl sie weder die Worte, noch die Melodie genau behalten hatte
und sich oftmals irrte. Den letzten Vers konnte sie noch am besten,
deshalb fing sie ihn immer wieder von vorn an; aber sie sang ihn so:
Und der Baum trug Fruechte, reif schimmernd wie Gold.
Sie seufzte: "Die moecht' ich!" Sie war just so hold.
"Die alle, o ja,
Fuer dich sind sie da!"
Sprach der Baum--trala, la, la, hold!--
Und dann ploetzlich sprang sie auf, schuettete alle Blumen hin, juchzte,
dass der Klang durch die Luft schmetterte und bis Boeen dringen mochte.
Und dann lief sie davon!----Sollte er rufen? Nein!--Da sprang sie schon
singend und traellernd den Huegel hinunter; ihr fiel der Hut ab, sie nahm
ihn wieder auf, jetzt stand sie mitten im hohen Grase.--"Soll ich rufen?
Sie sieht sich um!"----Er duckte sich tiefer. Lange dauerte es, bis er
wieder hinzuschauen wagte, und dann hob er auch bloss den Kopf, sah sie
aber nicht,--richtete sich auf den Knien auf, sah sie noch
nicht;----stand ganz auf,--ja, sie war verschwunden!----
Er mochte nicht mehr ins Pfarrhaus. Er mochte ueberhaupt nichts
mehr!--Darauf setzte er sich hin, wo sie gesessen hatte, und sass noch
da, als die Sonne gegen Mittag stand. Auf dem See regte sich keine
einzige Welle, ueber den Hoefen zitterte schon der Rauch in der Luft, die
Wachteln verstummten eine nach der andern, die kleinen Voegel schaekerten
wohl noch, zogen sich aber doch allmaehlich in den Wald zurueck, der Tau
war fort, so dass das Gras gar wuerdig dastand, kein Lueftchen bewegte
sich, und die Blaetter hingen still herab, die Sonne musste in einer
Stunde auf der Mittagshoehe sein. Er wusste gar nicht, wie es kam, dass er
da ploetzlich sass und ueber ein kleines Gedicht nachsann; ein holder Ton
kam und bot sich ihm dar fuer sein Lied; das Herz war ihm wunderlich von
Weichheit voll, und der Ton kam und ging so lange, bis er ein ganzes
Bild erschuf.
In der Stille, wie er es gemacht hatte, sang Arne es auch:
Im Walde klang es den ganzen Tag,
Den ganzen Tag.
Klein Knabe, hoerst du das Toenen, sag',
Das Toenen, sag'?
Der Knabe schnitt sich eine Schalmei,
Eine Schalmei,
Und blies,--ob der Ton wohl darinnen sei,
Darinnen sei.
Der Ton, der meldete sich wie ein Hauch,
Wie ein Hauch,
Doch wie er gekommen, entschwand er auch,
Entschwand er auch.
Oft, wenn er schlief, er zu ihm schlich,
Er zu ihm schlich,
Und ueber die Stirn ihm voll Liebe strich,
Voll Liebe strich.
Doch wollt' er ihn greifen, jaehlings erwacht,
Jaehlings erwacht,
Versank der Ton in der bleichen Nacht,
Der bleichen Nacht.
"Herr, mein Gott, nimm mich dahin,
Nimm mich dahin!
Der Ton nahm ein meinen ganzen Sinn,
Meinen ganzen Sinn."
Der Herr gab zur Antwort: "Dein Freund ist er,
Dein Freund ist er!
Doch freilich--dein eigen,--das nimmermehr,
Das nimmermehr."
Was sind all die andern wohl gegen sie,
Wohl gegen sie,
Die immer du suchst und findest sie nie,
Findest sie nie!
Fuenfzehntes Kapitel
Es war ein Sonntagabend Anfang des Sommers; der Pfarrer war aus der
Kirche nach Hause gekommen, und Margit hatte bis gegen sieben Uhr bei
ihm gesessen. Da verabschiedete sie sich und eilte die Treppe hinunter
auf den Hof hinaus, denn dort war eben Eli Boeen in Sicht gekommen, die
solange mit dem Sohn des Pfarrers und ihrem eignen Bruder gespielt
hatte.
"Guten Abend!" sagte Margit, indem sie stehen blieb, "und Gruess
Gott!"--"Guten Abend!" sagte Eli, sie war feuerrot und wollte das Spiel
einstellen, obwohl die Jungens sie bestuermten; aber sie bat sehr
herzlich und war fuer diesen Abend entlassen.--"Mir ist, ich muesste Dich
kennen", sagte Margit.--"Das ist wohl moeglich", sagte die andre.--"Du
kannst doch nicht die Eli Boeen sein?"--Doch, die sei sie.--"Nein, aber
so was!--Also die Eli Boeen bist Du! Ja, jetzt sehe ich es auch,--Du bist
Deiner Mutter aehnlich." Elis roetlichbraunes Haar war aufgegangen, dass es
lang und lose herunterhing; ihr Gesicht war so heiss und rot wie eine
Erdbeere, ihre Brust hob und senkte sich, sie konnte kaum sprechen und
lachte, weil sie so ausser Atem war.--"Ach ja, das gehoert zur
Jugend",--Margit freute sich an ihr. "Du kennst mich wohl nicht?" Eli
hatte schon fragen wollen, hatte sich aber nicht getraut, weil die
andere aelter war; jetzt sagte sie, sie koenne sich nicht erinnern, sie
schon gesehen zu haben.----"O nein, das ist auch sehr unwahrscheinlich;
alte Leute kommen selten aus ihrem Bau.--Vielleicht kennst Du aber
meinen Sohn, den Arne Kampen; ich bin seine Mutter", sie schaute Eli an,
die auf einmal ganz veraendert war.--"Ich glaub' beinah, er hat einmal in
Boeen gearbeitet?"--Ja, das habe er.--"Es ist solch schoenes Wetter heut
abend; wir haben den Tag ueber geheut und eingefahren, bis ich
weggegangen bin; es ist ein gottgesegnetes Wetter."--"Es gibt sicher ein
gutes Heujahr", meinte Eli.--"Ja, das darf man wohl sagen;--in Boeen ist
es auch wohl gut?"--"Da ist schon alles fertig."--"Natuerlich, ja; viel
Hilfe und tuechtige Leute.--Musst Du heut abend nach Hause?"--Nein, sie
brauche nicht. Sie sprachen ueber dies und jenes und wurden schliesslich
so bekannt, dass Margit die Frage wagen konnte, ob Eli ein Stueck mitgehen
wolle. "Koenntest Du mich wohl ein paar Schritte begleiten?" sagte sie;
"ich treffe so selten jemand, mit dem ich ein Wort reden kann, und Dir
geht es wohl ebenso?"--Eli entschuldigte sich, sie habe keine Jacke
an.--"Na ja, ich sollte mich auch schaemen, einen Menschen drum zu
bitten, den ich zum erstenmal sehe; aber mit alten Leuten muss man es
nicht so genau nehmen."--Eli sagte, sie wuerde gern mitkommen, aber sie
muesse sich erst ihre Jacke holen. Es war eine enganschliessende Jacke.
Wenn sie zugehakt war, sah sie wie ein Leibchen aus; jetzt machte sie
aber bloss die beiden untersten Haken zu; ihr war so warm. Das feine
Leinenhemd hatte einen kleinen, ueberfallenden Kragen, der am Halse von
einem silbernen Knopf in Gestalt eines Vogels mit ausgebreiteten
Schwingen zusammengehalten wurde. So einen hatte Schneider Nils
getragen, als Margit zum erstenmal mit ihm getanzt hatte.--"Ein schoener
Knopf", sagte sie und besah ihn.--"Ich habe ihn von Mutter", sagte
Eli.--"Das hast Du wohl", und sie half ihr beim Anziehen.
Jetzt schritten sie den Weg entlang. Das Heu war gemaeht und stand in
Hocken, Margit griff in die Hocken hinein, roch dran und fand, es sei
schoenes Heu. Sie fragte nach dem Vieh hier auf dem Hof, dann nach dem in
Boeen und erzaehlte schliesslich, wieviel sie auf Kampen haetten. "Die
Wirtschaft ist in den letzten Jahren tuechtig vorwaerts gekommen, und sie
laesst sich vergroessern, soviel man will. Sie ernaehrt jetzt zwoelf
Milchkuehe und koennte noch mehr ernaehren; aber Arne hat soviel Buecher,
in denen er liest, und nach denen er alles einrichtet, darum will er sie
so grossartig gefuettert haben." Eli sagte, wie zu erwarten war, zu all
dem nichts; Margit aber fragte sie, wie alt sie sei. Sie sei neunzehn
Jahr. "Legst Du manchmal im Hause mit Hand an? Du siehst so fein aus,
damit ist's wohl nicht viel geworden."--O doch, sie habe bei mancherlei
geholfen, besonders in letzter Zeit.--"Ja, es ist gut, wenn einer an
alles gewoehnt ist; wenn man selbst mal eine grosse Wirtschaft bekommt,
tut's not. Aber natuerlich, wenn einer tuechtige Hilfe hat, ist's nicht
so schlimm."--Eli wollte umkehren, denn sie waren laengst am Pfarracker
vorbei. "Es ist noch lange hin, bis die Sonne untergeht;--es waere nett
von Dir, wenn Du noch ein bisschen mit mir plaudern wolltest",--und Eli
ging mit.
Nun fing Margit von Arne zu reden an. "Ich weiss nicht, ob Du ihn genauer
kennst. Der kann Dir ueber alles Bescheid sagen; Herrgott, was hat der
nicht alles gelesen!" Eli gab zu, sie wisse, dass er viel gelesen habe.
"Na ja, aber das ist noch das wenigste; doch wie er sein ganzes Leben
lang zu seiner Mutter gewesen ist, das ist mehr. Wenn es wahr ist, was
das Sprichwort sagt, dass einer, der gut zu seiner Mutter war, auch gut
zu seiner Frau ist, dann wird die, die er erwaehlt, sich nicht zu
beklagen haben.--Wonach siehst Du, Kind?"--"Mir ist bloss ein kleiner
Zweig weg, den ich in der Hand hatte."--Sie verstummten beide und
gingen weiter, ohne sich anzusehen. "Er ist so eigentuemlich", sagte die
Mutter wieder; "er ist als Kind so eingeschuechtert worden, und da hat er
sich dran gewoehnt, alles mit sich allein abzumachen, und die Art Leute
koennen sich nicht so frei geben."--Jetzt wollte Eli wirklich umkehren,
aber Margit meinte, es sei nur noch ein kleines Stueck bis Kampen, und
Kampen muesse sie sehen, wo sie nun doch einmal hier sei. Eli aber sagte,
es sei heute schon zu spaet. "Es ist immer jemand da, der Dich nach Hause
begleitet", sagte Margit. "Nein, nein", antwortete Eli rasch und wollte
weg. "Der Arne freilich ist nicht zu Hause," sagte Margit, "er kann's
also nicht; aber es sind genug andere da", und Eli hatte jetzt weniger
dagegen; sie wollte doch Kampen gern sehen, "wenn es bloss nicht zu spaet
wird."--"Ja, wenn wir hier lange stehen und drueber reden, dann mag es
wohl zu spaet werden",--und sie gingen. "Du hast auch wohl viel gelernt,
wo Du doch beim Herrn Pfarrer aufgewachsen bist?" Ja, das habe sie. "Das
wird Dir gut zustatten kommen," meinte Margit, "wenn Du mal einen
bekommst, der weniger kann."--Nein, meinte Eli, solchen moechte sie
nicht. "Nun ja, es ist ja auch vielleicht nicht das beste, aber hier im
Dorf haben die Leute wenig Bildung."--Eli fragte, was da hinten im Walde
rauche. "Das kommt von dem neuen Paechterhaus, das zu Kampen gehoert. Da
wohnt der Knut vom Oberland. Er war immer so allein, und da hat Arne ihm
den Platz gegeben, dass er ihn urbar mache. Er weiss, was es heisst, allein
zu sein, der arme Arne." Nach einer Weile waren sie hoch genug, um das
Gehoeft sehen zu koennen. Die Sonne schien ihnen gerade ins Gesicht; sie
beschatteten die Augen und schauten hin. Mitten drin lag das
rotgestrichene Haus mit den weissen Fensterrahmen; ringsum die Wiesen
waren gemaeht, hier und da stand das Heu noch in Hocken; die Aecker
standen gruen und ueppig mitten in der hellen Wiese; bei den Staellen war
grosses Leben: Kuehe, Schafe und Ziegen kamen gerade nach Hause, ihre
Glocken bimmelten, die Hunde bellten, die Kuhmagd rief; alles aber
uebertoente mit seinem furchtbaren Getoese der Wasserfall am Kampenschlund.
Je laenger Eli hinschaute, desto mehr hoerte sie bloss diesen Ton, und er
wurde ihr schliesslich so grauenvoll, dass sie Herzklopfen bekam; in ihrem
Kopf sauste und brauste es,--es wurde ihr ganz wirr und doch wieder so
weich und warm, dass sie unwillkuerlich behutsam auftrat und kleine
Schritte machte; Margit musste sie bitten, ein bisschen schneller zu
gehen. Sie schrak zusammen; "ich habe noch nie etwas Aehnliches gehoert
wie diesen Wasserfall", sagte sie; "ich bekomme beinah Angst."--"Daran
gewoehnst Du Dich schnell," sagte die Mutter, "schliesslich wuerde er Dir
sogar fehlen."--"Meinst Du wirklich?" fragte Eli.--"Ja, das sollst Du
sehen", sagte Margit und laechelte.
"Komm, jetzt wollen wir uns erst das Vieh ansehen", sagte sie, waehrend
sie vom Weg abbog; "diese Baeume hier zu beiden Seiten hat Nils
gepflanzt.--Nils wollte gern alles recht schoen haben;--Arne auch; Du
sollst mal den Garten sehen, den er angelegt hat."--"Nein, wie schoen!"
rief Eli und lief an den Zaun. Sie hatte Kampen schon oefter gesehen,
aber nie so in der Naehe, und daher auch noch nie den Garten.--"Den
wollen wir uns nachher ansehen", sagte Margit.--Eli blickte fluechtig
durch die Scheiben, als sie am Hause vorbeigingen; es war niemand drin.
Sie stellten sich nun beide auf die Scheunenbruecke und besahen die Kuehe,
wie sie bruellend an ihnen vorbei in den Stall zogen. Margit nannte Eli
die Namen alle, erzaehlte ihr, wieviel Milch jede gebe, welche traechtig
seien und welche nicht. Die Schafe wurden gezaehlt und in den Stall
gelassen; es war eine grosse fremde Rasse; Arne hatte sich zwei Laemmer
aus dem Sueden kommen lassen. "Mit all so was beschaeftigt er sich, wenn
man es ihm auch gar nicht zutraut."--Sie gingen jetzt in die Scheune,
besahen das eingefahrene Heu, und Eli musste daran riechen,--"denn
solches Heu gibt es nicht ueberall". Sie zeigte durch die Scheunenluke
hinaus auf die Aecker und erklaerte, was auf jedem stand, und wieviel von
jeder Sorte gesaet war.--Sie gingen hinaus und auf das Haus zu; aber Eli,
die auf all das andre nicht geantwortet hatte, bat jetzt, als sie an dem
Garten vorbeigingen, ob sie nicht hinein duerfe. Und als ihr das erlaubt
war, bat sie, eine Blume oder zwei pfluecken zu duerfen. Hinten in der
Ecke stand eine kleine Bank: auf die setzte sie sich, wie um sie
auszuprobieren, denn sie stand gleich wieder auf.
"Wir muessen uns jetzt beeilen, wenn es nicht zu spaet werden soll", sagte
Margit, die in der Pforte stand. Und nun gingen sie ins Haus. Margit
fragte, ob sie ihr nicht etwas anbieten duerfe, wo sie zum erstenmal da
sei; Eli aber wurde rot und sagte kurz: danke. Sie schaute sich nun nach
allen Seiten um; die Fenster gingen auf den Weg hinaus; hier hielten sie
sich den Tag ueber auf; die Stube war nicht gross, aber gemuetlich, mit
Wanduhr und Kachelofen. Dort hing Nils' Geige, alt und dunkel, aber mit
neuen Saiten. Hier hingen ein paar Flinten, die Arne gehoerten, englische
Angelruten und andre seltsame Sachen, die die Mutter herunterholte und
zeigte; Eli besah und befuehlte sie. Die Stube war nicht gemalt, denn das
mochte Arne nicht, auch die andere Stube nicht, die auf die
Kampenschlucht mit den frischgruenen Bergen geradeueber und den blauen
Hoehen im Hintergrunde hinausging; diese Stube, die wie die eine ganze
Haelfte des Hauses spaeter angebaut war, war groesser und schoener; die
beiden kleineren Stuben in dem Fluegel aber hatten Malerei, denn da
sollte die Mutter wohnen, wenn sie alt wuerde,--und er eine Frau im Hause
habe. Sie gingen in die Kueche, in die Vorratskammer, in den
Holzschuppen; Eli sagte kein Wort,--sie besah sich alles gewissermassen
aus der Entfernung; nur wenn Margit ihr irgend etwas hinhielt, fasste sie
es an, aber auch nur ganz zaghaft. Margit, die in einemfort schwatzte,
fuehrte sie jetzt wieder auf die Diele; sie wollten nach oben und den
Boden besichtigen.
Auch hier waren gut eingerichtete Zimmer, die den Stuben im unteren
Stockwerk entsprachen, aber sie waren neu und noch nicht in Benutzung
genommen ausser einem, das auf die Kampenschlucht hinausging. In diesen
Zimmern hing und stand aller moeglicher Hausrat, der in der taeglichen
Wirtschaft nicht gebraucht wurde. Hier hingen ein gut Teil fertig
genaehter Felldecken sowie anderes Bettzeug; die Mutter befuehlte sie und
hob sie hoch, Eli musste es manchmal auch tun; es war aber, als habe sie
jetzt etwas mehr Mut bekommen, vielleicht hatte sie auch mehr Freude an
diesen Dingen; denn auf einzelne Sachen kam sie zurueck, fragte und wurde
immer vergnuegter. Da sagte die Mutter: "Jetzt, zuletzt wollen wir in
Arnes Zimmer", und sie gingen in das Zimmer, das nach der Kampenschlucht
hinauslag. Das fuerchterliche Getoese des Wasserfalls schlug ihnen wieder
entgegen, denn das Fenster war offen. Hier stand man hoeher, hier konnte
man den Gischt des Wasserfalls zwischen den Felsen aufspruehen sehen,
nicht aber den Wasserfall selbst, oder doch nur weiter oben, wo ein
Felsblock abgestuerzt war, gerade an der Stelle, wo er mit aller Macht
sich zu dem letzten Sprung in die Tiefe anschickte. Frischer Rasen
deckte die obere Flaeche des Felsblockes, ein paar Kieferzapfen hatten
sich hineingebohrt und in den Felsritzen Wurzel gefasst. Der Wind hatte
die Baeume geruettelt und geschuettelt, der Wasserfall hatte sie bespuelt,
so dass vier Ellen hoch von der Wurzel keine Zweige waren, sie waren aufs
Knie gesunken, und ihre Aeste kruemmten sich, aber sie standen fest und
schossen hoch auf zwischen den Felswaenden. Das war das erste, was Eli
vom Fenster aus sah, und dann die blendend weissen Schneefirnen hoch ueber
dem Gruen. Ihre Augen schweiften hinunter: auf den Feldern war Frieden
und Fruchtbarkeit, und jetzt endlich sah sie sich in dem Zimmer um, wo
sie stand; der Wasserfall hatte es bisher nicht zugelassen.
Wie war es hier still und fein gegen draussen! Sie sah keine
Einzelheiten, weil eins sich in das andere einfuegte und das meiste ihr
neu war; denn Arne hatte seine ganze Liebe auf dieses Zimmer verwandt,
und so duerftig es war, auch in den kleinsten Dingen zeigte sich
Kunstverstaendnis. Ihr war's, als klaengen seine Lieder um sie her oder
als laechele er selbst sie aus jedem Gegenstand an. Das erste, was sie
fesselte, war ein grosses, breites, schoen geschnitztes Buecherbrett. Da
standen soviele Buecher, dass der Herr Pfarrer selbst ja wohl nicht mehr
haben konnte. Das naechste war ein schoener Schrank. Darin habe er viele
schoene Sachen, sagte die Mutter; da habe er auch sein Geld drin, fuegte
sie fluesternd hinzu. Zweimal haetten sie geerbt, sagte sie nachher; sie
wuerden noch einmal etwas erben, wenn alles nach Wunsch ginge. "Aber Geld
ist nicht das beste auf der Welt; er kann etwas kriegen, was noch besser
ist."--Es waren gar manche Kleinigkeiten in dem Zimmer, die ergoetzlich
anzuschauen waren, und Eli besah sie sich alle wie ein froehliches Kind.
Margit klopfte ihr auf die Schulter: "Ich sehe Dich heute zum erstenmal,
Kind, aber ich habe Dich schon so liebgewonnen", sagte sie und sah ihr
treuherzig in die Augen. Ehe Eli noch Zeit hatte, verlegen zu werden,
zupfte Margit sie am Kleid und sagte ganz leise: "Siehst Du die kleine
rote Truhe da?--da ist was Feines drin, kannst Du glauben."----Eli sah
hin, es war eine kleine, viereckige Truhe, die sie fuer ihr Leben gern
haette haben moegen. "Ich darf eigentlich nicht wissen, was in der Truhe
ist," fluesterte die Mutter, "und er zieht jedesmal den Schluessel ab";
sie ging nach der Wand, wo einige Kleidungsstuecke hingen, nahm eine
Samtweste herunter, suchte in der Uhrtasche und fand wirklich den
Schluessel. "Jetzt sollst Du mal sehen", fluesterte sie. Eli fand es nicht
ganz recht, was die Mutter da tat; aber Frauen sind Frauen, und beide
gingen ganz leise auf die Truhe zu und knieten davor nieder. Als die
Mutter den Deckel aufklappte, schlug ihnen ein Duft daraus entgegen, dass
Eli die Haende zusammenschlug, noch ehe sie ein Stueck gesehen hatte. Oben
drueber war ein Taschentuch gebreitet, das nahm die Mutter weg; "nun
sollst Du mal sehen!" fluesterte sie und holte ein schoenes,
schwarzseidenes Tuch heraus, so eins, wie Maenner nicht tragen. "Das ist
wie fuer ein Maedchen gemacht", sagte die Mutter. "Hier ist noch eins",
sagte sie dann; Eli befuehlte es, sie konnte es nicht lassen; die Mutter
wollte es ihr aber auch noch umlegen, obwohl Eli es nicht mochte und den
Kopf abwandte. Die Mutter legte es sorglich wieder zusammen. "Jetzt
sollst Du mal sehen", sagte sie dann und holte ein paar schoene
Atlasbaender heraus; "alles ist doch wie fuer ein Maedchen." Eli wurde
feuerrot, gab aber keinen Laut von sich; ihr Busen wogte, und ihre Augen
gingen scheu zur Seite; sonst ruehrte sie sich nicht. "Hier ist noch
mehr!" Die Mutter holte schoenen schwarzen Kleiderstoff heraus;--"der ist
aber fein", sagte sie und hielt ihn gegen das Licht. Eli zitterte die
Hand ein bisschen, als die Mutter sie bat, ihn mal anzufuehlen; sie
merkte, wie ihr das Blut zu Kopf stieg, sie haette sich gern abgewandt,
aber es ging nicht an. "Er hat jedesmal in der Stadt etwas gekauft",
sagte die Mutter. Eli konnte sich kaum noch halten; ihre Augen
schweiften von einem Stueck in der Truhe zum andern und dann wieder
zurueck auf den Kleiderstoff; im Grunde sah sie ueberhaupt nichts mehr.
Die Mutter aber liess nicht nach, und der letzte Gegenstand, den sie
herausholte, war in Papier gewickelt; sie wickelte einen Bogen nach dem
andern aus; das war nun wieder spannend; und Eli wurde sehr neugierig;
es waren ein Paar kleine Schuhe. Etwas so Huebsches hatten sie beide ihr
Lebtag nicht gesehen; die Mutter meinte, so etwas koenne doch gar nicht
gemacht werden, Eli sagte kein Wort; aber als sie die Schuhe anfasste,
drueckten sich ihre fuenf Finger darauf ab; sie wurde so verlegen, dass sie
dem Weinen nahe war; sie waere am liebsten gegangen; aber sie wagte nicht
zu sprechen, wagte auch nicht die Mutter anzusehen. Die hatte aber genug
mit sich zu tun. "Sieht es nicht genau aus, als habe er das alles nach
und nach fuer eine gekauft, der er sich's nicht zu geben getraut hat?"
sagte sie und packte alles genau so wieder ein, wie es gelegen hatte;
sie musste schon Uebung darin haben. "Jetzt wollen wir mal sehen, was hier
in der Schublade ist!" Sie oeffnete sie so behutsam, als wuerden sie etwas
besonders Schoenes zu sehen bekommen. Da lag eine breite Schnalle wie fuer
einen Guertel; die zeigte sie Eli zuerst; dann zeigte sie ihr ein paar
zusammengebundene goldene Ringe, und dann sah sie ein Gesangbuch mit
silberbeschlagenem Samtdeckel, aber dann sah sie auch gar nichts mehr,
denn auf dem Silberbeschlag des Gesangbuchs war mit feiner Schrift
eingraviert: "Eli, Tochter von Baard Boeen."----Die Mutter wollte gern,
dass sie es saehe, bekam aber keine Antwort und sah nur eine Traene nach
der andern auf das Seidenzeug fallen und darueber hinrinnen. Schnell
legte die Mutter die Brosche hin, die sie in der Hand hatte, machte die
Schublade zu und zog Eli in ihre Arme. Da weinte die Tochter an ihrem
Herzen, und die Mutter weinte mit ihr, ohne dass einer von ihnen noch ein
Wort gesprochen haette.
* * * * *
Eine Weile drauf ging Eli allein in den Garten; die Mutter musste in die
Kueche, um etwas Gutes herzurichten, denn jetzt kam Arne bald. Spaeter
ging sie hinaus und sah sich im Garten nach Eli um; die kauerte da am
Boden und schrieb in den Sand. Sie wischte es aus, als Margit kam,
blickte auf und laechelte; sie hatte geweint.--"Dabei ist nichts zu
weinen, Kind", sagte Margit und streichelte sie. Sie sahen oben am Wege
etwas Schwarzes hinter den Bueschen. Eli schlich sich ins Haus, die
Mutter hinterher. Drinnen war gewaltig aufgetischt: Rahmbrei,
Rauchfleisch und Kringel; Eli sah aber gar nicht hin; sie setzte sich
dicht an die Wand auf einen Stuhl in der Ecke neben der Uhr und
zitterte, sowie sich nur eine Katze ruehrte. Die Mutter stand am Tisch.
Feste Schritte ertoenten auf den Steinfliesen, ein kurzer, leichter auf
der Diele, leise wurde die Tuer aufgemacht und Arne trat ein. Das erste,
was er sah, war Eli in der Ecke neben der Uhr; er liess die Tuer los und
blieb stehen. Das machte Eli noch verlegener; sie stand auf, bereute es
aber gleich und drehte sich nach der Wand um.--"Du bist hier?" sagte
Arne leise und wurde gluehend rot bei dieser Frage.--Sie hob die Hand
hoch und hielt sie sich vor die Augen, als wenn die Sonne zu grell
hineinfaellt. "Wie--?" er sprach nicht zu Ende, sondern trat einen
Schritt oder auch zwei auf sie zu; da liess sie die Hand wieder sinken
und wandte sich ihm zu, neigte aber den Kopf und brach in Traenen
aus.--"Gott segne Dich, Eli!" sagte er und umschlang sie; sie lehnte
sich an ihn. Er fluesterte etwas zu ihr hinunter, sie antwortete nicht,
legte aber beide Arme um seinen Hals.
Lange standen sie so; kein Laut war zu hoeren ausser der ewigen Mahnung
des Wasserfalls. Da klang ein Schluchzen vom Tisch her, Arne blickte
auf, es war die Mutter; er hatte sie bis dahin nicht gesehen. "Jetzt bin
ich unbesorgt, dass Du mich nicht verlaesst, Arne", sagte sie und kam auf
ihn zu. Sie weinte sehr, aber es tue ihr gut, sagte sie.
* * * * *
Als sie in der hellen Sommernacht nach Hause gingen, konnten sie in
ihrer jungen Seligkeit nicht viel sprechen. Sie liessen die Natur fuer
sich reden, wie sie still und licht und gross vor ihnen lag. Auf dem
Heimweg aber von dieser ersten Sommernachtwanderung, der erwachenden
Sonne entgegen, ging er und legte den Grund zu einem Liede, das zu
formen er jetzt freilich nicht die Musse hatte, das aber spaeter, als es
fertig war, auf lange Zeit sein Lieblingslied wurde. Es lautete so:
Ich dachte, was Grosses wuerd' ich einmal;
Ich dachte, das kam', wenn ich fort aus dem Tal.
Hab' mich und alles vergessen,--
Aufs Wandern nur war ich versessen.
Da sah mir ein Maedchen ins Auge hinein,
Und liess mir die Ferne verschwinden:
Jetzt schien mir des Lebens Krone zu sein,
Mit ihr den Frieden zu finden.
Ich dachte, was Grosses wuerd' ich einmal;
Ich dachte, das kam', wenn ich fort aus dem Tal.
Mich trieb's, in der Geister Sphaeren
Die junge Kraft zu bewaehren.
Sie lehrte mich, eh noch ein Wort ihr entfiel,
Es sei das Hoechste auf Erden,
Nicht Ruhm und Groesse zu suchen als Ziel,
Nein, richtig ein Mensch zu werden.
Ich dachte, was Grosses wuerd' ich einmal;
Ich dachte, das kaem', wenn ich fort aus dem Tal.
Ich fror in der Heimat, ich dachte,
Dass man mich verkenn' und verachte.
Als _sie_ mir genaht, da schien mir, es ward
Mir rings mit Liebe begegnet;
Ich war es allein, auf den sie geharrt,
Und neu war das Leben gesegnet.
Noch manche Sommernachtwanderung folgte und manches Lied hinterher. Eins
davon mag noch aufgezeichnet werden:
Wie all das gekommen, mir sagt's kein Vermuten;
Es war kein Stuermen, kein Ueberfluten,
Im Innern ein spielender, blinkender Bach
Ergoss in den Strom sich allgemach,
Der maechtig, so maechtig wallet zum Meere.
Mich duenkt, ein Etwas in diesem Leben
Dringt rufend ans Herz, dem die Sehnsucht gegeben,
Die lockende Macht, die zaertliche Brust,
Den Leid und Scheu und Wanderlust
In Frieden als Brautgabe koennen umfangen.
Entsandt das Leben mir solch einen frommen
Gluecksboten wie den, dessen Ruf ich vernommen,
So fuehl' ich das Walten der Gottheit bezeugt,
Die alles lebendigen Ordnungen beugt,--
Still werd' ich zum ewig Guten getragen.
Aber keins gab wohl sein Dankgefuehl so wieder wie das folgende:
Die Macht, die mir gab mein schlichter Gesang,
Bewirkte, dass Lebens Leid und Wonne
Glueckselig fielen wie Tau und Sonne
Auf der Seele wogenden Fruehlingsdrang,
Dass kein Geschehen
Sie niederbricht,--
Im Lied erstehen
Ihr Liebe und Licht.
Die Macht, die mir gab mein schlichter Gesang,
Verbuendet mich allen, die Sehnsucht empfinden;
Drum konnte mir nichts die Seele binden,
Nie dauernd mich hemmen ein selbstischer Zwang;
Fortstuermend bangt' ich
Vor Muehsal nicht,---
Und heimwaerts gelangt' ich
Zu Liebe und Licht.
Die Macht, die mir gab mein schlichter Gesang,
Die gibt mir vielleicht auch Macht ueber andre,
So dass ich vom Weg aus, den ich wandre,
Sie manchmal erfreue durch freundlichen Klang.
Dies will mir erscheinen
Als schoenstes Gedicht,
Wenn Lieder uns einen
In Liebe und Licht.
Sechzehntes Kapitel
Es ging auf den Herbst, die Bauern waren beim Einfahren. Ein klarer Tag
war es; in der Nacht und am Morgen hatte es geregnet, daher war die Luft
milde wie im Sommer. Es war ein Sonnabend, trotzdem aber steuerten
viele Boote ueber den Schwarzen See auf die Kirche zu, die Maenner sassen
in Hemdsaermeln und ruderten, die Frauen mit hellen Kopftuechern sassen
vorn im Boot. Aber noch mehr Boote steuerten nach Boeen hinueber, um
nachher von dort aus in langem Zuge abzufahren, denn heut richtete Baard
Boeen fuer seine Tochter Eli und Arne Nilsson Kampen die Hochzeit aus.
Alle Tueren waren offen, viele Leute gingen aus und ein, die Kinder
standen, Kuchen in den Haenden, draussen auf dem Hof, voll Angst um ihre
neuen Kleider und blickten sich fremd an; eine alte Frau sass ganz allein
oben auf der Treppe zum Vorratsschuppen: das war Margit Kampen. Sie trug
einen breiten, silbernen Ring, an dessen oberer Platte mehrere kleine
Ringe befestigt waren; zuweilen schaute sie ihn an; sie hatte ihn von
Nils bekommen, an dem Tag, als sie mit ihm vor dem Altar stand, und
hatte ihn seitdem nie wieder getragen.
In den zwei, drei Stuben liefen der Tafelmeister und die beiden jungen
Brautfuehrer, der Sohn des Pfarrers und Elis Bruder, hin und her und
schenkten den Gaesten ein, die sich nach und nach zu der grossen Hochzeit
einfanden. Oben in Elis Gemach sass die Braut mit der Frau Pfarrer und
Mathilde, die eigens aus der Stadt gekommen war, um die Braut schmuecken
zu helfen: das hatten sie sich von klein auf versprochen.--Arne im
Tuchanzug mit rundgeschnittener, enganschliessender Jacke und einem
Kragen, den Eli ihm genaeht hatte, stand unten in einer Stube an dem
Fenster, an das Eli damals "Arne" geschrieben hatte. Es stand offen, er
lehnte im Rahmen und schaute ueber den stillen See nach der Kirche neben
dem Pfarrhof hinueber.
Draussen auf der Diele trafen sich zwei, die beide von ihrer Hantierung
kamen, der eine vom Landungssteg, wo er die Boote zur Fahrt in die
Kirche hatte ordnen helfen; er hatte eine schwarze, rundgeschnittene
Tuchjacke an, aber Hosen aus blauem Fries, die abfaerben mussten, denn er
hatte ganz blaue Haende; der weisse Kragen stand gut zu seinem blassen
Gesicht und dem langen blonden Haar; glatt war die hohe Stirn, und um
den Mund lag ein Laecheln. Es war Baard; er traf im Flur auf eine Frau,
die gerade aus der Kueche kam. Sie hatte sich schon fuer die Fahrt zur
Kirche geschmueckt, trat hoch und schlank und sicher aus der Tuer und
hatte es sehr eilig. Als sie Baard begegnete, blieb sie stehen, und ihr
Mund verzog sich ein wenig nach der Seite. Das war Birgit, seine Frau.
Beide hatten etwas auf dem Herzen, aber es kam nur darin zum Ausdruck,
dass sie stehen blieben. Baard war noch befangener als sie; er laechelte
mehr und mehr, aber gerade seine grosse Verlegenheit kam ihm zu Hilfe,
indem er naemlich ohne weiteres sich anschickte, die Treppe
hinaufzusteigen. "Du kommst wohl nach", sagte er. Und sie ging
hinterdrein. Oben auf dem Boden waren sie ganz allein; aber Baard machte
doch die Tuer hinter ihnen zu und liess sich gute Zeit dabei. Als er sich
endlich umdrehte, stand Birgit am Fenster und schaute hinaus, weil sie
hinein nicht sehen mochte. Baard holte eine kleine Flasche aus der
Brusttasche und einen kleinen silbernen Becher. Er wollte seiner Frau
einschenken. Aber sie mochte nicht, obwohl er beteuerte, der Wein sei
von der Pfarre heruebergeschickt. Da trank er ihn selbst aus, bot ihr
aber noch ein paarmal an, waehrend er trank. Dann korkte er die Flasche
zu, steckte sie mit dem silbernen Becher zusammen wieder in die
Brusttasche und setzte sich auf eine Truhe. Es tat ihm sichtlich wehe,
dass seine Frau nicht mittrinken wollte.
Ein paarmal holte er tief Atem. Birgit stuetzte sich mit einer Hand aufs
Fensterbrett; Baard hatte etwas auf dem Herzen, aber jetzt ging es noch
schwerer. "Birgit", sagte er, "Du denkst heute wohl an dasselbe wie
ich."--Nun hoerte er sie, denn sie ging von der einen Seite des Fensters
zur andern und stuetzte sich wieder auf ihren Arm. "Na--Du weisst ja, wen
ich meine.----Der hat zwischen uns beiden gestanden;------ich dachte,
das wuerde nur bis zur Hochzeit dauern, aber es hat laenger gewaehrt." Er
hoerte, wie sie atmete, sah, wie sie wieder ihre Stellung veraenderte,
aber ihr Gesicht konnte er nicht sehen. Ihm selbst wurde es so sauer,
dass er sich mit dem Jackenaermel den Schweiss abwischen musste. Nach
langem Kampf fing er wieder an: "Heute wird sein Sohn, schmuck und
gescheit, bei uns aufgenommen, und wir haben ihm unsere einzige Tochter
gegeben.------Was meinst Du, Birgit,--wollen wir beide nicht auch heut
Hochzeit halten?"--Seine Stimme bebte, und er raeusperte sich. Birgit,
die sich bewegt hatte, legte den Kopf wieder auf den Arm, sagte aber
nichts. Baard wartete lange, aber er bekam keine Antwort,--und er selbst
hatte auch nichts mehr zu sagen. Er blickte auf und wurde sehr blass,
denn sie hatte nicht einmal den Kopf umgewandt. Da stand er auf. Im
selben Augenblick klopfte es leise an die Tuer, und eine weiche Stimme
fragte: "Kommst Du jetzt, Mutter?"--es war Eli. Es lag ein etwas in der
Stimme, so dass Baard unwillkuerlich stehen blieb und ebenso unwillkuerlich
Birgit ansehen musste. Auch Birgit hob den Kopf; sie sah nach der Tuer und
begegnete Baards blassem Gesicht. "Kommst Du jetzt, Mutter?" fragte es
draussen noch einmal. "Ja, jetzt komme ich!" sagte Birgit mit gebrochener
Stimme, indem sie fest und stolz auf Baard zuging, ihm die Hand gab und
in heftiges Weinen ausbrach. Ihre Haende umklammerten sich; wohl waren
sie jetzt abgenutzt, aber sie hielten sich so fest, als haetten sie
zwanzig Jahre lang einander gesucht. Beide hielten sich noch an der
Hand, als sie auf die Tuer zugingen; und als nach einer Weile der
Brautzug sich zum Landungssteg begab und Arne seiner Eli die Hand
reichte, um mit ihr voranzugehen, und Baard das sah, da nahm er gegen
alle Sitte und Gewohnheit seine Frau bei der Hand und ging strahlend
hinterher, dann aber kam Margit Kampen, allein, wie sie es gewohnt war.
Baard war ganz ausgelassen den Tag: er sass und schwatzte mit den
Bootsknechten. Einer davon blickte die Bergwand hinter ihnen hinauf und
sagte, es sei doch seltsam, dass selbst so steile Felsen sich mit Gruen
bekleiden koennten. "Was kommen soll, kommt doch,--es mag wollen oder
nicht", sagte Baard und sah ueber den ganzen Zug hin, bis seine Augen an
dem Brautpaar und seiner Frau haengen blieben: "Das haette mal einer vor
zwanzig Jahren sagen sollen", meinte er.
* * * * *
EIN FROEHLICHER BURSCH
Erstes Kapitel
Oeyvind hiess er, und als er geboren wurde, schrie er. Aber als er erst
aufrecht auf Mutters Schoss sass, lachte er, und wenn abends Licht
angesteckt wurde, lachte er, dass es schallte; doch wenn er nicht
herandurfte, weinte er. "Aus dem Jungen wird sicher was Besonderes",
sagte seine Mutter.
Ueber das Haus, worin er geboren wurde, neigte sich die kahle Bergwand;
aber sie war nicht sehr hoch. Fichten und Birken schauten hernieder, und
die Vogelkirsche streute ihre Blueten aufs Dach. Oben auf dem Dache aber
sprang ein Boeckchen, das Oeyvind gehoerte; es musste da oben weiden, wo es
sich nicht verlaufen konnte, und Oeyvind brachte ihm Laub und Gras. Eines
schoenen Tages sprang das Boeckchen zur Bergwand hinueber; es kletterte
hinauf, weit hinauf, wo es noch nie gewesen war. Oeyvind sah das Boeckchen
nicht, als er nach der Vesper hinauskam, und gleich dachte er an den
Fuchs. Ihm wurde ganz heiss bei dem Gedanken; er sah sich um und
lauschte: "Meck--meck--meck--mecke--Boeckchen!"--"Mae-ae-ae-aeh", schrie
der Bock oben auf der Bergwand, bog den Kopf zur Seite und guckte herunter.
Neben dem Bock aber lag ein kleines Maedchen auf den Knien. "Ist das Dein
Bock?" fragte sie. Oeyvind riss Mund und Augen auf und steckte beide Haende
in die Hosentaschen. "Wer bist Du?" fragte er.--"Ich bin doch die
Margit, Mutters Kleine und Vaters Fiedel, der Kobold im Haus, das
Grosskind von Ola Nordistuen auf dem Heidehof; im Herbst werde ich vier
Jahre, zwei Tage nach den Frostnaechten--ja!"--"Also die bist Du", sagte
er und holte Luft, denn er hatte, waehrend sie sprach, nicht zu atmen
gewagt.
"Ist der Bock Dein?" fragte das Maedchen noch einmal.--"Jaha", sagte er
und sah hinauf. "Mir gefaellt der Bock so gut;--Du, willst ihn mir nicht
schenken?"--"Nein, das will ich nicht."
Sie lag und strampelte mit den Beinen und sah zu ihm hinunter, und
schliesslich sagte sie: "Und wenn ich Dir einen Butterkringel dafuer gebe,
kann ich den Bock dann kriegen?" Oeyvind war armer Leute Kind; er hatte
Butterkringel erst einmal in seinem Leben gegessen; damals, als sein
Grossvater zu Besuch gekommen war. So was Schoenes hatte er sein Lebtag
nicht gegessen. Er sah zu dem Maedchen hinauf; "zeig' mir den Kringel
erst", sagte er. Sie bedachte sich nicht lang und hielt ihm den grossen
Kringel hin, den sie in der Hand hatte. "Da hast ihn", sagte sie und
warf ihm den Kringel zu. "Au, er ist kaputt gegangen", sagte der Junge
und sammelte sorglich jedes Stueckchen auf; das allerkleinste musste er
doch mal kosten, und das schmeckte so gut, dass er noch eins kosten
musste, und ehe er sich's versah, hatte er den ganzen Kringel
aufgegessen.
"Jetzt ist der Bock mein", rief das Maedchen. Dem Jungen blieb der letzte
Bissen im Munde stecken; das Maedel lag und lachte, und der Bock mit der
weissen Brust und dem braeunlich-schwarzen Fell stand daneben und guckte
mit schiefem Kopf hinunter.
"Kannst Du ihn mir nicht noch ein bisschen lassen?" bettelte der Bub, und
sein Herz fing zu klopfen an. Da lachte das Maedel noch mehr und richtete
sich schnell auf. "Nein, der Bock ist mein", sagte sie, schlang die Arme
dem Tier um den Hals, machte ihr Strumpfband los und band es ihm um.
Oeyvind sah zu. Nun stand sie auf und versuchte den Bock mit wegzuzerren.
Der wollte aber nicht und reckte den Hals nach Oeyvind hinunter.
"Mae-ae-ae-aeh!" schrie er. Sie aber fasste mit einer Hand seine Maehne,
mit der andern das Band und sagte liebkosend: "Komm, Boeckchen, Du kommst
auch mit in die Stube und darfst aus Mutters Schuessel essen und aus
meiner Schuerze", und dann sang sie:
Komm, Bock, zu dem Knaben.
Komm, Kalb, zu der Kuh,
Kommt, miauende Katzen,
Auf schneeweissem Schuh;
Komm, Entengehecke,
Aus deinem Verstecke,
Kommt, Kuechlein, ihr kleinen,
Faellt's schwer auch den Beinen.
Mit feinen Hauben
Kommt, ihr meine Tauben!
Ist's feucht noch, wie gut
Die Sonne doch tut.
Ja, Sommer, Sommer ist uns schon nah,
Doch rufst du den Herbst, ist er da!
* * * * *
Da stand der Junge nun.
Mit dem Bock hatte er seit dem Winter, wo er geboren war, gespielt und
hatte nie gedacht, er muesse ihn einmal hergeben; und nun war es so ganz
ploetzlich geschehen, und er wuerde den Bock nie mehr wiedersehen.
Die Mutter kam, ein Liedchen summend, vom Strande herauf mit ihren
hoelzernen Kuebeln, die sie gescheuert hatte. Sie sah ihren Jungen mit
gekreuzten Beinen im Grase sitzen und weinen und ging hin zu ihm. "Warum
weinst Du?"--"Ach, der Bock, der Bock!"--"Ja, wo ist denn der Bock?"
fragte seine Mutter und sah zum Dach hinauf.--"Der kommt nie mehr
wieder", sagte der Junge.--"Aber Kind, wie sollte das wohl zugehen?"--Er
mochte es nicht gleich sagen. "Hat der Fuchs ihn geholt?"--"Ach, ich
wollt', es war' der Fuchs gewesen!"--"Bist Du nicht bei Trost," sagte
die Mutter, "was ist mit dem Bock geschehen?"--"A-a-ach, ich hab'
ihn--verkauft fuer einen--Kringel."
Kaum hatte er das Wort ausgesprochen, da begriff er erst, was es heisst,
den Bock fuer einen Kringel zu verkaufen; daran hatte er vorher gar nicht
gedacht. Seine Mutter sagte: "Was, meinst Du wohl, mag der Bock von Dir
denken, dass Du ihn fuer einen Kringel verkaufen konntest?"
Daran dachte der Junge ja schon selber, und ihm wurde klar, dass er hier
in dieser Welt nie wieder froehlich werden koenne,--"und im Himmel auch
wohl nicht mehr", fiel ihm hinterher ein.
Sein Kummer war so gross, dass er sich fest vornahm, nie wieder einen
dummen Streich zu machen, nie mehr den Faden vom Spinnrocken
abzuschneiden oder die Schafe herauszulassen oder allein ans Wasser zu
gehen. Dabei schlief er ein, und er traeumte, der Bock sei ins
Himmelreich gekommen; der liebe Gott sass da mit einem langen Bart genau
wie im Katechismus, und der Bock frass von einem schimmernden Busch die
Blaetter ab. Oeyvind aber sass ganz allein auf dem Dach und konnte nicht
hinauf.
Da kam ihm etwas Feuchtes ans Ohr, und er fuhr in die Hoehe.
"Mae-ae-ae-aeh!" sagte es, und sein Bock war wieder da!
"Herrjeh, Du bist wieder da?" Er sprang auf, fasste den Bock an beiden
Vorderbeinen und tanzte mit ihm, als sei's sein Bruder, und zupfte ihn
am Bart und wollte gerade mit ihm zur Mutter laufen, da hoerte er ein
Geraeusch und sah das kleine Maedchen dicht hinter sich auf der gruenen
Wiese sitzen. Nun wurde ihm alles klar; er liess den Bock los. "Bist Du
mit ihm hergekommen?" Sie sass da und riss mit den Haenden Grasbueschel aus
und sagte: "Ich darf ihn nicht behalten. Grossvater sitzt oben und
wartet." Wie der Junge noch da stand und sie ansah, hoerte er eine
scharfe Stimme oben vom Wege her: "Na, wird's bald?"--Da wusste sie, was
sie zu tun hatte. Sie stand auf, ging auf Oeyvind zu, schob ihre erdige
kleine Hand in seine, blickte zur Seite und sagte: "Sei nicht boes!"
Damit war es aber auch mit ihrem Mut zu Ende, sie warf sich ueber den
Bock und fing zu weinen an.
"Meinetwegen kannst Du den Bock behalten", sagte Oeyvind und sah weg.
"Beeil' Dich 'n bisschen!" rief der Grossvater von der Hoehe. Und Margit
stand auf und stieg langsam den Berg hinan. "Du hast ja Dein Strumpfband
verloren!" rief Oeyvind ihr nach. Da drehte sie sich um und sah erst das
Band und dann den Jungen an. Schliesslich fasste sie einen grossen
Entschluss und sagte mit erstickter Stimme: "Das kannst Du behalten." Er
lief ihr nach und gab ihr die Hand: "Ich dank' auch schoen!" sagte er.
"Ach, wofuer denn?" sagte sie, stiess einen unendlich langen Seufzer aus
und ging weiter.
Er setzte sich wieder ins Gras, der Bock weidete neben ihm; aber der
Junge hatte nicht mehr soviel Freude dran wie sonst.
Zweites Kapitel
Der Bock war am Haus angebunden, Oeyvind aber schaute zu den Bergen
hinauf. Die Mutter kam heraus zu ihm und setzte sich neben ihn; er
wollte Maerchen aus ferner Zeit hoeren, denn jetzt genuegte ihm der Bock
nicht mehr. Und da erfuhr er denn, dass frueher einmal alle Dinge reden
konnten; der Berg sprach mit dem Bach und der Bach mit dem Fluss und der
Fluss mit dem Meer und das Meer mit dem Himmel; und dann fragte er, ob
denn der Himmel mit niemand spreche. Doch, der Himmel sprach mit den
Wolken, die Wolken aber mit den Baeumen, die Baeume aber mit dem Grase,
das Gras aber mit den Fliegen, die Fliegen aber mit den Tieren, die
Tiere aber mit den Kindern, die Kinder aber mit den Grossen. Und so ging
es immer weiter, bis die Reihe herum war, und keiner wusste, wer
eigentlich den Anfang gemacht hatte. Oeyvind schaute Berge und Baeume und
Meer und Himmel an; er hatte das alles eigentlich noch nie richtig
gesehen. Da kam gerade die Katze aus dem Hause und legte sich auf die
Steinfliesen in die Sonne. "Was sagt denn die Katze?" fragte Oeyvind und
zeigte auf sie. Die Mutter sang:
Die Abendsonne liegt auf den Wiesen,
Die Katze dehnt sich faul auf den Fliesen.
"Zwei Maeuslein fett,
Rahm vom Kuechenbrett,
Vier Stueck Fisch
Stahl ich hinterm Tisch,
Und bin so wonnig satt
Und bin so wohlig matt!"
Sagt die Katze.
Und nun kam der Hahn mit all den Hennen. "Was sagt denn der Hahn?"
fragte Oeyvind und klatschte in die Haende. Die Mutter sang:
Die Henne gluckt ihrer kleinen Gemeine,
Der Hahn steht wuerdig auf einem Beine.
"Die Gans da, ei seht,
Wie wichtig sie geht!
Doch sie weiss nicht, gebt acht,
Wie man Kratzfuesse macht!
Huehner, Huehner, ins Haus hinein,
Der Tag mag fuer heute beurlaubt sein!"
Sagt der Hahn.
Zwei kleine Voegel aber sassen oben auf dem Dachfirst und sangen. "Was
sagen denn die Voegel?" fragte Oeyvind und lachte.
"Das ist ein Leben, muss ich sagen,
Braucht man um nichts sich zu plagen!"
Sagt der Vogel.
Und er erfuhr, was ein jedes sagte bis hinunter zu der Ameise, die im
Moose krabbelte, und dem Wurm, der in der Borke nagte.
In diesem Sommer unterwies ihn seine Mutter auch im Lesen. Buecher hatte
er schon laengst gehabt und oft drueber nachgedacht, wie das wohl zugehen
moege, wenn auch die zu sprechen anfingen. Da wurden die Buchstaben zu
Tieren, zu Voegeln und zu allem Moeglichen; aber es dauerte nicht lange,
da gingen sie immer zu zweien miteinander; das A blieb stehen und machte
unter einem Baume Rast, der B hiess, dann kam das C und machte es auch
so. Als sie aber zu dreien und vieren beisammen waren, da schien es, als
koennten sie sich nicht vertragen; es wollte nicht recht gehen. Und je
weiter er kam, desto mehr vergass er, was sie bedeuteten; am laengsten
blieb das A in seinem Gedaechtnis haften; das A gefiel ihm am besten. Das
war ein kleines schwarzes Lamm und war mit allen gut Freund. Aber bald
vergass er auch das A, denn in dem Buche standen keine Maerchen, da
standen nur Aufgaben.
Da eines Tages kam die Mutter herein und sagte: "Morgen faengt die Schule
wieder an, Du sollst mit mir hin." Oeyvind hatte gehoert, die Schule sei
ein Ort, wo viele Knaben zusammen spielten, und dagegen hatte er
durchaus nichts. Er freute sich sehr darauf; auf dem Gehoeft war er schon
oft gewesen, aber nie zur Schulzeit, und er lief schneller als seine
Mutter die Huegel hinauf, denn er konnte es kaum erwarten. Sie kamen an
das Altenteilhaeuschen; ein fuerchterliches Gesumme wie in der Muehle zu
Haus schlug ihnen entgegen, und er fragte seine Mutter, was das sei. "Da
lesen die Kinder", sagte sie, und das freute ihn sehr, denn so hatte er
auch lesen koennen, als er die Buchstaben noch nicht gekannt hatte. Als
er hineinkam, sah er um einen Tisch soviele Kinder sitzen, dass sicher in
der Kirche auch nicht mehr sein konnten; andere sassen auf ihren Esskobern
an der Wand, wieder andere standen in kleinen Gruppen um eine Tafel
herum; der Schulmeister, ein alter grauhaariger Mann, sass am Herd auf
einem Schemel und stopfte seine Pfeife. Als Oeyvind und seine Mutter
hereinkamen, blickten alle auf, und die summende Muehle stand still, als
sei die Schleuse gesperrt. Alle blickten auf die Eintretenden; die
Mutter begruesste den Schulmeister und er sie.
"Hier bringe ich einen kleinen Jungen, der lesen lernen moechte", sagte
die Mutter. "Wie heisst das Kerlchen?" fragte der Schulmeister und wuehlte
in seinem Lederbeutel nach Tabak.
"Oeyvind", sagte die Mutter; "er kann schon die Buchstaben und kann auch
rechnen." "Sieh einer an," sagte der Schulmeister, "komm mal her, Du
Weisskopf!" Oeyvind ging zu ihm hin; der Schulmeister setzte ihn auf
seinen Schoss und nahm ihm die Muetze ab. "'n huebscher kleiner Bursch",
sagte er und strich ihm uebers Haar. Oeyvind sah ihm in die Augen und
lachte. "Lachst Du etwa ueber mich?" Er runzelte die Brauen. "Ja,
natuerlich", sagte Oeyvind und lachte aus Leibeskraeften. Da musste der
Schulmeister auch lachen, die Mutter lachte, und als die Kinder merkten,
dass sie es durften, lachten sie alle zusammen.
Somit war Oeyvind in die Schule aufgenommen.
Als er sich setzen musste, wollten ihm alle Platz machen. Er sah sich
auch lange um; sie tuschelten und zeigten auf ihn. Er drehte sich nach
allen Seiten, die Muetze in der Hand und das Buch unterm Arm. "Na, was
wird das werden?" fragte der Schulmeister, der schon wieder mit seiner
Pfeife zu tun hatte. Als der Junge sich eben nach dem Schulmeister
umwenden will, sieht er dicht neben dem Herd auf einem rotbemalten
Esskober Margit mit den vielen Namen sitzen; sie hatte das Gesicht in den
Haenden versteckt und lugte zu ihm hin. "Hier will ich sitzen", sagte
Oeyvind schnell, nahm sich einen Kober und setzte sich neben sie. Jetzt
hob sie den einen Arm ein bisschen und sah ihn unterm Ellbogen an; da
versteckte er auch schnell sein Gesicht in beiden Haenden und sah unterm
Ellbogen zu ihr hin. So sassen sie beide da und neckten sich, bis sie
lachte; nun lachte er auch, und die andern Kinder hatten es gesehen und
lachten mit. Da fuhr eine entsetzlich laute Stimme, die aber bei jedem
Worte milder wurde, dazwischen. "Ruhe, Ihr Bande, Ihr Kroppzeug, Ihr
Nichtsnutze! Ruhe! Und seid mal huebsch artig, Ihr Zuckerschweinchen!"
Das war der Schulmeister; er hatte es so an sich, leicht aufzubrausen,
aber ehe er noch zu Ende geredet hatte, pflegte er schon wieder gut zu
sein. Es wurde augenblicklich still in der Klasse, bis die Pfeffermuehlen
wieder in Gang kamen; jedes las laut aus seinem Buch, manche im
feinsten Diskant, die groeberen Stimmen trompeteten lauter und lauter, um
die andern zu ueberschreien, und ab und zu johlte einer dazwischen.
Oeyvind hatte sein Lebtag noch nicht solchen Spass gehabt.
"Ist das hier immer so?" fluesterte er Margit zu. "Ja immer", sagte sie.
Nachher mussten sie vortreten und lesen; dann wurde ein anderer Junge
beauftragt, sie lesen zu lassen, und schliesslich waren sie erloest,
konnten sich wieder auf ihren Platz setzen und brauchten nichts zu tun.
"Jetzt habe ich auch ein Boeckchen", sagte Margit.--"Wirklich?"--"Ja,
aber es ist nicht so schoen wie Deins!"--"Warum bist Du nicht
oefter auf den Berg gekommen?"--"Grossvater hat Angst, ich koennte
hinunterfallen."--"Es ist doch gar nicht so hoch."--"Grossvater will's
aber nicht."
"Meine Mutter weiss soviele Lieder", sagte er.--"Na, mein Grossvater
auch--das kannst Du glauben."--"Ja, aber nicht solche wie meine
Mutter."--"Aber mein Grossvater kann eins vom Tanzen.--Soll ich's mal
sagen?"--"Ja, bitte."--"Aber dann musst Du naeher herankommen, sonst
merkt's der Schulmeister." Er rueckte naeher, und dann sagte sie ihm ein
paar Strophen vor,--vier, fuenfmal, bis er sie konnte, und das war das
erste, was er in der Schule lernte.
"Tanz!" rief die Fiedel
Mit schnarrender Saite,
Der Bauer, der Breite,
Spreizte sich: "Ha!"
"Holla", rief Ola
Und bracht' ihn zu Falle,--
Wie lachten alle
Die Juengferchen da!
"Hopp", sagte Erik,
Und klomm zur Decke,--
Da krachten Ecke
Und Waende im Haus.
"Stopp", sagte Elling,
Und trug ihn am Kragen
Hinaus ohne Zagen:
"Hier tobe dich aus!"
"Hei", sagte Rasmus,
"Her mit dem Munde,
Randi, du runde!
Schnell, mach' dich bereit."
"Ei", sagte Randi;
Gab ihm eine Schelle,--
Wie rieb er die Stelle,--
"Da hast du Bescheid!"
"Aufstehn, Kinder!" rief der Schulmeister. "Heut am ersten Tag sollt Ihr
frueh nach Hause gehen; aber erst wollen wir noch beten und singen." Da
gab es ein Leben in der Schulstube; sie sprangen von den Baenken auf,
rannten durch die Stube und schwatzten durcheinander. "Ruhe, Ihr
Strolche, Ihr Hallunken, Ihr Banditen!--Ruhe! Und huebsch leise
auftreten, Kinderchen!" sagte der Schulmeister, und sie stellten sich
ruhig in Reih und Glied, worauf der Schulmeister vor sie hintrat und ein
kurzes Gebet sprach. Dann sangen sie. Der Schulmeister stimmte mit
seinem kraeftigen Bass an, alle Kinder standen mit gefalteten Haenden da
und sangen mit. Oeyvind stand mit Margit dicht an der Tuer und sah zu; sie
hatten auch die Haende gefaltet, aber mitsingen konnten sie nicht.
Das war der erste Schultag.
Drittes Kapitel
Oeyvind wuchs heran und wurde ein praechtiger Bursche; in der Schule sass
er immer oben und zu Hause war er anstellig bei jeder Arbeit. Das kam
daher, dass er daheim seine Mutter lieb hatte und in der Schule seinen
Lehrer. Den Vater sah er nur selten; der war entweder auf Fischfang,
oder er hatte in der Muehle zu tun, wo das halbe Dorf mahlen liess.
Was in diesen Jahren auf sein Gemuet am meisten wirkte, das war die
Geschichte des Schulmeisters, die Mutter ihm eines Abends, als sie am
Herde sassen, erzaehlte. Sie wob sich in seine Buecher hinein, sie legte
sich in jedes Wort, das der Schulmeister sagte, und huschte durch die
Schulstube, wenn alles still war. Sie machte ihn gehorsam und demuetig
und liess ihn gewissermassen alles leichter verstehen, was gelehrt wurde.
Diese Geschichte war folgendermassen:
Baard hiess der Schulmeister, und er hatte einen Bruder, der hiess Anders.
Sie hatten sich beide gern, liessen sich miteinander anwerben, lebten
zusammen in der Stadt, machten den Krieg mit, wobei sie beide zu
Korporalen befoerdert wurden, und standen bei derselben Kompagnie. Als
sie nach dem Kriege wieder nach Hause kamen, fanden alle, es seien zwei
Staatskerle. Da starb ihr Vater; er hatte viele Besitztuemer gehabt, die
schwer zu teilen waren, deshalb vereinbarten sie, sie wollten sich
lieber nicht deswegen veruneinigen, sondern wollten alles versteigern
lassen, so dass jeder kaufen koenne, was er wolle; der Erloes aber solle
geteilt werden. Gesagt, getan. Nun hatte aber der Vater eine grosse
goldene Uhr besessen, die weit und breit beruehmt war; denn es war die
einzige goldene Uhr, die die Leute in dieser Gegend je gesehen hatten,
und als diese Uhr zur Versteigerung kam, wollten viele reiche Maenner sie
haben; als aber auch die beiden Brueder zu bieten begannen, traten die
andern zurueck. Nun erwartete Baard von Anders, er werde ihm die Uhr
lassen, und Anders erwartete das gleiche von Baard. Jeder gab sein Gebot
ab, um den andern auf die Probe zu stellen, und beim Bieten blickte
einer auf den andern. Als die Uhr bis auf zwanzig Taler gekommen war,
fand Baard, das sei gar nicht nett von seinem Bruder gehandelt, und er
bot weiter, bis dreissig Taler; als Anders auch da noch nicht nachgab,
dachte Baard, Anders habe wohl ganz vergessen, wie gut er immer zu ihm
gewesen sei, und ausserdem war er doch der aeltere, und er bot mehr als
dreissig Taler. Anders tat immer noch mit. Da brachte Baard mit einem
Schlage die Uhr auf vierzig Taler und sah seinen Bruder nicht mehr dabei
an; es war sehr still in dem Zimmer, wo die Auktion stattfand, nur der
Vogt wiederholte ruhig den Preis. Anders stand da und dachte sich: koenne
Baard vierzig Taler geben, so koenne er es auch, und wenn ihm Baard die
Uhr nicht goenne, so wuerde er sie sich eben nehmen; er bot also mehr. Das
erschien Baard als die groesste Schmach, die ihm je widerfahren war; er
bot ganz leise fuenfzig Taler. Viele Leute standen ringsum, und Anders
dachte, so duerfe sein Bruder ihn doch nicht vor aller Ohren verspotten,
und bot mehr. Da lachte Baard: "Hundert Taler und meine Bruderliebe in
Kauf", sagte er, drehte sich um und ging aus der Stube. Nach einer Weile
kam ihm einer nach, als er schon im Begriff war, sein Pferd zu satteln,
das er kurz zuvor gekauft hatte. "Du kriegst die Uhr," sagte der Mann,
"Anders hat's aufgegeben." Als Baard das hoerte, durchfuhr es ihn wie
Reue; er dachte an seinen Bruder und nicht an die Uhr. Der Sattel war
aufgelegt, aber er hatte die Hand noch auf dem Ruecken des Pferdes und
wusste nicht, ob er reiten solle. Da kam eine Menge Menschen heraus,
Anders war auch darunter, und als er seinen Bruder neben dem gesattelten
Pferd stehen sah, wusste er nicht, was fuer Gedanken Baard in diesem
Augenblick bewegten, sondern schrie ihm zu: "Schoenen Dank fuer die Uhr,
Baard! Die Stunde, da Dein Bruder wieder Deinen Weg kreuzt, wird sie Dir
nicht anzeigen."--"Und auch nicht die Stunde, da ich auf diesen Hof
zurueckreite!" erwiderte Baard mit bleichem Gesicht und schwang sich auf
sein Pferd. Das Haus, in dem sie beide zusammen mit ihrem Vater gelebt
hatten, betrat keiner von ihnen mehr.
Bald darauf heiratete Anders in eine Kaetnerwirtschaft ein, lud aber
Baard nicht zur Hochzeit; Baard war auch nicht mal in der Kirche. Im
ersten Jahr, als Anders verheiratet war, fand man die einzige Kuh, die
er besass, tot an der noerdlichen Seite des Hauses, wo sie angebunden war,
und keiner konnte begreifen, woran sie gestorben war; anderes
Missgeschick kam hinzu, und es ging abwaerts mit ihm; am schlimmsten aber
wurde es, als mitten im Winter seine Scheune abbrannte mit allem, was
darin war; keiner wusste, wie das Feuer aufgekommen war. "Das hat einer
angelegt, der mir nichts Gutes goennt", sagte Anders, und in dieser Nacht
weinte er. Er war ein armer Mann geworden und hatte keine Lust zur
Arbeit mehr.
Da stand am andern Abend ploetzlich Baard in seiner Stube. Anders lag auf
dem Bett, als der andere eintrat, aber er sprang auf. "Was willst Du
hier?" fragte er, schwieg dann aber und sah seinen Bruder unverwandt an.
Baard zoegerte einen Augenblick, bis er antwortete: "Ich moechte Dir
helfen, Anders, Dir geht es nicht gut."--"Mir geht es so, wie Du es mir
goennst, Baard! Geh lieber, denn ich weiss nicht, ob ich mich beherrschen
kann!"--"Du irrst, Anders; es tut mir leid--"--"Geh, Baard, oder Gott
gnade uns beiden!"--Baard trat ein paar Schritte zurueck; mit zitternder
Stimme sagte er: "Wenn Du die Uhr haben willst, so kannst Du sie
bekommen!"--"Geh, Baard!" schrie der andere; da mochte Baard nicht
laenger bleiben und ging.
Mit Baard war das aber so zugegangen: als er hoerte, dass es seinem Bruder
schlecht gehe, taute sein Herz auf, aber sein Stolz hielt ihn zurueck. Er
fuehlte das Beduerfnis, in die Kirche zu gehen, und dort fasste er allerlei
gute Vorsaetze, doch er konnte sie nicht ausfuehren. Manchmal ging er so
weit, bis er das Haus sehen konnte, aber dann kam gerade einer aus der
Tuer, oder es war Besuch da, oder Anders stand draussen und hackte
Holz,--kurz, es kam immer etwas dazwischen. Eines Sonntags aber gegen
Ende des Winters war er wieder in der Kirche, und Anders war auch da.
Baard sah, wie bleich und mager er geworden war, und er trug noch
dieselben Kleider wie damals, als sie zusammen waren, doch jetzt waren
sie alt und geflickt. Waehrend der Predigt blickte er zum Pfarrer auf,
und es kam Baard vor, als sehe sein Bruder gut und mild aus; er dachte
an ihre Kinderjahre, und was fuer ein gutes Kind er gewesen war. Baard
ging an diesem Tage zum Abendmahl, und gelobte Gott feierlich, er wolle
sich mit seinem Bruder versoehnen, komme, was da wolle. Dieser Vorsatz
erfuellte seine Seele, als er aus dem Kelche trank, und als er sich
erhob, wollte er gleich auf ihn zugehen und sich neben ihn setzen; aber
der Platz war besetzt, und sein Bruder sah nicht auf. Nach der Predigt
kam auch wieder etwas dazwischen; es waren soviele Leute da, seine Frau
ging neben ihm, und die kannte er doch nicht; er dachte, das beste sei,
er gehe hin zu ihm und rede vernuenftig mit ihm. Als es Abend wurde,
fuehrte er das aus. Er ging bis an die Stubentuer und lauschte; und da
hoerte er seinen eigenen Namen; es war die Stimme der Frau. "Er ist heut
zum Abendmahl gegangen," sagte sie, "da hat er gewiss an Dich
gedacht."--"Nein, der hat nicht an mich gedacht," sagte Anders, "der
denkt bloss an sich selbst."
Dann sagte lange Zeit keiner etwas; Baard stand der Schweiss auf der
Stirn, obschon es ein kalter Abend war. Die Frau drinnen klapperte mit
den Toepfen, auf dem Herde knisterte und knackte es, ein kleines Kind
schrie dazwischen, und Anders wiegte es in Schlaf. Schliesslich sagte die
Frau: "Ich glaube, Ihr denkt beide aneinander und wollt es nur nicht
zugeben."--"Wir wollen von was anderm reden", sagte Anders. Nach einer
Weile stand er auf und naeherte sich der Tuer. Baard musste sich im
Holzschuppen verstecken; gerade dahin kam aber Anders, um sich einen Arm
voll Holz zu holen. Baard stand in der Ecke und sah ihn ganz genau; er
hatte seinen schaebigen Sonntagsrock ausgezogen und war in der Uniform,
die er, gerade wie Baard auch, aus dem Kriege mit heimgebracht hatte,
und er hatte dem Bruder versprochen, sie nie zu tragen, sondern sie auf
die Nachkommen zu vererben, und Baard hatte ihm das gleiche Versprechen
gegeben. Die von Anders war jetzt geflickt und schaebig, seine kraeftige,
gutgewachsene Gestalt steckte wie in einem Buendel Lumpen, und dabei
hoerte Baard, wie bei ihm selber die goldene Uhr in der Tasche tickte.
Anders ging auf den Reisighaufen zu, aber statt sich zu buecken und einen
Arm voll aufzuraffen, blieb er stehen, lehnte sich an einen Holzstoss und
sah zu dem leuchtend klaren Sternenhimmel auf. Dann seufzte er tief und
sagte: "Ach--ja--ja--ja; o mein Gott, mein Gott!"
Solange Baard lebte, klang ihm das in den Ohren. Er wollte vor ihn
hintreten, aber da hustete sein Bruder, und das klang so furchtbar
trocken; das genuegte schon, um ihn wieder zurueckzuhalten. Anders nahm
seine Tracht Holz und ging so dicht an Baard vorbei, dass die Zweige ihm
ins Gesicht schlugen.
Wohl zehn Minuten stand Baard auf demselben Fleck, und wer weiss, wann er
gegangen waere, wenn er nicht von der grossen Aufregung einen
Schuettelfrost bekommen haette, dass er am ganzen Leibe zitterte. Da ging
er hinaus; er gestand sich offen ein, dass er zu feige war,
hineinzugehen, deshalb hatte er sich jetzt einen andern Plan ausgedacht.
Aus einem Ascheimer, der in der Ecke neben ihm stand, nahm er ein paar
Kohlenstuecke, suchte sich einen Kienspan, ging in die Scheune, machte
die Tuer hinter sich zu und schlug Feuer. Als er den Span in Brand hatte,
leuchtete er damit nach dem Haken, an den Anders seine Laterne haengte,
wenn er frueh morgens zum Dreschen kam. Baard holte seine goldene Uhr
heraus und haengte sie an den Haken, loeschte dann seinen Span aus und
ging, und jetzt war ihm so leicht ums Herz, dass er wie ein Juengling
durch den Schnee lief.
Tags darauf hoerte er, die Scheune sei in der Nacht niedergebrannt.
Vermutlich waren von dem Span, mit dem er sich geleuchtet hatte, als er
die Uhr aufhing, Funken heruntergefallen.
Das erschuetterte ihn so, dass er den ganzen Tag wie ein Kranker dasass;
er nahm sein Gesangbuch und sang, und die Leute bei ihm im Hause
dachten, irgend was muesste da nicht seine Richtigkeit haben. Abends aber
ging er fort; es war heller Mondschein; er ging nach dem Gehoeft seines
Bruders, grub auf der Brandstaette nach und fand wirklich ein
zusammengeschmolzenes Kluempchen Gold; das war die Uhr.
Mit dem Gold in der Hand war er am selben Abend zu seinem Bruder
hineingegangen, hatte um Frieden gebeten und alles aufklaeren wollen.
Aber wie es ihm da erging, ist ja schon erzaehlt.
Ein kleines Maedchen hatte ihn an der Brandstelle graben sehen, ein paar
Burschen, die zum Tanz gegangen waren, hatten ihn am Sonntagabend auf
das Gehoeft zuschreiten sehen, die Leute bei ihm im Hause erzaehlten, wie
wunderlich er am Montag gewesen war, und weil ja alle wussten, dass er mit
seinem Bruder verfeindet war, so wurde Anzeige erstattet und eine
Untersuchung angeordnet.
Keiner konnte ihm etwas beweisen, aber der Verdacht blieb an ihm haengen;
weniger als je konnte er sich jetzt seinem Bruder naehern.
Anders hatte sofort an Baard gedacht, als die Scheune in Flammen stand,
aber er hatte es keinem gesagt. Als er ihn am Abend darauf bleich und
verstoert in seine Stube kommen sah, durchzuckte ihn der Gedanke: jetzt
hat ihn die Reue gepackt, aber eine so schaendliche Handlungsweise dem
eigenen Bruder gegenueber ist unverzeihlich. Spaeter hoerte er dann von den
Leuten, dass sie ihn an dem Abend, da das Feuer auskam, auf das Haus
hatten zugehen sehen, und obwohl durch das Verhoer nichts Gewisses
festgestellt wurde, glaubte er steif und fest, Baard sei der Taeter. Sie
trafen sich beim Verhoer, Baard in seinen guten Kleidern, Anders in
seinen geflickten; Baard sah, als er hereinkam, mit einem so flehenden
Blick zu ihm hin, dass es Anders durch und durch ging. Er will, ich soll
nichts sagen, dachte Anders, und als er gefragt wurde, ob er seinem
Bruder die Tat zutraue, sagte er laut und bestimmt: "Nein."
Doch von diesem Tage an ergab sich Anders dem Trunk, und es ging ihm
erbaermlich schlecht. Noch viel schlimmer aber stand es um Baard, obschon
der nicht trank; aber er war kaum wiederzuerkennen.
Da kam eines Abends spaet eine aermliche Frau in die kleine Kammer, die
Baard sich gemietet hatte, und bat ihn, mitzukommen. Er kannte sie; es
war die Frau seines Bruders. Baard ahnte gleich, was fuer ein Anliegen
sie hatte; er wurde leichenblass, zog sich an und ging mit ihr, ohne ein
Wort zu sagen. Ein schwacher Lichtschein kam aus Anders' Fenster,
blitzte auf und verschwand wieder, und sie gingen dem Scheine nach, denn
durch den Schnee fuehrte kein Pfad. Als Baard wieder auf der Diele stand,
schlug ihm ein eigentuemlicher Geruch entgegen, dass ihm ganz uebel wurde.
Sie gingen hinein. Ein kleines Kind sass am Herd und knabberte an den
Kohlen, es war ganz schwarz im Gesicht, aber es blickte auf und lachte
mit weissen Zaehnchen; das war das Kind seines Bruders. Im Bett aber, mit
allen moeglichen Kleidungsstuecken zugedeckt, lag Anders, abgemagert, mit
klarer, hoher Stirn und schaute seinen Bruder aus hohlen Augen an. Baard
zitterten die Knie, er setzte sich ans Fussende des Bettes und brach in
heftiges Weinen aus. Der Kranke sah ihn unverwandt an und schwieg.
Schliesslich bat er seine Frau, hinauszugehen; aber Baard winkte ihr, sie
moege bleiben,--und dann sprachen sich die Brueder aus. Sie sprachen ueber
alles von dem Tage an, da sie auf die Uhr geboten hatten, bis zu der
Stunde, da sie hier zusammentrafen. Baard holte schliesslich den
Goldklumpen heraus, den er immer bei sich trug, und nun sahen die Brueder
ein, dass sie sich in all den Jahren nicht einen einzigen Tag gluecklich
gefuehlt hatten.
Anders sagte nicht viel, dazu war er zu schwach; aber Baard blieb am
Bett sitzen, solange Anders krank war. "Jetzt bin ich wieder ganz
gesund," sagte Anders eines Morgens, als er aufwachte, "jetzt wollen
wir noch lange zusammenleben, mein Herzensbruder, und nie mehr
auseinandergehen, ganz wie damals." An dem Tage aber starb er.
Frau und Kind nahm Baard zu sich, und sie hatten es fortan gut. Was aber
die Brueder am Krankenbett zusammen gesprochen hatten, das drang hinaus
durch die Waende und durch die Nacht und alle Leute im Dorf erfuhren es,
und Baard kam hoch zu Ansehen. Alle gruessten ihn wie einen Mann, der
schweres Leid gehabt hat, und dem dann ein Glueck widerfahren ist, oder
wie einen, der sehr lange fortgewesen ist. Baard richtete sich an dieser
allgemeinen Freundlichkeit auf, er wurde ein frommer Mensch, und da er
etwas schaffen wollte, wie er sagte, so machte der alte Korporal einen
Schulmeister aus sich. Was er den Kindern als erstes und letztes
einpraegte, war Liebe, und auch sich selbst wuenschte er, dass ihn die
Kinder wie einen guten Kameraden und wie einen Vater lieb haben sollten.
Das war die Geschichte, die von dem alten Schulmeister erzaehlt wurde,
und in Oeyvinds Herzen schlug sie so fest Wurzel, dass sie fuer ihn
Religion und Erzieher zugleich wurde. Der Schulmeister war fuer ihn fast
ein uebermenschliches Wesen geworden, obgleich er so umgaenglich zwischen
ihnen sass und so gemuetlich vor sich hinbrummte. Dass er je seine Aufgaben
nicht haette wissen sollen, war ganz undenkbar, und laechelte ihm der
Schulmeister zu oder strich er ihm gar uebers Haar, wenn er seine Lektion
hergesagt hatte, so war ihm den ganzen Tag lang froh und warm ums Herz.
Den groessten Eindruck auf die Kinder machte es immer, wenn der
Schulmeister vor dem Singen eine kleine Ansprache an sie hielt und
ihnen, mindestens einmal jede Woche, ein paar Strophen vorlas, die von
der Naechstenliebe handelten. Wenn er den ersten Vers vorlas, bebte seine
Stimme, ob er ihn nun auch schon an die dreissig Jahre gelesen hatte; der
Vers lautete:
Lieb' deinen Naechsten nach Christenpflicht,
Unter dem Absatz zertritt ihn nicht,
Liegt er auch schon im Staube;
Alles, was lebet, ist Untertan--
Alles der Liebe, die neuschaffen kann:
Trau' du ihr nur und glaube!
Wenn aber das Lied zu Ende war, und er noch eine Weile schweigend
dagestanden hatte, dann sah er sie an und zwinkerte mit den Augen:
"Vorwaerts, kleines Gesindel, geht huebsch brav nach Hause und macht nicht
solchen Laerm,--seid huebsch artig, dass ich immer bloss Gutes von Euch
hoere, Ihr kleinen Dachse!" Und wenn sie dann beim Zusammenpacken der
Buecher und Esskober einen Hoellenspektakel machten, dann klang seine
Stimme durch das Getoese: "Kommt morgen wieder, sowie es Tag wird, sonst
sollt Ihr mich kennen lernen!--Kommt ja rechtzeitig, Kinderchen, dann
wollen wir sehr fleissig sein."
Viertes Kapitel
Von Oeyvinds Weiterentwicklung bis zu dem Jahr vor seiner Konfirmation
ist nicht viel zu erzaehlen. Morgens lernte er, tags arbeitete er, und
abends spielte er.
Weil er gar so einen froehlichen Sinn hatte, dauerte es nicht lange, bis
die Kinder aus der Nachbarschaft sich in den Freistunden dort einfanden,
wo er war. Von seinem Hause fiel ein hoher Abhang zur Bucht ab, der, wie
schon erwaehnt, an einer Seite von der Bergwand, an der andern vom Wald
begrenzt war, und hier veranstaltete die Dorfjugend an jedem schoenen
Abend und auch Sonntags Schlittenfahrten. Oeyvind konnte es am besten; er
hatte zwei Schlitten, "Scharftraber" und "Kratzer" hiessen sie; diesen
lieh er den andern Kindern, jenen aber steuerte er selbst und hatte
Margit auf dem Schoss.
Wenn Oeyvind aufwachte, war in dieser Zeit sein erstes, aus dem Fenster
zu schauen, ob's Tauwetter sei, und sah er, dass es grau ueber den Bueschen
jenseits der Bucht hing, oder hoerte er es vom Dach tropfen, so ging es
so langsam mit dem Anziehen, als sei mit dem Tag rein gar nichts
anzufangen. Wachte er aber zu knisternder Kaelte und klarem Himmel auf
und war's noch dazu Sonntag, wo es den guten Anzug und keine Arbeit gab,
bloss Ueberhoeren und vormittags Kirchgang und dann den ganzen Nachmittag
und Abend frei,--hei! da war der Bursch mit einem Satz aus dem Bett, zog
sich an, als brenne es, und konnte vor Aufregung kaum essen. Sowie es
Nachmittag war, und der erste Junge auf Schneeschuhen den Weg entlang
kam, den Stab ueber dem Kopf schwang und juchzte, dass es von den Hoehen
wiedertoente,--und dann einer auf dem Schlitten daherkam und noch einer
und noch einer,--dann stuermte der Bursch mit seinem "Scharftraber" auf
und davon, rannte den Huegel hinauf und machte bei den Zuletztgekommenen
halt mit einem langen schmetternden Jodler, der an der Bucht von Berg zu
Berg klang und weit, weit hinten erstarb.
Er schaute dann wohl nach Margit aus, aber wenn sie erst da war,
kuemmerte er sich nicht mehr recht um sie.
Dann aber kam Weihnachten, wo der Bursch und das Maedel beide ins
siebzehnte Jahr gingen und im Fruehjahr konfirmiert werden sollten. Am
vierten Weihnachtstage sollte auf dem oberen Heidehof bei Margits
Grosseltern, bei denen sie aufgewachsen war, eine grosse Festlichkeit
stattfinden; sie hatten ihr das schon seit drei Jahren versprochen und
mussten es jetzt endlich wahr machen. Hierzu wurde Oeyvind eingeladen.
Es war ein halbklarer, nicht kalter Abend; Sterne waren nicht zu sehen,
und am andern Tage wuerde es wohl Regen geben. Ein schlaefriger Wind
strich ueber den Schnee, der hier und da von der weissen Heide fortgeweht
war und sich an anderen Stellen zu Schneewehen angesammelt hatte. Wo
nicht gerade Schnee lag, war der ganze Weg mit Eis bedeckt, das
blauschwarz zwischen dem Schnee und dem nackten Felde schimmerte und
sich in blanken Streifen hinzog, soweit das Auge reichte. Die Berge
herab waren Schneestuerze gekommen; duester und kahl war ihr Bett, und nur
zu beiden Seiten lag noch der helle Schnee, wo nicht gerade der
Birkenwald sich zusammenschob und Dunkelheit schuf. Wasser war nicht zu
sehen, nur halbnackte Sandflaechen und Moore umsaeumten schwer und
strichweise die Berge. Die Gehoefte lagen in dichten Gruppen mitten im
Felde; sie sahen im Dunkel des Winterabends wie schwarze Klumpen aus,
aus denen Licht ueber das Land hinstrahlt, bald aus diesem Fenster, bald
aus jenem; an dem Lichtschein sah man, dass es drinnen geschaeftig
herging. Die ganze Jugend, Grosse und Halberwachsene stroemten von
verschiedenen Seiten zusammen; die wenigsten blieben auf dem Wege; zum
mindesten verliessen sie ihn und stahlen sich beiseite, sobald sie an das
Gehoeft kamen; einer kroch hinter den Kuhstall, ein paar unter den
Vorratschuppen, andere jagten um die Scheune und heulten wie Fuechse,
wieder andere antworteten aus der Ferne mit Katzenstimmen, einer stand
hinterm Backofen und bellte wie ein alter bissiger Koeter, dem die Stimme
eingerostet ist, bis von allen Seiten Jagd auf ihn gemacht wurde. Die
Maedchen kamen scharenweise und hatten ein paar Burschen, meistens
halbwuechsige, bei sich, die sich unterwegs in einemfort pruegelten, weil
sie ein bisschen erwachsener aussehen wollten. Wenn ein solcher
Maedchenschwarm in den Hof kam, und einer oder der andere von den
Burschen ihn gewahrte, dann stoben die Maedchen auseinander, liefen auf
den Hausflur oder in den Garten und mussten eine nach der andern wieder
hervor und in die Stube hineingezogen werden. Ein paar waren so bloede,
dass Margit erst kommen und sie hineinkomplimentieren musste. Zuweilen war
auch eine dabei, die eigentlich gar nicht eingeladen war und deshalb
auch beileibe nicht hineinwollte, bloss ein bisschen zusehen, bis es sich
dann doch so fuegte, dass sie wenigstens _einen_ Tanz mittanzen musste. Wen
Margit gut leiden konnte, den noetigte sie zu den Grosseltern hinein in
eine kleine Stube, wo der Alte sass und rauchte und die Grossmutter
geschaeftig hin und her ging. Da wurden sie bewirtet und freundlich
begruesst. Oeyvind war nicht darunter, und das kam ihm ein bisschen
sonderbar vor.
Der Hauptmusikant des Gaus konnte erst spaeter kommen; bis dahin mussten
sie sich mit dem alten begnuegen, einem Haeusler; Grauknut hiess er. Er
konnte vier Taenze, zwei Hoppser, einen Halling und den alten sogenannten
Napoleonwalzer; allein im Laufe der Zeit hatte er den Halling in einen
Schottischen umgewandelt, indem er den Takt veraenderte, und ein Hoppser
war auf dieselbe Weise zu einer Polka-Mazurka geworden. Er spielte also
los, und der Tanz begann. Oeyvind wagte nicht gleich mit anzufangen, weil
hier so viele Grosse waren; aber die Halbwuechsigen taten sich flink
zusammen, pufften sich gegenseitig vorwaerts, tranken sich in starkem
Bier ein bisschen Mut an, und da tat denn auch Oeyvind mit. Heiss war es in
der Stube; die Froehlichkeit und das Bier stiegen ihnen zu Kopf. Margit
tanzte am meisten den Abend, wohl weil ihre Grosseltern das Fest gaben,
und deshalb sah sich auch Oeyvind oft nach ihr um; aber immer tanzte sie
mit andern. Er wollte auch gern mal mit ihr tanzen; deshalb sass er einen
Tanz ueber, um, sowie er zu Ende war, gleich auf sie zustuermen zu koennen,
und das tat er auch, aber ein grosser, sonngebraeunter Mensch mit vollem
Haar schob ihn beiseite. "Weg da, Bengel!" rief er und gab Oeyvind einen
Puff, dass er fast der Laenge nach ueber Margit gefallen waere. So etwas
war ihm noch nie passiert, nie waren die Leute anders als nett zu ihm
gewesen, und nie hatte ihn einer "Bengel" genannt, wenn er mittun
wollte; er wurde feuerrot, sagte aber kein Wort und zog sich zurueck,
dahin, wo der neue Musikant, der eben gekommen war, sass und sein
Instrument stimmte. Alle waren still geworden und warteten auf den
ersten, kraeftigen Ton von "dem Richtigen". Er probierte und stimmte, es
dauerte lange, aber endlich legte er mit einem Hoppser los; die Burschen
kreischten auf und schwenkten ihre Maedel im Kreise. Oeyvind blickte
Margit nach, wie sie mit dem haarbuschigen Menschen tanzte; sie lachte
ueber seine Schulter hinweg, dass man ihre weissen Zaehne sah, und Oeyvind
fuehlte zum erstenmal in seinem Leben einen wunderlich stechenden Schmerz
in der Brust.
Er sah immer eifriger zu ihr hin, und je mehr er sie betrachtete, desto
mehr kam es ihm vor, als sei Margit schon ganz erwachsen; das kann ja
nicht sein, dachte er, denn sie faehrt doch immer noch mit Schlitten.
Aber erwachsen war sie doch, und der haarbuschige Mann zog sie, als der
Tanz zu Ende war, auf seinen Schoss; sie machte sich los, blieb aber doch
neben ihm sitzen.
Oeyvind sah sich den Mann an; er hatte einen feinen blauen Tuchanzug an,
ein blaukariertes Hemd und ein seidenes Halstuch; dazu ein schmales
Gesicht, blaue, energische Augen, und einen lachenden, trotzigen Mund.
Es war ein huebscher Mensch. Oeyvind sah ihn sich ganz genau an, und dann
beschaute er sich selbst; er hatte ein Paar neue Hosen zu Weihnachten
bekommen und hatte sich sehr darueber gefreut; jetzt sah er aber, dass sie
bloss aus grauem Fries waren; die Jacke war aus demselben Stoff, aber sie
war alt und schaebig, und die Weste, aus gewuerfeltem, durchgewebtem
Stoff, war auch alt und hatte zwei blanke Knoepfe und einen schwarzen. Er
sah umher und fand, wenige nur seien so duerftig gekleidet wie er. Margit
hatte ein schwarzes Kleid aus feinem Stoff an, im Brusttuch steckte eine
Brosche und in der Hand hatte sie ein seidenes Taschentuch. Auf dem Kopf
trug sie ein kleines schwarzseidenes Haeubchen, das mit breitem
gestreiftem Atlasband unterm Kinn zusammengebunden war. Sie hatte rote
Backen und lachte; der Mann plauderte mit ihr und lachte auch. Wieder
wurde aufgespielt, und der Tanz fing von neuem an. Ein Schulkamerad kam
und setzte sich neben ihn. "Warum tanzst Du nicht, Oeyvind?" fragte er
freundlich.--"Ach nein," sagte Oeyvind, "ich sehe nicht danach
aus."--"Siehst nicht danach aus?" fragte der andere; aber ehe er
weitersprechen konnte, sagte Oeyvind: "Wer ist das mit dem blauen
Tuchanzug, der mit Margit tanzt?"--"Das ist doch Jon Hatlen; er ist auf
der Ackerbauschule gewesen und will jetzt den Hof uebernehmen."--Im
selben Augenblick setzten Margit und Jon sich hin. "Was ist das fuer ein
Junge mit dem hellen Haar, der da neben dem Musikanten sitzt und mich
fortwaehrend anglotzt?" fragte Jon. Da lachte Margit und sagte: "Das ist
der Haeuslerjunge von Pladsen."
Oeyvind hatte freilich immer gewusst, dass er ein Haeuslerjunge war, aber
bis jetzt hatte er das nie weiter empfunden. Er kam sich mit einem Mal
so klein vor, kleiner als alle andern; um sich einen Halt zu geben,
versuchte er, an all das zu denken, was ihn bis zu dieser Stunde froh
und stolz gemacht hatte--vom Schlittenfahren angefangen bis zu den
einzelnen Aeusserungen. Als er auch an Vater und Mutter dachte, die zu
Haus sassen und sich vorstellten, wie gut er es jetzt haben mochte,
konnte er die Traenen kaum zurueckhalten. Um ihn lachten und scherzten die
andern, die Fiedel schrillte ihm gerade in die Ohren, und einen
Augenblick war's, als wolle etwas Finsteres in ihm aufsteigen, dann aber
fiel ihm die Schule ein und die Kameraden und der Schulmeister, wie er
ihn streichelte, und der Herr Pfarrer, der ihm bei der letzten Pruefung
ein Buch geschenkt und gesagt hatte, er sei ein fleissiger Junge; sein
Vater hatte dabei gesessen und es mitangehoert und ihm zugenickt. "Sei
brav, Oeyvind", meinte er den Schulmeister sagen zu hoeren, indem er ihn
auf den Schoss nahm wie damals, als er klein war. "Du lieber Gott, das
alles hat ja so wenig zu sagen, und im Grunde sind alle Menschen gut; es
sieht bloss manchmal so aus, als seien sie es nicht. Aus uns beiden soll
schon was Tuechtiges werden, Oeyvind, ebensoviel wie aus Jon Hatlen;
werden schon auch feine Kleider kriegen und mit Margit in der hellen
Stube tanzen, wo Hunderte von Menschen dabei sind, und wir lachen und
plaudern zusammen; Brautpaar und Pfarrer, und ich auf dem Chor laechle
Dir zu, und die Mutter daheim, und ein grosser Hof mit zwanzig Kuehen und
drei Pferden, und Margit ist so lieb und gut wie einst in der
Schule----"
Der Tanz war zu Ende; Oeyvind sah Margit vor sich auf der Bank sitzen
und Jon daneben, den Kopf dicht an ihrem; wieder fuhr ihm ein scharfer,
stechender Schmerz durch die Brust, und es war, als sage er zu sich
selbst: Ach, stimmt ja, ich hab's ja so schlecht.
Im selben Augenblick stand Margit auf und kam gerade auf ihn zu. Sie
beugte sich zu ihm hinunter. "Du darfst nicht so dasitzen und mich
immerfort anstarren", sagte sie; "Du kannst Dir doch denken, dass es
auffaellt; hol' Dir doch eine und tanz' mit ihr."
Er antwortete nicht, er sah nur auf zu ihr, und--er konnte nicht dafuer:
seine Augen fuellten sich mit Traenen. Sie hatte sich schon aufgerichtet
und wollte gehen, da sah sie es und stand still; sie wurde ploetzlich
feuerrot, drehte sich um und ging auf ihren Platz zurueck; da aber machte
sie wieder Kehrt und setzte sich anderswohin. Jon ging schnell ihr nach.
Oeyvind stand von der Bank auf, draengte sich zwischen die Menschen
hindurch, ging auf den Hof hinaus, setzte sich in eine der Aussengalerien
und wusste doch nicht, was er da eigentlich wollte; er stand also auf,
setzte sich aber wieder hin, denn er sass hier ja ebensogut wie irgendwo
anders. Nach Haus gehen mochte er nicht, wieder hinein erst recht nicht;
das kam alles auf eins heraus. Er war nicht imstande, sich klar
vorzustellen, was eigentlich geschehen war; er wollte gar nicht daran
denken; an die Zukunft wollte er auch lieber nicht denken, denn es gab
ja nichts, wonach er sich haette sehnen koennen.
"Aber woran denke ich denn bloss?" fragte er sich halblaut, und als er
seine eigene Stimme hoerte, dachte er: sprechen kannst Du also noch.
Kannst Du auch noch lachen? Und er probierte es: ja, er konnte noch
lachen, und so lachte er denn ganz laut, immer lauter, und ploetzlich kam
es ihm sehr drollig vor, dass er da sass und so ganz fuer seinen eigenen
Schatten lachte,--und da musste er noch mehr lachen. Hans aber, sein
Schulkamerad, der neben ihm gesessen hatte, kam ihm nach. "Um
Gotteswillen, worueber lachst Du?" fragte er und blieb am Eingang
stehen. Da hielt Oeyvind inne.
Hans stand und wartete ab, was sich nun begeben wuerde. Oeyvind erhob
sich, sah sich vorsichtig um und sagte dann leise: "Jetzt will ich Dir
sagen, Hans, warum ich immer so vergnuegt gewesen bin; darum, weil ich
niemand so richtig lieb gehabt habe; von dem Augenblick an, da man einen
Menschen lieb hat, kann man nicht mehr froehlich sein", und er brach in
Traenen aus.
"Oeyvind!" fluesterte es draussen auf dem Hof; "Oeyvind!" Er hielt inne und
lauschte. Das musste die sein, an die er dachte. "Ja", antwortete er
ebenfalls fluesternd, trocknete schnell seine Traenen ab und trat heraus.
Da huschte eine Maedchengestalt ueber den Hof. "Bist Du da?" fragte sie.
"Ja", antwortete er und stand still.--"Wer ist noch da?"--"Nur
Hans."--Hans wollte gehen. "Nein, nein!" bat Oeyvind. Sie kam jetzt
langsam dicht an die beiden heran; es war wirklich Margit. "Du warst ja
ploetzlich weg!" sagte sie zu Oeyvind. Er wusste nicht, was er darauf
antworten solle. Da wurde sie auch verlegen, und alle drei schwiegen.
Hans aber stahl sich allmaehlich bei Seite. Die beiden standen einander
gegenueber, sahen sich nicht an und ruehrten sich auch nicht. Schliesslich
sagte sie fluesternd: "Ich hab' schon den ganzen Abend ein bisschen
Weihnachtliches fuer Dich in der Tasche, Oeyvind, aber ich konnte es Dir
nicht eher geben." Sie holte ein paar Aepfel heraus, ein Stueck Kuchen und
ein Flaeschchen, steckte es ihm zu und sagte, das koenne er behalten.
Oeyvind nahm es, sagte "danke" und gab ihr die Hand; ihre war warm, und
er liess sie schnell los, als habe er sich verbrannt. "Du hast heut abend
viel getanzt."--"Das habe ich," sagte sie, "aber Du gerade nicht", fuegte
sie hinzu.--"Nein, ich nicht", antwortete er.--"Warum denn
nicht?"--"Ach--"
"Oeyvind!"--"Ja?"--"Warum hast Du mich immerzu so angesehen?"--"Ach--"
"Margit!"--"Ja?"--"Warum wolltest Du nicht angesehen sein?"--"Es waren
doch soviele Menschen da."
"Du hast heut abend viel mit Jon Hatlen getanzt."--"Ach ja."--"Er kann
gut tanzen."--"Findest Du?"--"Findest Du nicht?"--"Ach ja."
"Ich weiss nicht, wie es kommt, aber ich kann es heut abend nicht sehen,
dass Du mit ihm tanzst." Er wandte sich ab; es hatte ihn Ueberwindung
gekostet, das zu sagen. "Ich versteh' Dich nicht, Oeyvind."--"Ich
versteh' es ja auch nicht; es ist so dumm von mir.--Adieu, Margit, jetzt
will ich gehen." Er tat einen Schritt, ohne sich umzusehen. Da rief sie
ihm nach: "Das ist ganz falsch, was Du gesehen hast, Oeyvind." Er blieb
stehen. "Dass Du ein erwachsenes Maedchen bist, ist nicht falsch."--Er
sagte nicht das, was sie erwartet hatte, deshalb schwieg sie; aber mit
einem Mal sah sie nicht weit von sich eine Pfeife aufglimmen; das war
ihr Grossvater, der gerade um die Ecke bog und vorueberkam. Er blieb
stehen. "Hier bist Du, Margit?"--"Ja."--"Mit wem sprichst Du denn
da?"--"Mit Oeyvind."--"Mit wem, sagst Du?"--"Mit Oeyvind Pladsen!"--"So,
mit dem Haeuslerjungen von Pladsen;--gleich kommst Du mit hinein."
Fuenftes Kapitel
Als Oeyvind am andern Morgen die Augen aufmachte, hatte er fest und
erquickend geschlafen und wunderschoen getraeumt Margit hatte oben auf dem
Berg gelegen und ihn mit Blaettern beworfen; er hatte sie aufgefangen und
wieder hinauf geworfen. Tausendfarbig und -gestaltig war es hinauf und
hinabgeflattert. Die Sonne schien hell, und der ganze Berg leuchtete vom
Gipfel bis zum Fuss. Als er aufwachte, sah er um sich und suchte das, was
er getraeumt; da fiel ihm der gestrige Abend ein, und gleich war der
stechende, wehe Schmerz in der Brust wieder da. "Den werde ich wohl nie
mehr los", dachte er und fuehlte sich so schlaff, als sei ihm seine ganze
Zukunft entwichen.
"Du hast aber lange geschlafen", sagte seine Mutter, die am Bett sass
und spann. "Jetzt flink auf und iss! Dein Vater ist schon im Wald und
haut Holz."--Es war, als tue diese Stimme ihm gut. Er stand mit ein
bisschen mehr Mut auf. Die Mutter dachte wohl an ihre eigenen Tanzjahre,
denn sie traellerte ein Lied vor sich hin, wie sie am Rocken sass, waehrend
er sich anzog und ass. Deshalb musste er vom Tisch aufstehen und ans
Fenster treten; wieder befiel ihn diese Bangigkeit und Unlust; er musste
sich zusammennehmen und an die Arbeit denken. Das Wetter war
umgeschlagen, die Luft war etwas kaelter geworden, so dass statt des
Regens, der gestern gedroht hatte, heute ein feuchter Schnee fiel. Er
zog sich Gamaschen an, holte seine Pelzmuetze, die Seemannsjacke und die
Fausthandschuhe hervor, sagte adieu und ging mit der Axt ueber die
Schulter fort.
Der Schnee fiel langsam in grossen, nassen Flocken. Oeyvind klomm muehsam
die Schlittenbahn hinauf, um zur Linken in den Wald einzubiegen;
nie--weder im Winter, noch im Sommer--war er sonst hier entlang
gegangen, ohne an irgend etwas zu denken, was ihn froehlich gemacht
hatte, oder was er sich wuenschte. Jetzt war es ein toter, beschwerlicher
Weg fuer ihn; er glitt in dem feuchten Schnee aus, und die Knie waren ihm
steif, vielleicht vom Tanzen gestern, vielleicht auch von der Unlust.
Jetzt fuehlte er: es war vorbei mit dem Schlittenfahren fuer dieses Jahr
und damit fuer immer. Etwas anderes war's, wonach er sich sehnte, wie er
durch den lautlos fallenden Schnee zwischen den Staemmen dahinschritt.
Ein aufgescheuchtes Schneehuhn kreischte und flatterte ein Stueckchen
weiter; sonst stand alles da, als sei es eines Worts gewaertig, das nie
gesprochen wurde. Was es war, wonach er sich sehnte, das wusste er selbst
nicht recht; nur nach der Heimat nicht und auch nicht nach der Fremde,
nach Froehlichkeit nicht und auch nicht nach Arbeit; es stieg hoch in die
Luefte empor wie ein Lied, allmaehlich aber verdichtete es sich zu einem
ganz bestimmten Wunsch,--dem Wunsch, zu Ostern konfirmiert zu werden
und dabei Nummer Eins zu sein. Er bekam Herzklopfen, wie er daran
dachte, und ehe er noch die Axtschlaege seines Vaters in den schwachen
Baeumchen hoeren konnte, hatte dieser Wunsch staerkere Gewalt ueber ihn als
irgend etwas bisher in seinem Leben.
Wie gewoehnlich redete sein Vater nicht viel; sie hieben beide drauf los
und schichteten die Staemmchen auf. Ab und zu kamen sie dabei zusammen,
und bei einer solchen Begegnung sagte Oeyvind schwermuetig: "Ein Haeusler
muss sich doch recht plagen!"--"Wie jeder andere auch!" sagte sein Vater,
spuckte in seine Hand und fasste die Axt. Als der Baum gefaellt war und
sein Vater ihn auf den Haufen schleppte, sagte Oeyvind: "Wenn Du Bauer
waerst, brauchtest Du nicht so zu schleppen!"--"Na, dann wuerde mich eben
was anderes druecken!" und dabei packte er mit beiden Haenden zu. Die
Mutter brachte ihnen das Mittagessen herauf, und sie setzten sich hin.
Sie war sehr lustig, traellerte ein Lied und schlug die Fuesse im Takt
aneinander. "Was willst Du denn eigentlich werden, wenn Du gross bist,
Oeyvind?" fragte sie ploetzlich.--"Fuer einen Haeuslerjungen gibt es nicht
viele Moeglichkeiten", sagte er.--"Der Schulmeister meint, Du muesstest
aufs Seminar", sagte sie. "Kann man da umsonst hin?" fragte Oeyvind. "Das
bezahlt die Schulkasse", antwortete sein Vater und ass weiter.--"Hast Du
denn Lust?" fragte seine Mutter.--"Ich habe Lust, was zu lernen, aber
nicht Schulmeister zu werden."--Die drei schwiegen eine Zeitlang; die
Frau summte vor sich hin und sah geradeaus. Oeyvind aber stand auf und
setzte sich etwas abseits.
"Wir haben's doch eigentlich nicht noetig, uns an die Schule zu wenden",
sagte seine Mutter, als er fort war. Der Mann sah sie an: "Arme Leute
wie wir?"--"Ich mag nicht, Tore, dass Du Dich immer fuer arm ausgibst, wo
Du es nicht bist."--Sie sahen beide verstohlen nach dem Jungen hin, ob
er es auch nicht hoeren konnte. Dann sagte der Vater barsch zu seiner
Frau: "Du red'st, wie Du's verstehst." Sie lachte; "auf die Weise soll
man auch gerade nicht Gott dafuer danken, dass es einem gut gegangen ist",
sagte sie und machte ein ernstes Gesicht. "Man kann ihm auch wohl ohne
silberne Knoepfe danken", sagte der Vater.--"Ja, aber Oeyvind zum Tanz
gehen lassen wie gestern, das ist auch kein Dank."--"Oeyvind ist ein
Haeuslerjunge."--"Deshalb kann er doch ordentlich gekleidet gehen, wenn
wir es dazu haben."--"Nu schrei noch so, dass er's hoert!"--"Er hoert's
schon nicht, uebrigens schadete das ja auch nicht", sagte sie und sah
tapfer ihren Mann an, der mit finsterem Gesicht den Loeffel beiseite
legte und seine Pfeife herausholte. "Wo wir solche elende Wirtschaft
haben", sagte er. "Ich finde es laecherlich, dass Du immer von der
Wirtschaft redest; warum sprichst Du nie von der Muehle?"--"Ach, Du und
Deine Muehle! Du kannst wohl nicht vertragen, wenn sie geht?"--"Oh ja,
Gott sei Dank! Wenn sie nur Tag und Nacht gehen wollte."--"Jetzt steht
sie schon seit vor Weihnachten."--"In den Weihnachtstagen mahlen die
Leute doch nicht."--"Sie mahlen, wenn Wasser da ist; aber seit in
Nystroem die neue Muehle steht, geht's mit unsrer recht jaemmerlich."
"Der Schulmeister hat heute was andres gesagt."--"Ich muss wohl unser
Geld lieber von einem weniger schwatzhaften Kerl verwalten lassen, als
der Schulmeister ist."--"Ja, vor allem darf er mit Deiner eigenen Frau
nicht drueber reden."--Tore antwortete hierauf nicht; er hatte gerade
seine Pfeife in Brand gesetzt und lehnte sich gegen einen Reisighaufen;
seine Augen wichen dem Blick seiner Frau und dann seinem Sohn aus und
blieben schliesslich an einem alten Kraehennest haften, das halb zerfetzt
von einem Fichtenzweige herunterhing.
Oeyvind sass allein und sah seine Zukunft vor sich wie eine weite, blanke
Eisflaeche, und er sauste zum erstenmal von einem Ufer zum andern ueber
sie hin. Dass die Armut bei jedem Schritt hemmte, fuehlte er, aber gerade
deshalb war das Ziel aller seiner Gedanken, sie zu ueberwinden. Von
Margit hatte sie ihn wohl fuer immer getrennt; sie sah er schon halbwegs
als Jon Hatlens Braut, aber wenigstens wollte er sein Leben lang mit den
beiden gleichen Schritt halten. Beiseite stossen wie gestern wuerde er
sich nicht mehr lassen, sondern sich fernhalten, bis er etwas geworden
war, und dass er mit Gottes guetiger Hilfe etwas werden wuerde, das war
sein Wunsch, und er zweifelte keinen Augenblick, dass ihm das gelingen
wuerde. Er hatte das unbestimmte Gefuehl, durch Lernen werde es ihm am
besten gluecken; zu welchem Ziel das fuehren koenne, das musste er sich
ueberlegen.
Abends war Schlittenbahn, die Kinder kamen alle auf den Huegel, nur
Oeyvind nicht. Am Herde sass er und lernte und hatte keine Zeit zum
Spielen. Die Kinder warteten lange auf ihn, schliesslich wurde einigen
die Zeit zu lang, sie kamen herauf, drueckten das Gesicht an die Scheiben
und riefen ihn. Aber er tat, als hoere er nicht. Es kamen mehr Kinder,
und Abend fuer Abend; sie liefen in heller Verwunderung draussen auf und
ab, er aber drehte ihnen den Ruecken zu und las und muehte sich redlich,
den Sinn zu erfassen. Spaeter hoerte er, Margit komme auch nicht mehr. Er
lernte mit einem Eifer, den selbst sein Vater uebertrieben fand. Er wurde
sehr still; sein Gesicht, das so rund und weich gewesen war, wurde
magerer und schaerfer, und die Augen wurden haerter; selten nur noch sang
er, nie spielte er, es schien, als reiche die Zeit nicht mehr dazu. Wenn
die Versuchung an ihn herantrat, war's ihm, als fluestere einer: "Spaeter,
spaeter!" und immer wieder: "Spaeter."--Die Kinder sprangen, jauchzten und
lachten eine Zeitlang wie sonst, aber weil sie ihn weder durch ihre
helle Lust, noch durch die Rufe am Fenster zu sich herauslocken konnten,
blieben sie schliesslich fort; sie fanden andere Plaetze zum Spielen, und
der Huegel blieb leer.
Der Schulmeister merkte bald, dass das nicht der alte Oeyvind war, der
lernte, weil es doch mal so sein musste, und spielte, weil das noetig war.
Er sprach oft mit ihm und forschte und drang in ihn, aber es wollte ihm
nicht gelingen, das Vertrauen des Knaben so schnell zu gewinnen wie in
alten Tagen. Er sprach auch mit den Eltern ueber ihn, und in
Uebereinstimmung mit ihnen kam er Ende des Winters an einem Sonntag abend
zu ihnen und sagte, als er eine Zeitlang gesessen hatte: "Komm mit,
Oeyvind, wir wollen ein Stueck gehen, ich habe mit Dir zu reden."--Oeyvind
machte sich fertig und kam mit. Sie wanderten in der Richtung der
Heidehoefe und sprachen lebhaft miteinander, wenn auch ueber nichts
Wichtiges. Als sie sich den Gehoeften naeherten, bog der Schulmeister nach
dem mittleren ab, und als sie weitergingen, hoerten sie drinnen froehliche
Stimmen. "Was ist hier los?" fragte Oeyvind. "Hier wird getanzt", sagte
der Schulmeister; "wollen wir nicht hineingehen?"--"Nein."--"Magst Du
denn nicht tanzen, Junge?"--"Nein, noch nicht."--"Noch nicht? Wann
denn?"--Er antwortete nicht.--"Was meinst Du mit dem noch nicht?"--Als
der Bursch nicht antwortete, sagte der Schulmeister: "Komm, mach' keine
Redensarten."--"Nein, ich gehe nicht mit!"--Er sprach sehr bestimmt und
schien aufgeregt zu sein. "Soll denn Dein eigener Lehrer hier stehen und
Dich bitten, zum Tanz zu gehen!"--Ein langes Schweigen entstand. "Ist da
drin jemand, vor dem Du Angst hast?"--"Ich kann doch nicht wissen, wer
hier ist."--"Aber koennte denn einer da sein?"--Oeyvind schwieg. Da trat
der Schulmeister auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.
"Fuerchtest Du, Margit zu treffen?" Oeyvind sah zu Boden, sein Atem ging
schwer und stossweise. "Sag's mir, Oeyvind."--Oeyvind schwieg. "Du schaemst
Dich vielleicht, es einzugestehen, weil Du noch nicht mal konfirmiert
bist; aber mir kannst Du es sagen, Oeyvind, es soll Dich nicht
gereuen,"--Oeyvind blickte auf, aber er konnte kein Wort herausbringen
und wandte die Augen zur Seite. "Du bist in letzter Zeit auch gar nicht
mehr froehlich; hat sie andere lieber als Dich?" Oeyvind schwieg
beharrlich, der Schulmeister fuehlte sich etwas verletzt und liess ihn
stehen; sie gingen zurueck.
Als sie eine lange Strecke gegangen waren, wartete der Schulmeister,
bis Oeyvind ihn eingeholt hatte. "Du sehnst Dich wohl danach, konfirmiert
zu werden?" fragte er.--"Ja."--"Was willst Du denn nachher
anfangen?"--"Ich moechte gern aufs Seminar."--"Und Schulmeister
werden?"--"Nein."--"Das ist Dir wohl nicht fein genug?"--Oeyvind schwieg.
Wieder gingen sie eine lange Strecke. "Wenn Du mit dem Seminar fertig
bist, was willst Du dann?"--"Das habe ich mir noch nicht ordentlich
ueberlegt."--"Wenn Du Geld haettest, wuerdest Du Dir wohl einen Hof kaufen,
nicht?"--"Ja, aber die Muehle behalten."--"Dann ist's am besten, Du gehst
auf die Ackerbauschule."--"Lernt man da ebensoviel wie auf dem
Seminar?"--"Ach nein, aber man lernt das, was man spaeter
braucht."--"Bekommt man da auch Nummern?"--"Warum fragst Du
danach?"--"Ich moechte gern sehr tuechtig werden."--"Das kannst Du auch
ohne Nummern."--Sie gingen schweigend weiter, bis Pladsen in Sicht kam;
ein heller Lichtschein drang aus dem Hause, der Berg neigte sich an
diesem Winterabend schwarz darueber, drunten lag der Fjord mit der
blanken, schimmernden Eisdecke. Der Wald rahmte die stille Bucht ein, es
lag kein Schnee, der Mond stand am Himmel und spiegelte den Wald im
Eise. "Es ist schoen hier in Pladsen", sagte der Schulmeister. Oeyvind
konnte zu Zeiten die Gegend noch mit denselben Augen anschauen wie
damals, als seine Mutter ihm Maerchen erzaehlte, und mit dem Gesicht,
womit er so oft auf den Huegel gelaufen war; jetzt hatte er dies Gesicht:
alles lag so klar und erhaben vor ihm. "Ja, hier ist es schoen", sagte
er, aber er seufzte dabei.--"Dein Vater hat sein gutes Brot hier gehabt;
Du koenntest hier auch wohl zufrieden sein."--Mit einem Schlage hatte die
Gegend ihr frohes Gesicht verloren. Der Schulmeister blieb stehen, als
erwarte er eine Antwort; als keine kam, schuettelte er den Kopf und ging
mit hinein. Eine Weile noch blieb er bei ihnen, aber er schwieg mehr,
als er sprach, so dass auch die andern verstummten. Als er sich
verabschiedete, begleiteten ihn Mann und Frau vor die Tuer; sie schienen
beide darauf zu warten, dass er etwas sage. Inzwischen standen sie und
sahen in den Abend hinaus. "Hier ist es so merkwuerdig still geworden,"
sagte die Mutter, "seit die Kinder hier nicht mehr spielen."--"Ihr habt
eben jetzt keine Kinder mehr im Hause", sagte der Schulmeister; die
Mutter verstand, was er damit sagen wollte. "Oeyvind ist in der letzten
Zeit gar nicht mehr recht froehlich."--"Nein, nein, wer ehrgeizig ist,
der ist nie froehlich"; und er blickte mit der Ruhe des Greises zu Gottes
stillem Himmel auf.
Sechstes Kapitel
Ein halbes Jahr spaeter, im Herbst (die Konfirmation war bis dahin
verschoben worden), sassen die Konfirmanden der Gemeinde bei dem Pfarrer
in der Leutestube und sollten ihre Nummern bekommen; Oeyvind Pladsen und
Margit vom Heidehof waren auch dabei. Margit war gerade vom Herrn
Pfarrer heruntergekommen, der ihr ein schoenes Buch geschenkt und sie
sehr gelobt hatte. Sie lachte und schwatzte mit ihren Freundinnen und
spaehte zu den Burschen hinueber. Margit war jetzt erwachsen, hatte ein
gefaelliges, sicheres Benehmen, und Burschen und Maedchen wussten, dass der
stattlichste Junggesell im ganzen Gau, Jon Hatlen, um sie freie. Ja, die
konnte sich freuen! Dicht an der Tuer standen ein paar Knaben und
Maedchen, die bei der Pruefung durchgefallen waren; sie weinten, waehrend
Margit und ihre Freundinnen lachten; bei ihnen stand auch ein kleiner
Bursch, der hatte seines Vaters Stiefeln an und das Sonntagstaschentuch
von seiner Mutter in der Hand. "O Gott, o Gott," schluchzte er, "ich
darf ja nicht nach Hause kommen." Da ergriff alle, die noch nicht oben
gewesen waren, die Macht des Zusammengehoerigkeitsgefuehls; eine
allgemeine Stille entstand. Die Angst sass ihnen im Hals und in den
Augen, sie konnten nicht ordentlich sehen und nicht schlucken, wozu sie
fortwaehrend das Beduerfnis hatten. Einer sass da und ueberlegte sich, was
er alles konnte, und obwohl er vor ein paar Stunden noch gedacht hatte,
er wisse alles, wurde ihm nun ohne Zweifel klar, dass er gar nichts
konnte, nicht einmal lesen. Ein anderer stellte sein Suendenregister
zusammen von dem Tag, seit er denken konnte bis zu dem Augenblick, wo er
hier sass, und er fand es gar nicht merkwuerdig, wenn der liebe Gott ihn
noch nicht haben wollte. Ein dritter sass und legte sich alle moeglichen
aeusserlichen Zeichen zurecht; wenn die Uhr, die gleich schlagen musste,
erst anfing, wenn er bis zwanzig gezaehlt habe, dann wuerde er
durchkommen. Wenn der, der draussen ueber die Diele ging, Lars, der
Hofknecht sei, dann komme er durch; wenn der grosse Regentropfen, der
sich an der Fensterscheibe hinunterarbeitete, bis zur Holzleiste
gelange, dann wuerde er durchkommen. Die letzte und entscheidende Probe
sollte sein, ob er den rechten Fuss um den linken schlagen koenne, und das
wollte ihm durchaus nicht gelingen. Ein Vierter war fest ueberzeugt: wenn
er in der Biblischen Geschichte nach Joseph gefragt wuerde, im
Katechismus nach der Heiligen Taufe, oder nach Saul oder nach der
Haustafel, oder nach Jesus, oder nach den zehn Geboten, oder--er war
noch mitten im Aufzaehlen, als er aufgerufen wurde. Ein Fuenfter hatte
eine seltsame Vorliebe fuer die Bergpredigt gefasst; ihm hatte von der
Bergpredigt getraeumt, und er glaubte steif und fest, er wuerde nach der
Bergpredigt gefragt werden, und er sagte fortwaehrend die Bergpredigt
auf; er ging sogar vor die Haustuer, um sie schnell noch einmal
durchzulesen,--da wurde er hineingerufen und wurde in den grossen und
kleinen Propheten geprueft. Ein Sechster dachte, der Herr Pfarrer sei ein
so seelensguter Mann und kenne seinen Vater so gut, und er dachte auch
an den Schulmeister mit dem freundlichen Gesicht, und an Gott, der so
gut war und schon so vielen geholfen hatte, Jacob und Joseph zum
Beispiel, und dann fiel ihm ein, dass Mutter und Geschwister zu Haus
sassen und fuer ihn beteten, und das wuerde wohl helfen. Der Siebente sass
da und schloss mit allem ab, was er hier in dieser Welt hatte werden
wollen. Zuerst hatte er geglaubt, er werde es bis zum Koenig bringen,
dann bis zum General oder zum Pfarrer; das war lange vorbei; aber noch
als er hergekommen war, hatte er bei sich gedacht, er wollte zur See
gehen und Kapitaen werden oder auch Seeraeuber und ungeheure Reichtuemer
erwerben; jetzt verzichtete er auf Reichtum, auf Seeraub, auf Kapitaen,
auf Steuermann,--er wollte sich mit dem Matrosen begnuegen, und
vielleicht wurde er dann gar Bootsmann, aber es war auch moeglich, dass er
ueberhaupt nicht zur See ging, sondern bei seinem Vater auf dem Hof
blieb. Der Achte war seiner Sache etwas sicherer, wenn auch nicht ganz;
auch der fleissigste war nicht ganz sicher. Er dachte an seinen
Konfirmationsanzug, und wozu der wohl gebraucht wuerde, wenn er nicht
durchkomme. Kam er aber durch, dann ginge er in die Stadt und truege nur
noch Tuchanzuege, und wenn er wiederkomme, dann wuerde er in der
Weihnachtszeit tanzen, dass die Burschen sich aergerten und die Maedels
staunten. Der Neunte rechnete anders: er hatte fuer unsern Herrgott ein
kleines Kontobuch angelegt; auf der einen Seite stand als Debet "Wenn er
mich durchkommen laesst," und auf der andern als Kredit "so will ich auch
nie wieder luegen, nie wieder petzen, jeden Sonntag in die Kirche gehen,
die Maedchen in Ruh lassen und mir das Fluchen abgewoehnen." Der Zehnte
aber dachte, wenn Ole Hansen voriges Jahr durchgekommen sei, so waere es
mehr als ungerecht, wenn er dies Jahr nicht durchkomme, denn er war in
der Schule viel besser gewesen und war auch besserer Leute Kind. Neben
ihm sass der Elfte, der sich mit den fuerchterlichsten Racheplaenen trug,
falls er nicht durchkommen sollte: er wollte die Schule in Brand stecken
oder ausreissen und wiederkommen zu furchtbarem Gericht ueber Pfarrer und
Schulkommission; aber grossmuetig wuerde er schliesslich Gnade fuer Recht
ergehen lassen. Zunaechst wollte er im benachbarten Kirchspiel zu dem
Pfarrer in Dienst ziehen, und im naechsten Jahr da zu oberst stehen und
Antworten geben, dass die ganze Kirche staunen sollte. Der Zwoelfte aber
sass ganz allein unter der Klingel, hatte die Haende in die Taschen
gesteckt und sah wehmuetig ueber die andern hin. Keiner von denen da
wusste, was fuer eine Last auf ihm lag, was fuer eine Verantwortung er
hatte. Zu Hause war eine, die wusste es; das war seine Braut. Eine grosse,
langbeinige Spinne kroch ueber den Fussboden und kam an seinen Fuss heran;
sonst pflegte er das ekelhafte Gewuerm tot zu treten, heute aber hob er
sorglich den Fuss hoch, damit sie ungestoert ihres Wegs gehen konnte. Er
sprach so mild wie ein Kollektensammler; in seinen Augen stand der
unerschuetterliche Glaube, dass alle Menschen gut sind; seine Hand fuehrte
er mit einer demuetigen Bewegung aus der Tasche zum Haar, um es glatter
zu streichen. Wenn er bloss glimpflich durch dies gefaehrliche Nadeloehr
hindurchkomme, dann wollte er schon wieder anders werden und Tabak
kauen, und seine Verlobung oeffentlich machen. Auf einem niederen Schemel
aber sass mit eingezogenen Beinen unruhig der Dreizehnte. Seine kleinen
blanken Augen wanderten dreimal in der Sekunde durch die ganze Stube,
und unter dem dichten, struppigen Haar waelzten sich die Gedanken der
andern Zwoelf in bunter Unordnung, von den stolzesten Hoffnungen zum
niederschmetterndsten Zweifel, von den demuetigsten Vorsaetzen zu den
vernichtendsten Racheplaenen gegen das ganze Dorf, und waehrenddessen
hatte er von seinem rechten Daumen schon alles ueberfluessige Fleisch
abgeknabbert, machte sich jetzt an die Naegel und spuckte sie in grossen
Stuecken auf den Fussboden.
Oeyvind sass am Fenster; er war schon oben gewesen und hatte alles gewusst,
was er gefragt worden war; und doch hatte der Herr Pfarrer kein Wort
gesagt, und der Schulmeister auch nicht; ueber ein halbes Jahr hatte er
sich ausgemalt, was die beiden sagen wuerden, wenn sie merkten, wie er
gearbeitet hatte, und er war jetzt sehr enttaeuscht und gekraenkt. Da sass
Margit und hatte fuer viel weniger Muehe und weniger Wissen Lob und eine
Belohnung bekommen; gerade, um vor ihr gross dazustehen, hatte er
gearbeitet, und jetzt hatte sie lachend erreicht, was er unter so viel
Entsagung sich hatte erarbeiten wollen. Ihr Lachen und Scherzen schnitt
ihm in die Seele; die Freiheit, mit der sie sich gab, tat ihm weh. Er
hatte seit jenem Abend peinlich vermieden, mit ihr zu sprechen; es
muessen erst Jahre darueber hingehen, dachte er; aber ihr Anblick, wie sie
so froehlich und ueberlegen dasass, drueckte ihn zu Boden, und all seine
stolzen Vorsaetze hingen wie welkes Laub im Winde.
Er versuchte jedoch nach und nach dieser Niedergeschlagenheit Herr zu
werden; es kam darauf an, ob er heute Nummer eins wuerde, und das wollte
er abwarten. Der Schulmeister pflegte immer noch eine Weile beim Herrn
Pfarrer zu bleiben, um die Rangordnung festzustellen, und dann
herunterzukommen und den Kindern das Ergebnis mitzuteilen. Es war ja
noch nicht die endgueltige Entscheidung, aber doch der Beschluss, zu dem
der Herr Pfarrer und er einstweilen gelangt waren. Die Unterhaltung in
der Stube wurde lebhafter, je mehr geprueft und durchgekommen waren;
jetzt aber sonderten sich die Ehrgeizigen von den Froehlichen; diese
gingen, sobald sie Gesellschaft fanden, fort, um den Eltern ihr Glueck zu
verkuenden, oder sie warteten auf andere, die noch nicht fertig waren.
Jene dagegen wurden immer stiller, und die Augen blickten gespannt nach
der Tuer.
Endlich war die Pruefung zu Ende, der letzte war heruntergekommen, und
jetzt sprach der Schulmeister also mit dem Herrn Pfarrer, Oeyvind sah
Margit an; sie war so vergnuegt, und doch blieb sie hier--ob in ihrem
eigenen oder in anderer Interesse, wusste er nicht. Wie schoen Margit
geworden war! Blendend weiss die Haut, wie er es noch nie gesehen hatte;
die Nase strebte ein bisschen nach oben, der Mund laechelte. Die Augen
waren halbgeschlossen, wenn sie nicht gerade jemanden ansah; hob sie
aber den Blick, so hatte er eine ueberraschende Macht,--und als wolle sie
selbst betonen, dass sie sich gar nichts dabei denke, laechelte sie
zugleich ein bisschen. Ihr Haar war eher dunkel als hell, aber es war
kraus und lag in tiefen Scheiteln um das Gesicht, so dass es ihr,
zusammen mit den halbgeschlossenen Augen, etwas Geheimnisvolles gab, das
man nie entraetseln konnte. Man wusste nie ganz genau, wen sie eigentlich
ansah, wenn sie allein oder im Kreise der andern sass, auch nicht, was
sie eigentlich dachte, wenn sie sich irgendeinem zuwandte und mit ihm
sprach, denn sie nahm gewissermassen sofort alles wieder zurueck, was sie
gab. "Und hinter all dem steckt wohl eigentlich Jon Hatlen", dachte
Oeyvind,--trotzdem sah er fortwaehrend zu ihr hinueber. Da kam der
Schulmeister. Alle stuermten von ihren Plaetzen und umringten ihn. "Welche
Nummer habe ich?"--"Und ich?"--"Und ich? Ich?"--"Schscht! Ihr Bande,
keinen Spektakel!--Ruhig, Ihr sollt's erfahren, Kinder!" Er sah sich
bedaechtig um. "Du bist Nummer 2", sagte er zu einem Jungen mit blauen
Augen, der ihn bittend ansah, und der Junge tanzte aus dem Kreise
heraus. "Du bist Nummer 3",--er schlug einem rothaarigen flinken Knirps,
der ihn am Rockschoss zupfte, auf die Finger. "Du bist Nummer 5, Du
Nummer 8", und so weiter. Da fiel sein Blick auf Margit: "Du bist Nummer
1 von den Maedchen"; sie wurde gluehend rot uebers ganze Gesicht und
versuchte zu laecheln. "Du Nummer 12, bist 'n Faulpelz gewesen und ein
rechter Herumtreiber; Du Nummer 11, war nicht anders zu erwarten, mein
Junge; Du Nummer 13, musst tuechtig lesen und recht oft zum Ueberhoeren
kommen, sonst geht's Dir schlecht!"--Oeyvind konnte es nicht laenger
aushalten; Nummer 1 war freilich noch nicht genannt, aber er hatte die
ganze Zeit ueber so gestanden, dass der Schulmeister ihn hatte sehen
koennen. "Herr Lehrer!"--er hoerte nicht. "Herr Lehrer!" Dreimal musste er
rufen, bis er hoerte. Da endlich sah der Schulmeister ihn an; "Nummer 9
oder 10, ich weiss nicht genau", sagte er und wandte sich zu einem
andern. "Wer ist denn Nummer 1?" fragte Hans, Oeyvinds bester Freund. "Du
nicht, Du Krauskopf!" sagte der Schulmeister und schlug ihm mit einer
Papierrolle auf die Hand. "Wer denn?" fragten ein paar andere. "Ja, wer?
wer ist das?"--"Das wird der erfahren, der die Nummer hat", antwortete
der Schulmeister streng, weil er keine weiteren Fragen haben
wollte.--"Geht jetzt huebsch nach Hause, Kinder, dankt dem lieben Gott
und macht Euren Eltern Freude. Bedankt Euch auch bei Eurem alten Lehrer;
Ihr waeret gewiss so dumm wie Bohnenstroh geblieben, wenn er nicht gewesen
waere."--Sie bedankten sich bei ihm und lachten und zogen jubelnd von
dannen, denn in diesem Augenblick, wo es nach Haus zu den Eltern ging,
waren alle vergnuegt. Bloss einer konnte seine Buecher nicht gleich finden,
und als er sie zusammengesucht hatte, da setzte er sich hin, als wolle
er wieder von vorn zu lernen anfangen.
Der Schulmeister trat zu ihm hin: "Nun, Oeyvind, willst Du nicht mit den
andern gehen?"--Keine Antwort. "Weshalb schlaegst Du Deine Buecher
auf?"--"Ich will nachsehen, was ich heute falsch geantwortet habe."--"Du
hast nicht die kleinste falsche Antwort gegeben."--Da blickte Oeyvind
auf, die Traenen stiegen ihm in die Augen, er sah ihn unverwandt an, eine
Traene nach der andern rann hinunter, aber er sagte kein Wort. Der
Schulmeister setzte sich ihm gegenueber. "Freust Du Dich denn nicht, dass
Du durchgekommen bist?"--Es bebte um seinen Mund, aber er antwortete
nicht. "Deine Eltern werden sich sehr freuen", sagte der Schulmeister
und sah ihn an.--Oeyvind kaempfte lange, um ein Wort herauszubringen,
schliesslich fragte er leise und abgebrochen: "Wohl deshalb..., weil
ich ... ein Haeuslerjunge bin ... bekomm' ich den neunten oder zehnten
Platz?"--"Natuerlich deshalb", antwortete der Schulmeister.--"Dann hat es
ja gar keinen Zweck zu arbeiten", sagte er klanglos und brach ueber all
seinen Traeumen zusammen. Ploetzlich richtete er den Kopf in die Hoehe,
hob die rechte Hand, schlug mit aller Macht auf den Tisch, warf sich
ueber den Tisch und brach in heftiges Weinen aus.
Der Schulmeister liess ihn liegen und weinen, so recht sich ausweinen. Es
dauerte lange, aber der Schulmeister wartete, bis das Weinen kindlicher
wurde. Da fasste er seinen Kopf mit beiden Haenden, richtete ihn in die
Hoehe und sah in das verweinte Gesicht. "Glaubst Du, dass jetzt eben
Gott bei Dir gewesen ist?" fragte er freundlich und hielt ihn fest,
Oeyvind schluchzte noch, aber leiser, und die Traenen flossen schon
sachter, aber er konnte den Frager noch nicht ansehen und auch nicht
antworten.--"Oeyvind, dies ist Dein wohlverdienter Lohn gewesen. Du hast
nicht gelernt aus Liebe zum Christentum und zu Deinen Eltern, Du hast
aus Eitelkeit gelernt."--Es blieb still in der Stube, wenn der
Schulmeister eine Pause machte; Oeyvind fuehlte seinen Blick auf sich
ruhen, und unter diesem Blick taute in ihm etwas auf, und er wurde ganz
demuetig.--"Mit solchem Hochmut in Deinem Herzen konntest Du doch den
Bund mit Deinem Gott nicht schliessen, nicht wahr, Oeyvind?"--"Nein",
stammelte der, so gut er konnte.--"Und wenn Du dagestanden haettest mit
der eitlen Freude, dass Du Nummer Eins bist, waere das nicht eine Suende
gewesen?"--"Ja", fluesterte er, und seine Mundwinkel zitterten.--"Hast Du
mich noch lieb, Oeyvind?"--"Ja"; zum erstenmal blickte er auf.--"So will
ich Dir sagen: ich war es, der den niedrigeren Platz Dir ausgewirkt hat,
denn Du bist mir lieb, Oeyvind."--Der andere sah ihn an, blinzelte ein
paarmal mit den Augen, und die Traenen rannen wieder heftiger.--"Du bist
mir deshalb doch nicht boese?"--"Nein"; er sah gross und klar zu ihm auf,
wenn seine Stimme auch gequaelt klang.--"Mein liebes Kind! ich will um
Dich sein, solang ich lebe."
Er wartete, bis Oeyvind sich beruhigt hatte und seine Buecher
zusammenpackte, dann sagte er, er wolle mit ihm nach Hause gehen. Sie
gingen langsam ihres Weges. Anfangs war Oeyvind noch sehr still und
kaempfte mit sich, nach und nach aber ueberwand er sich. Er war fest davon
ueberzeugt, so wie es gekommen war, war es das beste fuer ihn, und ehe er
noch zu Hause war, hatte dieser Gedanke sich so in ihm befestigt, dass er
seinem Gott dankte und das auch dem Schulmeister sagte. "Ja, jetzt
koennen wir dann ja ueberlegen, wie wir etwas erreichen im Leben," sagte
der Schulmeister, "und nicht blind drauflos rennen. Was meinst Du zum
Seminar?"--"Ja, dahin moechte ich sehr gern."--"Du meinst auf die
Ackerbauschule?"--"Ja."--"Das ist auch wohl das beste; da gibt es andre
Aussichten als eine Schulmeisterstelle."--"Aber wie komme ich dahin? Ich
habe grosse Lust, aber ich weiss mir keinen Rat."--"Sei nur fleissig und
brav, dann wird schon Rat werden."
Oeyvind war ganz ueberwaeltigt von Dankbarkeit. Vor seinen Augen leuchtete
es, der Atem ging so leicht, und er fuehlte das Feuer unendlicher Liebe
in sich, wie es uns geschieht, wenn wir von andern unerwartet Guete
erfahren. Es ist uns, als koennten wir immer fortan in frischer Bergluft
wandern; wir fliegen mehr, als wir gehen.
Als sie nach Hause kamen, waren beide Eltern in der Stube und hatten
dort in stiller Erwartung gesessen, wiewohl es Arbeitszeit und viel zu
tun war. Der Schulmeister trat zuerst ein, Oeyvind kam hinterher und
beide laechelten. "Nun?" fragte der Vater und legte das Gesangbuch fort,
in dem er gerade das "Gebet eines Konfirmanden" gelesen hatte. Die
Mutter stand am Herd und wagte nichts zu sagen; sie lachte, aber die
Haende zitterten ihr; sie erwartete augenscheinlich etwas Gutes, wollte
sich aber nicht verraten. "Ich bin bloss hergekommen, um Euch die
freudige Nachricht zu bringen, dass er alles gewusst hat, was er gefragt
worden ist, und dass der Herr Pfarrer, als Oeyvind fort war, gesagt hat,
er habe nie einen besseren Konfirmanden gehabt."--"Ach, nein!" sagte die
Mutter und war sehr geruehrt.--"Das ist ja nett", sagte der Vater und
raeusperte sich unsicher.
Nach langem Schweigen fragte die Mutter leise: "Was fuer eine Nummer
bekommt er?"--"9 oder 10", sagte der Schulmeister ruhig.--Die Mutter
blickte den Vater an, der Vater erst sie, dann Oeyvind; "mehr kann ein
Haeuslerjunge nicht erwarten", sagte er. Oeyvind sah ihn auch an; es war,
als steige ihm wieder etwas im Halse hoch, aber er zwang sich, an
allerlei Liebes zu denken, immerfort, bis er's wieder herunter hatte.
"Jetzt muss ich wohl gehen", sagte der Schulmeister, nickte ihnen zu und
wandte sich zur Tuer. Die Eltern begleiteten ihn wie gewoehnlich hinaus;
draussen nahm der Schulmeister einen Priem und sagte schmunzelnd: "Er
wird natuerlich der erste, aber es ist besser, er erfaehrt es erst, wenn
der Tag da ist."--"Ja, ja", sagte der Vater und nickte. "Ja, ja", sagte
die Mutter und nickte auch; dann griff sie nach der Hand des
Schulmeisters; "schoenen Dank auch fuer alles, was Du an ihm tust", sagte
sie. "Ja, schoenen Dank", sagte der Vater, und der Schulmeister ging; die
beiden aber standen noch lange und sahen ihm nach.
Siebentes Kapitel
Der Schulmeister hatte das rechte getroffen, als er den Pfarrer gebeten
hatte, erst zu pruefen, ob Oeyvind es auch vertragen koenne, der erste zu
sein. In den drei Wochen, die noch bis zur Konfirmation hingingen, war
er jeden Tag bei dem Knaben; eine junge, weiche Seele kann wohl einem
Eindruck nachgeben, ein andres ist es, ob sie ihn auch treulich
festhaelt. Manch dunkle Stunde kam ueber den Knaben, bis er lernte, sein
Ziel auf bessere Dinge als auf Ehre und Trotz zu stecken. Mitten in der
besten Arbeit verlor er ploetzlich die Lust daran: Wozu? Was gewinne
ich?--und dann nach einer Weile fiel ihm der Schulmeister ein, seine
Worte und seine Guete; aber dies Mittel musste er haben, wenn er wieder
einmal von der rechten Auffassung seiner hoeheren Pflicht
heruntergesunken war.
In den Tagen, da man in Pladsen zur Konfirmation ruestete, wurde auch
seine Reise auf die Ackerbauschule vorbereitet; denn schon am Tage
darauf sollte er sie antreten. Schneider und Schuster sassen in der
Stube, die Mutter buk in der Kueche, der Vater arbeitete an einer Truhe.
Viel wurde davon gesprochen, was er sie in den zwei Jahren kosten wuerde,
auch davon, dass er das erste Jahr Weihnachten nicht nach Hause kommen
koenne, vielleicht auch im naechsten nicht, und wie schwer es sein wuerde,
sich so lange trennen zu muessen. Sie redeten auch davon, wie lieb er
seine Eltern haben muesste, die fuer ihr Kind so grosse Opfer braechten.
Oeyvind sass da wie einer, der draussen sein Glueck auf eigene Faust
versucht hat, dabei kenterte und nun von freundlichen Menschen
aufgenommen ist.
So ein Gefuehl macht demuetig und mit der Demut kommt auch noch manches
andere. Als der grosse Tag anbrach, war Oeyvind gut ausgeruestet und konnte
der Zukunft mit zuversichtlicher Ergebenheit entgegensehen. So oft
Margits Bild dazwischentreten wollte, draengte er es vorsichtig zurueck,
aber es tat ihm weh, das zu tun. Er suchte sich darin zu ueben, aber in
diesem Punkt wurde er nicht staerker, im Gegenteil, das Wehgefuehl wuchs.
Er war so verzagt am letzten Abend, dass er nach einer langen
Selbstpruefung betete, Gott der Herr moege ihn in diesem einen Stueck nicht
auf die Probe stellen.
Gegen Abend kam der Schulmeister. Sie setzten sich in die Stube, nachdem
sich alle gewaschen und zurecht gemacht hatten, wie immer, wenn man am
Tage darauf zum Abendmahl oder zum Hochamt geht. Die Mutter war sehr
bewegt und der Vater wortkarg; nach dem Feiertage morgen kam der
Abschied, und keiner wusste, wann man wieder so beisammen sitzen wuerde.
Der Schulmeister nahm die Gesangbuecher, sie hielten eine Andacht und
sangen, und dann sprach er ein kurzes Gebet, so wie es ihm aus dem
Herzen kam.
Die vier Menschen sassen bis spaet am Abend bei einander, und jeder hing
seinen Gedanken nach. Dann trennten sie sich mit den besten Wuenschen
fuer den kommenden Tag, und fuer das, was er knuepfen sollte. Oeyvind
gestand sich ein, als er zu Bett ging, dass er nie so gluecklich schlafen
gegangen sei; er verband damit einen besonderen Sinn; er meinte: nie bin
ich so ergeben in Gottes Willen und so freudig in Gott schlafen
gegangen.--Margits Gesicht wollte vor ihm auftauchen, und im Halbschlaf
noch uebte er eine Art Selbstversuchung: nicht ganz gluecklich, nicht
ganz,--und er antwortete: doch ganz--; und noch einmal: nicht
ganz,--doch, ganz;--nein, nicht ganz--.
Als er aufwachte, kam ihm die Bedeutung des Tages gleich zu Bewusstsein;
er betete und fuehlte sich so kraeftig, wie man wohl des Morgens tut. Er
hatte seit dem Sommer allein in einem Bodenkaemmerchen geschlafen; jetzt
stand er auf und zog behutsam die neuen, schoenen Kleider an; solche
hatte er bis jetzt noch nicht gehabt. Besonders die rundgeschnittene
Tuchjacke musste er immerzu befuehlen, bis er sich an sie gewoehnte. Er
holte einen kleinen Spiegel heraus, als er sich den Kragen umgebunden
und auch den Tuchrock--zum viertenmal--angezogen hatte. Als ihm jetzt
sein eigenes vergnuegtes Gesicht mit dem merkwuerdig hellen Haar aus dem
Spiegel entgegenlachte, fiel ihm ein, auch das sei wieder Eitelkeit. Ja,
aber gut angezogen und rein muessen die Leute doch aussehen, warf er ein,
waehrend er das Gesicht vom Spiegel fortwandte, als sei es Suende,
hineinzusehen.--Freilich, aber man darf nicht ganz so selbstzufrieden
deswegen sein.--Nein, natuerlich nicht, aber dem lieben Gott muss es doch
auch gefallen, wenn man sich darueber freut, dass man huebsch
aussieht.--Kann schon sein, aber ihm waere es vielleicht doch lieber, Du
freutest Dich darueber, ohne so grosses Gewicht darauf zu legen.--Das ist
wahr, aber das kommt auch bloss daher, dass alles so neu ist.--Ja, dann
musst Du es aber auch nach und nach ablegen.--Er ertappte sich dabei, dass
er sich bald ueber diesen, bald ueber jenen Gegenstand in solchen
Gespraechen der Selbstpruefung erging: es sollte keine Suende auf diesen
Tag fallen und ihn beflecken; aber er wusste auch, dass da noch vieles
fehle.
Als er hinunterkam, waren die Eltern schon fertig angezogen und warteten
mit dem Fruehstueck auf ihn. Er ging auf sie zu, gab ihnen die Hand und
bedankte sich fuer die Kleider; "trag' sie in Gesundheit", wurde ihm
erwidert. Sie setzten sich an den Tisch, beteten still und assen. Die
Mutter deckte den Tisch ab und brachte den Korb mit Esswaren fuer den
Kirchgang herein. Der Vater zog sich den Rock an, die Mutter steckte
sich ihr Tuch fest, sie nahmen die Gesangbuecher, riegelten das Haus zu
und stiegen bergan. Als sie auf den oberen Weg kamen, trafen sie schon
Kirchgaenger, zu Fuss und zu Wagen, auch Konfirmanden, und ab und zu auch
die weisshaarigen Grosseltern, die dies eine Mal doch gern mitwollten.
Es war ein Herbsttag ohne Sonnenschein, wie wenn das Wetter umschlagen
will. Gewoelk zog sich zusammen und zerteilte sich wieder. Bisweilen
loesten sich aus einer grossen Ansammlung von Wolken wohl zwanzig kleinere
und jagten mit dem Befehl zum Unwetter dahin; aber unten auf der Erde
war es noch still; die Blaetter hingen entseelt an den Baeumen und regten
sich nicht; die Luft war etwas schwuel; die Leute hatten Maentel mit, aber
sie brauchten sie gar nicht. Ungewoehnlich viel Menschen sammelten sich
vor der freistehenden Kirche an; die Konfirmationskinder aber gingen
gleich in die Kirche hinein, weil sie aufgestellt werden sollten, bis
der Gottesdienst begann. Da kam der Schulmeister an im blauen Anzug, mit
Frack und Kniehosen, Stulpstiefeln und steifer Halsbinde, und seine
Pfeife guckte hinten aus der Rocktasche; er nickte und lachte, schlug
diesem auf die Schulter und ermahnte jenen, recht laut und deutlich zu
antworten, und kam mittlerweile bis an die Armenbuechse, wo Oeyvind mit
seinem Freunde Hans stand, dem er ueber die Reise Auskunft gab. "Guten
Morgen, Oeyvind, ist das ein schoener Tag!"--er fasste ihn am Rockkragen,
als wolle er mit ihm reden,--"hoer' mal, ich glaub' das beste von Dir.
Eben habe ich mit dem Herrn Pfarrer gesprochen; Du darfst Deinen Platz
behalten; stell Dich obenan und antworte recht deutlich!"
Oeyvind sah ihn masslos erstaunt an, der Schulmeister nickte ihm zu, der
Junge tat ein paar Schritte, stand still, ging wieder ein paar Schritte,
stand wieder still; ja, das haengt sicher so zusammen, dass er bei dem
Herrn Pfarrer ein gutes Wort fuer mich eingelegt hat, und schnell ging er
an seinen Platz. "Du bist also doch Nummer Eins", fluesterte ihm einer
zu. "Ja", sagte Oeyvind leise, aber er wusste noch immer nicht recht, ob
er es glauben durfte.
Die Aufstellung war fertig, der Pfarrer kam, die Glocken fingen zu
laeuten an, und die Menschen stroemten in die Kirche. Da sah Oeyvind Margit
vom Heidehof dicht vor sich stehen, sie sah ihn auch an, aber beide
waren so gebannt von der Heiligkeit der Staette, dass sie sich nicht zu
gruessen wagten. Er sah nur, dass sie wunderschoen war und mit blossem Haar
ging, mehr sah er nicht. Oeyvind, der laenger als ein halbes Jahr so grosse
Plaene darauf gebaut hatte, ihr gleichberechtigt gegenueberzustehen,
Oeyvind vergass, als es wirklich so weit gediehen war, seinen Platz und
sie, und dass er je an so etwas gedacht hatte.
Als alles zu Ende war, kamen die Verwandten und Bekannten um ihre
Glueckwuensche anzubringen, dann kamen auch seine Kameraden und wollten
ihm Adieu sagen, denn sie hatten gehoert, dass er am andern Tage reisen
wuerde; es kamen auch viele von den Kleineren, mit denen er Schlitten
gefahren war, und denen er so oft in der Schule geholfen hatte, und da
ging der Abschied nicht ohne Traenen ab. Zuletzt kam der Schulmeister,
drueckte ihm und den Eltern stumm die Hand und bedeutete ihnen, sie
wollten gehen; er wollte sie begleiten. Die Vier waren wieder beisammen,
und dies sollte nun der letzte Nachmittag sein. Unterwegs trafen sie
noch viele, die ihm Adieu sagten und ihm Glueck wuenschten, sonst aber
sprachen sie nicht zusammen, bis sie daheim in der Stube sassen.
Der Schulmeister versuchte sie bei gutem Mut zu erhalten; denn jetzt, da
es soweit war, bangten alle drei vor der zweijaehrigen Trennung, weil sie
bis jetzt keinen Tag fern voneinander gewesen waren; aber keiner wollte
es wahrhaben. Je weiter der Tag vorrueckte, desto gedrueckter wurde
Oeyvind; er musste ins Freie gehen, um sich ein bisschen zu beruhigen.
Es war schon halbdunkel, und in der Luft brauste es seltsam; er blieb
auf den Steinfliesen stehen und blickte empor. Da hoerte er vom Bergrande
her seinen Namen rufen, ganz leise; es war keine Taeuschung, denn es
wurde zweimal gerufen. Er sah hinauf und gewahrte, dass eine weibliche
Gestalt zwischen den Baeumen kauerte und herabschaute. "Wer ist da oben?"
fragte er.--"Ich habe gehoert, Du willst fort," sagte sie leise, "da
musste ich doch zu Dir kommen und Dir Adieu sagen, wenn Du nicht zu mir
kommst."--"Margit, liebe Margit, bist Du es wirklich? Wart', ich komme
gleich hinauf."--"Nicht doch. Ich habe schon so lange gewartet, und da
muesste ich ja noch laenger warten; keiner weiss, wo ich bin, und ich muss
schnell wieder nach Hause."--"Es ist nett von Dir, dass Du gekommen
bist", sagte er.--"Ich konnte es nicht ertragen, dass Du so abreistest,
Oeyvind, wo wir uns von klein auf gekannt haben."--"Das stimmt."--"Und
jetzt haben wir ein halbes Jahr lang kein Wort miteinander
gewechselt."--"Nein, das stimmt."--"Wir sind das letzte Mal so komisch
auseinandergekommen."--"Ja;--aber ich glaube, ich komme doch lieber
hinauf zu Dir."--"Ach nein, bitte nicht! Aber sag' mal: Du bist mir doch
nicht boese?"--"Liebe Margit, wie kannst Du so was denken?"--"Na, dann
Adieu, Oeyvind, und Dank fuer alles Schoene, was wir zusammen erlebt
haben!"--"Nein, Margit!"--"Ja, jetzt muss ich fort; sie werden mich wohl
schon vermissen."--"Margit, Margit!"--"Nein, ich kann nicht laenger
fortbleiben, Oeyvind. Lebwohl!"--"Lebwohl!"
Nachher ging er wie im Traum umher und antwortete wie geistig abwesend,
wenn er gefragt wurde; sie erklaerten sich das mit der Abreise, und diese
nahm auch sein ganzes Interesse in Anspruch in dem Augenblick, als sich
der Schulmeister abends von ihm verabschiedete und ihm etwas in die Hand
drueckte, was sich nachher als ein Fuenftalerschein herausstellte. Aber
spaeter, als er im Bett lag, dachte er nicht an die Abreise, sondern an
die Worte, die an der Bergwand getauscht waren. Als Kind hatte sie nicht
zur Bergwand hingedurft, weil der Grossvater Angst hatte, Margit koenne
hinunterfallen. Wer weiss, ob sie nicht doch noch mal herunterkaeme.
Achtes Kapitel
Liebe Eltern!
Jetzt haben wir viel mehr zu arbeiten bekommen, aber jetzt habe ich die
andern auch schon mehr eingeholt, so dass es mir nicht mehr so schwer
wird. Und jetzt werde ich sehr viel in Vaters Wirtschaft veraendern, wenn
ich wieder nach Hause komme; denn da ist manches verkehrt angefangen,
und es ist merkwuerdig genug, dass es ueberhaupt bis jetzt gegangen ist.
Aber ich will schon Zug hineinbringen, denn ich habe jetzt viel gelernt.
Ich moechte wohl irgendwohin, wo ich alles verwerten kann, was ich jetzt
weiss; deshalb muss ich mir eine grosse Stellung suchen, wenn ich fertig
bin. Hier sagen alle, Jon Hatlen ist gar nicht so tuechtig, wie man bei
uns zu Haus denkt; aber er hat ja einen eigenen Hof, so dass es keinen
ausser ihn selbst was angeht. Viele, die von hier abgehen, bekommen sehr
hohen Lohn; aber sie werden so gut bezahlt, weil wir die beste
Ackerbauschule im ganzen Lande sind. Manche sagen, im Nachbaramt ist
noch eine bessere, aber das ist wohl nicht wahr. Hier hoert man immerzu
zwei Worte: das eine heisst Theorie und das andere Praxis, und es ist
gut, wenn man alle beide hat, und das eine ist ohne das andere nichts
wert, aber das zweite ist doch das beste. Und das erste Wort bedeutet,
dass man von einer Arbeit die Ursache und den Grund kennt, aber das
andere Wort bedeutet, dass man die Arbeit auch ausfuehren kann, wie zum
Beispiel jetzt mit dem Sumpf. Denn es gibt viele, die wissen, was man
mit einem Sumpf macht, aber verkehrt machen sie es doch, denn sie koennen
es nicht. Aber viele koennten es und sie wissen es nicht, und dann wird's
auch verkehrt, denn es gibt viele Arten Suempfe. Doch hier auf der
Ackerbauschule lernen wir beides. Der Direktor ist so tuechtig, dass sich
keiner mit ihm messen kann. Auf der letzten landwirtschaftlichen
Landesversammlung hatte er zwei Fragen zu behandeln, und die Direktoren
von den andern Ackerbauschulen jeder bloss eine, und es wurde immer das
beschlossen, was er beantragte, wenn die andern es sich erst ueberlegt
hatten. Auf der Versammlung vorher aber, wo er nicht war, da haben die
andern bloss gequatscht. Den Leutnant, der uns im Feldmessen
unterrichtet, hat der Direktor auch bloss wegen seiner eigenen
Tuechtigkeit bekommen, denn die andern Schulen haben keinen Leutnant.
Unserer aber ist sehr tuechtig und soll auf der Offiziersschule der
allerbeste gewesen sein.
Der Herr Lehrer fragt, ob ich auch in die Kirche gehe. Natuerlich gehe
ich in die Kirche, denn jetzt hat der Pfarrer hier einen Hilfsprediger
erhalten, und der predigt, dass den Leuten in der Kirche angst und bange
wird, und es ist eine Freude, ihn zu hoeren. Er ist von der neuen
Religion, die sie in Kristiania haben, und die Leute behaupten, er sei
zu streng, aber das ist ihnen ganz gesund.
Augenblicklich lernen wir viel Geschichte, die wir vorher noch nicht
gehabt haben, und es ist seltsam, was alles in der Welt geschehen ist
und besonders bei uns. Denn wir haben immer und immer gesiegt, ausser
wenn wir geschlagen wurden, aber dann sind wir immer viel, viel kleiner
gewesen. Jetzt sind wir frei, so frei wie kein andres Volk ausser
Amerika, aber da sind sie nicht gluecklich. Und unsere Freiheit sollen
wir ueber alles lieben.
Jetzt will ich fuer diesmal schliessen, denn ich habe sehr viel
geschrieben. Der Herr Lehrer liest Euch wohl den Brief vor, und wenn er
fuer Euch antwortet, soll er mir auch von allerlei Leuten was Neues
erzaehlen; denn das tut er nie. Nun seid vielmals gegruesst von Eurem
dankbaren Sohn
Oe. Thoresen.
Liebe Eltern!
Jetzt muss ich Euch mitteilen, dass hier Examen gewesen ist, und ich habe
mit vorzueglich in vielen Faechern bestanden, mit sehr gut im Schreiben
und Feldmessen, und mit ziemlich gut im norwegischen Aufsatz. Das kommt
daher, sagt der Direktor, dass ich nicht genug gelesen habe, und er hat
mir ein paar Buecher von Ole Vig geschenkt, die ganz wundervoll sind,
denn ich verstehe alles. Der Direktor ist sehr gut zu mir; er erzaehlt
uns so vieles. Alles hierzulande ist so klein im Vergleich zum Ausland;
wir koennen fast gar nichts und muessen alles von Schottland und der
Schweiz lernen; und von den Hollaendern lernen wir den Gartenbau. Viele
gehen in diese Laender, und auch in Schweden ist man viel tuechtiger als
bei uns, und da ist der Direktor selbst auch gewesen. Jetzt bin ich
schon bald ein Jahr hier, und ich dachte, ich haette schon viel gelernt,
aber als ich hoerte, was die Schueler koennen, die die Abschlusspruefung
bestanden haben, und dann denke, dass die auch noch rein gar nichts
koennen, wenn sie sich mit den Auslaendern messen, dann werde ich ganz
traurig. Und dann ist der Boden hier in Norwegen so schlecht gegen den
im Auslande; es lohnt sich gar nicht, etwas damit anzufangen. Ausserdem
mag unser Volk sich auch nichts zeigen lassen. Wenn das Volk aber auch
wollte, und wenn der Boden auch besser waere, so haetten sie ja doch kein
Geld, um ihn richtig zu bebauen. Es ist merkwuerdig, dass alles noch so
gegangen ist, wie es ging.
Jetzt bin ich in der obersten Klasse, und da bleibe ich ein Jahr, bis
ich fertig bin; aber die meisten von meinen Kameraden sind fort, und
ich habe Heimweh. Mir ist zu Mut, als wenn ich ganz allein in der Welt
staende, wenn es auch durchaus nicht wahr ist; aber es ist so merkwuerdig,
wenn man lange fortgewesen ist. Ich dachte frueher, ich wuerde hier sehr
tuechtig werden, aber damit sieht es schlecht aus.
Was soll ich wohl anfangen, wenn ich hier fortkomme? Zuerst will ich
natuerlich nach Hause, und spaeter muss ich mir dann wohl eine Stelle
suchen, aber zu weit weg darf's nicht sein.
Lebt nun wohl, liebe Eltern! Gruesst alle, die nach mir fragen, und sagt
ihnen, es ginge mir gut, aber ich haette Heimweh.
Euer dankbarer Sohn
Oeyvind Thoresen Pladsen.
Lieber Herr Lehrer!
Hierdurch bitte ich Dich, den beigelegten Brief abzugeben und keinem
Menschen davon zu sagen. Und wenn Du nicht willst, so verbrenne ihn
bitte.
Oeyvind Thoresen Pladsen.
An die
ehrsame Jungfrau Margit, Nordistuen, Tochter des Knut
auf dem Oberen Heidehof.
Du wirst Dich gewiss sehr wundern, einen Brief von mir zu bekommen. Das
brauchst Du aber nicht, denn ich wollte nur fragen, wie es Dir geht.
Darueber musst Du mich moeglichst bald und in jeder Hinsicht unterrichten.
Von mir selbst kann ich melden, dass ich in einem Jahr hier fertig bin.
Ergeben
Oeyvind Pladsen.
An Herrn Oeyvind Pladsen
auf der Ackerbauschule.
Deinen Brief habe ich richtig vom Schulmeister bekommen, und ich will
antworten, weil Du mich darum bittest. Aber ich habe Angst davor, weil
Du so gelehrt bist, und ich habe einen Briefsteller, aber der will nicht
passen. So muss ich's denn selbst versuchen, und Du musst den guten Willen
fuer die Tat nehmen, aber Du darfst ihn niemandem zeigen, denn dann bist
Du nicht der, fuer den ich Dich halte. Du sollst ihn auch nicht aufheben,
weil ihn dann doch leicht einer finden kann, sondern Du sollst ihn
verbrennen, und das musst Du mir versprechen. Ich wollte Dir ueber so
vieles schreiben, aber ich wage das nicht so. Wir haben eine gute Ernte
gehabt, die Kartoffeln stehen hoch im Preis, und hier auf den Heidehoefen
sind reichlich gewachsen. Aber ein Baer hat im Sommer boes im Viehstand
gehaust; bei Ole auf dem Niederhof hat er zwei Rinder zerrissen, und
unserm Haeusler hat er eins so zugerichtet, dass es geschlachtet werden
musste. Ich webe an einem sehr grossen Tuch; es ist aehnlich wie das
schottische Zeug, und das ist sehr schwierig. Und jetzt will ich Dir
erzaehlen, dass ich noch immer zu Hause bin, und dass manchen Leuten das
gar nicht recht ist. Jetzt weiss ich fuer diesmal nichts mehr zu
schreiben, und deshalb leb' wohl.
Margit, Tochter des Knut.
Nachschrift.
Du musst diesen Brief sofort verbrennen.
An den
Ackerbauschueler Oeyvind Thoresen Pladsen!
Ich habe Dir immer gesagt, Oeyvind, wer mit Gott wandert, hat das beste
Teil erwaehlt. Jetzt aber sollst Du meinen Rat hoeren, den naemlich: dass
Du Dir Dein Leben nicht mit Sehnsucht und allerlei Ungemach ausfuellst,
sondern auf Gott vertraust und Dein Herz sich nicht in Sehnsucht
verzehren laesst; denn dann hast Du einen anderen Gott neben ihm. Ferner
will ich Dir mitteilen, dass es Deinem Vater und Deiner Mutter gut geht;
ich selbst habe Schmerzen in der Huefte; da meldet sich der Krieg wieder
und alles, was man dabei durchgemacht hat. Was die Jugend saet, wird das
Alter ernten, am Geist wie am Koerper, der mir brennt und schmerzt und
mich zum Wehklagen bringen will. Aber klagen soll das Alter nicht, denn
aus Wunden rinnt Weisheit, und die Schmerzen predigen Geduld, auf dass
der Mensch stark werde zu seiner letzten Reise. Heute habe ich aus
mancherlei Gruenden zur Feder gegriffen, zuerst und zunaechst um Margits
willen, die ein gottesfuerchtiges Maedchen geworden ist, aber
leichtfuessig wie ein Renntier und voll mancherlei Plaene. Denn sie
moechte sich wohl gern an eins halten, kann es aber ihrer Natur wegen
nicht; doch ich habe oft erlebt, dass unser Herrgott mit so schwachen
kleinen Herzen glimpflich und langmuetig umgeht und sie nicht ueber
Vermoegen in Versuchung fuehrt, auf dass sie nicht in Stuecke brechen;
denn die sind sehr zerbrechlich. Den Brief habe ich ihr richtig
gegeben, und sie verbarg ihn vor allen, ausser vor ihrem eigenen
Herzen. Und wenn der liebe Gott dieser Sache gnaedig ist, so habe ich
nichts dagegen; denn Margit gefaellt den jungen Burschen wohl, wie man
deutlich sieht, und sie ist reich an irdischen Guetern, wie auch trotz
aller Unbestaendigkeit an himmlischen. Denn die Gottesfurcht in ihrem
Herzen ist wie Wasser in einem seichten Teich; es ist da, wenn's
regnet, aber es verschwindet, wenn die Sonne scheint. Jetzt wollen
meine Augen nicht mehr, denn sie sehen zwar gut in die Ferne, aber in
der Naehe schmerzen sie und traenen. Zum Schluss will ich Dir noch
sagen, Oeyvind: was Du auch erstrebst und was Du anfaengst, Deinen Gott
nimm mit; denn es steht geschrieben: Es ist besser eine Hand voll mit
Ruhe, denn beide Faeuste voll mit Muehe und Jammer. (Pred. Sal. 4, 6.)
Dein alter Lehrer
Baard Andersen Opdal.
An die
ehrsame Jungfrau Margit, Tochter des Knut vom Heidehof.
Schoenen Dank fuer Deinen Brief; ich habe ihn gelesen und verbrannt, wie
Du gewollt hast. Du schreibst von vielem, aber gar nichts von dem, was
ich gern wissen wollte. Eher darf ich auch von etwas Gewissem nicht
schreiben, bis ich nicht weiss, wie es Dir in allen Stuecken geht. In dem
Brief vom Schulmeister steht nichts, worauf man bauen koennte, aber er
lobt Dich, und doch sagt er, Du bist unbestaendig. Das warst Du schon
immer. Jetzt weiss ich nicht, was ich denken soll, und deshalb musst Du
mir schreiben; denn ich habe keine Ruhe, bis Du nicht geschrieben hast.
In dieser Zeit denke ich immer dran, wie Du am letzten Abend auf den
Berg kamst, und was Du da sagtest. Mehr will ich diesmal nicht
schreiben, und deshalb leb' wohl.
Ergeben
Oeyvind Pladsen.
An
Herrn Oeyvind Thoresen Pladsen.
Der Schulmeister hat mir wieder einen Brief von Dir uebergeben, und ich
habe ihn jetzt gelesen. Aber ich verstehe ihn nicht recht, und das kommt
wohl daher, dass ich nicht gelehrt genug bin. Du willst wissen, wie es
mir in allen Stuecken geht. Nun, ich bin gesund und munter, und mir fehlt
nicht das geringste. Ich mag gern essen, besonders wenn es Milchreis
gibt. Nachts schlafe ich, und zuweilen tags auch noch. Ich habe viel
getanzt in diesem Winter, denn hier ist viel los gewesen, und es ging
immer sehr lustig zu. Ich gehe in die Kirche, wenn nicht zuviel Schnee
liegt; aber im Winter lag er sehr hoch. Jetzt weisst Du doch wohl alles,
und wenn nicht, so bleibt nichts weiter uebrig, als dass Du mir noch
einmal schreibst.
Margit, Tochter des Knut.
An die
ehrsame Jungfrau Margit, Tochter des Knut vom Heidehof.
Deinen Brief habe ich bekommen, aber mir scheint, Du willst mich nicht
klueger werden lassen. Vielleicht ist das ja auch eine Antwort, ich weiss
es nicht. Ich darf von dem, was ich schreiben moechte, kein Wort sagen,
denn ich kenne Dich ja nicht. Aber vielleicht kennst Du mich auch
nicht.
Du musst nicht glauben, dass ich noch der weiche Kaese bin, aus dem Du das
Wasser herausdruecktest, als ich dasass und Dich tanzen sah. Ich habe seit
der Zeit auf manchem Brett zum Trocknen gelegen. Ich bin auch nicht mehr
wie die langhaarigen Hunde, die gleich die Ohren haengen lassen und den
Schwanz einziehen, wie ich es frueher getan; jetzt lasse ich es an mich
herankommen.
Dein Brief war sehr spassig; aber er spasste, wo er lieber nicht haette
spassen sollen; denn Du verstandest mich recht gut, und da haettest Du
wissen muessen, dass ich nicht zum Spass fragte, sondern weil ich in der
letzten Zeit nur an das gedacht habe, wonach ich fragte. Ich war in
grosser Not und wartete, und da bekam ich als Antwort bloss Albernheiten
und Gelache.
Leb' wohl, Margit vom Heidehof, ich will nicht mehr, wie bei jenem Tanz,
zuviel nach Dir schauen. Moegest Du gut essen und schoen schlafen und Dein
neues Tuch fertig weben, und schaufle vor allen Dingen den Schnee weg,
der vor der Kirchtuer liegt.
Ergeben
Oeyvind Thoresen Pladsen.
An den
Ackerbauschueler Oeyvind Thoresen,
Ackerbauschule.
Trotz meines hohen Alters und meiner schwachen Augen und der Schmerzen
in meiner rechten Huefte muss ich doch dem Draengen der Jugend nachgeben;
denn sie braucht uns Alten, wenn sie sich festgerannt hat. Sie bittet
und jammert, bis sie wieder flott ist, aber dann rennt sie gleich wieder
davon und hoert nicht mehr auf uns.
Also die Margit; sie schmeichelt mit vielen suessen Worten, ich moege zur
Gesellschaft mitschreiben, denn sie traut sich nicht allein zu
schreiben. Ich habe Deinen Brief gelesen; sie dachte eben, sie habe Jon
Hatlen oder sonst einen Waschlappen vor sich, aber nicht einen, den
Schulmeister Baard erzogen hat; und nun drueckt sie der Schuh. Aber Du
bist zu streng gewesen; denn es gibt Maedchen, die scherzen, um nicht
weinen zu muessen, und zwischen beidem ist kein Unterschied. Aber es
gefaellt mir, dass Du das Ernste ernst nimmst, denn sonst koenntest Du
ueber das, was Scherz ist, nicht lachen.
Dass Euer Sinnen aufeinander gerichtet ist, scheint mir jetzt aus vielem
ersichtlich. An ihr habe ich oft gezweifelt, denn sie war wie eine
Wetterfahne; aber jetzt weiss ich, dass sie Jon Hatlen doch abgewiesen
hat, worueber ihr Grossvater in hellen Zorn geraten ist. Sie war
gluecklich, als Dein Schreiben kam, und wenn sie scherzte, so tat sie es
nicht aus boeser Absicht, sondern aus lauter Freude. Sie hat viel
erdulden muessen, und das hat sie getan, um auf den zu warten, nach dem
ihr Sinn stand. Und jetzt willst Du nichts von ihr wissen und stoesst sie
zurueck wie ein unartiges Kind.
Das musste ich Dir sagen, und den Rat moechte ich Dir noch geben, dass Du
Dich mit ihr wieder aussoehnst, denn Streit gibt es auch doch genug in
der Welt. Ich bin wie jener Greis, der drei Geschlechter gesehen hat.
Ich kenne die Torheiten und ihren Lauf.
Von Vater und Mutter soll ich Dich gruessen, sie warten sehnlichst auf
Dich. Aber davon habe ich Dir nicht eher schreiben wollen, damit Du kein
Herzweh bekaemst. Deinen Vater kennst Du noch gar nicht; denn er ist wie
ein Baum, der keinen Laut von sich gibt, bis er gefaellt wird. Aber wenn
Dir einmal etwas zustoesst, dann wirst Du ihn kennen lernen, und Du wirst
staunen wie einer, der einen Schatz findet. Er ist gedrueckt und wortkarg
in weltlichen Dingen gewesen, Deine Mutter aber hat sein Gemuet von der
weltlichen Angst frei' gemacht, und jetzt klaert sich sein Lebenstag auf.
Nun werden meine Augen trueb, und die Hand will nicht mehr. Also befehle
ich Dich dem, dessen Auge immerdar wacht und dessen Haende nimmer muede
werden.
Baard Andersen Opdal.
An Oeyvind Pladsen.
Du bist wohl boese auf mich, und das tut mir sehr weh. Denn so habe ich
es nicht gemeint; ich meinte es gut. Ich weiss, dass ich oft nicht so
gegen Dich gewesen bin, wie ich haette sein sollen, und deshalb will ich
jetzt an Dich schreiben, aber Du darfst es keinem Menschen zeigen.
Einmal ist mir's ergangen, wie ich's wuenschte, und da war ich nicht
nett; aber jetzt will keiner mehr was von mir wissen, und mir geht es
recht schlecht. Jon Hatlen hat ein Spottlied auf mich gemacht, und das
singen alle Burschen, und ich kann mich auf keinem Tanz mehr blicken
lassen. Die beiden Alten wissen davon, und ich bekomme boese Worte zu
hoeren. Ich aber sitze allein und schreibe, und Du darfst es keinem
zeigen.
Du hast viel gelernt und koenntest mir einen Rat geben, aber Du bist so
weit fort. Ich bin oft unten bei Deinen Eltern gewesen und habe mit
Deiner Mutter geplaudert, und wir sind gute Freunde geworden; aber ich
darf nichts sagen, denn Du hast so sonderbar geschrieben. Der
Schulmeister macht sich jetzt ueber mich lustig, und er weiss nichts von
dem Spottlied, denn kein einziger im ganzen Dorf wagt ihm so etwas
vorzusingen. Jetzt bin ich allein und habe keinen, mit dem ich sprechen
kann; ich denke daran, als wir noch Kinder waren, und Du so nett zu mir
warst, und ich immer auf Deinem Schlitten sitzen durfte. Und da moechte
ich wuenschen, dass ich wieder ein Kind waere.
Ich darf Dich nicht mehr bitten, mir zu antworten; ich darf es nicht.
Aber wenn Du mir nur noch ein einziges Mal schreiben wolltest, so wuerde
ich Dir das nie vergessen, Oeyvind.
Margit, Tochter des Knut.
Lieber Oeyvind, verbrenne diesen Brief; ich weiss gar nicht, ob ich ihn
ueberhaupt abschicken darf.
Liebe Margit!
Dank fuer Deinen Brief; den hast Du in einer guten Stunde geschrieben.
Jetzt will ich Dir auch sagen, Margit, dass ich Dich so lieb habe, dass
ich es beinahe hier nicht mehr aushalten kann, und wenn Du mich ebenso
lieb hast, dann sollen Jons Spottlieder und alle boesen Worte bloss
Blaetter sein, wie sie an jedem Baum haengen. Seit ich Deinen Brief
bekommen habe, bin ich ein neuer Mensch, denn es ist doppelte Kraft in
mich gekommen, und ich fuerchte mich vor nichts in der Welt. Als ich den
vorigen Brief abgeschickt hatte, tat es mir so leid, dass ich fast krank
davon geworden bin. Und nun sollst Du hoeren, was das fuer eine Folge
hatte. Der Direktor nahm mich beiseite und fragte mich, was mir fehle;
er glaubte, ich arbeitete zu viel. Da sagte er mir, wenn mein Jahr hier
zu Ende sei, sollte ich noch eins hier bleiben und ganz umsonst; ich
solle ihm hier und da an die Hand gehen, er aber wollte mich noch in
vielem unterrichten. Da dachte ich, Arbeit sei das einzige, das mich
aufrecht halten koenne, und ich bedankte mich vielmals; und ich bereue es
auch nicht, wenn ich jetzt auch Sehnsucht nach Dir habe; denn je laenger
ich hier bin, desto mehr Recht habe ich spaeter, um Dich zu werben. Wie
froh bin ich jetzt! Ich arbeite fuer drei, und ich will nie in irgend
etwas zurueckstehen. Ich will Dir aber ein Buch schicken, das ich jetzt
lese, denn da steht viel von Liebe drin. Ich lese immer abends darin,
wenn die andern schlafen, und dann lese ich auch Deinen Brief immer
wieder durch. Hast Du Dir vorgestellt, wenn wir uns wiedersehen? Das
male ich mir so oft aus, und das musst Du auch versuchen und sollst
sehen, wie schoen es ist. Ich freue mich, dass ich soviel geschrieben und
gearbeitet habe, trotzdem es oft schwer war; aber jetzt kann ich Dir
alles sagen, was ich mag, und lache dabei in meinem Sinn.
Ich will Dir viele Buecher zu lesen geben, damit Du sehen sollst, wieviel
Widerwaertigkeiten alle gehabt haben, die sich innig lieb hatten, und
dass sie lieber aus Kummer gestorben sind, als dass sie voneinander
gelassen haben. Und so wollen wir es auch halten, und zwar freudigen
Herzens. Wohl dauert es fast zwei Jahre, bis wir uns sehen, und noch
laenger, bis wir uns kriegen; aber mit jedem Tag, der vergeht, ist es
doch ein Tag weniger; daran wollen wir bei unserer Arbeit denken.
Naechstes Mal muss ich Dir ueber vieles schreiben, heut abend aber habe ich
kein Papier mehr, und die andern schlafen alle. Darum will ich auch zu
Bett gehen und an Dich denken, bis ich einschlafe.
Dein Freund
Oeyvind Pladsen.
Neuntes Kapitel
Eines Sonntags im Hochsommer ruderte Tore Pladsen ueber den Fjord, um
seinen Sohn zu holen, der am Nachmittage von der Ackerbauschule
heimkommen sollte, denn jetzt war er fertig. Die Mutter hatte ein paar
Tage lang eine Scheuerfrau gehabt, alles war geputzt und gesaeubert, die
Kammer war nach langer Zeit wieder in Stand gesetzt, es war ein Ofen
hineingestellt; da sollte Oeyvind wohnen. Heute brachte die Mutter
frisches Gruen hinein, holte reines Leinzeug heraus, machte das Bett
zurecht und schaute zwischendurch immer einmal aus, ob noch kein Boot
dahergerudert komme. Unten in der Stube war der Tisch gedeckt, aber
immer fehlte noch etwas, oder die Fliegen waren wegzujagen, und oben in
der Kammer lag noch Staub, und immer wieder Staub. Noch war kein Boot zu
sehen. Sie lehnte sich aufs Fensterbrett und sah hinaus; da hoerte sie
dicht neben sich Schritte vom Wege her und wandte den Kopf; es war der
Schulmeister, der langsam, auf einen Stock gestuetzt, herunterkam, denn
mit seiner Huefte ging es schlecht. Die klugen Augen blickten ruhig
umher; er blieb stehen und ruhte sich aus und nickte ihr zu: "Na, noch
nicht da?"--"Nein, sie muessen aber jeden Augenblick kommen."--"Schoenes
Wetter zum Heuen heut!"--"Aber zu heiss fuer alte Leute zum Gehen."--Der
Schulmeister sah sie schmunzelnd an. "Sind junge Leute heut schon hier
gewesen?"--"Freilich, sind aber wieder fortgegangen."--"Ja, gewiss, ja;
die treffen sich wohl heut abend irgendwo."--"Kann schon sein, ja; Tore
sagt, sie sollen sich nicht bei ihm im Hause treffen, bis die Alten ihre
Zustimmung gegeben haben."--"Sehr richtig, sehr richtig."--Nach einer
Weile rief die Mutter: "Jetzt glaub' ich beinahe, sie kommen." Der
Schulmeister spaehte lange in die Ferne. "Ja, das sind sie"; sie trat vom
Fenster zurueck, und er ging ins Haus. Als er sich ein bisschen ausgeruht
und erfrischt hatte, gingen sie langsam an die See hinunter, waehrend das
Boot in voller Fahrt heranschoss, denn Vater und Sohn ruderten beide. Die
Ruderer hatten die Jacken ausgezogen, es spruehte weiss unter den Rudern,
und bald war das Boot dicht bei ihnen, Oeyvind wandte den Kopf und
blickte hinauf; er gewahrte die beiden an der Landungsstelle, zog die
Ruder ein und rief: "Guten Tag, Mutter,--guten Tag, Schulmeister!"--"Hat
der 'ne Mannsstimme bekommen!" sagte die Mutter mit strahlendem Gesicht.
"So was, so was! er ist noch gerade so hellblond", fuegte sie hinzu. Der
Schulmeister holte das Boot heran, der Vater zog die Ruder ein, Oeyvind
sprang an ihm vorbei an Land, gab erst der Mutter die Hand und dann dem
Schulmeister, lachte und lachte und fing, ganz gegen Bauernart, gleich
in einem reissenden Strom an zu erzaehlen vom Examen, von der Reise, von
dem Empfehlungsschreiben des Direktors und guenstigen Anerbietungen. Er
fragte nach der Ernte und nach allen Bekannten, ausser nach einer; der
Vater wollte das Gepaeck aus dem Boot tragen, aber weil er auch etwas
hoeren wollte, dachte er, das habe ja auch noch Zeit, und ging mit. Und
so zogen sie ihres Wegs; Oeyvind lachte und erzaehlte, und seine Mutter
lachte auch, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Der
Schulmeister schlenderte langsam daneben und sah ihn verstaendnisvoll an;
der Vater ging bescheiden in etwas groesserer Entfernung. Und so kamen sie
heim. Er freute sich ueber alles, was er sah; zuerst darueber, dass das
Haus frisch gestrichen, und dass die Muehle ausgebaut war, dann darueber,
dass die Butzenscheiben in Stube und Kammer herausgenommen waren, weisses
Glas an Stelle des gruenen eingesetzt und der Fensterrahmen vergroessert
war. Als er hineintrat, kam ihm alles so merkwuerdig klein vor, wie er
sich es gar nicht vorgestellt hatte, aber so lustig. Die Uhr gackerte
wie eine fette Henne, die geschnitzten Stuehle sahen aus, als wollten sie
jeden Augenblick zu reden anfangen; jede Tasse auf dem gedeckten Tisch
kannte er; der weissgetuenchte Herd laechelte ihm ein Willkommen zu;
gruenes Laub hing duftend an den Waenden, Wacholderbueschel waren auf den
Fussboden gestreut und verkuendeten den Festtag. Sie setzten sich zum
Essen, aber es wurde nicht viel daraus, denn er schwatzte unaufhoerlich.
Sie betrachteten ihn sich jetzt mit mehr Musse, sahen die Veraenderungen
und die Aehnlichkeiten, sie achteten auf alles, was neu an ihm war, bis
hin zu dem blauen Tuchanzug, den er trug. Einmal, als er gerade eine
lange Geschichte von einem seiner Kameraden erzaehlt hatte und endlich
aufhoerte, so dass eine kleine Pause entstand, sagte der Vater: "Ich
verstehe beinahe kein Wort von dem, was Du sagst, Junge, Du sprichst so
uebermaessig schnell."--Alle lachten herzlich, und Oeyvind nicht am
wenigsten; er wusste recht gut, dass es sich so verhielt, aber es war ihm
nicht moeglich, langsamer zu sprechen. Alles Neue, was er waehrend seiner
langen Abwesenheit gesehen und gelernt hatte, hatte seine Phantasie und
seinen Verstand gepackt und ihn aus der gewohnten Haltung aufgeruettelt,
so dass die Kraefte, die lange geruht hatten, aufgescheucht wurden, und
der Kopf in unablaessiger Arbeit war. Weiter fiel ihnen auf, dass er sich
angewoehnt hatte, ganz willkuerlich zwei, drei Worte zu wiederholen vor
lauter Geschaeftigkeit, fast, als stolpere er ueber sich selbst. Manchmal
klang's geradezu komisch, aber dann lachte er, und vergessen war es. Der
Schulmeister und der Vater sassen da und lauerten, ob er wohl seine alte
Umsicht verloren habe, aber es schien nicht so: er dachte an alles und
er erinnerte auch daran, dass sie wohl das Boot ausladen muessten; er
packte gleich seine Sachen aus und haengte sie hin, zeigte seine Buecher,
seine Uhr und alles Neue, und alles sei gut imstande, sagte seine
Mutter. Ueber sein kleines Gemach freute er sich unbaendig; er wolle fuers
erste zu Hause bleiben, sagte er, beim Heuen helfen und lernen. Wo er
nachher hinwollte, wusste er noch nicht, aber das war ja auch noch
gleich. Sein Denken hatte eine erfrischende Kraft und Raschheit
bekommen, und seine Ausdrucksweise eine Lebendigkeit, die jedem wohltut,
der Jahr fuer Jahr bestrebt ist, sich zurueckzuhalten. Der Schulmeister
fuehlte sich um zehn Jahre verjuengt.
"So weit waeren wir jetzt gluecklich", sagte er strahlend, als er
aufbrach.
Als die Mutter ihn wie gewoehnlich hinausbegleitet hatte, rief sie Oeyvind
in seine Kammer. "Es wartet jemand auf Dich um neun", fluesterte
sie.--"Wo?"--"Auf dem Berge."
Oeyvind sah nach der Uhr; es ging auf neun. Drinnen konnte er es nicht
abwarten, sondern er ging hinaus, klomm den Berg empor, blieb oben
stehen und hielt Umschau. Das Hausdach lag dicht unter ihm; die Buesche
auf dem Dach waren gross geworden, all die jungen Baeume um ihn herum
waren auch gewachsen, und er kannte jeden einzigen. Er sah den Weg
hinunter, der am Berg entlang fuehrte und an der andern Seite vom Walde
begrenzt war. Der Weg lag grau und eintoenig da, der Wald aber trug Laub
mancherlei Art; die Baeume waren hoch und gerade gewachsen, in der
kleinen Bucht lag ein Fahrzeug mit schlaffen Segeln; es war mit Brettern
beladen und wartete auf Wind. Er sah aufs Wasser hinaus, auf dem er
fortgezogen und jetzt wieder heimgekehrt war; es lag still und blank da,
ein paar Seevoegel schwebten drueber hin, lautlos, denn es war spaet. Der
Vater kam von der Muehle her, blieb vor der Haustuer stehen und blickte
gerade wie sein Sohn ins Land, dann ging er zum Strand hinunter, um das
Boot fuer die Nacht zu bergen. Die Mutter kam aus der Seitentuer heraus,
sie war in der Kueche gewesen, und sie sah zum Berge hinauf, als sie ueber
den Hof ging, um den Huehnern Futter zu bringen; sie sah noch einmal
hinauf und summte vor sich hin. Er setzte sich und wartete; das Gestruepp
um ihn war so dicht geworden, dass er nicht drueber wegsehen konnte, aber
er lauschte auf das kleinste Geraeusch. Erst waren es nur Voegel, die
aufflatterten und ihn neckten, dann ein Eichkaetzchen, das von Baum zu
Baum sprang. Schliesslich knackte es weiter hinten, und nach einem
Weilchen knackte es wieder. Er stand auf, das Herz klopfte ihm, und das
Blut schoss ihm ins Gesicht. Da raschelte es in den Bueschen dicht neben
ihm, aber es war nur ein grosser zottiger Hund, der ihn anblickte, auf
drei Beinen stehen blieb und sich nicht ruehrte. Das war der Hund vom
Oberen Heidehof, und dicht hinter ihm knackte es wieder; der Hund drehte
den Kopf und wedelte mit dem Schwanz; da kam Margit.
Ein Busch hakte sich in ihrem Kleide fest, sie drehte sich um und machte
ihn los, und dann erst konnte er sie sehen. Ihr Kopf war unbedeckt und
das Haar aufgesteckt, wie es die Maedchen an Werktagen tragen; sie hatte
ein grobes kariertes Kleid an ohne Aermel und um den Hals nur einen
umgelegten Leinenkragen; sie hatte sich geradenwegs von der Feldarbeit
fortgeschlichen und hatte sich nicht erst putzen koennen. Jetzt sah sie
schraeg in die Hoehe und laechelte; die weissen Zaehne und die
halbgeschlossenen Augen blitzten. So stand sie ein Weilchen da und
zupfte an ihrem Kleide, dann aber kam sie auf ihn zu und wurde roeter bei
jedem Schritt. Er ging ihr entgegen und nahm ihre Hand in seine beiden.
Sie sah zu Boden, und so standen sie einander gegenueber.
"Ich dank' Dir fuer all Deine Briefe", war das erste, was er sagte, und
als sie da ein klein bisschen aufsah und lachte, merkte er, dass sie das
lustigste Hexlein war, dem man je im Walde begegnen konnte; aber doch
war er befangen, und sie war es nicht minder. "Wie gross Du geworden
bist!" sagte sie und meinte eigentlich etwas ganz anderes. Sie wagte
allmaehlich, ihn genauer anzusehen und lachte immer mehr, und er lachte
auch, aber sie sagten kein Wort. Der Hund hatte sich an den Abhang
gesetzt und schaute auf das Gehoeft hinunter. Tore sah den Hundekopf vom
Wasser aus und konnte sich absolut nicht denken, was das da oben auf dem
Berge wohl sein koennte.
Die beiden aber hatten sich jetzt losgelassen und fingen bei kleinem zu
erzaehlen an. Und als er erst angefangen hatte, kam er bald so ins
Fahrwasser, dass sie ueber ihn lachen musste. "Ja, siehst Du, das ist immer
so, wenn ich mich so freue, so richtig freue, siehst Du; und als
zwischen uns beiden alles gut wurde, da war's, als wenn ein Schloss in
mir aufsprang, aufsprang, siehst Du." Sie lachte. Nach einer Weile sagte
sie: "Die Briefe, die Du mir geschrieben hast, kann ich alle beinah
auswendig."--"Ich Deine auch! Aber Du hast immer nur so kurz
geschrieben."--"Weil Du immer so lange Briefe haben wolltest."--"Und
wenn ich wollte, wir sollten mehr von dem einen schreiben, dann ruecktest
Du immer aus."--"Ich bin am huebschesten, wenn man bloss den Schwanz
sieht", sagt die Waldhexe.--"Aber Du hast mir nie geschrieben, wie Du
Jon Hatlen losgeworden bist."--"Ich hab' gelacht."--"Was?"--"Gelacht;
weisst Du nicht, was lachen ist?"--"Doch, lachen kann ich."--"Mach' mal
vor!"--"Na, so was! Ich muss doch erst was zum Lachen haben."--"Das
brauche ich nicht, wenn ich gluecklich bin."--"Bist Du jetzt gluecklich,
Margit?"--"Lache ich denn etwa?"--"Ja, das tust Du!"--Er fasste ihre
beiden Haende und schlug sie ineinander, klatsch, klatsch, und sah sie
dabei an. Da fing der Hund zu knurren an, seine Borsten straeubten sich,
und er bellte nach unten, lauter und lauter, zuletzt ganz wuetend. Margit
lief erschrocken weg, Oeyvind aber trat vor und sah hinunter. Das Bellen
galt seinem Vater; er stand unten dicht am Berge, die Haende in den
Taschen und sah zu dem Hund hinauf. "Du bist auch da oben? Was hast Du
denn da fuer einen verrueckten Koeter?"--"Das ist ein Hund vom Heidehof",
antwortete Oeyvind etwas verlegen. "Wie zum Teufel kommt der da
hin?"--Die Mutter aber sah aus dem Kuechenfenster, denn sie hatte den
fuerchterlichen Laerm gehoert; sie ahnte den Zusammenhang, lachte und
sagte: "Der Hund treibt sich immer hier herum; das ist weiter nichts
Besonderes."--"Das ist aber ein ganz gefaehrlicher Hund."--"Er ist nicht
so schlimm, wenn man ihn streichelt", sagte Oeyvind und liebkoste den
Hund; da wurde er still,--er knurrte nur noch. Der Vater kehrte arglos
um, und die beiden waren vor Entdeckung sicher.
"Das ging noch gut ab", sagte Margit, als sie wieder zusammen
waren.--"Es kommt noch schlimmer, meinst Du?"--"Ich weiss, dass uns jemand
belauern wird."--"Dein Grossvater?"--"Natuerlich."--"Aber er soll uns
nichts anhaben!"--"Nicht so viel."--"Versprichst Du mir das?"--"Ja, das
verspreche ich, Oeyvind."--"Wie huebsch Du bist, Margit!"--"Das sagte der
Fuchs auch zum Raben und stahl ihm den Kaese."--"Ich will eben den Kaese
auch gern haben."--"Du kriegst ihn aber nicht."--"Ich nehme ihn mir
aber." Sie drehte den Kopf weg, und er bekam den Kaese nicht. "Jetzt will
ich Dir mal was sagen, Oeyvind!" sie sah ihn von der Seite an.
"Nun?"--"Wie haesslich Du geworden bist!"--"Du wirst mir den Kaese trotzdem
geben."--"Nein, das werde ich nicht", und sie wandte sich wieder ab.
"Ich muss jetzt gehen, Oeyvind."--"Ich begleite Dich."--"Aber nur durch
den Wald; nachher kann Grossvater Dich sehen."--"Ja, nur durch den Wald.
Aber warum laeufst Du denn so?"--"Wir koennen hier doch nicht
nebeneinander gehen."--"Aber dann ist es doch keine Begleitung!"--"So
fang mich doch!"--Sie lief davon, er hinterher, bald blieb sie haengen,
und er fing sie.--"Habe ich Dich jetzt fuer immer gefangen, Margit?" er
hatte den Arm um sie gelegt.--"Ich glaube", sagte sie leise und lachte,
aber dann erroetete sie und wurde ernst. "Jetzt muss es aber gehen",
dachte er, und er zog sie an sich und wollte sie kuessen; doch sie
steckte den Kopf unter seinen Arm, lachte und lief ihm davon. Zwischen
den letzten Baeumen blieb sie aber stehen. "Wann treffen wir uns wieder?"
fragte sie leise. "Morgen, morgen", rief er ebenso zurueck. "Ja,
morgen!"--"Leb' wohl!" sie lief weiter. "Margit!" sie stand still.--"Du,
das war fein, dass wir uns zuerst oben auf dem Berge trafen."--"Ja, das
war's!" und sie lief wieder weiter. Er sah ihr lange nach; der Hund lief
ihr voran und bellte, sie hinterher und beschwichtigte ihn. Er kehrte
um, nahm seine Muetze und warf sie in die Luft, fing sie und warf sie
noch einmal in die Hoehe. "Jetzt, glaube ich, wirklich, ich fange an,
froh zu werden", sagte der Bursch und ging singend heimwaerts.
Zehntes Kapitel
Eines Nachmittags gegen Ende des Sommers, als die Mutter mit einer Magd
Heu zusammenrechte, und der Vater und Oeyvind es einbrachten, kam ein
barfuessiges, barhaeuptiges Buerschchen den Huegel hinuntergesprungen, lief
ueber die Wiese auf Oeyvind zu und gab ihm einen Zettel. "Du kannst fein
laufen", sagte Oeyvind. "Ich krieg's auch bezahlt", antwortete der Junge.
Auf die Frage, ob er Antwort haben wolle, sagte er nein und trat
schleunigst den Rueckzug ueber den Berg an, denn es komme einer hinter ihm
her, sagte er. Oeyvind machte mit vieler Muehe das Zettelchen auf; es war
in einen Streifen zusammengefaltet, dann geknifft und dann zugesiegelt,
und auf dem Zettel stand:
"Jetzt ist er im Anmarsch; aber es geht langsam. Lauf in den Wald und
versteck' Dich!
Die Bewusste."
"Nein, das tu' ich nicht", dachte Oeyvind und sah trotzig nach dem Huegel
hinauf. Es dauerte auch nicht lange, da kam ein alter Mann dort oben zum
Vorschein, verpustete sich, ging ein paar Schritte und verpustete sich
wieder. Tore und seine Frau hielten mit der Arbeit inne und blickten
hinauf. Tore laechelte, seine Frau aber wechselte die Farbe. "Kennst Du
den?"--"Ja, den soll man wohl kennen."
Vater und Sohn fingen wieder an, ihr Heu einzutragen, und Oeyvind wusste
es so einzurichten, dass sie immer hintereinander hergingen. Der Alte
oben auf dem Huegel kam langsam heran wie ein schwerer Wolkenschauer von
Westen. Er war sehr gross und stark; weil er schlimme Fuesse hatte, musste
er muehsam Schritt fuer Schritt am Stock gehen. Er war jetzt schon so
dicht dabei, dass sie ihn deutlich sehen konnten; er stand still, nahm
die Muetze vom Kopf und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiss
ab. Sein Kopf war ganz kahl; er hatte ein rundes, runzliges Gesicht,
kleine lebhafte, zwinkernde Augen, buschige Brauen und noch alle Zaehne
im Mund. Seine Stimme war scharf und kreischend, als gehe sie ueber Stock
und Stein; doch ab und zu verweilte sie so recht behaglich auf dem r,
schnarrte es ein paar Ellen lang und machte zugleich einen maechtigen
Sprung. Er hatte in seiner Jugend fuer einen lustigen, etwas heissbluetigen
Menschen gegolten; auf seine alten Tage war er durch mancherlei
Unannehmlichkeiten misstrauisch und jaehzornig geworden.
Tore und sein Sohn mussten noch verschiedene Male hin und her pendeln,
bis Ole herangestelzt kam; sie wussten beide, dass er nichts Gutes im
Schilde fuehrte, aber um so drolliger war es, dass er nur so langsam
herankam. Sie mussten beide ganz ernste Gesichter machen und ganz leise
sprechen; doch auf die Dauer wirkte das komisch. Ein einziges zuendendes
Wort kann unter solchen Umstaenden zum Lachen reizen, zumal wenn mit dem
Lachen eine Gefahr verbunden ist. Als er schliesslich bloss noch ein paar
Klafter weit fort war, die aber kein Ende nehmen wollten, sagte Oeyvind
trocken und leise: "Der Mann muss schwere Ladung haben", und mehr war
nicht noetig. "Ich glaube, Du bist nicht recht klug", fluesterte der
Vater, dem das Lachen nahe war.--"Hm, hm", raeusperte sich Ole auf der
Hoehe. "Er bringt schon seine Kehle in Ordnung", fluesterte Tore. Oeyvind
kniete vor dem Heuhaufen hin, grub das Gesicht hinein und lachte; auch
sein Vater bueckte sich hinunter. "Komm in die Scheune", fluesterte er,
lud sein Heu auf und trabte davon; Oeyvind bog sich vor Lachen, nahm auch
ein kleines Buendel, lief hinterher und warf sich auf die Tenne nieder.
Der Vater war ein ernster Mann; aber brachte ihn einer zum Lachen, dann
gluckste es erst ein bisschen in ihm, und dann kamen lange, abgebrochene
Triller, bis sie sich zu einem einzigen langen Bruellton vereinigten,
worauf dann Welle auf Welle mit immer laengerem Schnaufen hervorbrach.
Jetzt war er ins Fahrwasser gekommen; der Sohn lag auf dem Boden, der
Vater stand dabei, und beide lachten, dass es schallte. Sie hatten immer
mal zwischendurch solchen Lachtag; aber "diesmal kommt es sehr
ungelegen", sagte der Vater. Schliesslich wussten sie gar nicht, was
werden sollte, denn der Alte musste ja inzwischen da sein. "Ich gehe
nicht 'raus," sagte der Vater, "ich habe nichts mit ihm zu
schaffen."--"Ja, dann geh' ich auch nicht", sagte Oeyvind.--"Hm--hm",
hoerten sie es draussen vor der Scheune. Der Vater drohte dem Burschen mit
der Faust: "Du machst, dass Du 'rauskommst!"--"Ja, geh Du
voran!"--"Willst Du gleich hingehen!"--"Ja, geh voran!" und sie klopften
sich gegenseitig die Roecke ab und gingen mit ernsten Mienen hinaus. Als
sie unten an die Scheunenbruecke kamen, sahen sie Ole an der Kuechentuer
stehen, als besinne er sich; er hatte Muetze und Stock in einer Hand und
trocknete sich mit dem Taschentuch den Schweiss von dem kahlen Schaedel
und zupfte auch die Borsten hinter den Ohren und im Nacken zurecht, dass
sie wie Stacheln abstanden. Oeyvind hielt sich dicht hinter dem Vater;
dieser musste also stehen bleiben, und um endlich ein Ende zu machen,
sagte er mit sehr ernstem Gesicht: "Na, alte Leute noch auf den Beinen?"
Ole drehte sich um, sah ihn scharf an und setzte die Muetze zurecht, bis
er antwortete: "Ja, scheint so!"--"Du bist gewiss muede; willst Du nicht
hereinkommen?"--"Ach, ich ruhe mich hier im Stehen aus; mein Geschaeft
dauert nicht lange."--Da klinkte jemand die Kuechentuer auf, zwischen der
Frau in der Tuer und Tore stand der alte Ole, den Muetzenschirm tief ueber
die Augen gezogen; denn seit er kein Haar mehr hatte, war ihm die Muetze
zu gross geworden. Um sehen zu koennen, bog er den Kopf ganz hintenueber;
den Stock hielt er in der rechten Hand, die linke stemmte er in die
Seite, wenn er nicht damit gestikulierte; aber auch dann streckte er sie
nur halb von sich und liess sie in dieser Stellung, um gewissermassen
seiner Wuerde nichts zu vergeben. "Ist das Dein Sohn, der da hinter Dir
steht?" fragte er mit rauher Stimme. "Ich denke."--"Oeyvind heisst er,
nicht?"--"Ja, er heisst Oeyvind."--"Er ist auf einer Ackerbauschule da
unten im Sueden gewesen?"--"So was war's ja wohl."--"Na, das Maedel, meine
Grosstochter, die Margit, ja, die ist jetzt ganz verrueckt
geworden."--"Das waer' schlimm."--"Sie will nicht heiraten."--"Na
nu?"--"Sie will keinen von den Bauernsoehnen, die sich um sie
bemuehen."--"Ach so!"--"Aber der da ist schuld dran."--"Soo?"--"Er hat
ihr den Kopf verdreht; ja, der da, Dein Sohn Oeyvind."--"Teufel
auch!"--"Siehst Du, ich mag nicht, dass mir einer meine Pferde stiehlt,
wenn ich sie in die Koppel bringe, und ich mag auch nicht, dass mir einer
meine Toechter nimmt, wenn ich sie zum Tanz lasse, das mag ich ganz und
gar nicht."--"Nein, das versteht sich!"--"Ich kann nicht
hinterherlaufen; ich bin alt, ich kann nicht immerzu aufpassen."--"Nein,
nein!"--"Siehst Du, bei mir muss alles seine Art haben; hier muss der
Hauklotz stehen, und da die Axt liegen, und da das Messer, und da soll
gekehrt werden, und da sollen sie das Holz hinwerfen, nicht vor die Tuer,
da in die Ecke, ja gerade dahin und nirgends anders. Ebenso: wenn ich zu
ihr sage: nicht der, sondern jener,--dann soll es eben auch der
sein--und nicht jener!"--"Ganz richtig."--"Aber so ist das nicht; drei
Jahre lang hat sie nein gesagt, und seit drei Jahren koennen wir uns
nicht mehr vertragen. Das ist schlimm; und wenn der da schuld dran ist,
so kann ich ihm sagen, dass Du, sein Vater, es hoerst: es nuetzt ihm alles
nichts; es ist Schluss."--"Ja, ja." Ole sah Tore eine Weile an, dann
sagte er: "Du bist ja so kurz angebunden."--"Laenger ist die Wurst eben
nicht!"
Da musste Oeyvind lachen, obwohl ihm eigentlich nicht danach zumut war.
Aber bei freudigen Menschen liegt die Furcht immer an der Grenze des
Lachens, und jetzt neigte er zum Lachen. "Worueber lachst Du?" fragte Ole
kurz und scharf.--"Ich?"--"Lachst Du ueber mich?"--"Gott bewahre!" aber
seine eigene Antwort reizte seine Lachlust noch mehr. Das sah Ole, und
er wurde ganz wuetend. Tore und Oeyvind wollten es wieder gut machen durch
ein ernstes Gesicht, und sie baten ihn, mit hineinzukommen; aber ein
dreijahrelanger Aerger musste sich Luft machen, und der liess sich nicht
eindaemmen. "Du brauchst mich nicht zum Narren zu halten," fing er an,
"ich bin in meinem Recht; ich sorge fuer das Glueck meiner Enkelin, so gut
ich es verstehe, und das Gefeixe eines Luemmels soll mich nicht hindern.
Man zieht keine Maedels gross, um sie in die erste beste Kate, die sich
auftut, hinzugeben, und man steht nicht vierzig Jahre lang einem Hof
vor, um das alles dem ersten besten an den Hals zu werfen, der dem Maedel
den Kopf verdreht. Meine Tochter jammerte und wehklagte so lange, bis
sie an einen Landstreicher verheiratet war, der sie alle beide zu Tode
soff, und ich musste das Kind zu mir nehmen und den Spass bezahlen; aber
gnade Gott, wenn es mit meiner Grosstochter ebenso gehen sollte, jetzt
weisst Du's.--Ich will Dir sagen, so wahr ich Ole Nordistuen vom Heidehof
bin, eher wird der Pfarrer das Hexenvolk im Walde von Norddal trauen,
ehe er Margit und Dich, Du Scheusal, aufbieten soll.--Du willst wohl
alle anstaendigen Freier vom Hof weggraulen? Versuch's nur und komm, dann
fliegst Du den Berg 'runter, dass Dir die Schuhe um die Ohren schlagen.
Du Affenkerl! Du glaubst wohl, ich weiss nicht, was Ihr denkt, Du und
das Maedel,--Ihr denkt, der alte Ole Nordistuen wird bald die Nase in die
Luft strecken da draussen auf dem Kirchhof--und dann--hast du nicht
gesehen--wollt Ihr vor den Altar. Ich habe jetzt sechsundsechzig Jahre
gelebt und ich will Dir zeigen, Bengel, dass ich lebe, bis Ihr alle beide
die Gelbsucht darueber kriegt! Meinetwegen kannst Du Dich wie Neuschnee
ums Haus legen, aber nicht mal ihre Fusssohlen wirst Du zu sehen
bekommen, denn ich schick' sie weg; ich schicke sie wohin, wo sie sicher
ist; dann kannst Du hier ja wie 'ne Lachmoeve 'rum flattern und Dich mit
Regen und Nordwind verheiraten. Und weiter habe ich Dir nichts zu sagen;
aber jetzt kennst Du, sein Vater, meine Ansicht, und wenn Du sein Bestes
willst, das hier auf dem Spiel steht, dann sorg' dafuer, dass er den Fluss
so graebt, wie das Wasser laufen kann; ueber mein Eigentum geht kein
Weg."--Er ging mit kleinen, raschen Schritten zurueck, wobei er den
rechten Fuss etwas hoeher hob als den linken und leise vor sich
hinschimpfte.
Die Zurueckbleibenden waren ploetzlich sehr ernst geworden; eine boese
Ahnung hatte sich in ihr Lachen und Scherzen gemischt, und still war's
einen Augenblick im Hause wie nach einem grossen Schrecken. Die Mutter,
die in der Kuechentuer alles mitangehoert hatte, sah Oeyvind bekuemmert an;
die Traenen waren ihr nahe, aber sie wollte ihm das Herz nicht durch
irgend ein Wort noch schwerer machen. Als sie alle schweigend
hineingegangen waren, setzte sich der Vater ans Fenster und sah Ole mit
tiefernsten Blicken nach. Oeyvinds Augen hingen an jeder seiner Mienen,
denn mit dem ersten Wort, das er sprechen wuerde, musste sich die Zukunft
der beiden jungen Menschen entscheiden. Setzte Tore sein Nein gegen das
Oles, so war kaum daran vorbeizukommen. Seine Gedanken liefen geaengstigt
von einem Hindernis zum andern; er sah einen Augenblick nichts als
Armut, Widrigkeiten, Missverstaendnisse und gekraenktes Ehrgefuehl, und
alles wankte und wich vor seinen Augen. Seine Unruhe wuchs, weil die
Mutter so dastand, die Hand an der Klinke der Kuechentuer, ungewiss, ob sie
den Mut finden wuerde, dazubleiben und die Aussprache abzuwarten, bis sie
zuletzt alle Courage verlor und hinausschlich. Oeyvind sah unverwandt
seinen Vater an, dessen Auge scheinbar nicht wieder in die Stube
zurueckfinden konnte; der Sohn wagte nichts zu sagen, denn der andere
musste erst mit seinen Gedanken zu Ende sein. Aber gerade jetzt hatte
seine Seele den Kreis der Angst durchlaufen und raffte sich wieder auf:
"niemand als Gott allein vermag uns schliesslich zu trennen", dachte er
bei sich selbst und blickte auf die gerunzelten Brauen seines
Vaters;--jetzt kam's wohl bald. Tore seufzte schwer, erhob sich, sah auf
und begegnete dem Blick seines Sohnes. Er blieb stehen und sah ihn lange
an.--"Mein Wille waere, dass Du von ihr liessest, denn man soll sich nie
etwas erbetteln oder ertrotzen. Willst Du aber nicht von ihr lassen, so
kannst Du mir's gelegentlich sagen; vielleicht kann ich Dir dann
helfen." Er ging an seine Arbeit, und sein Sohn folgte ihm.
Am Abend aber war Oeyvind mit seinem Plan im reinen; er wollte sich um
die Stelle des Amtsagronomen bewerben und den Direktor und den
Schulmeister bitten, ihm dabei behilflich zu sein. "Bleibt sie fest,
dann werde ich sie mir mit Gottes Hilfe durch meine Arbeit erringen."
Er wartete diesen Abend vergebens auf Margit, aber er sang, waehrend er
dort auf- und abging, sein Lieblingslied:
Hoch den Kopf, du frischer Gesell!
Schwand eine Hoffnung, wird dir schnell
Vor Augen die neue gluehen
Und flugs entflammen und spruehen.
Hoch den Kopf, blicke weit und frei!
Etwas ist da, das ruft: "komm herbei!"
Mit tausend Zungen, die preisen
Den Frohmut in sieghaften Weisen.
Hoch den Kopf; denn im Herzensgrund
Blauet auch dir ein Himmelsrund,
Drin Jubelchoere und Schwingen
Bei Harfenakkorden klingen.
Hoch den Kopf und sing es heraus!
Nie erstickst du des Fruehlings Braus;
Doch, wo die Kraefte gaeren,
Da treiben die Halme bald Aehren.
Hoch den Kopf, lass Paten dir fein
Droben die Hoffnungsstrahlen sein,
Die Welten umwoelben, die beben
In jedem Fuenklein Leben.
Elftes Kapitel
In der Mittagspause war's; auf den grossen Heidehoefen schliefen die
Leute. Das Heu lag auf den Wiesen aufgeworfen und die Rechen staken in
der Erde. Vor dem Scheunentor standen die Heuwagen, das abgezaeumte
Sattelzeug lag daneben, und die Pferde waren eine Strecke weiter
angebunden. Ausser ihnen und ein paar Huehnern, die auf die Aecker
hinausgelaufen waren, war weit und breit kein lebendes Wesen zu sehen.
In dem Felsen jenseits der Hoefe war eine Kluft; von da fuehrte der Weg zu
den Heidehofalmen, grossen, grasreichen Hochebenen. Oben in der Kluft
stand heut ein Mann und hielt Umschau, als warte er auf jemand. Hinter
ihm war ein kleiner Bergsee, wo der Bach entsprang, der die Kluft in den
Felsen gegraben hatte; um diesen See herum fuehrten zu beiden Seiten die
Viehsteige nach den Almen hinueber, die man in der Ferne sehen konnte.
Jodeln und Geklaeff klang zu ihm hin, die Kuhglocken laeuteten auf den
Hoehen; denn die Kuehe rasten umher und wollten Wasser, und Hunde und
Hirten versuchten vergeblich, sie zusammenzutreiben. Die Kuehe machten
die wunderlichsten Grimassen und Spruenge und liefen mit kurzem,
wuetendem Gebruell und hocherhobenem Schweif gerade in den See hinein; da
blieben sie stehen; ihre Glocken laeuteten bei jeder Kopfbewegung ueber
den See hin. Die Hunde tranken auch, aber sie blieben am Lande stehen,
und die Hirten kamen hinterdrein und setzten sich auf den warmen glatten
Felsen. Da holten sie ihr Vesperbrot heraus, tauschten es gegenseitig
aus, prahlten mit ihren Hunden, ihren Ochsen und ihrer Herrschaft, zogen
sich dann aus und sprangen zu den Kuehen ins Wasser. Die Hunde wollten
nicht mit; sie schlichen traege umher mit haengendem Kopf und brennenden
Augen, und die Zunge hing ihnen aus der Schnauze. Rings auf den Haengen
war kein Vogel zu sehen, kein Laut zu hoeren ausser dem Geplauder der
Maegde und dem Laeuten der Glocken; das Gras war verdorrt und versengt;
die Sonne brannte auf die Halden, dass alles in der Hitze erstickte.
Oeyvind war's, der da oben in der Mittagssonne sass und wartete. Er sass in
Hemdaermeln dicht am Bach, der aus dem See herauskam. Noch immer war auf
dem ganzen Heidehof keiner zu sehen, und allmaehlich wurde ihm aengstlich
zumute; da kam ploetzlich ein grosser Hund schwerfaellig auf Nordistuen aus
einer Tuer, und hinter ihm ein Maedchen in Hemdaermeln. Sie lief ueber die
Wiesen den Berg hinan; er hatte grosse Lust, ihr zuzujauchzen, aber er
wagte es nicht. Er behielt aufmerksam den Hof im Auge, ob auch keiner
komme und sie sehe, aber schon war sie in Sicherheit, und er sprang ein
paarmal ungeduldig auf.
Dann war sie endlich muehsam am Bach heraufgeklommen, der Hund dicht vor
ihr schnupperte in der Luft; sie hielt sich am Gebuesch fest, aber ihre
Schritte wurden immer mueder. Oeyvind lief ihr entgegen, der Hund knurrte,
wurde aber gleich zum Schweigen gebracht; als Margit ihn kommen sah,
setzte sie sich rot wie Blut, muede und abgespannt von der Hitze auf
einen grossen Stein. Er schwang sich auf den Stein neben sie. "Ich danke
Dir, dass Du kommst."--"Aber die Hitze und dieser Weg! Hast Du lange
gewartet?"--"Nein! Wenn man uns abends aufpasst, muessen wir eben die
Mittagsstunde ausnutzen. Aber ich denke, fortan brauchen wir nicht mehr
so heimlich und umstaendlich zu verfahren; ich wollte mit Dir darueber
reden."--"Nicht heimlich?"--"Ich weiss ja, Dir gefaellt gerade das
Heimliche am besten; aber Mut magst Du doch auch zeigen. Ich habe heute
viel mit Dir zu besprechen, und Du musst gut zuhoeren."--"Ist es wahr, dass
Du Amtsagronom werden willst?"--"Ja, und ich werde es auch erreichen.
Ich habe dabei eine doppelte Absicht, erstens die, eine Stellung zu
bekommen, ausserdem aber und vor allen Dingen, etwas zu erreichen, was
Deinem Grossvater auffallen muss. Es trifft sich so gluecklich, dass die
meisten Bauern hier auf den Heidehoefen junge Leute sind, die
Verbesserungen einfuehren moechten und dazu Hilfe brauchen; Geld haben sie
auch. Da fange ich an; ich bringe alles in Ordnung, von ihren Kuhstaellen
an bis zu ihren Wasserleitungen; ich werde Vortraege halten und arbeiten
und den Alten sozusagen durch gute Taten bekehren."--"Das ist fein;
weiter, Oeyvind!"--"Ja, das andere betrifft uns beide. Du darfst nicht
fort."--"Wenn er es aber befiehlt?"--"Und nichts mehr verheimlichen was
uns beide angeht."--"Und wenn er mich quaelt?"--"Wir erreichen naemlich
mehr und koennen uns besser schuetzen, wenn wir alles oeffentlich tun. Wir
wollen gerade vor aller Leute Augen zusammen sein, damit sie davon
reden, wie lieb wir uns haben; um so eher wuenschen sie, dass es uns gut
geht. Du darfst nicht fort. Es ist immer eine Gefahr in der Trennung,
und es kann allerhand Klatsch dazwischen kommen. Im ersten Jahr glaubt
man's nicht, aber nachher im zweiten leuchtet es einem so allmaehlich
ein. Wir beide wollen uns einmal in der Woche treffen und alles Boese
hinweglachen, das man zwischen uns saeen will; wir treffen uns auch beim
Tanz und treten den Takt, dass es nur so klappt, waehrend alle unsere
Verleumder um uns herumsitzen. Wir treffen uns in der Kirche und nicken
uns zu, dass auch die es sehen, die uns hundert Meilen auseinander haben
moechten. Macht einer einen Vers auf uns, dann setzen wir uns hin und
versuchen, eine Antwort drauf zu machen; das wird schon gehen, wenn wir
uns gegenseitig helfen. Keiner kann uns was anhaben, wenn wir
zusammenhalten und den Leuten auch zeigen, dass wir es tun. Ungluecklich
in der Liebe koennen bloss die furchtsamen Leute sein oder die Schwachen
und Kranken und die Berechnenden, die immer auf eine bestimmte
Gelegenheit warten, oder die Schlauen, die schliesslich sich an ihrer
eigenen Schlauheit verbrennen, oder die Sinnlichen, die sich nicht so
lieb haben, dass sie Stand oder Unterschied darueber vergessen,--die
verkriechen sich, schreiben Briefe, beben bei jedem Wort und am Ende
halten sie diese Angst, diese bestaendige Unruhe und das Prickeln im Blut
fuer Liebe, fuehlen sich ungluecklich und zergehen wie Zucker. Pah, wenn
die sich richtig lieb haetten, so haetten sie eben keine Angst; dann
wuerden sie lachen und, offen in jedem Laecheln und jedem Wort,
geradenwegs auf die Kirchtuer zugehen. Ich habe darueber in den Buechern
gelesen und habe es selbst mit angesehen: mit der Liebe, die auf
Schleichwegen geht, ist's jaemmerlich bestellt. Die Liebe muss in
Heimlichkeit beginnen, weil sie in Scheu beginnt,--aber leben muss sie in
Offenheit, weil sie in Freude lebt. Das ist wie beim jungen Laub. Was
wachsen will, das kann sich auch nicht verbergen, und immer wirst Du
bemerken, dass alles Duerre am Baum in derselben Stunde abfaellt, da das
Laub knospen und keimen will. Einer, ueber den die Liebe kommt, wirft
alles hin, was er an altem toten Kram noch festhielt; die Saefte
schwellen und treiben, und das sollte man nicht merken? Hei, Maedel, die
sollen sich mitfreuen, wenn sie uns froehlich sehen. Zwei Brautleute, die
sich treu bleiben, sind eine Wohltat fuer das Volk, denn sie schenken ihm
ein Gedicht, das ihre Kinder zur Schande der unglaeubigen Eltern
auswendig lernen. Ich habe von vielen solchen Gedichten gelesen; auch
hier im Gau leben welche im Volksmund, und eben die Kinder derer, die
einst alles Schlimme verschuldet haben, erzaehlen jetzt davon und weinen
darueber. Ja, Margit, jetzt wollen wir uns die Hand geben,--so, ja, und
dann wollen wir uns versprechen, zusammenzuhalten,--so, ja, und dann
wird's schon gehen, hurra!--" Er wollte sie beim Kopf fassen, aber sie
drehte den Kopf zur Seite und liess sich vom Stein heruntergleiten.
Er blieb sitzen; sie kam zurueck, stuetzte die Arme auf seine Knie und sah
zu ihm auf, waehrend sie mit ihm sprach. "Hoer' mal, Oeyvind, wenn er nun
will, ich soll fort, was dann?"--"Dann sagst Du nein, frei
heraus."--"Geht denn das, Schatz?"--"Er kann Dich doch nicht selbst auf
den Wagen setzen!"--"Wenn er das auch nicht gerade tut, so hat er doch
viele andere Mittel, wodurch er mich zwingen kann."--"Das glaube ich
nicht; Gehorsam bist Du ihm freilich schuldig, solange er keine Suende
von Dir verlangt; aber Du hast auch die Pflicht, ihm frei heraus zu
sagen, wie schwer es diesmal fuer Dich ist, gehorsam zu sein. Ich meine,
er kommt zur Vernunft, wenn er das sieht; jetzt glaubt er eben noch wie
die meisten, es ist bloss Kinderei. Zeige ihm, dass es mehr ist."--"Mit
ihm ist ja nicht zu spassen. Er bewacht mich wie 'ne angebundene
Ziege."--"Du reisst Dich aber ein paarmal am Tage los."--"Das ist nicht
wahr."--"Doch, immer wenn Du heimlich an mich denkst, reisst Du Dich
los."--"Ja dann. Aber weisst Du denn bestimmt, dass ich so oft an Dich
denke?"--"Sonst waerst Du ja nicht hier."--"Aber Du hast mir doch sagen
lassen, ich solle kommen."--"Du gingst aber doch, weil Deine Gedanken
Dich dazu trieben!"--"Nein, bloss weil das Wetter so schoen war."--"Du
sagtest vorhin, es sei zu heiss."--"Zum Bergauf gehen, ja; aber bergab
nicht."--"Warum gingst Du denn hinauf?"--"Um wieder hinunterlaufen zu
koennen!"--"Warum hast Du das nicht schon lange getan?"--"Weil ich mich
erst ausruhen musste."--"Und mit mir von Liebe reden?"--"Ich konnte Dir
doch die Freude machen, zuzuhoeren."--"Beim Vogelsang."--"Wo alles
ruht."--"Und beim Glockenklang."--"In Waldeshut."
In diesem Augenblick sahen die beiden Margits Grossvater auf den Hof
gehumpelt kommen und nach der Glocke gehen, um die Leute
zusammenzurufen. Die Leute kamen aus Scheunen, Schuppen und Haeusern
heraus, gingen schlaefrig hin zu den Pferden oder den Rechen, verteilten
sich ueber das Feld, und nach einer Weile war alles wieder Leben und
Arbeit. Nur der Grossvater ging von einem Haus ins andere und zuletzt auf
die hoechste Scheunenbruecke hinauf und hielt Umschau. Ein kleiner Junge
kam auf ihn zugesprungen, wahrscheinlich hatte er ihn gerufen. Der Junge
lief dann wahrhaftig nach der Richtung hin, wo Pladsen lag, der
Grossvater ging inzwischen rund ums Gehoeft und blickte dabei haeufig in
die Hoehe; ihm daemmerte wohl, dass das Schwarze da oben auf dem "Grossen
Stein" Margit und Oeyvind seien. Und wieder war Margits grosser Hund
hinderlich. Er sah ein fremdes Pferd auf den Heidehof einbiegen, und da
er dachte, es gehoere zu seinem Geschaeft als Hofhund, fing er aus
Leibeskraeften zu bellen an. Sie suchten den Hund zu beschwichtigen, aber
er war wuetend geworden und wollte nicht aufhoeren, unten stand der
Grossvater und starrte in die Luft. Aber es wurde noch schlimmer, denn
die Hunde von der Alm hoerten mit Verwunderung die fremde Stimme und
kamen herzugelaufen. Als sie sahen, dass es ein grosser, wolfaehnlicher
Riese war, verbuendeten sich die zottigen Finnenhunde gegen diesen einen;
Margit bekam solche Angst, dass sie ohne Adieu davonlief; mitten auf dem
Schlachtfeld stand Oeyvind und trat und schlug um sich, aber sie
fluechteten nur vom Kampfplatz, um sich unter grausigem Geheul und
Geklaeff ein Stueck weiter wieder zusammenzurotten; er wieder hinter ihnen
her, und so zogen sie allmaehlich zum Bachabhang hin; da lief er schnell
hinzu, und die Folge war, dass sie alle miteinander ins Wasser purzelten,
gerade an einer Stelle, wo es ordentlich tief war; da rannten sie
beschaemt auseinander, und so endete diese Schlacht am Walde. Oeyvind ging
quer durch den Forst, bis er auf die Dorfstrasse kam, Margit aber lief
ihrem Grossvater unten am Zaun in die Arme; das hatte der Hund ihr
eingebrockt.
"Wo kommst Du her?"--"Aus dem Wald!"--"Was hast Du da gemacht?"--"Beeren
gepflueckt."--"Das ist nicht wahr!"--"Nein, das ist es auch nicht!"--"Was
hast Du denn gemacht?"--"Ich habe mit einem geredet."--"Mit dem
Pladsenbengel?"--"Ja."--"Hoer' mal, Margit, morgen reist
Du--"--"Nein."--"Hoer' mal, Margit, ich will Dir bloss eins sagen, bloss
das eine: Du wirst reisen."--"Du kannst mich doch nicht selbst in den
Wagen setzen?"--"So? Kann ich das nicht?"--"Nein, denn das willst Du
nicht,"--"Will ich nicht? Hoer' mal, Margit, bloss zum Spass, siehst Du,
bloss zum Spass will ich Dir sagen, dass ich dem Lausbuben die Knochen im
Leibe entzwei schlagen werde."--"Das wagst Du aber doch nicht."--"Das
wage ich nicht? Du sagst, das wage ich nicht? Wer sollte mir wohl was
tun?"--"Der Schulmeister."--"Der Schu-Schu-Schulmeister? Denkst Du, der
kuemmert sich um den?"--"Ja, der hat ihn doch auf die Ackerbauschule
geschickt."--"Der Schulmeister?"--"Der Schulmeister!"
"Hoer', Margit, ich will von dem Gelaufe nichts wissen; Du sollst hier
weg. Du machst mir bloss Sorge und Kummer, gerade wie Deine Mutter, bloss
Sorge und Kummer. Ich bin ein alter Mann, ich will Dich gut versorgt
sehen, ich will nicht von den Leuten deswegen fuer einen Narren gehalten
werden; ich will bloss Dein Bestes; das musst Du doch zugeben, Margit.
Wenn es mit mir zu Ende ist, stehst Du allein da; wie waere es Deiner
Mutter ergangen, wenn ich nicht gewesen waere? Hoer', Margit, sei
vernuenftig--hoer', was ich sage; ich will bloss Dein Bestes."--"Nein, das
willst Du nicht."--"So? Was will ich denn?"--"Deinen Willen durchsetzen,
das willst Du; aber nach meinem fragst Du nicht."--"Du willst auch
schon 'nen Willen haben, Du Kiekindiewelt? Du solltest schon wissen, was
zu Deinem Besten ist, Du dummes Maedel? Ich werd' Dir mal den Stock zu
schmecken geben, ja, das werd' ich, so gross und lang Du bist. Hoer',
Margit, ich will noch mal im Guten mit Dir reden. Du bist im Grunde gar
nicht so dumm--das ist bloss 'ne fixe Idee von Dir. Du solltest auf mich
hoeren, ich bin ein alter, vernuenftiger Mann. Wir wollen noch mal im
Guten drueber reden; mit mir' ist gar nicht soviel los, wie die Leute
denken; ein armer lockerer Vogel hat bald mit dem bisschen aufgeraeumt,
was ich habe; Dein Vater hat schon den Anfang damit gemacht. Man muss in
dieser Welt fuer sich selbst sorgen; besser verdient es keiner. Der
Schulmeister hat gut schwatzen, der hat Geld, und der Pfarrer auch; da
ist gut predigen. Aber bei uns, die sich ums taegliche Brot quaelen
muessen, ist das ganz was andres. Ich bin alt und habe viel erfahren und
gesehen. Liebe, siehst Du, ist ja ganz schoen, wenn man davon redet, aber
sonst ist sie nichts wert; das ist bloss was fuer die Geistlichen und fuer
solche Leute--die Bauern muessen die Sache anders anpacken. Erst das
Essen, siehst Du, dann Gotteswort, und dann ein bisschen Schreiben und
Rechnen und dann noch ein bisschen Liebe, wenn es sich gerade so macht.
Aber es nuetzt blutwenig, wenn man zu oberst die Liebe stellt und ans
Ende das Essen. Was sagst Du dazu, Margit?"--"Ich weiss nicht."--"Du
weisst nicht, was Du sagen sollst?"--"Doch, das weiss ich."--"Nun,
und?"--"Soll ich es sagen?"--"Ja, natuerlich sollst Du es sagen!"--"Ich
bin sehr fuer die Liebe." Er stand einen Augenblick verdutzt da, dann
fielen ihm hundert aehnliche Gespraeche mit ganz aehnlichem Ausgang ein,
und er schuettelte den Kopf, drehte ihr den Ruecken und ging.
Er liess seinen Zorn an den Tagloehnern aus, schnauzte die Maegde an,
pruegelte den grossen Hund und brachte beinahe ein Huehnchen um, das aufs
Feld hinausgelaufen war; zu ihr aber sagte er nichts.
An dem Abend war Margit so froehlich, als sie zu Bett ging, dass sie das
Fenster aufmachte, sich hinauslehnte, lange hinausschaute und sang. Sie
hatte ein kleines, feines Liebeslied bekommen, und das sang sie:
Haeltst du treu zu mir,
Halt' ich treu zu dir
Alle Tage, die mein eigen.
Sommerzeit ging fort;
Gruen, das nun verdorrt,
Kehrt zurueck mit unserm Reigen.
Was dein Mund einst sprach,
Laut klingt's in mir nach.
Wie ein Voeglein auf dem Aste
Singt und was verbricht,
So mein Lied verspricht
Glueck in warmem Sonnenglaste.
Litli--litli--lu!
Kannst mich hoeren du,
Deinen Liebsten hinterm Huegel?
Menschenwort verhallt,--
Dunkel wird's im Wald;
Doch vielleicht gibst du mir Fluegel.
Bussi--bissi--buss!
Klang im Lied ein Kuss?
Nein, davon ist nicht die Rede.
Wie, du hast's gehoert?
Bist du so betoert,
Dann geraten wir in Fehde.
Gute, gute Nacht!
Traeumen werd' ich sacht
Von zwei milder Augen Strahlen,
Von den Worten traut,
Die sich ohne Laut
Toericht aus der Seele stahlen.
Kind, nun schliess ich ab;
War es dir zu knapp?
Kehrt mein Lied im Echo wieder
Lockend zu mir her?
Wolltest du noch mehr?--
Laue Nacht sinkt still hernieder.
Zwoelftes Kapitel
Ein paar Jahre sind seit dem letzten Auftritt dahingegangen.
Es ist spaet im Herbste; der Schulmeister ist nach Nordistuen
hinaufgewandert, macht die Haustuer auf, findet keinen, macht die naechste
Tuer auf, findet wieder keinen und geht so immer weiter bis in die
hinterste Kammer des langen Gebaeudes. Da sitzt Ole Nordistuen ganz
allein vorm Bett und schaut auf seine Haende.
Der Schulmeister begruesst ihn, zieht sich einen Holzstuhl heran und setzt
sich Ole gegenueber. "Du hast nach mir geschickt", sagt er. "Das habe
ich."
Der Schulmeister nimmt sich einen neuen Priem, sieht sich in der Kammer
um, holt sich ein Buch, das auf der Bank liegt, und blaettert darin. "Was
wolltest Du denn von mir?"--"Das ueberlege ich mir gerade."
Der Schulmeister laesst sich Zeit, holt seine Brille heraus, um den Titel
des Buches zu lesen, wischt sie ab und setzt sie auf. "Du wirst alt,
Ole."--"Ja, darueber wollte ich ja gerade mit Dir reden. Es geht
rueckwaerts mit mir; bald liege ich flach."--"Dann sorge dafuer, dass Du
gut liegst, Ole."--Er macht das Buch zu und sieht aus dem Fenster.
"Das ist ein gutes Buch, was Du da in der Hand hast."--"Es ist nicht
schlecht; bist Du oft ueber den Einband hinausgekommen?"--"Jetzt in der
letzten Zeit, ja--".
Der Schulmeister legt das Buch fort und steckt die Brille wieder ein.
"Dir geht es wohl nicht nach Wunsch, Ole?"--"So lang ich denken kann,
nicht."--"Ja, so ist's mir auch gegangen. Ich lebte mit einem guten
Freund in Unfrieden und dachte, er muesse zu mir kommen, und solange war
ich ungluecklich. Schliesslich kam ich auf den Einfall, zu ihm zu gehen,
und seit der Zeit war alles gut."--Ole sieht auf und schweigt.
Der Schulmeister: "Wie findest Du denn, dass es mit Deinem Hof geht,
Ole?"--"Rueckwaerts wie mit mir selbst."--"Wer soll ihn haben, wenn Du
nicht mehr bist?"--"Das weiss ich ja eben nicht; das quaelt mich ja
gerade!"
"Bei Deinen Nachbarn steht es jetzt sehr gut, Ole."--"Ja, die haben ja
auch den Agronomen als Hilfe."
Der Schulmeister, der sich gleichgueltig nach dem Fenster umwendet: "Du
muesstest auch Hilfe haben, Ole. Sehen kannst Du nicht mehr ordentlich,
und von der neuen Landwirtschaft verstehst Du nicht viel."
Ole: "Wer sollte mir wohl helfen?"--"Hast Du schon einen darum gebeten?"
Ole schweigt.
Der Schulmeister: "Ich habe mich auch lange so mit dem lieben Gott
gestanden.--Du bist gar nicht gut gegen mich, sagte ich zu ihm.--Hast Du
mich darum gebeten? fragte er. Nein, das hatte ich nicht getan; da bat
ich denn, und seit der Zeit ist es mir recht gut gegangen."--Ole
schweigt, und da schweigt auch der Schulmeister.
Schliesslich sagt Ole: "Ich habe ein Grosskind; sie weiss, womit sie mir
eine Freude machen koennte, ehe sie mich forttragen, aber sie tut es
nicht."--Der Schulmeister laechelt: "Vielleicht waere das fuer sie keine
Freude." Ole schweigt.
Der Schulmeister: "Dich drueckt allerhand, aber soweit ich es beurteilen
kann, dreht sich doch alles schliesslich um den Hof."--Ole sagt leise:
"Er ist schon so lange in der Familie, und es ist guter Boden. Alles,
was Vater und Grossvaeter zusammengerackert haben, liegt in ihm, aber
jetzt will nichts mehr gedeihen. Wenn sie mich hinausfahren, weiss ich ja
nicht einmal, wer nach mir hineinfaehrt. In der Familie bleibt er
nicht."--"Aber Deine Grosstochter ist doch noch da."--"Wie wird aber der
Mann, der sie bekommt, mit dem Hof umgehen? Das moechte ich wissen, ehe
ich mich zur Ruhe lege. Es ist nicht mehr viel Zeit zu verlieren,
Baard,--nicht fuer mich noch fuer den Hof."
Sie schweigen beide; da sagt der Schulmeister: "Wollen wir nicht bei dem
schoenen Wetter ein bisschen an die Luft gehen?"--"Ja, das koennen wir. Auf
den Halden draussen sind Arbeiter; sie sollen Laub holen, aber sie tun
bloss was, wenn ich dabeistehe." Er stolpert nach der grossen Muetze und
dem Stock und sagt: "Sie moegen bei mir nicht arbeiten; ich kann das
nicht begreifen." Als sie draussen waren und ums Haus bogen, blieb er
stehen: "Hier, siehst Du? Keine Ordnung! Da ist das Holz
durcheinandergeworfen und die Axt nicht in den Block gehauen", er bueckte
sich muehsam, hob sie auf und schlug sie ein. "Hier ist ein Fell
heruntergefallen; aber hat ein Mensch es wieder aufgehaengt?" Er tat es
selbst. "Hier ist die Vorratsscheuer; meinst Du, sie haben die Treppe
weggenommen?" Er trug sie beiseite. Dann blieb er stehen, sah den
Schulmeister an und sagte: "So geht es einen Tag wie alle Tage."
Als sie weiter gingen, hoerten sie von den Halden her froehliches Singen.
"Ach, da wird ja bei der Arbeit gesungen", sagte der Schulmeister.--"Das
ist der kleine Knut Oestistuen, der da singt; der holt Laub fuer seinen
Vater; meine Leute arbeiten dahinten, die singen nicht."--"Das ist doch
keine von unsern Weisen?"--"Nein, das hoere ich auch."--"Oeyvind Pladsen
ist sehr viel auf Oestistuen gewesen; es ist wohl eins von den Liedern,
die er im Dorf eingefuehrt hat--der steckt immer voll Lieder." Hierauf
kam keine Antwort.
Das Feld, ueber das sie gingen, stand nicht gut; ihm fehlte die rechte
Pflege. Der Schulmeister aeusserte das; da blieb Ole stehen. "Ich kann das
nicht mehr machen", sagte er beinahe wehmuetig. "Ohne Aufsicht werden
fremde Arbeiter zu teuer. Aber es tut weh, ueber so ein Feld zu gehen,
das kannst Du mir glauben."
Als sie dann davon sprachen, wie gross der Hof sei, und wo Hilfe am
noetigsten taete, beschlossen sie, zu den Halden hinaufzugehen, von wo sie
das Ganze ueberblicken konnten. Als sie nach geraumer Zeit einen hohen
Punkt erreicht hatten, und das Ganze in Augenschein nahmen, wurde der
Alte wehmuetig: "Ich moechte nicht gerne so abgehen; ich und meine
Vorfahren haben da unten redlich gearbeitet, aber viel ist nicht mehr
davon zu sehen."
Da klang ein Lied ueber ihren Koepfen hin mit der eigentuemlichen Herbheit,
die eine Knabenstimme hat, wenn sie so recht forsch drauflos singt. Sie
standen nicht weit von dem Baum, in dessen Wipfel der kleine Knut
Oestistuen sass und Laub fuer seinen Vater pflueckte, und sie lauschten:
Willst du dich zu hohem Ziel
Ins Gebirge wagen,
Pack' ins Raenzlein nur so viel,
Als sich leicht laesst tragen!
Nimm nicht mit des Tales Zwang
In die reinen Luefte;
Schuettle ihn mit keckem Sang
Abwaerts in die Kluefte!
Voegel gruessen dich im Chor,
Fern dem giftigen Brodem,
Und mit jedem Schritt empor
Freier wird dein Odem.
Frohen Herzens jauchze laut;
Kindheit, laengst vergangen,
Nickt dir aus Gebuesch und Kraut
Zu mit roten Wangen.
Stehst du still von Zeit zu Zeit,
Andachtsvoll zu lauschen,
Wird ins Ohr der Einsamkeit
Hohes Lied dir rauschen.
Wo ein Bach den Fels durchbricht,
Wo ein Stein im Rollen,
Hoerst du der versaeumten Pflicht
Maechtiges Donnergrollen.
Zittre, bete, banges Herz,
Sei zur Busse fertig!
Heb den Blick dann gipfelwaerts,
Deines Heils gewaertig.
Dort wie einst geht Jesus Christ,
Wandeln die Propheten;
Wohl dir, wenn du wuerdig bist,
Ihnen nachzutreten.
Ole hatte sich niedergesetzt und das Gesicht in den Haenden vergraben.
"Nun will ich mit Dir reden", sagte der Schulmeister und setzte sich
neben ihn.
* * * * *
In Pladsen war Oeyvind gerade von einer laengeren Reise nach Hause
gekommen; die Postkutsche stand noch vor der Tuer, weil die Pferde
ausruhen mussten. Wenn auch Oeyvind jetzt als Amtsagronom gute Einnahmen
hatte, bewohnte er doch noch seine kleine Kammer in Pladsen und half in
seiner freien Zeit in der Wirtschaft. Auf Pladsen war eine ganz neue
Bewirtschaftung eingefuehrt, aber der Hof war so klein, dass Oeyvind das
Ganze Mutters Spielzeug nannte; denn sie war es, die hauptsaechlich die
Landwirtschaft betrieb.
Er hatte sich gerade umgezogen, der Vater war mehlbestaubt von der Muehle
hereingekommen und hatte sich auch umgezogen. So standen sie und
ueberlegten, ob sie vor dem Abendbrot noch ein bisschen ins Freie gehen
sollten, da kam die Mutter mit ganz blassem Gesicht herein: "Es kommt
seltener Besuch; seht doch!"--Die beiden Maenner eilten ans Fenster, und
Oeyvind sagte gleich: "Das ist der Schulmeister und--ja, ich glaube
beinahe,--ja natuerlich ist er es!"--"Ja, das ist der alte Ole
Nordistuen", sagte auch Tore und trat vom Fenster zurueck, um nicht
gesehen zu werden, denn die beiden waren schon dicht vorm Hause.
Oeyvind fing einen Blick des Schulmeisters auf, als er gerade vom Fenster
zuruecktreten wollte; Baard laechelte und sah sich nach dem alten Ole um,
der auf den Stock gestuetzt, mit kleinen kurzen Schritten heranstelzte,
wobei er den einen Fuss immer etwas hoeher hob als den andern. Draussen
hoerten sie den Schulmeister sagen: "Er ist wohl eben nach Hause
gekommen", worauf Ole zweimal "So--so" antwortete.
Es blieb lange still auf der Diele; die Mutter war in die Ecke hinterm
Milchschrank gekrochen. Oeyvind stand in seiner Lieblingsstellung, mit
dem Ruecken gegen den grossen Tisch und dem Gesicht nach der Tuer, der
Vater sass daneben. Schliesslich wurde an die Tuer geklopft, und herein kam
der Schulmeister und nahm seinen Hut ab, hinter ihm Ole und nahm auch
seine Muetze ab, dann drehte er sich nach der Tuer um und klinkte sie ein;
er brauchte sehr lange dazu; offenbar war er verlegen. Tore stand auf
und lud die Eintretenden zum Sitzen ein; sie setzten sich nebeneinander
auf die Fensterbank, und Tore setzte sich auch wieder nieder.
Und jetzt werden wir hoeren, wie es bei der Werbung zuging.
Der Schulmeister: "Wir haben doch noch recht schoenes Herbstwetter
bekommen."--Tore: "Ja, es hat sich die letzte Zeit gebessert."--"Jetzt
wird es sich wohl noch eine Zeitlang halten, wo der Wind umgeschlagen
ist."--"Seid Ihr da oben schon mit der Ernte fertig?"--"Noch nicht. Hier
der Ole Nordistuen--Du kennst ihn wohl--moechte, Du sollst ihm helfen,
Oeyvind, wenn es Dir recht ist."--Oeyvind: "Wenn es gewuenscht wird, will
ich tun, was ich kann."--"Ja, er meinte aber nicht bloss so
voruebergehend. Es geht mit dem Hof nicht vorwaerts, findet er, und er
glaubt, es fehlt so die richtige Leitung und Aufsicht."--Oeyvind: "Ich
bin aber so wenig zu Hause."--Der Schulmeister sieht Ole an. Der merkt,
dass er jetzt ins Feuer muss; er raeuspert sich ein paarmal und legt los:
"Das heisst, das soll,--ja--ich meine, Du solltest fest--Du solltest, ja,
gewissermassen Deine Wohnung bei uns haben,--das heisst, wenn Du nicht auf
Reisen bist."--"Schoenen Dank fuer das Anerbieten, aber ich bleibe lieber
hier wohnen."--Ole sieht den Schulmeister an, und der sagt: "Mit Ole
geht das heute ein bisschen kraus. Die Sache ist: er ist frueher schon mal
hier gewesen, und die Erinnerung daran bringt ihm die Worte ein bisschen
durcheinander."--Ole rasch: "So ist es, ja; ich war damals nicht recht
gescheit; ich hab' mich solange mit dem Maedel geplagt, bis das Holz in
Splitter ging. Aber das mag vergessen sein; der Sturm knickt das Korn
um, doch ein kaltes Lueftchen nicht; Regenbaeche koennen die grossen Steine
nicht unterwuehlen; Maischnee liegt nicht lange; der Donner hat noch
keinen Menschen erschlagen." Alle lachen; der Schulmeister sagt: "Ole
meint, Du sollst nicht mehr dran denken, und Du auch nicht, Tore." Ole
sieht sie an und weiss nicht recht, ob er weiterreden darf. Da sagt Tore:
"Der Rosenstrauch packt mit vielen Zaehnen zu und reisst doch keine
Wunden. In mir wenigstens ist kein Stachel zurueckgeblieben."--Ole: "Ich
kannte den Burschen damals nicht. Jetzt sehe ich: was er saeet, das
gedeiht; wie die Saat, so die Ernte; in seinen Fingerspitzen sitzt Gold,
und ich moechte mir ihn sichern."
Oeyvind sieht den Vater an, der die Mutter, die von ihm zum Schulmeister
blickt, und dann schauten alle Ole an. "Ole meint, er hat einen grossen
Hof--" Ole unterbricht: "Gross ist er, aber schlecht imstande; ich kann
nicht mehr recht, ich bin alt, und die Beine wollen nicht mehr mit. Aber
es lohnt sich, da oben anzupacken."--"Gut und gern der groesste Hof im
ganzen Kreise", faellt der Schulmeister ein.--"Der groesste Hof im ganzen
Kreise; das ist aber gerade das Elend; wenn die Schuhe zu gross sind,
verliert man sie; es ist recht schoen, wenn das Gewehr gut ist, aber man
muss auch damit umzugehen wissen. (Mit einer raschen Wendung zu Oeyvind:)
Moechtest Du es mal damit versuchen?"--"Ich soll also Verwalter
sein?"--"Ganz recht, ja, Du sollst den Hof haben."--"Ich soll den Hof
haben?"--"Natuerlich, ja, und sollst ihn verwalten."--"Aber--" "Willst Du
nicht?"--"Doch, selbstverstaendlich."--"Ja, ja, dann ist es also
abgemacht, sagte die Henne und flog aufs Wasser."--"Aber--" Ole sieht
verwundert den Schulmeister an.--"Oeyvind will wohl bloss fragen, ob er
Margit auch mitbekommt?"--Ole energisch: "Margit ist mit drin, Margit
ist mit drin!"--Da fing Oeyvind laut zu lachen an und machte einen
Luftsprung; die andern drei lachten auch, und Oeyvind rieb sich die
Haende, lief in der Stube auf und ab und wiederholte unaufhoerlich:
"Margit ist mit drin, Margit ist mit drin!" Tore lachte und gluckste,
die Mutter hinten in der Ecke sah ihren Jungen unverwandt an, bis ihr
Traenen in die Augen traten.
Nach einer Weile fragte Ole sehr gespannt: "Was haeltst Du von dem
Hof?"--"Feiner Boden!"--"Feiner Boden, nicht wahr?"--"Wundervolle
Weiden!"--"Wundervolle Weiden! Wird es gehen?"--"Das soll weit und breit
der beste Hof werden!"--"Weit und breit der beste Hof? Glaubst Du?
Meinst Du das wirklich?"--"So wahr ich hier stehe!"--"Ja, hab' ich das
nicht immer gesagt?!" Sie sprachen beide gleich schnell und griffen wie
zwei Raeder ineinander. "Aber mit dem Geld, siehst Du mit dem Geld! Ich
habe keins."--"Ohne Geld geht es langsam, aber es geht!"--"Es geht, ja,
natuerlich geht es! Aber wenn wir Geld haetten, ginge es schneller, meinst
Du?"--"Viel schneller."--"Viel? Wenn wir bloss Geld haetten! Ja, ja! na,
einer, der nicht alle Zaehne hat, kann auch kauen, und einer, der mit
Ochsen faehrt, kommt auch vorwaerts."
Die Mutter stand da und zwinkerte Tore zu, der sie ein paarmal schnell
von der Seite ansah, waehrend er den Oberkoerper hin- und herwiegte und
mit den Haenden ueber die Knie strich; der Schulmeister blinzelte mit den
Augen, Tore machte den Mund auf und wollte etwas sagen, aber Ole und
Oeyvind sprachen unaufhoerlich durcheinander, lachten und machten solchen
Laerm, dass kein andrer zu Wort kommen konnte.
"Seid jetzt mal still; Tore moechte was sagen", faellt der Schulmeister
ein; sie verstummen und sehen Tore an. Der faengt denn ganz leise an: "Es
ist auf dieser Staette immer so gewesen, dass wir eine Muehle gehabt haben;
in letzter Zeit ist es so gewesen, dass wir zwei gehabt haben. Diese
Muehlen haben in Jahr und Tag doch ein paar Groschen abgeworfen; weder
mein Vater noch ich haben von dem Geld genommen, ausser damals, als
Oeyvind fort musste. Der Schulmeister hat es verwaltet, und er sagt, dass
es sich da, wo es stand, gut verzinst hat; aber jetzt ist ja das beste,
Oeyvind nimmt es fuer Nordistuen." Die Mutter stand hinten in der Ecke und
machte sich ganz klein, waehrend sie mit leuchtenden Augen zu Tore
hinsah, der jetzt sehr gewichtig dahockte und beinahe dumm aussah; Ole
Nordistuen sass ihm mit weit offnem Mund gegenueber; Oeyvind war der erste,
der sich von der Ueberraschung erholte. "Ist das nicht, als wenn das
Glueck mich verfolgt?" rief er, ging auf seinen Vater zu und schlug ihm
auf die Schulter, dass es droehnte. "Du Prachtvater!" sagte er, rieb sich
die Haende und ging auf und ab.
"Wieviel mag das wohl sein?" fragte schliesslich Ole ganz zaghaft den
Schulmeister. "Es ist gar nicht so wenig."--"Ein paar hundert
Taler?"--"Noch ein bisschen mehr."--"Noch ein bisschen mehr? Oeyvind, noch
ein bisschen mehr! Herrgott, das soll ein Hof werden!" Er stand auf und
lachte hell heraus.
"Ich will mit Dir zu Margit", sagte Oeyvind. "Die Postkutsche steht ja
noch draussen, da geht es schnell."--"Ja, schnell, schnell! Magst Du auch
gern alles schnell haben?"--"Ja, schnell und forsch!"--"Schnell und
forsch! Akkrat so, wie als ich jung war,--akkrat so!"--"Hier ist Muetze
und Stock; jetzt jage ich Dich 'raus!"--"Du jagst mich 'raus, haha! aber
Du kommst mit, nicht, Du kommst mit? Ihr andern kommt wohl nach? Heut
abend wollen wir solange zusammensitzen, wie noch ein Funken auf dem
Herd ist; kommt nur hin!"--Sie versprachen es, Oeyvind half ihm in den
Wagen und sie fuhren nach Nordistuen hinauf. Da oben war der grosse Hund
nicht der einzige, der sich wunderte, als Ole Nordistuen mit Oeyvind
Pladsen in den Hof einfuhr. Waehrend Oeyvind ihm aus dem Wagen half und
die Knechte und Maegde sie neugierig angafften, kam Margit aus dem Hause
und wollte sehen, was denn der Hund fortwaehrend zu bellen hatte, aber
sie blieb wie angewurzelt stehen, wurde gluehend rot und lief wieder
hinein. Der alte Ole rief aber so fuerchterlich laut nach ihr, als er in
die Stube kam, dass sie wohl oder uebel wieder zum Vorschein kommen musste.
"Geh hin und mach' Dich fein, Maedel, hier steht der Mann, der den Hof
haben soll."
"Ist es wahr?" rief sie, ohne es selbst zu wissen, und so laut, dass es
schallte. "Ja, es ist wahr", sagte Oeyvind und klatschte in die Haende; da
drehte sie sich auf den Fussspitzen herum, schleuderte das, was sie
gerade in der Hand hatte, weit weg und lief aus der Stube; und Oeyvind
hinterher.
Nach kurzer Zeit kamen auch der Schulmeister, Tore und seine Frau. Der
Alte hatte Lichter auf den weissgedeckten Tisch gestellt; es gab Wein und
Bier, und er selbst war immerzu auf den Beinen und hob den Fuss noch
hoeher als gewoehnlich, aber immer bloss den rechten.
* * * * *
Ehe diese kleine Erzaehlung zu Ende geht, soll noch berichtet werden, dass
fuenf Wochen spaeter Oeyvind und Margit in der Dorfkirche getraut wurden.
Der Schulmeister leitete an diesem Tage selbst den Gesang, weil der
Hilfskuester krank war. Seine Stimme war bruechig, denn er war alt; aber
Oeyvind fand doch, es hoere sich wunderschoen an. Und als er Margit die
Hand gereicht und sie vor den Altar gefuehrt hatte, da nickte ihm der
Schulmeister vom Chor herunter zu, genau so, wie Oeyvind es damals
gesehen hatte, als er so wehleidig beim Tanz sass: er nickte ihm auch
zu, und die Traenen wollten ihm in die Augen treten.
Die Traenen bei jenem Tanz waren das Tor zu diesen Traenen gewesen, und
zwischen ihnen lag seine Arbeit und seine Treue.
Und hier ist die Geschichte von dem froehlichen Burschen zu Ende.
* * * * *
DER VATER
Der Mann, von dem hier erzaehlt werden soll, war der maechtigste im ganzen
Gau; er hiess Thord Oeveraas. Eines Tages stand er kerzengrade und mit
gewichtiger Miene vor dem Pfarrer in der Studierstube. "Mir ist ein Sohn
geboren, und ich moechte ihn taufen lassen."--"Wie soll er
heissen?"--"Finn, nach meinem Vater."--"Und die Paten?"--Er zaehlte sie
auf; es waren Verwandte von ihm, die angesehensten Maenner und Frauen des
Gaus. "Ist sonst noch etwas?" fragte der Pfarrer und sah auf. Der Bauer
zoegerte. "Ich moechte gern, dass er allein getauft wuerde", sagte er dann.
"Also an einem Werktag?"--"Naechsten Sonnabend mittag um zwoelf."--"Ist
sonst noch etwas?" fragte der Pfarrer.--"Weiter nichts." Der Bauer
drehte seinen Hut, als wollte er gehen. Da erhob sich der Pfarrer, ging
auf Thord zu, nahm seine Hand und sah ihm in die Augen; "gebe Gott, dass
das Kind Dir zum Segen werde!"
Sechzehn Jahre nach diesem Tag stand Thord wieder vor dem Pfarrer in der
Stube. "Du hast Dich gut gehalten, Thord", sagte der Pfarrer, weil er
ihn ganz unveraendert fand. "Ich habe ja auch keine Sorgen", antwortete
Thord. Da schwieg der Pfarrer; nach einer Weile aber fragte er: "Was
hast Du denn heut fuer ein Anliegen?"--"Ich komme wegen meines Sohnes,
der morgen konfirmiert wird."--"Es ist ein braver Junge."--"Ich moechte
den Herrn Pfarrer erst bezahlen, wenn ich weiss, der wievielte der Junge
in der Kirche ist."--"Er wird Nummer eins sein."--"Schoen,--hier sind
auch zehn Taler fuer den Herrn Pfarrer."--"Ist sonst noch etwas?" fragte
der Pfarrer und sah Thord an.--"Sonst nichts."--Thord entfernte sich.
Wieder gingen acht Jahre dahin; da war eines Tages vor dem Arbeitszimmer
des Pfarrers grosser Laerm, und herein kamen viele Maenner, an ihrer Spitze
Thord. Der Pfarrer sah auf und erkannte ihn gleich. "Du hast heut abend
ja so viele bei Dir."--"Ich wollte das Aufgebot fuer meinen Sohn
bestellen; er soll die Karen Storliden heiraten, die Tochter von
Gudmund, von diesem hier."--"Das ist ja das reichste Maedchen im ganzen
Gau."--"Es heisst so", antwortete der Bauer und strich sich mit einer
Hand das Haar in die Hoehe, Der Pfarrer sass eine Zeitlang wie in Gedanken
und sagte kein Wort; er trug nur die Namen in seine Buecher ein, und die
Maenner unterschrieben. Thord legte drei Taler auf den Tisch.--"Ich
bekomme nur einen", sagte der Pfarrer.--"Weiss wohl, aber er ist mein
Einziger,--moecht's gern recht gut machen." Der Pfarrer nahm das Geld an.
"Dies ist das dritte Mal, dass Du um Deines Sohnes willen hier stehst,
Thord."--"Jetzt bin ich aber auch fertig damit", sagte Thord, klappte
sein Taschenbuch zu, sagte adieu und ging,--die Maenner folgten ihm
langsam.
Vierzehn Tage spaeter ruderten Vater und Sohn bei stillem Wetter ueber das
Wasser nach Storliden hinueber, um dort die Hochzeit zu besprechen. "Die
Bank ist nicht ordentlich fest", sagte der Sohn und stand auf, um sie in
Ordnung zu bringen. Da rutscht das Brett aus, auf dem er steht, er
schlaegt mit den Armen um sich, stoesst einen Schrei aus und stuerzt ins
Wasser.--"Halt Dich am Ruder fest", rief sein Vater, sprang auf und
hielt es ihm hin. Doch als der Sohn ein paarmal danach gegriffen hatte,
bekam er einen Krampf. "Wart' mal", rief sein Vater und ruderte naeher.
Da schlaegt der Sohn nach hinten ueber, sieht seinen Vater mit einem
langen Blick an und sinkt unter.
Thord konnte es kaum fassen; er stoppte das Boot und starrte auf den
Fleck, wo sein Sohn verschwunden war, als muesse er wieder emportauchen.
Ein paar Blasen stiegen auf und noch ein paar, und dann noch eine ganz
grosse; sie zerbarst--und die See lag wieder spiegelblank da.
Und die Leute sahen, wie drei Tage und drei Naechte lang der Vater um
die Stelle herumruderte, ohne zu essen oder zu schlafen; er fischte nach
seinem Sohn. Und am dritten Tage morgens fand er ihn und trug ihn ueber
die Huegel nach seinem Hofe.
Es mochte ein Jahr seit jenem Tage vergangen sein. Da hoert der Pfarrer
an einem Herbstabend spaet noch etwas an der Flurtuer rascheln und
behutsam nach der Klinke tasten. Der Pfarrer machte die Tuer auf, und
herein kam ein grosser, gebeugter Mann, hager und weisshaarig. Der Pfarrer
sah ihn lang an, bis er ihn erkannte; es war Thord. "Du kommst so spaet?"
sagte der Pfarrer und blieb vor ihm stehen. "Ja, ja, ich komme spaet",
sagte Thord und setzte sich. Der Pfarrer setzte sich auch und wartete;
es blieb lange still. Da sagte Thord: "Ich habe etwas mitgebracht, was
ich den Armen geben moechte; es soll eine Stiftung werden, die den Namen
meines Sohnes traegt";--er stand auf, legte das Geld auf den Tisch und
setzte sich wieder. Der Pfarrer zaehlte es auf; "es ist viel Geld", sagte
er.--"Es ist mein halber Hof; ich habe ihn heut verkauft." Der Pfarrer
sass lange schweigend da. Endlich fragte er mild: "Was willst Du denn
jetzt anfangen, Thord?"--"Etwas Besseres."--So sassen sie eine Zeitlang,
Thord mit gesenkten Blicken, waehrend die Augen des Pfarrers auf ihm
ruhten. Schliesslich sagte der Pfarrer leise und langsam: "Ich glaube,
jetzt ist Dein Sohn Dir doch noch zum Segen geworden."--"Ja, das glaube
ich jetzt auch", sagte Thord; er sah auf, und zwei schwere Traenen rannen
ihm ueber das Gesicht.
* * * * *
DAS FISCHERMAEDEL
Erstes Kapitel
Wo der Hering laengere Zeit regelmaessig Einkehr haelt, da bildet sich so
allmaehlich, wenn die Bedingungen im uebrigen guenstig sind, eine kleine
Stadt. Von solchen Staedten kann man nicht nur sagen, das Meer habe sie
ausgespien; sondern sie sehen auch von weitem tatsaechlich wie ans Land
geschwemmte Balken und Wrackstuecke aus, oder wie ein Haeuflein
umgekippter Boote, die die Fischer in einer Sturmnacht ueber sich gezogen
haben. Kommt man naeher, so sieht man, wie zufaellig das Ganze sich
aufgebaut hat; da liegt ein Block Klippen mitten im Ort, oder der ganze
Flecken ist durch das Wasser in drei, vier Teile gespalten,--Strassen,
die sich kruemmen und winden. Nur eine Bedingung ist allen diesen
Ansiedlungen gemeinsam: sie haben einen Hafen, der den groessten Schiffen
Schutz gewaehrt, indem es dort still ist wie in einer Blechbuechse. Und
darum sind diese Schlupfwinkel den Schiffen, die mit zerfetzten Segeln
und zertruemmertem Plankenwerk aus hoher See angetrieben kommen, um Atem
zu schoepfen, auch gar viel wert.
In solch einem kleinen Staedtchen ist es still. Alles, was etwa Laerm
verursacht, ist auf die Landungsbruecken verwiesen, wo die Boote der
Bauern sich festgebissen haben, und wo die Schiffe laden und loeschen.
Laengs den Landungsbruecken laeuft die einzige Strasse unseres Staedtchens;
an ihrer andern Seite liegen die weiss- und rotgestrichenen, ein- und
zweistoeckigen Haeuschen; aber nicht Wand an Wand, sondern getrennt durch
schmucke Gaerten; das gibt auf diese Weise eine lange und breite Strasse,
wo es uebrigens bei Seewind nach allem zu duften pflegt, was auf den
Bruecken herumliegt. Still ist es hier--nicht etwa aus Furcht vor der
Polizei: denn in der Regel ist gar keine da--sondern aus Angst vor dem
Gerede der Leute; denn hier kennt sich alles untereinander. Geht man
die Strasse hinunter, so muss man in jedes Fenster hineingruessen und
hinter jedem sitzt auch meist ein altes Frauchen und gruesst wieder.
Ferner muss man jeden gruessen, der einem auf der Strasse begegnet.
Denn all diese stillen Menschen denken an nichts anderes, als was sich
im allgemeinen und im besonderen fuer sie selber schickt. Wer die
Grenzlinie, die seinem Stande oder seiner Stellung gezogen ist,
ueberschreitet, der buesst seinen guten Ruf ein. Denn man kennt nicht
allein ihn, sondern auch seinen Vater und Grossvater, und man stoebert
flugs auf, wo sich schon frueher in der Familie ein Hang zum
"Ungehoerigen" gezeigt hat.
In dieses stille Staedtchen zog vor vielen Jahren ein gewisser
wohlehrbarer Mann namens Per Olsen. Er kam vom Lande, wo er sich mit
Hausieren und Fiedelspielen sein Brot verdient hatte. In der Stadt
eroeffnete er fuer seine alten Kunden einen Kramladen, in dem er ausser
allerhand Waren Brot und Schnaps verkaufte. Man hoerte ihn hinten in der
"Ladenstube" auf- und abgehen und Springtaenze und Brautmaersche spielen;
jedesmal, wenn er an der Tuer vorbeikam, spaehte er durch das Guckloch,
und wenn ein Kunde erschien, schloss er sein Spiel mit einem Triller und
kam in den Laden. Das Geschaeft gedieh flott; er heiratete und bekam
einen Sohn, den er nach sich benannte, jedoch nicht "Per", sondern
Peter. Der kleine Peter sollte dereinst werden, was Vater Per, wie er
sehr wohl fuehlte, selber nicht war: naemlich ein Mann von Bildung. Also
kam der Junge auf die Lateinschule. Wenn dann die andern, die seine
Kameraden sein sollten, ihn von ihren Spielen weg heimpruegelten, weil er
Per Olsens Sohn war, so pruegelte Per Olsen ihn wieder zu ihnen hinaus;
denn auf andere Weise konnte ja der Junge nie Bildung erwerben.
Infolgedessen fuehlte der kleine Peter sich in der Schule sehr verlassen,
wurde stumpf und faul und nach und nach so gleichgueltig gegen alles, dass
alle Hiebe des Vaters ihm weder Traenen noch Lachen mehr entlockten. Nun
gab Per das Pruegeln auf und steckte ihn hinter den Ladentisch. Wie gross
war sein Erstaunen, als er sah, dass der Junge jedem Kunden genau
verabreichte, was der forderte, nie auch nur ein Koernchen zu viel gab,
nie auch nur eine Pflaume naschte, stets genau abwog, zaehlte und
eintrug, ohne eine Miene zu verziehen, meist ohne ein Wort zu reden,
aeusserst langsam, aber mit unverbruechlicher Genauigkeit. Der Vater
schoepfte neue Hoffnung und schickte ihn mit einem Heringsboot nach
Hamburg, wo er ein Handelsinstitut besuchen und feine Manieren lernen
sollte. Acht Monate war er dort; das musste doch wohl genuegen! Als er
heimkam, war er mit sechs neuen Anzuegen ausgestattet, die er bei der
Landung saemtlich uebereinander trug; "denn was man auf dem Leib hat,
braucht man nicht zu verzollen." Aber abgesehen von diesem Umfang machte
er, als er sich am folgenden Tag auf der Strasse zeigte, noch ungefaehr
dieselbe Figur wie frueher. Er bewegte sich steif und langsam, mit grad
herunterbaumelnden Armen; er gruesste mit einem ploetzlichen Ruck, und
verbeugte sich, als habe er keine Gelenke, um sofort wieder steif wie
vorher zu werden. Er war die verkoerperte Hoeflichkeit; aber er tat alles,
ohne ein Wort zu sprechen, hastig, mit einer gewissen Scheu. Er schrieb
sich jetzt nicht mehr Olsen, sondern Ohlsen, was den Witzbolden des
Staedtchens Anlass zu folgender Scherzfrage gab: "Wie weit ist Peter Olsen
in Hamburg gekommen?" Antwort: "Bis zum ersten Buchstaben!" Er trug sich
sogar mit dem Gedanken, sich "Pedro" zu nennen. Weil er aber des
verdammten "h's" wegen schon mehr als genug Aerger schlucken musste, liess
er das und schrieb sich einfach: "P. Ohlsen." Er erweiterte das Geschaeft
des Vaters und heiratete mit knapp zweiundzwanzig eine rothaendige
Ladenmamsell, damit sie die Wirtschaft fuehre; denn der Vater war gerade
Witwer geworden, und eine Frau war immerhin sicherer als eine
Haushaelterin. Puenktlich uebers Jahr langte ein Sohn an, der acht Tage
darauf den Namen Pedro trug. Nachdem der wackere Per Olsen Grossvater
geworden war, empfand er es als unabweisbare Pflicht, alt zu werden. Er
ueberliess also seinen Handel dem Sohn, sass von Stund an auf der Bank vorm
Haus und rauchte. Und als es eines Tags anfing, ihm da draussen
langweilig zu werden, wuenschte er sich, dass er bald sterben moege. Und
wie alle seine Wuensche saenftiglich in Erfuellung gegangen waren, so
erfuellte sich auch dieser.
Hatte Peter der Sohn ausschliesslich die eine Seite der vaeterlichen
Begabung, die kaufmaennische Schlauheit, geerbt, so schien Pedro, der
Enkel, ausschliesslich die andere, die Lust an der Musik, geerbt zu
haben. Er lernte sehr spaet lesen, aber sehr frueh singen; er blies die
Floete so huebsch, dass es jedem auffallen musste. Er war fein von Aussehen
und weich von Gemuet. Aber dem Vater kam das nur ungelegen; er wollte in
dem Knaben seinen eigenen unermuedlichen Geschaeftsgeist grossziehen. Wenn
Pedro etwas vergass, so wurde er nicht gescholten oder gepruegelt, wie
seinerzeit der Vater, sondern er wurde gekniffen. Das geschah ganz in
aller Stille, mit einer Freundlichkeit, die man fast hoeflich nennen
konnte; aber es geschah bei der geringsten Veranlassung. Jeden Abend,
wenn die Mutter ihn auskleidete, zaehlte sie die blauen und gelben
Flecken und kuesste sie; aber Widerstand leistete sie nicht; denn sie
selber wurde ebenfalls gezwickt. Jeder Riss in seinen Kleidern, die aus
des Vaters alten Hamburger Anzuegen gemacht waren, jeder Fleck in seinen
Schulbuechern wurde ihr angerechnet. Darum hiess es in einem fort: "Lass
das, Pedro!--Nimm dich in acht, Pedro!--Vergiss nicht, Pedro!" Den Vater
fuerchtete er, die Mutter war ihm laestig. Seine Kameraden taten ihm
nichts zuleide, weil er gleich zu heulen anfing und flehte, man moege
seine Kleider schonen; aber sie nannten ihn bloss den Schmachtlappen und
verachteten ihn ganz unverhohlen. Er war wie ein krankes, federloses
Entlein, das ueberall hinterdrein hinkt, und mit jedem kleinen Bissen,
den es erwischen kann, weit abseits watschelt. Keiner teilte mit ihm,
deshalb teilte auch er mit keinem.
Aber bald machte er die Entdeckung, dass dies bei den aermeren Kindern
der Stadt anders sei; die hatten Nachsicht mit ihm, weil er etwas
Feineres war als sie selber. Besonders ein grosses, kraeftiges Maedchen,
das die ganze Schar kommandierte, nahm sich seiner an. Er wurde nicht
muede, sie zu betrachten; sie hatte einen Kopf voll rabenschwarzer
Locken, die nie anders als mit den Fingern gekaemmt wurden, strahlende
blaue Augen und eine niedere Stirn; das ganze Gesicht war wie in eins
gesammelt und flog foermlich geradaus. Immer war sie in rastloser
Bewegung und Taetigkeit; im Sommer barfuss, mit nackten Armen,
braungebrannt; im Winter angezogen wie andere im Sommer. Ihr Vater war
Lotse und Fischer; sie rannte bei den Leuten herum und verkaufte seine
Fische; sie hielt sein Boot gegen Wind und Stroemung, und wenn er lotste,
trieb sie die Fischerei allein. Wer ihr begegnete, wandte sich um und
sah ihr nach; sie war die verkoerperte Selbstsicherheit. Sie hiess
Gunlaug, aber man nannte sie "das Fischermaedel"--ein Titel, den sie als
den ihr zukommenden Rang hinnahm. Beim Spielen half sie stets den
Schwaecheren; sie hatte das Beduerfnis, sich anderer anzunehmen, und so
nahm sie sich des zarten Jungen an.
In ihrem Boot durfte er Floete blasen, was zu Hause untersagt war, weil
man fuerchtete, seine Gedanken moechten von den Schularbeiten abgelenkt
werden. Sie ruderte ihn hinaus auf den Fjord, sie nahm ihn mit auf ihre
ausgedehnteren Fischzuege; bald begleitete er sie auch auf ihren
naechtlichen Ausfluegen. Dann ruderten sie bei Sonnenuntergang hinaus in
das lichte Sommerschweigen. Er blies die Floete oder hoerte zu, wie sie
ihm von allem erzaehlte, was sie wusste; vom Meermann, von Gespenstern,
von Schiffbruechen, von fremden Laendern und schwarzen Voelkern, von allem,
was die Seeleute erzaehlt hatten. Sie teilte ihr Essen mit ihm, wie sie
all ihr Wissen mit ihm teilte, und er nahm alles hin, ohne das Geringste
wiederzugeben; denn er brachte von Hause kein Essen und aus der Schule
keine Phantasie mit. Sie ruderten, bis die Sonne ueber den Schneebergen
unterging; dann legten sie an einer Insel an und machten Feuer, das
heisst, sie sammelte und schichtete Holz und Reisig auf, und er sah zu.
Eine von ihres Vaters Schifferjacken und eine Decke hatte sie fuer ihn
mitgebracht; in die wurde er hineingewickelt. Sie passte aufs Feuer auf,
und er schlief ein. Um sich wach zu halten, sang sie Verse aus Liedern
und Choraelen; bis er eingeschlafen war, sang sie mit starker, heller
Stimme; dann sang sie leiser. Wenn die Sonne auf der andern Seite wieder
emporstieg und als Vorboten ein gelb-kaltes Licht ueber die Berggipfel
vor sich herschoss, weckte sie ihn. Der Wald stand noch schwarz, und die
Wiese dunkel; bald aber begannen sie sich braunrot zu faerben, zu
blinken, bis der ganze Gebirgskamm gluehte und alle Farben darueber
rauschten. Dann zogen sie das Boot wieder ins Wasser, ein Schaumstreifen
lief durch die schwarze Morgenbrise, und bald lagen sie am Strand, neben
den anderen Fischern.
Als der Winter kam und die Fahrten aufhoerten, suchte er sie in ihrem
Hause auf; er kam regelmaessig und sah ihr zu, waehrend sie arbeitete; aber
weder er noch sie redeten viel; es war, als saessen sie nur beisammen und
warteten auf den Sommer. Doch als der Sommer kam, wurde dem Knaben
leider auch diese neue Lebensaussicht genommen; Gunlaugs Vater starb,
und sie verliess die Stadt, waehrend Pedro auf den Rat seiner Lehrer in
den Laden gesteckt wurde. Da stand er nun, neben der Mutter; denn der
Vater, der nach und nach die Farbe all der Graupen und Gruetzen, die er
abwog, angenommen hatte, musste in der Ladenstube das Bett hueten. Aber
auch von dort aus wollte er immer noch mit dabei sein, wollte genau
wissen, was jedes von den Zweien verkauft hatte, tat, als hoere er nicht,
bis er sie gluecklich so dicht neben sich hatte, dass er sie kneifen
konnte. Und endlich als der Docht in dieser kleinen Lampe gaenzlich
ausgetrocknet war, erlosch er eines Nachts. Die Frau weinte, ohne dass
sie recht wusste, warum; aber der Sohn vermochte nicht eine einzige
Traene hervorzupressen. Da sie Geld genug hatten, um davon leben zu
koennen, gaben sie das Geschaeft auf, rotteten jegliche Erinnerung aus und
wandelten den Laden zur Wohnstube um. Darin sass die Mutter am Fenster
und strickte Struempfe; Pedro sass im Zimmer auf der andern Seite des
Flurs und blies die Floete. Aber sobald der Sommer kam, kaufte er sich
ein kleines, leichtes Segelboot, fuhr hinueber nach der Insel und suchte
die Stelle, wo Gunlaug gelegen hatte.
Und eines Tags, als er dort im Heidekraut lag, sah er ein Boot gerade
auf sich zusteuern und neben dem seinen anlegen,--Gunlaug stieg
heraus.--Sie war noch ganz dieselbe, nur dass sie jetzt voellig erwachsen
war und groesser als andere Maedchen. Doch sobald sie seiner ansichtig
wurde, wich sie langsam zurueck; es war ihr gar nicht der Gedanke
gekommen, dass auch er inzwischen ein erwachsener Mensch geworden war.
Dieses blasse, magere Gesicht--das kannte sie nicht; das war nicht mehr
kraenklich und zart--es war schlaff. Aber in die Augen kam, als er sie
sah, ein stilles Leuchten wie von entschwundenen Traeumen. Sie trat
wieder naeher; und mit jedem Schritt, den sie auf ihn zukam, war es, als
fiele ein Jahr von ihm ab, und als sie vor ihm stand, da war er
aufgesprungen, da lachte er wie ein Kind, da redete er wie ein Kind; das
alte Gesicht lag nur ueber einem heimlich versteckten Kindesantlitz;
aelter war er geworden--gewachsen war er nicht.
Und doch--gerade dies Kind hatte sie gesucht. Und nun, da sie es
wiedergefunden hatte, wusste sie nicht, was weiter... Sie lachte und
wurde rot. Unwillkuerlich fuehlte er in sich etwas wie eine Macht; und zum
erstenmal in seinem Leben wurde er ploetzlich schoen; es waehrte vielleicht
bloss einen Augenblick; aber mit diesem Augenblick wurde sie sein.
Sie war eine von den Naturen, die nur lieben koennen, was schwach ist,
was sie auf Haenden getragen haben. Sie hatte zwei Tage bleiben wollen in
der kleinen Stadt; sie blieb zwei Monate. In diesen zwei Monaten wuchs
er mehr als in seiner ganzen uebrigen Jugend; er schwang sich so weit
empor aus Traum und Schlaffheit, dass er sogar Plaene entwarf; er wollte
fort--er wollte Musiker werden. Aber als er das eines Tages wiederum
aussprach, wurde sie blass und sagte: "Ja--aber dann muessen wir doch erst
heiraten!" Er sah sie an, sie sah ihn an, fest und klar, beide wurden
sie feuerrot; dann sagte er: "Was wuerden die Leute dazu sagen?"
Gunlaug war nie der Gedanke gekommen, dass er etwas anderes wollen koenne
als sie, weil sie selber nie etwas anderes wollen konnte, als was er
wollte. Aber jetzt las sie es in seiner Seele--unverhuellt: keinen
Augenblick hatte er daran gedacht, etwas anderes mit ihr zu teilen, als
was sie gab. In einer Sekunde sah sie es vor sich: ihr ganzes Leben lang
war das so gewesen. Zum Anfang ihr Mitleid--zum Schluss ihre Liebe--fuer
das, was sie aus Guete umfasst hatte. Haette sie bloss noch einen Moment
lang Besonnenheit gehabt! Denn er sah ihren auflodernden Zorn--er
erschrak und rief: "Ich will ja!" Sie hoerte es; aber der Zorn ueber ihre
eigene Dummheit und seine Erbaermlichkeit, ueber die eigene Scham und
seine Feigheit kochte in so gluehender Hast in ihr auf bis zum Sprengen
aller Bande, dass wohl nie eine Liebe, begonnen in Kindheit und
Abendsonne, gewiegt von Wellen und Mondlicht, begleitet von Floete und
leisem Gesang, ein traurigeres Ende genommen hat! Sie packte ihn mit
ihren beiden Haenden, hob ihn hoch, verpruegelte ihn recht nach
Herzenslust, ruderte dann zur Stadt zurueck und ging noch in derselbigen
Stunde ueber die Berge--auf und davon.
Er war ausgesegelt als ein verliebter Juengling, der im Begriff ist, sich
sein Mannestum zu erobern; er ruderte heim als ein Greis, der nie ein
Mannestum gehabt hat. Nur eine Erinnerung besass sein Leben; und die
hatte er toericht aufs Spiel gesetzt; nur einen Fleck Erde hatte er, wo
er sich hinfluechten konnte; und nun durfte er nimmermehr dorthin zurueck.
Vor lauter Gruebelei ob seiner eigenen Jaemmerlichkeit und wie das
eigentlich alles so gekommen war, versank sein bisschen Unternehmungsgeist
wie in einen Sumpf, um nie wieder emporzutauchen. Die Gassenjungen der
Stadt, die schon frueher auf sein wunderliches Wesen aufmerksam geworden
waren, fingen an, ihn zu necken und zu foppen, und weil er ueberhaupt fuer
die Stadt eine etwas unklare Persoenlichkeit war, da niemand so recht
wusste, wovon er lebte und was er trieb, so fiel es auch keinem ein, ihn
zu verteidigen. Bald traute er sich ueberhaupt nicht mehr aus dem Hause,
wenigstens nicht auf die Strasse. Sein ganzes Dasein wurde ein Kampf mit
den Strassenjungens; mag sein, dass sie immerhin doch zu etwas gut waren,
wie etwa Muecken an einem heissen Sommertag: denn ohne sie waere er in
unaufhaltsamen Stumpfsinn versunken.
Neun Jahre spaeter kam Gunlaug wieder in die Stadt, ebenso unerwartet,
wie sie verschwunden war. Sie hatte ein kleines Maedchen von acht Jahren
bei sich, ganz ihr Ebenbild aus frueherer Zeit, nur dass alles an dem Kind
feiner und wie von einem Traum ueberschleiert war. Es hiess, Gunlaug sei
verheiratet gewesen, habe jetzt eine kleine Erbschaft gemacht, und nun
kam sie zurueck, um eine Matrosenkneipe zu eroeffnen. Diese betrieb sie
auf eine Art, dass bald Kaufleute und Schiffer zu ihr kamen, um bei ihr
ihre Leute zu dingen, und die Matrosen bei ihr einkehrten, um sich zu
verheuern. Fuer diesen Zwischenhandel nahm sie nie einen Pfennig, aber
sie machte einen despotischen Gebrauch von der Macht, die er ihr
verlieh. Sie war ganz ohne Zweifel der maechtigste Mann in der ganzen
Stadt, trotzdem sie ein Weib war und nie einen Fuss aus dem Haus setzte.
"Fischer-Gunlaug" nannten die Leute sie, oder "Gunlaug vom Berge"; der
Titel "das Fischermaedel" ging auf die Tochter ueber, die die
Raedelsfuehrerin der gesamten staedtischen Bubenschar war.
Und ihre Geschichte berichtet diese Erzaehlung; sie hatte etwas von der
Elementarkraft der Mutter, und ihr wurde die Gelegenheit, sie zu
gebrauchen.
Zweites Kapitel
Die vielen anmutigen Gaerten der Stadt dufteten nach dem Regen in ihrer
zweiten und dritten Bluete. Die Sonne ging ueber den ewigen Schneefeldern
zur Rueste; der ganze Himmel war Feuer und Flamme, und die Schneefirne
warfen den gedaempften Widerschein zurueck. Die naeher gelegenen Berge
standen im Schatten, aber sie leuchteten doch von vielfarbigem
Herbstwald; auf den Holmen, die in der Mitte des Fjords in Reih und
Glied dem Lande zustrebten, als kaemen sie geradenwegs dahergerudert,
stand--weil sie dem Lande naeher lagen--der dichte Wald in noch staerkerem
Farbenspiel als auf den Bergen. Die See war spiegelblank; ein grosses
Schiff wurde langsam herangewerpt. Die Leute sassen vor ihren Haeusern auf
der Holztreppe, die zu beiden Seiten halb verdeckt war von Rosengebuesch;
von Treppe zu Treppe plauderte man miteinander, stattete sich auch wohl
einen kurzen Besuch ab, oder man tauschte einen Gruss mit den
Spaziergaengern aus, die den langen Alleen draussen vor der Stadt
zueilten. Aus einem offenen Fenster toente hier und dort Klavierspiel;
sonst unterbrach kaum ein Laut das Geplauder; der letzte Sonnenschimmer
auf dem Wasser erhoehte noch das Gefuehl der Stille.
Da ploetzlich erhob sich mitten in der Stadt ein Getoese, als werde die
ganze Stadt gestuermt. Jungens schrien, Maedchen kreischten, alte Weiber
schimpften und kommandierten, der grosse Hund des Polizeidieners bellte
und saemtliche Koeter der Stadt stimmten ein. Alles, was drin war, draengte
hinaus--hinaus. Der Spektakel wurde so ungeheuerlich, dass sogar der
Amtmann sich auf seiner Treppe umdrehte und die Worte fallen liess: "Da
muss was los sein."
"Was ist los?" fielen die von den Alleen Herbeistuerzenden ueber die auf
den Treppen Sitzenden her.--"Ja, was ist los?" antworteten die auf den
Treppen.--"Herrgott, was ist los?" fragten alle, wenn einer aus der
Mitte der Stadt kam. Aber da die Stadt sich so recht gemuetlich in
Halbmondform um die Bucht schmiegt, so dauerte es recht lange, bis
saemtliche Bewohner an beiden Enden die Antwort vernommen hatten: "Bloss
das Fischermaedel!"
Dies unternehmende Wesen, das von einer hoechst gefuerchteten Mutter
beschirmt und des Schutzes saemtlicher Matrosen sicher war (denn fuer so
was gab's immer einen Freischnaps bei der Mutter!) hatte an der Spitze
ihrer Gassenjungenarmee einen grossen Apfelbaum in Pedro Ohlsens
Obstgarten ueberfallen. Der Schlachtplan war folgender: ein paar Jungens
sollten Pedro nach der Vorderseite des Hauses locken, indem sie seine
Rosenbuesche gegen die Fenster klatschten; gleichzeitig sollte ein
anderer den Baum schuetteln, der mitten im Garten stand, und die uebrigen
sollten die Aepfel nach allen Himmelsrichtungen ueber den Zaun werfen;
nicht etwa, um sie zu stehlen--Gott bewahre!--einfach zum Spass! Dieser
sinnige Plan war gerade an diesem Abend hinter Pedros Garten ausgeheckt
worden. Aber das Unglueck wollte, dass Pedro hinter seinem Zaun sass und
Wort fuer Wort mit anhoerte. Kurz vor der festgesetzten Stunde holte er
sich daher den versoffenen Polizeidiener des Orts samt seinem grossen
Hund in die Hinterstube, woselbst die beiden reichlich bewirtet wurden.
Als der Lockenwirbel des Fischermaedels ueber den Planken auftauchte und
gleichzeitig von allen Seiten eine Unmenge kleiner Spitzbubenfratzen
hereinguckten, liess Pedro die jungen Strolche vorn am Haus mit den
Rosenbueschen klatschen--aus Leibeskraeften; er selber wartete ruhig im
Hinterzimmer. Und als die ganze Gesellschaft in tiefster Stille sich um
den Baum geschart hatte, und das Fischermaedel, barfuss und zerkratzt, im
Wipfel sass, um zu schuetteln, sprang die Hintertuer auf und Pedro und der
Polizeidiener, hinter sich den grossen Hund, stuerzten hervor. Ein Schrei
des Entsetzens erhob sich unter den Buben; ein Haufen kleiner Maedchen,
die in aller Unschuld draussen vor dem Zaun "Haschen" gespielt hatten,
glaubten, da drin werde jemand umgebracht, und fingen ganz fuerchterlich
zu kreischen an; die Jungens, die entwischt waren, schrien hurrah; die,
die noch ueber dem Zaun hingen, heulten unterm Tanz des Stocks, und um
den Tumult vollstaendig zu machen, tauchten, wie ueberall, wo
Bubengeschrei ist, noch ein paar alte Weiber auf und zeterten mit. Pedro
und der Polizeidiener waren selbst ganz erschrocken und sahen sich
genoetigt, mit den alten Weibern zu unterhandeln; mittlerweile aber
nahmen die Buben Reissaus. Der Hund, vor dem sich die Jungens am meisten
fuerchteten, setzte ueber den Zaun--ihnen nach--das war so recht was fuer
ihn!--und jetzt jagte es wie Wildentenschwaerme durch die ganze
Stadt--Buben, Maedchen, Hund und Geschrei!
Mittlerweile sass das Fischermaedel maeuschenstill im Apfelbaum und
dachte, niemand habe sie bemerkt. Im obersten Wipfel zusammengekauert,
verfolgte sie durch das Laub den Verlauf des Kampfes. Als aber der
Polizeidiener in heller Wut zu den alten Weibern hinaus gestuerzt war,
und nur Pedro Ohlsen noch im Garten war, stellte er sich dicht unter
den Apfelbaum, guckte hinauf und rief: "Na, 'runter mit Dir, Du
infames Frauenzimmer, und zwar auf der Stelle!"--Aus dem Baum kam
kein Laut.--"'runter mit Dir, sag' ich! Ich weiss, dass Du dort oben
bist!"--Tiefstes Schweigen.--"So hol' ich meine Buechse und schiess Dich
'runter--wahrhaftigen Gott!" Und er machte Miene zu gehen.--"Hu-hu-hu!"
toente es jetzt droben im Baum.--"Ja wohl, heul' Du nur wie ein
Schlosshund! Eine volle Ladung Schrot schick' ich Dir hinauf, gib nur
acht!"--"Uhu-hu-hu!" toente es wieder, als ob ein Kaeuzchen droben saesse.
"Ich fuercht' mich so!"--"Teufelsfratz, der Du bist! Du bist der aergste
Galgenstrick von der ganzen Bande; aber wart' nur, jetzt hab' ich
Dich!"--"Ach liebster, bester, goldigster Herr Ohlsen! Ich will's auch
nie und nie und nie wieder tun!" Und im selben Augenblick schleuderte
sie ihm einen faulen Apfel mitten auf die Nase und ein helles
Jubelgelaechter trillerte hinterher. Der Apfel klatschte ihm ins Gesicht
wie weicher Teig, und waehrend er sich abwischte, sprang sie herunter;
noch eh er sie einholen konnte, hing sie schon ueberm Zaun und waere auch
gluecklich hinuebergekommen, wenn sie nicht aus ploetzlicher Angst, dass er
ihr auf den Fersen war, statt ruhig weiter zu klettern, losgelassen
haette. Aber als er sie nun packte, kreischte sie laut auf--ein so
gellendes, wildes, schmetterndes Gekreisch, dass er sie entsetzt fahren
liess. Auf ihr Schreckenssignal lief draussen vor dem Zaun eine Volksmenge
zusammen; sie hoerte es; sogleich kehrte ihr Mut zurueck. "Lass mich los
oder ich sag's meiner Mutter!" drohte sie, ploetzlich wieder ganz Feuer
und Flamme! Da kam ihm dies Gesicht auf einmal bekannt vor: "Deine
Mutter?" rief er laut. "Wer ist denn Deine Mutter?"--"Die Gunlaug am
Berg--die Fischer-Gunlaug!" wiederholte triumphierend die Range; sie
merkte, dass er Angst bekam. Er hatte bei seiner Kurzsichtigkeit das
Maedchen bisher noch gar nicht gesehen; er war der einzige in der Stadt,
der nicht wusste, wer sie war; er wusste nicht einmal, dass Gunlaug in der
Stadt war. Wie besessen schrie er: "Wie heisst Du?"--"Petra!" schrie sie
noch lauter. "Petra!" wimmerte Pedro, drehte sich um und rannte ins
Haus, als habe er mit dem leibhaftigen Satan geredet. Aber weil der
bleichste Schreck und der bleichste Zorn sich aehnlich sehen, so dachte
sie, er sei davongelaufen, um sein Gewehr zu holen; die Angst packte
sie, sie fuehlte bereits das Schrot im Ruecken, und da in demselben
Augenblick die Gartenpforte von aussen aufgebrochen wurde, fuhr sie
hinaus wie der Blitz; ihr schwarzes Haar flatterte hinter ihr her wie
das Entsetzen selbst, die Augen spruehten Feuer, der Hund, der ihr gerade
in den Weg lief, machte Kehrt und setzte bellend hinter ihr drein und so
fiel sie ins Haus und ueber die Mutter, die just mit der Suppenschuessel
aus der Kueche kam; das Maedchen mitten in die Suppe hinein, die Suppe
auf den Boden, und ein "hol' Euch der Teufel!" hinter beiden drein.
Aber waehrend sie noch mitten in der Suppe lag, kreischte sie: "Er will
mich totschiessen, Mutter! Er will mich totschiessen!"--"Wer will Dich
totschiessen, Du Kobold?"--"Der Pedro Ohlsen!"--"Wer?" schrie die
Mutter.--"Der Pedro Ohlsen. Wir haben Aepfel bei ihm gestohlen"--sie
wagte nie etwas anderes als die Wahrheit zu sagen.--"Von wem sprichst
Du, Maedchen?"--"Von Pedro Ohlsen. Er ist hinter mir her mit einem grossen
Gewehr--er will mich totschiessen!"--"Pedro Ohlsen!" tobte die Mutter und
dann fing sie zu lachen an. Sie schien ploetzlich seltsam gewachsen. Dem
Kinde kamen die Traenen, und es wollte davonlaufen. Aber die Mutter
sprang auf sie zu, die weissen Raubtierzaehne funkelten; sie packte das
Maedchen bei den Schultern und zerrte es in die Hoehe. "Hast Du ihm
gesagt, wer Du bist?"--"Ja, ja, ja, ja!" Und das Kind streckte flehend
die Haende in die Luft. Da reckte sich die Mutter zu ihrer vollen Hoehe
auf: "So! Also weiss er's jetzt! Was hat er gesagt?"--"Ins Haus ist er
gelaufen, nach seinem Gewehr; er wollt' mich totschiessen."--"Der Dich
totschiessen!" lachte sie in schneidendem Hohn. Petra hatte sich,
erschrocken und ueber und ueber mit Suppe bespritzt, in eine Ecke
geschlichen, wischte sich ab und weinte, als die Mutter wieder auf sie
zukam. "Wenn Du Dich je wieder unterstehst, zu dem hinzugehen," sagte
Gunlaug, indem sie das Kind bei den Schultern packte und schuettelte,
"oder mit ihm zu reden, oder auf ihn zu hoeren, dann gnade Gott euch
beiden!--Das sag' ihm von mir!" fuegte sie mit drohender Stimme hinzu,
als das Kind nicht gleich antwortete.--"Ja, ja, ja, ja!"--"Sag' ihm das
von mir!" wiederholte sie noch einmal, aber leiser und bei jedem Wort
mit dem Kopf nickend, indem sie hinausging.
Das Kind wusch sich, zog seine Sonntagskleider an und setzte sich vors
Haus auf die Treppe. Aber bei dem Gedanken an den ausgestandenen
Schrecken stieg ihr immer wieder das Schluchzen in die Kehle.--"Warum
weinst Du, Kind?" fragte eine Stimme, so freundlich, wie noch nie jemand
zu ihr gesprochen hatte. Petra blickte auf. Vor ihr stand ein schlanker
Mann mit einem edlen Gesicht und einer Brille. Sie stand sofort auf;
denn sie erkannte Hans Oedegaard, einen jungen Menschen aus dem Ort, vor
dem alles sich ehrerbietig erhob. "Warum weinst Du, Kind?" Sie sah ihn
an und erzaehlte ihm, sie habe "mit ein paar andern Jungens" in Pedro
Ohlsens Garten Aepfel stehlen wollen; aber Pedro und der Polizeidiener
seien gekommen und da--, ihr fiel ein, dass die Mutter ihr die Sache mit
dem Totschiessen doch ein bisschen zweifelhaft gemacht hatte, und so wagte
sie davon nichts zu erzaehlen; statt dessen stiess sie nur einen tiefen
Seufzer aus. "Ist es moeglich," sagte er, "dass ein Kind in Deinem Alter
eine so grosse Suende begehen kann!" Petra sah ihn an. Wohl hatte sie
gewusst, dass es eine Suende war; aber bisher war ihr das immer etwa
folgenderweise vorgepredigt worden: "Satansrange, Du! Du schwarzhaarige
Teufelsbrut!" Jetzt auf einmal schaemte sie sich.--"Warum gehst Du nicht
in die Schule und lernst Gottes Gebot von dem, was gut und boese ist?"
Sie strich sich ueber den Rock und antwortete, Mutter wolle nicht, dass
sie zur Schule gehe.--"Da kannst Du am Ende nicht einmal lesen?"
Doch, lesen koenne sie. Er zog ein kleines Buch aus der Tasche und
gab es ihr. Sie guckte hinein, drehte es um und besah es sich von
aussen. "Solche feine Schrift kann ich nicht lesen!" sagte sie. Aber
sie musste heran, und nun kam sie sich auf einmal fuerchterlich dumm vor.
Mund und Augen wurden ihr schlaff, und alle ihre Glieder loesten sich.
"G-o-t--Gott--d-e-r H-e-r-r--Herr, Gott der Herr--s-a-g-t-e Gott der
Herr sagte zu M-M--"--"Mein Gott, Du kannst also wirklich noch nicht
einmal lesen! Ein Kind von zehn oder zwoelf Jahren! Moechtest Du nicht
gern lesen lernen?" Langsam kam es aus ihr heraus: ja, sie moechte schon
gern. "Dann komm mit, wir fangen gleich an!" Jetzt ruehrte sie sich,
aber nur, um ins Haus zu sehen. "Ja, sag' es nur Deiner Mutter!" meinte
er. Die Mutter ging eben vorbei, und als sie das Kind mit einem fremden
Herrn sprechen sah, trat sie auf die Schwelle. "Er will mich lesen
lehren!" sagte das Kind zweifelnd, die Augen auf die Mutter gerichtet.
Sie antwortete nicht, stemmte nur beide Haende in die Hueften und sah
Oedegaard an. "Ihr Kind ist ja total unwissend!" sagte er. "Sie koennen es
vor Gott und Menschen nicht verantworten, wenn Sie es so heranwachsen
lassen!"--"Wer bist denn Du?" fragte Gunlaug scharf.--"Hans Oedegaard,
der Sohn des Pastors." Ihr Gesicht klaerte sich leicht auf; von dem hatte
sie immer nur Gutes gehoert. "Wenn ich dann und wann einmal im Lande
war", begann er wieder, "ist mir das Kind hier immer aufgefallen. Heute
bin ich von neuem an sie erinnert worden. Sie darf sich nicht laenger nur
mit Dingen abgeben, die boese sind." Auf dem Gesicht der Mutter stand
deutlich zu lesen: Was geht das Dich an? Aber ruhig fragte er: "Das Kind
soll doch etwas lernen, nicht wahr?"--"Nein!"--Eine leichte Roete flog
ueber sein Gesicht. "Weshalb nicht?"--"Sind die Menschen, die was gelernt
haben, etwa besser?"--Sie hatte nur eine einzige Erfahrung gemacht in
ihrem Leben; aber an die klammerte sie sich.--"Es wundert mich, dass ein
Mensch das fragen kann!"--"Kann sein! Ich weiss, dass sie nicht besser
sind!" Und sie kam die Stufen herunter, um dem Gerede ein Ende zu
machen. Aber er vertrat ihr den Weg. "Es handelt sich hier um eine
Pflicht, der Sie sich einfach nicht entziehen duerfen. Sie sind eine
unvernuenftige Mutter!" Gunlaug mass ihn vom Kopf bis zu den Fuessen. "Wer
sagt Dir denn, was ich bin?" versetzte sie, an ihm voruebergehend.--"Sie
selber, und zwar in diesem Augenblick; denn sonst muessten Sie doch
gesehen haben, dass das Kind zugrunde geht!" Gunlaug wandte sich um. Auge
ruhte in Auge. Sie sah, dass ihm das, was er gesagt hatte, wirklich Ernst
war, und ihr wurde bange. Sie hatte immer nur mit Matrosen und
Geschaeftsleuten verkehrt; eine solche Sprache hatte sie noch nie
vernommen. "Was willst Du denn mit meinem Kind?" fragte sie. "Sie
lehren, was ihrem Seelenheile dient, und dann abwarten, was aus ihr
wird!"--"Mein Kind soll nichts anderes werden, als was ich
will!"--"Doch--es soll aus ihr werden, was Gott will!" Gunlaug war wie
vor den Kopf geschlagen. "Was soll das heissen?" fragte sie und trat
naeher. "Das soll heissen, dass sie das lernen muss, wozu Gott ihr die
Gaben geschenkt hat; denn deswegen hat er ihr sie gegeben." Jetzt trat
Gunlaug ganz nahe an ihn heran: "Und ich, ihre Mutter--soll ich nicht
etwa bestimmen duerfen ueber sie?" fragte sie, als moechte sie sich
wirklich belehren lassen. "Doch! Gewiss!" erwiderte er. "Aber Sie
muessen auch auf den Rat anderer hoeren, die das besser verstehen. Sie
muessen auf den Willen des Herrn hoeren!"----Gunlaug war eine Weile
still. "Und wenn sie zu viel lernt?" sagte sie. "Armer Leute Kind",
setzte sie hinzu und blickte zaertlich auf die Tochter.--"Wenn sie fuer
ihren Stand zu viel lernt, so hat sie eben dadurch einen anderen Stand
erreicht."--Sie erfasste sofort den Sinn seiner Worte, doch, indem sie
mit immer schwermuetigeren Augen das Kind ansah, sagte sie leise, wie
zu sich selber: "Das ist gefaehrlich!"--"Darum handelt es sich nicht",
versetzte er sanft, "sondern um das, was recht ist." In ihre
kraftvollen Augen kam ein seltsamer Ausdruck; wieder blickte sie ihn
durchdringend an; aber es lag so viel Wahrheit in seiner Stimme, seinen
Worten, seinen Mienen, dass Gunlaug sich besiegt fuehlte. Sie ging auf
Petra zu, nahm ihren Kopf zwischen beide Haende; zu reden vermochte sie
nicht mehr.
"Ich werde die Kleine von heut an bis zur Einsegnung unterrichten,"
sagte er, wie um ihr zu Hilfe zu kommen. "Ich habe immer den Wunsch
gehabt, mich dieses Kindes anzunehmen!"--"Und darum willst Du es mir
wegnehmen?" Er stutzte und sah sie fragend an. "Freilich, Du verstehst
das ja besser als ich," stiess sie muehsam heraus, "aber es ist nur, weil
Du den Namen unseres Herrgotts genannt hast,"--sie verstummte. Sie hatte
waehrenddessen das Haar des Kindes glattgestrichen; jetzt nahm sie ihr
eigenes Tuch ab und band es ihm um den Hals. Auf andere Weise sprach sie
es nicht aus, dass Petra mitgehen duerfe; aber sie lief hastig davon, und
verschwand hinter dem Haus, als wolle sie es nicht mit ansehen.
Bei diesem Gebaren der Mutter ergriff ihn eine ploetzliche Angst vor der
Aufgabe, die er da in jugendlichem Eifer auf sich genommen hatte. Das
Kind aber empfand Angst vor ihm, der zum erstenmal die Mutter besiegt
hatte; und mit dieser wechselseitigen Angst gingen sie an ihre erste
Unterrichtsstunde.
Von Tag zu Tag indessen fand er, dass sie an Klugheit und Wissen wuchs,
und seine Gespraeche mit ihr nahmen zuweilen eine ganz eigentuemliche
Richtung. Oft fuehrte er ihr Persoenlichkeiten aus der biblischen Historie
und der Weltgeschichte in der Weise vor, dass er auf den Beruf hinwies,
den Gott ihnen zuerteilt hatte. Er verweilte bei dem Manne Saul, der in
zuegellosem Irren umherschweifte, und bei dem Knaben David, der seines
Vaters Herde weidete, bis Samuel kam und auf beide die Hand des Herrn
legte. Doch am herrlichsten offenbarte sich solches Berufensein, als der
Herr selbst auf Erden wandelte und unter den Fischern seine Stimme
erhob. Und der arme Fischer stand auf und folgte ihm nach--zu Not und
Tod--immer aber voll Freudigkeit; denn das Gefuehl des Berufenseins traegt
uns ueber alle Widerwaertigkeiten hinweg.
Dieser Gedanke verfolgte sie, bis sie schliesslich nicht mehr an sich
halten konnte,--sie musste ihn fragen, wozu sie berufen sei. Er sah sie
an, bis sie ueber und ueber rot wurde; dann antwortete er, zu seinem Beruf
gelange ein Mensch nur durch Arbeit. Bescheiden und klein koenne dieser
Beruf sein--da sei er fuer jeden. Und jetzt kam ein maechtiger Eifer ueber
sie; er trieb ihr Arbeiten an mit der Kraft eines Erwachsenen, er gluehte
in ihren Kinderspielen und machte sie mager und duenn. Allerlei
abenteuerliches Sehnen stieg in ihr auf: sie wollte sich das Haar
abschneiden, sich als Knabe verkleiden, in die Welt hinausziehen und
kaempfen! Aber als ihr Lehrer eines Tages sagte, ihr Haar sei so huebsch,
wenn sie es nur ordentlich flechten wolle--da wurde das Haar ihr lieb,
und um ihres langen Haares willen opferte sie den Heldenruhm.
Seitdem war es ihr mehr wert, ein Maedchen zu sein, als frueher, und
ruhiger schritt ihre Arbeit weiter, umschwebt von wechselnden Traeumen.
Drittes Kapitel
Hans Oedegaards Vater war als junger Mensch aus dem Kirchdorf Oedegaard in
Stift Bergen ausgewandert; die Menschen hatten sich seiner angenommen,
und er war jetzt ein Gelehrter und sehr gestrenger Prediger. Auch ein
aeusserst herrischer Mann war er, weniger in Worten als in Taten. Er hatte
ein "gutes Gedaechtnis", wie man zu sagen pflegt. Dieser Mann, der mit
seiner Zaehigkeit stets durchgesetzt hatte, was er wollte, sollte jedoch
an einem Punkte scheitern, wo er es am wenigsten erwartete, und wo es
ihn am schmerzlichsten traf.
Er hatte drei Toechter und einen Sohn. Dieser Sohn Hans war die Leuchte
der Schule; der Vater selbst leitete seine Studien und hatte seine helle
Freude an ihm. Hans hatte einen Freund; er setzte alles dran, ihn zu
seinem Nebenmann zu machen, und dieser Freund liebte ihn deshalb, naechst
seiner Mutter, ueber alles in der Welt. Zusammen gingen sie zur Schule;
zusammen kamen sie auf die Universitaet; zusammen machten sie die ersten
zwei Examina, und zusammen sollten sie nun dasselbe Amtsstudium
beginnen. Eines Tages, als sie nach einem just entworfenen
Kollegienplan uebermuetig die Treppe hinunterstuermten, wollte Hans im
Gefuehl froehlichen Jugenduebermuts dem Freund auf den Ruecken
springen; der Freund fiel, und zwar so ungluecklich, dass er wenige
Tage darauf starb. Der Sterbende bat seine Mutter, die Witwe war und in
ihm ihr einziges Kind verlor, ihm zuliebe Hans an Sohnesstatt
anzunehmen. Die Mutter starb fast gleichzeitig mit dem Sohn; und kraft
ihres Testaments fiel ihr sehr betraechtliches Vermoegen Hans Oedegaard
zu.
Es dauerte Jahr und Tag, bis Hans sich von diesem Schlag erholte. Eine
lange Reise im Ausland tat ihm wenigstens soweit gut, dass er sein
theologisches Studium zu Ende zu fuehren vermochte; aber ein Amt
anzunehmen--dazu konnte niemand ihn bewegen.
Seines Vaters sehnlichster Wunsch war gewesen, ihn neben sich als Vikar
zu haben; aber Hans war nicht zu bereden, auch nur die Kanzel zu
betreten. Immer hatte er dieselbe Erwiderung: er fuehle nicht den Beruf
in sich. Fuer den Vater war das eine bittere Enttaeuschung, die ihn um
Jahre aelter machte. Er selber hatte erst spaet angefangen zu studieren,
war schon ein alter Mann, und hatte sich hart--und immer dieses Ziel vor
Augen--durchgearbeitet. Jetzt sass sein Sohn ueber ihm--im selben
Haus--bewohnte eine Reihe eleganter Zimmer; und unten, in der kleinen
Studierstube, bei seiner Lampe, die ihm hinueberleuchtete in die Nacht
des Alters, sass in nie ermuedender Arbeit der alte Pastor. Er hatte--nach
jener Enttaeuschung--fremde Hilfe weder annehmen koennen noch wollen;
darum gab es fuer ihn--Sommer oder Winter--keine Ruhe. Der Sohn aber
machte alljaehrlich eine laengere Reise ins Ausland. Wenn er zu Hause war,
verkehrte er mit niemand; nur dass er--mehr oder weniger
schweigsam--mittags an des Vaters Tisch ass. Wer sich in ein Gespraech mit
ihm einliess, stiess auf solch ueberlegene Klarheit, auf solchen
Wahrheitseifer, dass die Unterhaltung meist bald gefaehrdet wurde. In der
Kirche sah man ihn nie; aber er gab mehr als die Haelfte seiner Einnahmen
zu wohltaetigen Zwecken hin, wobei er stets die genauesten Vorschriften
ueber die Verwendung machte.
Diese Wohltaetigkeit war in ihrer Grossartigkeit so verschieden von den
beschraenkten Gewohnheiten der kleinen Stadt, dass sie alle Herzen gewann.
Wenn man dazu seine ganze zurueckgezogene Lebensfuehrung, seine haeufigen
langen Reisen und die Scheu nimmt, die irgendwie alle vor ihm hatten, so
wird man wohl begreifen, dass er in den Augen der Leute zu einer Art
Original wurde, dem man allerhand geheimnisvolle Dinge zutraute, hinter
dem man alles moegliche suchte, und dem man fast uebernatuerliche
Eigenschaften beilegte. Als dieser Mann sich herabliess, das Fischermaedel
in seine taegliche Fuersorge zu nehmen, war sie von Stund an geadelt.
Ploetzlich wollte jeder sich ihrer annehmen; besonders die Frauen. Eines
Tages erschien sie, in alle Farben des Regenbogens gekleidet; sie hatte
einfach alles angezogen, was man ihr geschenkt hatte, im Glauben, so
muesse sie ihm gefallen; denn er wollte sie gern immer nett und zierlich
haben. Aber kaum hatte er sie erblickt, so schalt er sie schon aus: sie
duerfe sich nichts schenken lassen; eitel sei sie und albern; sie stecke
in lauter Tand und Narretei! Als sie dann am naechsten Morgen mit
verweinten Augen anrueckte, nahm er sie auf einen Spaziergang mit--zur
Stadt hinaus. Da erzaehlte er ihr von David, so wie er ihr ueberhaupt
immer eine oder die andere Persoenlichkeit darstellte--indem er ihr alles
Wohlbekannte in immer neuem Licht vorfuehrte. Erst schilderte er David
als Juengling, wie er schoen und kraftvoll in sorglosem Glauben
dahinlebte. Darum durfte er, noch ehe er Mann geworden war, am
Triumphzug teilnehmen. Als Hirte wurde er zum Koenig berufen; in Hoehlen
hatte er gewohnt--und erbaute zuletzt Jerusalem! In schoenen Gewaendern
sass er vor dem kranken Saul und spielte die Harfe; aber als er selber
Koenig war--und krank--da schlug er die Harfe fuer sich allein--, in
Lumpen der Reue gehuellt. Nachdem er sein Lebenswerk vollendet hatte,
ergab er sich der Ruhe--in Suende. Und der Prophet kam, und die Strafe
Gottes; und er wurde wieder zum Kinde. David, er, der das ganze Volk
des Herrn zu erheben vermochte zu Lobgesang, lag selber, zerknirscht, zu
den Fuessen des Herrn. Wann war er schoener? Als er siegesgekroent--nach
eigenen Saengen--einhertanzte vor der Bundeslade--oder wenn er im
verschwiegenen Kaemmerlein um Gnade flehte vor Gottes strafender Hand?
In der Nacht nach diesem Gespraech hatte sie einen Traum, den sie ihr
ganzes Leben lang nicht vergessen konnte. Sie sass auf einem weissen
Zelter--in einem Siegeszug--und zugleich tanzte sie in Lumpen vor dem
Pferde her.
Eine gute Weile darauf kam eines Abends, als sie am Waldessaum oberhalb
der Stadt sass und ihre Aufgaben lernte, Pedro Ohlsen ganz dicht an ihr
vorueber und fluesterte mit einem sonderbaren Laecheln: "Guten Abend!"
Obgleich Jahre vergangen, war der Mutter Verbot, mit ihm zu reden, noch
so maechtig in ihr, dass sie seinen Gruss nicht erwiderte. Aber Tag fuer
Tag kam er jetzt auf dieselbe Weise und stets mit demselben Gruss an ihr
vorueber; zuletzt wartete sie auf ihn, wenn er nicht kam. Bald richtete
er im Vorbeigehen eine kurze Frage an sie, nach einer kleinen Weile
wurden daraus zwei, und schliesslich wurden es ganze Gespraeche. Eines
Tages liess er nach einer solchen Unterhaltung einen Silbertaler in ihren
Schoss gleiten, worauf er seelenvergnuegt und eiligst davonlief. Nun war
es gegen den Befehl der Mutter, nicht mit ihm zu reden, und gegen das
Verbot Oedegaards, Geschenke von irgend jemand anzunehmen. Das erste
Verbot hatte sie ganz allmaehlich uebertreten--jetzt, da auch die
Uebertretung des zweiten Tatsache war, fiel es ihr wieder ein. Um das
Geld los zu werden, nahm sie den ersten besten, der ihr begegnete, mit
und traktierte ihn; aber beim besten Willen war es ihnen nicht moeglich,
fuer mehr als zehn Groschen zu verzehren. Und hinterher bereute sie auch,
dass sie den Taler vernascht hatte, statt ihn zurueckzugeben. Das letzte
Zweigroschenstueck brannte ihr in der Tasche, als muesse es ein Loch
durchs Kleid sengen. Sie zog es heraus und warf es ins Meer. Aber damit
war sie doch den Taler nicht los--auch ihre Gedanken hatte er angesengt.
Wenn sie es gestand, so wuerde es voruebergehen, das fuehlte sie; aber der
schreckliche Zorn der Mutter damals und Oedegaards festes Zutrauen zu ihr
standen, jedes in seiner Art, als Schrecknisse im Wege. Waehrend die
Mutter nichts merkte, entdeckte Oedegaard bald, dass sie etwas mit sich
herumschleppe, das sie ungluecklich mache. Liebevoll fragte er sie eines
Tages, was es sei, und als sie statt aller Antwort in Traenen ausbrach,
dachte er, zu Hause bei ihr sei vielleicht Not, und gab ihr zehn
Speziestaler. Dass sie--trotz ihrer Suende gegen ihn--noch Geld von ihm
bekam, machte einen tiefen Eindruck auf sie; und da sie nun obendrein
noch Geld hatte--ehrliches Geld, das sie der Mutter ganz offen geben
konnte,--empfand sie das als eine Freisprechung von ihrem Verbrechen und
gab sich der ausgelassensten Freude hin. Sie nahm seine Hand zwischen
ihre beiden Haende und bedankte sich, sie lachte und tanzte in der Stube
herum, sie strahlte vor Entzuecken durch ihre Traenen hindurch, waehrend
sie ihn ansah mit dem Blick eines Hundes, der seinen Herrn begleiten
darf. Er kannte sie gar nicht wieder. Sie, die er sonst ganz in der
Gewalt seiner Worte hatte, nahm ihm heute die Herrschaft aus den Haenden.
Zum erstenmal fuehlte er eine starke und wilde Natur sich entladen, zum
erstenmal ueberflutete ihn des Lebens Quelle mit ihrem roten Strom, und
er wich purpurheiss zurueck. Petra aber stuerzte zur Tuer hinaus und den
Berg hinauf, nach Hause. Dort legte sie das Geld vor die Mutter auf die
Herdplatte und fiel ihr selber um den Hals. "Wer hat Dir das Geld
gegeben?" fragte die Mutter, in der schon der Zorn aufstieg.--"Oedegaard,
Mutter! Er ist der herrlichste Mensch auf Erden!"--"Was soll ich
damit?"--"Ich weiss nicht! O Gott, Mutter, wenn Du wuesstest--" sie fiel
ihr wieder um den Hals--jetzt konnte und wollte sie ihr alles sagen.
Aber die Mutter machte sich ungeduldig los. "Soll ich vielleicht Almosen
annehmen? Augenblicklich gibst Du ihm das Geld zurueck! Wenn Du ihm
vorgeschwatzt hast, ich haett's noetig, so hast Du gelogen!"--"Aber
Mutter!"--"Sofort bringst Du ihm das Geld zurueck, sag' ich Dir, oder ich
gehe selber hin und werf es ihm ins Gesicht, dem--dem..., der mir mein
Kind genommen hat!" Die Lippen der Mutter zitterten bei den letzten
Worten; Petra war immer blasser geworden, sie wich zurueck, langsam
oeffnete sie die Tuer, langsam ging sie aus dem Hause. Eh sie wusste, was
sie tat, war der Zehntalerschein zwischen ihren Finger in Fetzen
zerrissen. Die Entdeckung dieser Tatsache loeste sich in einem Ausbruch
der Empoerung gegen die Mutter. Aber Oedegaard durfte nichts davon
erfahren--doch, alles sollte er erfahren... Ihm durfte sie nichts
vorluegen!--Und einen Augenblick darauf stand sie in seinem Zimmer und
erzaehlte ihm, die Mutter habe das Geld nicht nehmen wollen und vor
Aerger, dass sie es ihm zurueckbringen musste, habe sie den Schein
zerrissen. Sie wollte noch mehr sagen, aber er hoerte sie merkwuerdig kalt
an, hiess sie nach Hause gehen und gab ihr die Ermahnung mit auf den Weg,
der Mutter stets gehorsam zu sein, auch wenn es ihr sauer fiele. Das kam
ihr doch recht sonderbar vor; denn so viel wusste sie auch--er selber tat
nicht, was sein Vater von ihm wollte. Auf dem Heimweg brach es in ihr
los, und gerade da begegnete ihr Pedro Ohlsen. Sie hatte ihn die ganze
Zeit ueber gemieden und wollte das auch jetzt tun; denn er war ja an dem
ganzen Unglueck schuld. "Wo bist Du gewesen?" fragte er, neben ihr
hergehend. "Ist Dir etwas geschehen?" Die Wogen in ihr gingen so hoch,
dass sie sich einfach von ihnen schleudern liess, einerlei wohin. Und
ueberhaupt begriff sie auch gar nicht, weshalb ihr die Mutter verboten
hatte, mit ihm umzugehen; es war natuerlich nur eine von ihren Launen.
"Weisst Du, was ich getan habe?" sagte er fast demuetig, als sie stehen
blieb. "Ich habe Dir ein Segelboot gekauft;--ich dachte, Du habest
vielleicht Lust, ein bisschen zu segeln!" Und er lachte. Seine Guete, die
etwas von der Bitte eines Bettlers hatte, ruehrte sie gerade jetzt; sie
nickte, und nun wurde er lebendig, er fluesterte hastig, sie solle durch
die Allee rechts draussen vor der Stadt bis an das grosse gelbe Bootshaus
gehen; dort wolle er sie abholen: kein Mensch koenne sie dort sehen. Sie
ging hin und er kam, strahlend, aber ehrerbietig wie ein altes Kind, und
nahm sie zu sich ins Boot. Sie segelten eine Weile in der leichten Brise
und legten dann an einer Insel an, machten das Boot fest und stiegen ans
Land. Er hatte allerlei Leckereien fuer sie mitgebracht, die er ihr mit
aengstlicher Freude anbot; dann zog er seine Floete heraus und spielte.
Seine Seligkeit liess sie eine Zeitlang ihren eigenen Kummer vergessen;
und weil die Froehlichkeit schwacher Wesen wehmuetig stimmt, gewann sie
ihn ploetzlich lieb.
Fortan hatte sie ein neues und dauerndes Geheimnis vor der Mutter, und
bald war es dahin gekommen, dass sie der Mutter ueberhaupt nichts mehr
sagte. Und Gunlaug fragte nicht; sie vertraute ganz, bis zu dem
Augenblick, da sie ganz misstraute.
Aber auch vor Oedegaard hatte Petra fortan Geheimnisse; denn sie nahm
allerhand Geschenke von Pedro Ohlsen an. Auch Oedegaard fragte nicht; der
ganze Unterricht fuehrte von Tag zu Tag mehr auf ein unpersoenliches
Gebiet.
Petra war jetzt also zwischen Dreien geteilt. Bei keinem sprach sie von
den andern, und vor jedem hatte sie etwas Besonderes zu verheimlichen.
Doch unterdessen war sie, ohne es selbst zu wissen, ein erwachsenes
Maedchen geworden, und eines Tages teilte Oedegaard ihr mit, dass sie
eingesegnet werden solle.
Diese Nachricht erfuellte sie mit grosser Unruhe; denn sie wusste, mit der
Einsegnung hatte der Unterricht ein Ende, und was sollte dann werden?
Die Mutter liess ein Giebelstuebchen ans Haus anbauen; Petra sollte nach
ihrer Einsegnung ein eigenes Zimmer haben. Das unablaessige Haemmern und
Klopfen war ihr eine schmerzliche Mahnung. Oedegaard sah, wie sie immer
stiller und stiller wurde; zuweilen merkte er sogar, dass sie geweint
hatte. Der Religionsunterricht machte in dieser Stimmung einen starken
Eindruck auf sie, obgleich Oedegaard mit grosser Sorgfalt alles vermied,
was sie haette aufregen koennen. Aus eben diesem Grunde schloss er auch
vierzehn Tage vor der Einsegnung den Unterricht mit der kurzen
Mitteilung ab, heute sei die letzte Stunde gewesen. Er meinte damit die
letzte Stunde bei ihm; denn er wollte natuerlich noch weiter fuer sie
sorgen, wenn auch durch andere. Aber wie festgenagelt blieb sie sitzen;
alles Blut wich ihr aus dem Gesicht, die Augen hingen starr an ihm, so
dass er, unwillkuerlich geruehrt, sich beeilte, einen Grund anzugeben:
"Nicht alle jungen Maedchen sind ja bei ihrer Einsegnung schon
erwachsen;--aber bei Dir ist es so. Das fuehlst Du wohl selbst." Haette
sie im Schein eines flammenden Feuers gestanden--sie haette nicht
gluehender rot werden koennen, als sie bei diesen Worten wurde. Ihr Busen
wogte, die Augen flackerten unruhig und fuellten sich mit Traenen, und wie
gehetzt fuegte er hinzu: "Oder wollen wir vielleicht doch noch
weitermachen?" Erst hinterher wurde ihm klar, was er ihr da
vorgeschlagen hatte; es war unrecht von ihm--er wollte es wieder
zuruecknehmen, aber schon erhob sie ihre Augen zu ihm; sie sagte nicht
mit den Lippen "ja"; aber besser haette sie es nicht sagen koennen. Um
sich vor seinem eigenen Gewissen zu entschuldigen, suchte er nach einem
Vorwand und fragte: "Du moechtest jedenfalls jetzt gern irgend etwas
Bestimmtes ergreifen ... etwas, wozu Du"--er beugte sich zu ihr
herueber--"den Beruf in Dir fuehlst?" "Nein!" erwiderte sie so rasch, dass
er erroetete und, abgekuehlt, in die eigenen, jahrelangen Gruebeleien
zuruecksank, die ihre unerwartete Antwort wieder wachgerufen hatte.
Dass etwas Eigenartiges sich in ihr regte, daran hatte er nie gezweifelt,
seit er sie als Kind singend an der Spitze der Strassenjugend des
Staedtchens hatte marschieren sehen. Aber je laenger er sie unterrichtet
hatte, desto weniger vermochte er aus ihrer Begabung klug zu werden.
Vorhanden war sie in jeder Bewegung; alles, was sie dachte, was sie
wuenschte, verkuendeten Geist und Koerper zu gleicher Zeit, aus einer
Fuelle von Kraft heraus, umzittert von einen Glanz der Schoenheit. Aber
in Worte gefasst oder gar zu Papier gebracht, waren es einfach lauter
Kindereien. Sie sah aus wie die verkoerperte Phantasie--er freilich
empfand es vor allem als Unruhe. Sie war sehr fleissig; aber ihr Fleiss
hatte weniger den Zweck, etwas zu lernen, als weiterzukommen; was auf
der _naechsten_ Seite stand, beschaeftigte sie immer am meisten. Sie
hatte Sinn fuer Religion, doch, wie der Propst sich ausdrueckte,
"keine Anlage zu einem religioesen Leben"; und Oedegaard machte sich
oft schwere Sorgen um sie. Jetzt stand er an einem Wendepunkt;
unwillkuerlich fuehlte er sich im Geist zurueckversetzt vor die
steinerne Treppe, wo er sie in sein Leben aufgenommen hatte; er hoerte
die scharfe Stimme der Mutter, die ihm die Verantwortung aufbuerdete,
weil er den Namen des Herrn genannt hatte.
Nachdem er mehrmals im Zimmer auf und ab gegangen war, raffte er sich
zusammen. "Ich mache jetzt eine Reise ins Ausland", sagte er mit einer
gewissen Scheu. "Ich habe meine Schwestern gebeten, sich inzwischen
Deiner anzunehmen, und wenn ich wiederkomme, wollen wir weiter sehen.
Leb' wohl... Wir sehen uns wohl noch, bis ich reise!" Damit ging er ins
Nebenzimmer, so rasch, dass sie ihm nicht einmal mehr die Hand geben
konnte.
Sie sah ihn wieder, wo sie es am wenigsten erwartet hatte--im Pfarrstuhl
neben dem Chor, ihr gerade gegenueber, als sie in der Schar der Maedchen
vor dem Altar stand, um eingesegnet zu werden. Das regte sie so auf, dass
ihre Gedanken lange von der heiligen Handlung, auf die sie sich in Demut
und Gebet vorbereitet hatte, abgelenkt wurden. Ja, sogar Oedegaards alter
Vater stutzte und blickte lange auf den Sohn, als er vor den Altar
trat, um zu beginnen. Gleich darauf sollte Petra noch einen zweiten
Schrecken erleben in der Kirche; denn etwas weiter hinten sass Pedro
Ohlsen in einem neuen, steifen Anzug. Er reckte gerade den Hals, um ueber
die Koepfe der Jungens hinweg zu der Maedchenschar, zu ihr herueberzusehen!
Er tauchte sogleich wieder unter; aber immer wieder sah sie seinen duenn
behaarten Kopf sich emporstrecken, um gleich darauf wieder
unterzutauchen. Das zog ihre Gedanken ab; sie wollte nicht hinsehen, und
sah doch hin, und da--gerade als alle die andern tief ergriffen waren,
manche in Traenen aufgeloest--sah Petra zu ihrem Entsetzen, wie Pedro sich
erhob, starr, mit offenem Mund und stieren Augen, versteinert, unfaehig,
sich wieder zu setzen oder sich zu ruehren; denn ihm gegenueber stand
Gunlaug, hoch aufgerichtet, in ihrer vollen Groesse. Ein Schauder
durchrann Petra beim Anblick der Mutter; denn sie war so weiss wie das
Altartuch. Ihr schwarzes krauses Haar schien sich zu straeuben, waehrend
in ihre Augen ploetzlich eine Kraft der Abwehr kam, als wollten sie
sagen: "Lass sie in Ruh'! Was hast Du mit ihr zu schaffen?" Wirklich sank
er auch unter dem Eindruck dieses Blickes auf der Bank zusammen und eine
Weile darauf schlich er zur Kirche hinaus.
Nun legte sich Petras Unruhe, und je weiter die heilige Handlung
fortschritt, desto maechtiger fuehlte sie sich mitgerissen. Und als sie
ihr Geluebde abgelegt hatte und wieder zuruecktrat und, durch Traenen,
hinueber blickte zu Oedegaard als zu dem Manne, der allen ihren guten
Vorsaetzen am naechsten stand, da gelobte sie in ihrem Herzen, dass sie
seinen Glauben nicht zu schanden machen wolle. Sein treues Auge, das so
leuchtend zu ihr herueberschaute, schien dasselbe zu erbitten; aber als
sie wieder auf ihrem Platz stand und ihn noch einmal mit dem Blick
suchte, war er verschwunden. Bald darauf ging sie heim mit der Mutter,
die unterwegs nur sagte: "Jetzt hab' ich das meinige getan;--nun mag
unser Herrgott das seine tun!"
Als sie dann, allein, miteinander zu Mittag gegessen hatten, sagte sie
wieder, indem sie vom Tisch aufstand: "Dann werden wir jetzt wohl zu ihm
hinuebergehen muessen--zu dem Pfarrerssohn. Wenn ich auch nicht weiss, wozu
das taugen soll, was er treibt,--gut gemeint hat er's jedenfalls. Mach'
Dich fertig, Kind!"
Der Weg zur Kirche, den die beiden so oft miteinander gegangen waren,
fuehrte oben ueber der Stadt herum; auf der Strasse hatten sie sich bis
jetzt noch nie zusammen sehen lassen; die Mutter war seit ihrer Rueckkehr
ueberhaupt kaum in der Stadt gewesen. Heute jedoch bog sie nach der
Strasse zu ab; heute wollte sie die ganze Strasse hinuntergehen, die ganze
Strasse, an der Seite ihrer erwachsenen Tochter!
Am Nachmittag des Einsegnungstages ist so eine kleine Stadt auf der
Wanderung, entweder von Haus zu Haus, zum Gratulieren, oder Strassen auf
und ab, um zu gucken und sich begucken zu lassen. Auf Schritt und Tritt
bleibt man stehen und gruesst, tauscht Haendedruecke aus und sagt einander
ein paar freundliche Worte. Die Kinder der Armen praesentieren sich in
den abgelegten Kleidern der Reichen und werden vorgefuehrt, um sich zu
bedanken. Die Seeleute in fremdlaendischem Staat, die Muetze schief auf
dem Ohr, die Stutzer des Staedtchens, die Handlungsgehilfen, zogen, nach
allen Seiten gruessend, in Scharen vorueber; die halbwuechsigen
Lateinschueler, jeder seinen Busenfreund am Arm, schlenderten voll
altkluger Kritik hinterdrein; aber alle fuehlten sie sich heute im
stillen ausgestochen von dem Loewen der Stadt, dem reichsten Mann der
Stadt, dem jungen Kaufherrn Yngve Vold, der soeben aus Spanien
heimgekehrt war, fix und fertig, von morgen ab das grosse Fischgeschaeft
seiner Mutter zu uebernehmen. Mit seinem hellen Hut auf dem hellen Haar,
glaenzte er in allen Gassen, so dass die jungen Konfirmanden fast in
Vergessenheit gerieten; alle hiessen ihn willkommen, mit allen unterhielt
er sich, allen lachte er zu--an allen Ecken und Enden sah man den hellen
Hut auf dem hellen Haar und hoerte das helle Lachen. Als Petra und ihre
Mutter die Strasse herabkamen, war er der erste, auf den sie stiessen; und
wie wenn sie tatsaechlich "auf ihn gestossen" haetten, so fuhr er zurueck,
als er Petra sah. Er erkannte sie nicht wieder.
Sie war gross, nicht so gross wie die Mutter, aber doch groesser als die
meisten andern Maedchen--anmutig, fein und keck, die Mutter und doch auch
wieder nicht die Mutter, in staendigem Farbenspiel. Selbst der junge
Kaufmann, der ihnen folgte, vermochte die Blicke der Voruebergehenden
nicht mehr auf sich zu ziehen; die beiden, Mutter und Tochter zusammen,
waren doch noch ein fremdartigerer Anblick. Sie gingen rasch, ohne zu
gruessen, da sie selbst kaum von andern als von Seeleuten gegruesst wurden.
Aber noch eiliger kamen sie die Strasse wieder zurueck; denn sie hatten
gehoert, Oedegaard habe soeben das Haus verlassen und sei zum Dampfer
hinuntergegangen, der in wenigen Minuten abgehen sollte. Besonders Petra
draengte mehr und mehr; sie musste--musste ihn noch einmal sehen, musste
ihm danken, eh er aufbrach. Unrecht war es von ihm, so von ihr zu gehen!
Sie sah niemand von all denen, die sie ansahen--sie sah nichts als den
Dampferrauch ueber den Daechern,--ihr war, als entferne der Rauch sich.
Als sie zur Landungsbruecke kamen, stiess der Dampfer gerade vom Lande ab,
und--die Kehle zugeschnuert von Traenen--eilte sie weiter, hinaus in die
Allee; sie sprang mehr als dass sie ging, und die Mutter stapfte hinter
ihr her. Da der Dampfer Zeit gebraucht hatte, um im Hafen zu wenden, kam
sie noch eben zurecht, um hinunter zu springen auf den Strand, auf einen
Stein zu klettern und mit dem Taschentuch zu winken. Die Mutter blieb
oben in der Allee stehen. Petra winkte--immer hoeher und hoeher schwenkte
sie ihr Tuch; aber--keiner winkte zurueck.
Da konnte sie sich nicht mehr halten; vor lauter Traenen musste sie
den oberen Weg nach Hause gehen. Die Mutter folgte stumm.--Ihr
Giebelstuebchen, das die Mutter ihr geschenkt hatte, in dem sie
diese Nacht zum erstenmal geschlafen und heut morgen so voller
Freude ihr neues Kleid angezogen hatte, betrat sie jetzt, am Abend,
aufgeloest in Traenen, ohne einen Blick um sich zu werfen. Hinunter
wollte sie nicht--da sassen Matrosen und andere Gaeste; sie zog ihr
Konfirmationskleid aus und sass auf ihrem Bett bis tief in die Nacht
hinein. Erwachsensein--das schien ihr das Unglueckseligste auf der ganzen
Welt!
Viertes Kapitel
Eines schoenen Tages, bald nach der Konfirmation, ging Petra zu Oedegaards
Schwestern hinueber; aber sie merkte gleich, dass das ein Fehlgriff von
ihm gewesen war. Der Propst tat, als sei sie Luft, und die Toechter,
beide aelter als Oedegaard, waren mehr als steif. Sie begnuegten sich
damit, ihr kurz und knapp mitzuteilen, was der Bruder ueber sie bestimmt
habe. Sie solle den ganzen Vormittag in einem Haus ausserhalb der Stadt
die Haushaltung erlernen, und nachmittags in die Naehschule gehen;
schlafen, fruehstuecken und Abendbrot essen solle sie zu Hause. Sie tat,
wie ihr befohlen war, und schickte sich ganz gut darein, solang ihr die
Sache neu war, aber nach und nach, und besonders als es Sommer wurde,
fing das Ding sie zu langweilen an. Sonst um diese Zeit hatte sie ganze
Tage lang droben im Walde gesessen und in ihren Buechern gelesen, den
Buechern, die sie jetzt schmerzlich vermisste, wie sie Oedegaard selbst und
den Verkehr mit ihm vermisste. Die Folge war, dass sie sich ihren Verkehr
suchte, wo sie ihn eben fand. Um diese Zeit naemlich trat in die
Naehschule ein junges Maedchen ein, das Lise Let hiess; das heisst Lise
hiess sie--aber nicht Let; Let hiess ein junger Seekadett, der in den
Weihnachtsferien zu Hause gewesen war und sich beim Schlittschuhlaufen
mit ihr verlobt hatte, als sie noch ein Schulmaedel war. Lise wollte Gift
drauf nehmen, dass das nicht wahr sei, und fing zu weinen an, sobald man
ueberhaupt darauf anspielte; aber trotzdem blieb der Name an ihr haengen:
Lise Let. Die kleine zierliche Lise Let weinte oft und lachte oft; doch
ob sie weinte oder lachte--immer ging ihr Liebe im Kopf herum. Ein
Bienenschwarm von Gedanken, neuen, seltsamen Gedanken, fuellte bald die
Naehschule. Streckte eine Hand sich nach der Zwirnrolle aus--gleich war
es ein Heiratsantrag und die Rolle sagte entweder ja oder gab einen
Korb; die Nadel verlobte sich mit dem Faden, und der Faden opferte sich,
Stich um Stich, fuer die Grausame; wer sich stach, vergoss sein Herzblut;
wer die Nadel wechselte, war treulos. Fluesterten zwei Maedchen
miteinander, so hatten sie sich immer etwas ganz Besonderes zu sagen;
bald fluesterten noch zwei und noch zwei; jede hatte ihre
Vertraute,--tausend Heimlichkeiten schwebten in der Luft; es war nicht
auszuhalten.
Eines Nachmittags in der Daemmerung, in einem ganz feinen
Regen,--Rieselregen nennt man ihn--war Petra mit einem grossen
Umschlagtuch ueberm Kopf vor der Tuer ihres Hauses und lugte in den Flur
hinein, wo ein junger Matrose stand und einen Walzer pfiff.
"Du--Gunnar--wollen wir einen Spaziergang machen?"--"Es regnet
doch!"--"Bah, das bisschen Regen!"--Sie gingen bis zu einem kleinen Haus
oben am Berge. "Kauf' mir ein paar Kuchen--von denen mit Schlagsahne
drauf--ja?"--"Immer willst Du auch Kuchen!"--"Mit Schlagsahne
drauf!"--Er ging und holte ihr ein paar. Sie streckte die eine Hand
unter dem Tuch hervor, nahm die Kuchen und ging schmausend weiter. Als
sie hoch oben ueber der Stadt standen, bot sie ihm ein Stueck Kuchen an
und sagte: "Du, Gunnar, wir zwei haben uns doch immer so gern leiden
moegen; immer hab' ich Dich am liebsten moegen von all den Jungens.
Glaubst es nicht? Doch, ganz sicher, Gunnar! Und jetzt bist Du zweiter
Steuermann und fuehrst vielleicht schon bald ein eigenes Schiff. Ich
finde, Du muesstest Dich jetzt verloben... Nanu? Magst Du keinen
Kuchen?"--"Danke! Ich kaue lieber Tabak."--"Also--was sagst Du
dazu?"--"Oh, das hat keine Eile!"--"Keine Eile? Uebermorgen gehst Du doch
wieder fort!"--"Na ja ... ich komm' doch wieder!"--"Aber ob ich dann
Zeit hab', ist ziemlich zweifelhaft; wer weiss, wo ich dann bin!"--"Also
mit Dir soll ich mich verloben?"--"Aber natuerlich, Gunnar. Mit wem denn
sonst? Du bist wirklich zu dumm, darum bist Du auch nichts als ein
Matrose!"--"Tut mir gar nicht leid! Matrose sein, das ist
famos!"--"Freilich--Deine Mutter hat ja ein Schiff. Na, was sagst Du
also? Schrecklich, wie schwerfaellig Du bist!"--"Was soll ich denn
sagen?"--"Was Du sagen sollst? Hahaha!... Willst mich am Ende gar nicht?
Was?"--"Ach, Petra! das weisst Du ja nur zu gut! Aber ich glaube--man
kann sich nicht auf Dich verlassen!"--"Doch, doch, Gunnar! Ich bin Dir
ganz, ganz gewiss treu!"--Er blieb einen Augenblick stehen: "Lass Dich mal
ansehen, Petra!"--"Warum?"--"Ich will sehen, ob Du es auch wirklich
meinst."--"Denkst Du etwa, ich mache Unsinn?" Sie schlug erzuernt ihr
Tuch zurueck.--"Ja, Petra--wenn es also ganz im vollen Ernst gelten soll,
dann gib mir einen Kuss drauf. Da weiss man doch, was man hat."--"Bist Du
verrueckt?" sie schlug das Tuch wieder zusammen und ging weiter.--"So
warte doch, Petra! Das verstehst Du nur nicht. Wenn wir wirklich
Liebesleute sind--"--"Ach, Bloedsinn!"--"Na, hoer' mal, da muss _ich_ doch
wohl wissen, was der Brauch ist, scheint mir; denn was Lebenserfahrung
anbelangt--da bin ich Dir zwanzigmal ueber. Wenn Du bloss bedenkst, was
ich alles gesehen habe--"--"Bah, Du hast gesehen wie ein Schafskopf
sieht, und schwatzt, wie Du gesehen hast!"--"So? Und was verstehst denn
Du unter Liebesleuten, wenn man fragen darf? Was? Bergauf und bergab
hintereinander herrennen, darin besteht's doch wahrhaftig
nicht!"--"Nein, das stimmt!" lachte sie und blieb stehen. "Also hoer' mal
zu, Du! Waehrend wir uns ein bisschen verschnaufen--puh!--will ich Dir
sagen, wie Liebesleute sich benehmen. Solang Du hier bist in der Stadt,
musst Du jeden Abend vor der Naehschule auf mich warten und mich
heimbegleiten bis zur Haustuer, und wenn ich sonst irgendwo bin, musst Du
auf der Strasse warten, bis ich komme. Wenn Du wieder fort bist, musst Du
mir schreiben und mir huebsche Sachen kaufen und schicken. Und--ja,
richtig: ein paar Ringe, der eine mit meinem und der andere mit Deinem
Namen und mit Jahreszahl und Datum muessen wir uns schenken; aber ich
habe kein Geld, also musst Du sie alle beide kaufen."--"Das will ich
schon, aber--"--"Was gibt's denn nun wieder fuer ein Aber?"--"Herrgott,
ich meine ja nur--dazu muss ich doch das Mass von Deinen Fingern
haben."--"Schoen! Das sollst Du gleich haben." Sie riss einen Grashalm ab,
mass und biss ab. "Da! wirf ihn aber nicht weg!"--Er legte den Halm in ein
Stueckchen Papier und das Papier in sein Notizbuch; sie sah zu, bis das
Buch wieder sicher eingesteckt war.--"So, jetzt wollen wir gehen; das
Herumgestehe hier hab' ich satt!"--"Hoer' mal, Petra, ich finde wirklich,
die Geschichte ist ein bisschen--duerftig!"--"Gut, wenn Du nicht willst,
mein Junge, mir soll's egal sein!"--"Natuerlich will ich! So hab' ich's
nicht gemeint;--aber darf ich denn nicht einmal wenigstens Deine Hand
nehmen?"--"Wozu denn?"--"Damit es gewiss ist, dass wir nun wirklich
verlobt sind."--"Solch ein Bloedsinn! Ist es denn darum gewisser, wenn
man einander bei der Hand fasst?--Uebrigens--Du kannst meine Hand schon
haben! Da ist sie! Nein, mein Junge--nicht druecken--das bitt' ich mir
aus!"--Sie versteckte ihre Hand wieder unter dem Tuch; aber dann hob sie
ploetzlich das Tuch mit beiden Haenden, so dass das Gesicht ganz zum
Vorschein kam: "Wenn Du's einer Menschenseele erzaehlst, Gunnar, so sag'
ich, es ist nicht wahr! Dass Du's nur weisst!" Und sie lachte und lief den
Berg hinunter. Nach einer Weile blieb sie stehen und sagte: "Morgen ist
die Naehstunde erst um neun Uhr aus. Dann kannst Du mich hinterm Garten
erwarten, hoerst Du?"--"Schoen."--"So, und jetzt musst Du gehen."--"Willst
Du mir nicht einmal zum Abschied die Hand geben?"--"Ich weiss gar nicht,
was Du nur immer mit der dummen Hand willst! Nein, jetzt kriegst Du sie
erst recht nicht.--Adieu!" und sie lief davon.
Am naechsten Abend wusste sie es so einzurichten, dass sie als die letzte
die Schule verliess. Es war fast zehn Uhr, als sie ging; wie sie jedoch
vor den Garten kam,----kein Gunnar! Auf alles moegliche Pech hatte sie
sich gefasst gemacht; nur nicht darauf. Sie war so beleidigt, dass sie
jetzt selber wartete, bloss damit sie's ihm ordentlich "geben" konnte,
wenn er endlich kam. Uebrigens hatte sie Unterhaltung genug, waehrend sie
hinter dem Garten auf und ab spazierte. Der kaufmaennische Gesangverein
hatte naemlich soeben in einem benachbarten Haus bei offenen Fenstern
seine Probe begonnen. Die Klaenge eines spanischen Liedes lockten in der
milden Abendluft ihre Gedanken so lange, bis sie selbst in Spanien war
und von offenem Altan herab ihr Lob singen hoerte. Spanien war ihre ganze
Sehnsucht; Sommer fuer Sommer lagen im Hafen die dunklen spanischen
Schiffe, klangen auf den Gassen spanische Lieder, und in Oedegaards
Zimmer hingen an der Wand viele schoene Bilder von Spanien. Wer
weiss--vielleicht war er jetzt gerade dort, und sie war bei ihm! Aber sie
wurde sehr ploetzlich wieder heimgerufen; denn dort hinter dem Apfelbaum
kam endlich Gunnar hervorgestuerzt; sie eilte auf ihn zu--und da war es
gar nicht Gunnar, sondern der von Spanien zurueckgekehrte helle Hut auf
dem hellen Haar. "Hahaha!" lachte das helle Lachen. "Sie haben mich wohl
fuer jemand anders gehalten?" Sie leugnete hastig, voll Eifer, und rannte
wuetend davon. Aber er lief ihr nach, wobei er waehrend des Laufens
unausgesetzt auf sie einredete, und zwar ungemein schnell und mit der
halb verwischten Aussprache, wie sie Leuten, die gewoehnt sind, mehrere
Sprachen zu sprechen, eigen ist. "Oh, ich komme schon mit! Ich bin ein
ausgezeichneter Laeufer! Es hilft Ihnen gar nichts,--ich _muss_ mit Ihnen
reden. Heut ist's der achte Abend, dass ich hier auf Sie warte!"--"Der
achte Abend!"--"Ja, der achte Abend... Hahaha!... Und ich wuerde mit
Freuden noch acht Abende hier warten: denn wir beide sind wie fuer
einander geschaffen, nicht wahr? Es hilft Ihnen nichts. Ich lasse Sie
nicht fort, denn jetzt sind Sie muede, das sehe ich!"--"Nein, ich bin
nicht muede!"--"O doch!"--"Nein!"--"Doch!"-- ... "So sagen Sie doch was,
wenn Sie nicht muede sind!"--"Hahaha!"--"Hahaha! Das nenn' ich nicht:
etwas sagen!"--Und dann blieben sie stehen. Ein paar rasche Worte flogen
hin und her--halb im Scherz, halb im Ernst; darauf stimmte er ein
Loblied auf Spanien an, ein Bild jagte das andere. Zuletzt schimpfte er
auf das elende Nest hier. Dem ersten folgte Petra mit leuchtenden Augen,
das zweite sauste an ihren Ohren vorueber, waehrend ihre Blicke an einer
goldenen Kette auf- und abglitten, die er doppelt um den Hals
geschlungen trug. "Ja, die," sagte er rasch und zog das Ende der Kette,
an dem ein Kreuz befestigt war, hervor. "Sehen Sie, die hab' ich heut
Abend umgetan, um sie im Gesangverein zu zeigen; die ist aus Spanien.
Ich muss Ihnen ihre Geschichte erzaehlen." Und er erzaehlte: "Als ich in
Suedspanien war, besuchte ich einmal ein Schuetzenfest und gewann die
Kette als Preis. Ueberreicht wurde sie mir mit folgenden Worten: Nehmen
Sie diese Kette mit nach Norwegen und uebergeben Sie sie als ehrerbietige
Huldigung spanischer Kavaliere der schoensten Frau ihrer Heimat!
Beifallsrufe und Fanfaren, Fahnen schwenken--, die Kavaliere klatschen
und ich empfange den Preis!"--"Gott, wie entzueckend!" rief Petra. Vor
ihren Augen erstrahlte sofort das spanische Fest mit seinen spanischen
Farben und Liedern; braun standen die Spanier in der Abendsonne unter
den Weinlauben und sandten ihre Gedanken aus zur schoensten Frau der
Schneelande. Trotz seiner Einbildung und wunderlichen Wichtigtuerei war
er ein gutmuetiger junger Kerl; er blieb neben ihr stehen und fuhr fort,
zu erzaehlen. Jedes neue Bild steigerte ihre Sehnsucht; ganz entrueckt in
jenes Land der Wunder, begann sie, das spanische Lied zu summen, das sie
vorhin gehoert hatte, und ganz allmaehlich die Fuesse im Takt dazu zu
bewegen. "Wie! Sie koennen spanische Taenze tanzen?" rief er aus. "Ja!"
summte sie im Rhythmus des Tanzes und knipste mit den Fingern, um die
Kastagnetten nachzuahmen; so hatte sie die spanischen Matrosen tanzen
sehen. "Ihnen gebuehrt der Preis der spanischen Kavaliere!" rief er, wie
von einem lichten Gedanken entflammt. "Sie sind das schoenste Weib, das
ich je gesehen habe!" Und eh sie noch begriff, was er meinte, hatte er
die goldene Kette vom Hals genommen und sie leichthaendig mehrere Male um
den ihren gewunden. Als sie dann zur Besinnung kam, war ihr Gesicht von
tiefer Schamroete uebergossen und die Traenen wollten hervorstuerzen, so
dass jetzt ihn, der von einem Staunen ins andere gefallen war, die
groesste Beschaemung ergriff ueber das, was er getan hatte. Er wusste
nicht, was er eigentlich wollte, er fuehlte nur, dass er gehen musste,
und er ging.
Noch um Mitternacht stand sie am offenen Fenster ihres Dachstuebchens,
die Kette in der Hand. Weich lag die Spaetsommernacht ueber Stadt und
Fjord und den fernen Bergen. Von der Strasse herauf toente wieder das
spanische Lied; der Verein hatte Yngve Vold nach Hause begleitet. Wort
fuer Wort war zu hoeren; es handelte von einem schoenen Kranz. Nur zwei
Stimmen sangen die Worte, die andern summten mit dem Mund die
Guitarrebegleitung dazu:
Nimm hin den Kranz, er ist fuer dich,
Nimm hin den Kranz und denk an mich!
Hier ist das innigste
Gruen fuer die Minnigste,
Knospe, die zaerteste,
Fuer die Begehrteste,
Bluete, die praechtigste,
Hier fuer die Maechtigste,
Seltene Stengelein
Hier fuer das Engelein.
Nimm hin den Kranz, er ist fuer dich,
Nimm hin den Kranz und denk an mich!
Als sie am andern Morgen die Augen aufschlug, kam sie aus einem ueber und
ueber von Sonne durchleuchteten Wald, alle Baeume waren ein Goldregen, und
ueberall hingen die langen, lichten Dolden herab, und beruehrten sie fast,
wenn sie vorueberstrich. Sofort fiel ihr die Kette ein; sie nahm die
Kette und hing sie sich uebers Hemd. Dann legte sie ein schwarzes Tuch
ueber das Hemd und die Kette darueber; denn von Schwarz hob sie sich
besser ab. Aufrecht im Bett sitzend, spiegelte sie sich in einem kleinen
Handspiegel: ob sie wirklich so schoen war? Sie stand auf, um ihr Haar zu
flechten und dann wieder in den Spiegel zu sehen, aber da fiel ihr die
Mutter ein, die von allem noch nichts wusste, und sie beeilte sich,
fertig zu werden; sie musste doch schnell hinunter und erzaehlen. Doch als
sie fertig war und sich eben die Kette um den Hals haengen wollte, fuhr
ihr der Gedanke durch den Kopf, was wohl die Mutter sagen wuerde, was
ueberhaupt die Leute sagen wuerden, und was sie antworten solle, wenn man
sie frage, woher sie die kostbare Kette habe. Die Frage war das
natuerlichste Ding von der Welt, und sie fiel ihr darum schwer und immer
schwerer aufs Herz, schliesslich holte sie eine kleine Schachtel hervor,
legte die Kette hinein, steckte die Schachtel in die Tasche--und fuehlte
sich zum erstenmal in ihrem Leben arm.
An diesem Vormittag ging sie nicht in die Naehstunde. Oberhalb der Stadt,
an der Stelle, wo sie die Kette bekommen hatte, setzte sie sich hin, die
Kette in der Hand und mit einem Gefuehl, als habe sie die Kette
gestohlen.
Am Abend wartete sie hinterm Garten noch laenger auf Yngve Vold, als sie
am Abend vorher auf Gunnar gewartet hatte; sie wollte ihm die Kette
zurueckgeben. Aber wie das Schiff, mit dem Gunnar fuhr, am Tage vorher
unerwartet die Anker gelichtet hatte, weil ihm in der Nachbarstadt eine
besonders gute Fracht angeboten war, so hatte auch Yngve Vold, dem das
Schiff gehoerte, in derselben Angelegenheit heute verreisen muessen. Da er
gleichzeitig noch ein paar andere Geschaefte abzuwickeln hatte, blieb er
drei Wochen fort.
Waehrend dieser drei Wochen war die Kette nach und nach aus der Tasche in
die Kommodenschieblade, von dort in einen Briefumschlag und der
Briefumschlag in ein geheimes Fach gewandert. Und Petra selbst war von
einer demuetigenden Entdeckung zur andern gelangt. Zum ersten Male war
sie sich in vollem Umfang des Abstandes bewusst, der sie von den
vornehmen Damen der Stadt trennte. Die haetten die Kette tragen koennen,
ohne dass irgendeiner sie nach dem Warum und Woher gefragt haette. Aber
einer solchen Dame haette Yngve Vold die Kette gar nicht anzubieten
gewagt, ohne ihr zugleich seine Hand anzubieten; so etwas wagte er eben
nur dem Fischermaedel gegenueber. Wenn er ihr etwas schenken wollte, warum
da nicht etwas, das sie gebrauchen konnte? Aber er hatte sie nur um so
bitterer verhoehnen wollen, indem er ihr etwas gab, das sie ueberhaupt
nicht tragen konnte. Die Geschichte mit der "Schoensten" war natuerlich
erdichtet; denn haette er ihr die Kette aus diesem Grunde zuerkannt, so
waere er nicht heimlich, bei Nacht und Nebel, gekommen.--Zorn und Scham
bohrten sich um so tiefer in ihr fest, als sie es sich laengst abgewoehnt
hatte, sich einem Menschen anzuvertrauen. Kein Wunder daher, dass sie
beim erstenmal, als sie den Menschen wieder traf, diesen Menschen, um
den diese empoerten und beschaemenden Gedanken kreisten, so heftig
erroetete, dass er es missdeuten _musste_, und dann--eben _weil_ sie das
fuehlte--noch tiefer erroetete. Sie lief eiligst wieder nach Hause, riss
die Kette aus dem Versteck und setzte sich, obgleich es noch helllichter
Tag war, oben ueber der Stadt hin, um ihn zu erwarten. Jawohl, jetzt
sollte er sie wiederhaben!
Sie war ganz sicher, dass er kommen werde; denn auch er war, als er sie
sah, rot geworden, und dabei war er die ganze Zeit ueber fort gewesen.
Aber bald begannen gerade diese Gedanken zu seinen Gunsten zu reden.
Wenn sie ihm gleichgueltig gewesen waere, waere er nicht so rot geworden.
Wenn er frueher nach Hause gekommen waere, so waere er auch schon eher
dagewesen.
Es begann sachte zu daemmern; in diesen letzten drei Wochen waren die
Tage schnell kuerzer geworden. Mit der Dunkelheit aber wandeln sich oft
unsere Gedanken. Sie sass dicht ueberm Weg, zwischen den Baeumen; sie
konnte sehen, ohne dass man sie sah. Als das eine Weile so fortgegangen
war, und er immer noch nicht kam, wollten widerstreitende Empfindungen
in ihr auflodern; bald zornig, bald angstvoll lauschte sie. Sie hoerte
jeden, der vorueberging, hoerte ihn lang, eh sie ihn sah. Er war es nie.
Jeder Vogel, der im Halbschlummer zwischen den Blaettern hin- und
herschluepfte, erschreckte sie--so voll Spannung lauschte sie. Jeder Laut
von der Stadt her, jeder Ruf lockte sie. Ein grosses Schiff lichtete,
beim Klang eines Matrosenliedes, die Anker; noch zur Nacht sollte es
hinausbugsiert werden, um die erste Morgenbrise zu benuetzen. Oh, wenn
sie haette mit hinaus koennen, aufs weite Meer, wohin ihr Sehnen stand!
Das Matrosenlied wurde ihr eigenes Lied--die klingenden Rucke am Spill
hoben sie empor--wozu? wohin?--Da stand der helle Hut mitten im Weg,
gerade vor ihr! Sie sprang auf und lief ohne weiteres davon, und waehrend
sie lief, fiel ihr ein, sie haette nicht davonlaufen sollen. Fehler auf
Fehler! Sie blieb stehen. Als er zwischen den Baeumen, wo sie stand, auf
sie zukam, atmete sie heftig, so dass er jeden Atemzug hoeren konnte, und
durch dieselbe Macht, die sie das erstemal in ihrer Ausgelassenheit ueber
ihn gehabt hatte, beherrschte sie ihn jetzt in ihrer Furcht. Er sah sehr
verlegen, ja verwirrt aus und fluesterte: "Haben Sie keine Angst!"
Aber er sah, wie sie zitterte. Da wollte er sie zutraulich machen, indem
er sie fest bei der Hand ergriff; aber bei der ersten Beruehrung seiner
Hand sprang sie auf wie von einer Flamme verbrannt,--und wieder war sie
fort, waehrend er stehen blieb.
Weit lief sie nicht; die Luft ging ihr aus. In ihren Schlaefen haemmerte
und brannte es, die Brust wollte ihr zerspringen--sie presste die Haende
dagegen und lauschte. Sie hoerte Tritte im Gras, ein Rascheln im
Laub,--er kam, kam gerade auf sie zu--er sah sie--nein, er sah sie
nicht!--Doch, er sah sie!... Nein, er ging vorueber! Sie hatte keine
Angst,--das war es nicht; aber alles an ihr war in Aufruhr, und als sie
sich in Sicherheit fuehlte, verlor sie mit der Spannung auch ihre Kraft
und sank erschoepft und todesmatt um.
Erst nach geraumer Zeit erhob sie sich wieder und schritt langsam den
Berg hinab, bald stehenbleibend, bald weiter gehend, als habe sie kein
Ziel. Als sie den Weg wieder erreicht hatte, sass er da und wartete
geduldig. Jetzt stand er auf, sie hatte ihn nicht gesehen; sie ging wie
im Nebel, nicht ein Wort entschluepfte ihr, sie regte sich auch nicht;
sie tat bloss die Haende vor die Augen und weinte. Das ueberwaeltigte Yngve
Vold derart, dass seine sonst so ruehrige Zunge stillstand. Und dann sagte
er mit eigentuemlicher Bestimmtheit: "Heut noch spreche ich mit meiner
Mutter; morgen muss alles in Ordnung sein. In ein paar Tagen gehst Du ins
Ausland, und nachher wirst Du meine Frau." Er wartete auf eine Antwort,
er wartete wenigstens, sie werde aufblicken; aber sie blickte nicht auf.
Er deutete das auf seine Weise: "Du antwortest nicht? Kannst nicht? Gut!
Verlass Dich auf mich; denn fortan bist Du mein! Gute Nacht!" Und er
ging.
Sie blieb zurueck, wie in einem Nebel; eine leise Angst wollte sich
dazwischen draengen und den Nebel zerteilen; aber wieder schloss er sich.
So stark Yngve Vold diese drei Wochen hindurch ihre Gedanken beschaeftigt
hatte, so bereit war sie jetzt, in ploetzlicher Wandlung dieses neue
Wunder in eine neue Phantasiekette einzureihen. Er war der reichste
Mann der Stadt, aus der aeltesten Familie, und er wollte sie ueber alle
Ruecksichten hinweg zu sich emporheben! Das war etwas, so ueberraschend
verschieden von dem, was sie sich in einer langen Zeit des Leidens und
der Empoerung gedacht hatte, dass schon allein das sie glueckselig machen
musste! Aber immer strahlender wurde ihr Glueck, je mehr sie sich die
neuen, in jeder Beziehung fabelhaften Verhaeltnisse klar machte. Sie sah
sich allen andern gleichgestellt und am Ziel ihres unklaren Sehnens. Und
als Hoechstes sah sie Yngve Volds groesstes Schiff an ihrem Hochzeitstage
als Flaggschiff im Hafen liegen; sie sah, wie es unter Ehrensalven und
Feuerwerk das junge Paar an Bord nahm und es nach Spanien trug, wo die
Hochzeitssonne gluehte.
* * * * *
Als sie am andern Morgen erwachte, kam das Maedchen herein und sagte, es
sei halb Zwoelf. Petra empfand einen gewaltigen Hunger; sie ass, ass immer
noch mehr, der Kopf tat ihr weh, sie war todmuede und schlief wieder ein.
Als sie gegen drei Uhr nachmittags aufs neue erwachte, fuehlte sie sich
wohler. Die Mutter kam herauf und meinte, sie habe sich wahrscheinlich
eine Krankheit weggeschlafen; so sei auch sie selbst immer gewesen. Aber
jetzt muesse sie aufstehen, es sei Zeit fuer die Naehstunde. Petra setzte
sich im Bett auf und stuetzte den Kopf auf den Arm; ohne aufzublicken,
antwortete sie, sie gehe nicht mehr in die Naehstunde. Sie wird noch ein
bisschen fiebrig sein! dachte die Mutter und ging hinunter, um ein Paket
und einen Brief heraufzuholen, die ein Schiffsjunge soeben gebracht
hatte. Also schon Geschenke! Petra, die sich wieder hingelegt hatte,
fuhr hastig in die Hoehe und oeffnete, sobald sie allein war, mit einer
gewissen Feierlichkeit zuerst das Paket. Es enthielt--ein Paar Pariser
Damenstiefelchen! Ein bisschen enttaeuscht wollte sie die Dinger gerade
wegstellen, als sie merkte, dass sie sich vorn an den Zehen schwer
anfuehlten. Sie fuhr mit der Hand hinein und zog aus dem einen ein
kleines, in Seidenpapier gewickeltes Paeckchen:--ein goldenes
Armband!--aus dem andern ebenfalls ein sorgfaeltig umhuelltes
Paeckchen--ein Paar Pariser Handschuhe! Und aus dem rechten Handschuh zog
sie wiederum ein Papierknaeuel, das zwei glatte goldene Ringe barg.
"Schon!" dachte Petra. Ihr Herz klopfte; sie sah nach der Inschrift der
Ringe und las auch wirklich in dem einen: "Petra", samt Jahreszahl und
Datum, und in dem andern--"Gunnar". Sie erbleichte, warf die Ringe und
das ganze Paket zu Boden, als habe sie sich daran verbrannt, und riss den
Brief auf. Er war aus Calais datiert und lautete:
"Liebe Petra!
Nachdem wir hier angekommen sind, vom 51. bis zum 54. Breitegrad mit
guenstigem Wind, und spaeter die ganze Fahrt ueber bis hierher in den Hafen
mit heftigem Beisswind, was ungewoehnlich ist sogar fuer bessere Schiffe
als das unsere, das ein stolzer Segler ist. Aber jetzt sollst Du hoeren,
dass ich den ganzen Weg ueber an Dich gedacht habe und an das, was
zwischen uns beiden vorgefallen ist, und ist recht aergerlich, dass ich
nicht ordentlich Abschied nehmen konnte von Dir, weshalb ich vor Aerger
an Bord ging, habe Dich aber seitdem nie vergessen, ausser ab und zu
einmal; denn ein Seemann hat es schwer. Aber jetzt sind wir hier und ich
habe meine ganze Heuer fuer Geschenke fuer Dich ausgegeben, wie Du mir
gesagt hast, und auch das Geld, das Mutter mir gegeben hat; jetzt habe
ich also nichts mehr. Aber wenn ich Urlaub bekomme, bin ich ebenso
schnell bei Dir wie die Geschenke; denn so lang es heimlich ist, ist man
nie sicher vor anderen, besonders vor den jungen Burschen, von denen
sich viele rumtreiben. Aber ich will meiner Sache sicher sein, dass
keiner eine Entschuldigung hat, sondern weiss, dass er sich vor mir in
acht nehmen muss. Du koenntest freilich was Besseres kriegen als mich;
denn Du kannst jeden kriegen, den Du willst; aber einen treueren kriegst
Du nie; und das bin ich. Jetzt will ich schliessen, denn ich habe schon
zwei Bogen voll geschrieben, und meine Buchstaben werden so gross;
Briefschreiben ist mir das Schrecklichste, was ich weiss, aber ich
schreibe trotzdem, wenn Du es willst. Und nun will ich Dir zum Schluss
nur sagen, dass es mir Ernst war; denn wenn es nicht Ernst ist, so war es
eine grosse Suende, und kann viele Menschen ins Unglueck stuerzen.
Gunnar Ask,
Untersteuermann auf der Brigg
'Die norwegische Verfassung.'"
Eine heftige Angst packte sie; im Handumdrehen war sie aus dem Bett und
angezogen. Es trieb sie ins Freie, als liesse sich draussen irgendwo Rat
finden; alles war ploetzlich unklar, ungewiss, gefahrdrohend geworden. Je
mehr sie gruebelte, desto mehr verwirrten sich ihre Gedanken; irgend
jemand musste sie entwirren, sonst wurde sie nicht damit fertig. Aber wem
sollte sie sich anvertrauen? Da gab es nur einen Menschen--die Mutter.
Als sie nach langem inneren Kampf vor ihr in der Kueche stand, angstvoll,
dem Weinen nah, aber fest in ihrem Entschluss, volles Vertrauen zu
zeigen, um volle Hilfe zu empfangen, sagte die Mutter, ohne sich
umzudrehen und daher auch ohne Petras Gesichtsausdruck zu bemerken:
"Eben ist er hier gewesen;--er ist wieder da."--"Wer?"--fluesterte Petra
und griff nach einer Stuetze; war Gunnar wirklich schon wieder da, so war
es mit aller Hoffnung vorbei. Sie kannte Gunnar; er war schwerfaellig und
gutmuetig; wenn er aber einmal in Wut geriet, war er wie rasend. "Du
sollst gleich hinkommen, hat er gesagt."--"Hinkommen?" wiederholte Petra
zitternd; sie dachte sich sofort, dass er seiner Mutter alles gesagt
habe; und was sollte nun werden?--"Ja, ins Pfarrhaus!" sagte die
Mutter.--"Ins Pfarrhaus? Oedegaard ist wieder da?"--Jetzt drehte sich die
Mutter um. "Freilich--wer denn sonst?"--"Oedegaard!" jubelte Petra, und
ein Sturm der Freude blies in einem Nu die Luft rein. "Oedegaard ist
wieder da, Oedegaard! O Gott im Himmel, er ist wieder da!" Und schon war
sie zur Tuer hinaus und ueber alle Berge. Sie stuermte davon, sie lachte,
sie schrie. Er war es, er allein, der ihr not tat! Waere er daheim
gewesen, das ganze Unheil waere nicht geschehen! Bei ihm war sie
geborgen. Beim blossen Gedanken an seine edlen, klaren Zuege, seine milde
Stimme, oder auch nur an die stillen, bilderreichen Zimmer, Raeume, die
er bewohnte, kam sie in friedlicheren Takt und fuehlte sich wieder
sicher. Sie liess sich Zeit und sammelte sich. Stadt und Land erstrahlten
im sinkenden Herbstabend; zumal der Fjord lag in wunderbarem Glanz;
draussen im Sund wirbelte der letzte ferne Rauch des Dampfers, der
Oedegaard gebracht hatte. Ach, nur die Gewissheit, dass er wieder da sei,
machte sie gut, gesund, stark! Sie betete zu Gott, ihr zu helfen, dass
Oedegaard sie nie mehr verlassen moege! Und gerade als sie sich in dieser
Hoffnung gehoben fuehlte, sieht sie ihn laechelnd auf sich zukommen. Er
hatte gewusst, welchen Weg sie kommen wuerde, und war ihr
entgegengegangen! Das ruehrte sie; sie sprang auf ihn zu, fasste seine
beiden Haende und kuesste sie. Er wurde verlegen. Als er weiter hinten
jemand schreiten sah, zog er sie vom Weg hinauf unter die Baeume. Er
hielt ihre Haende zwischen den seinen, und sie sagte nur immerzu: "Wie
herrlich, dass Sie wieder da sind! Ich kann's gar nicht glauben, dass
Sie's wirklich sind! Oh, Sie duerfen nie, nie wieder fort! Verlassen Sie
mich nicht wieder, ach bitte, verlassen Sie mich nicht!" Dabei stuerzten
ihr die Traenen aus den Augen. Er zog sanft ihren Kopf an sich, wie um
ihre Traenen zu verdecken und sie zu beruhigen; ihm selber war es eine
Notwendigkeit, dass sie ruhiger wurde. Sie aber schmiegte sich an ihn wie
der Vogel unter den Fluegel, der sich ueber ihn breitet, und wollte gar
nicht wieder heraus. Ueberwaeltigt von diesem Vertrauen, legte er den Arm
um sie, wie um ihr den Schutz, den sie suchte, zu gewaehren; kaum jedoch
fuehlte sie das, so hob sie ihr verweintes Gesicht zu ihm empor, ihre
Augen begegneten den seinen, und was in einem Blick wechseln kann, wenn
Reue begegnet der Liebe, Dankbarkeit begegnet der Freude des Gebers und
das Ja dem Ja,--das blitzte in rascher Reihenfolge auf. Er nahm ihren
Kopf zwischen seine beiden Haende und drueckte seine Lippen auf die ihren.
Er hatte frueh seine Mutter verloren; er kuesste zum erstenmal in seinem
Leben, und auch bei ihr war es so. Keins vermochte sich vom andern zu
loesen, und als es dennoch geschah, war es nur, um wieder einander
entgegenzusinken. Er bebte, sie aber strahlte und gluehte, sie warf die
Arme um seinen Hals und hing sich an ihn wie ein Kind. Und als sie sich
setzten, und sie seine Haende, sein Haar, seine Brustnadel, sein
Halstuch, alles was sie sonst nur ehrfurchtsvoll aus der Ferne
betrachtet hatte, anruehren durfte, und als er sie bat, "Du" zu sagen und
nicht "Sie", und sie das nicht konnte, und als er ihr erzaehlen wollte,
wie reich sie sein armes Leben vom ersten Augenblick an gemacht habe,
wie lange er dagegen angekaempft habe, um sie nicht zu hemmen, um sich
nicht auf diese Weise bezahlt zu machen, und als er entdeckte, dass sie
nicht imstande sei, auch nur ein Wort von dem, was er sagte, zu fassen
oder zu begreifen, und er selbst auch keinen Sinn und Verstand mehr
darin fand; als sie dann auf der Stelle mit ihm gehen wollte, und er sie
lachend bitten musste, noch ein paar Tage zu warten, dann wollten sie
zusammen weit fort ziehen, weg von allem hier--da fuehlten sie, wie sie
so zwischen den Baeumen sassen, vor sich Fjord und Berg im
Abendsonnenglanz, waehrend fern ein Waldhorn sang und klang--da fuehlten
sie, da sprachen sie es aus: das ist das Glueck.
Der ersten Begegnung Suessigkeit,
Sie ist wie ein Sang auf den Fluten,
Sie ist wie ein Sang auf gruener Heid',
Wie der Sonne letztes Gluten,--
Sie sind wie ein Waldhorn auf oeder Flur,
Die toenenden Augenblicke,
In denen ein Wunder die Natur
Verschmelzt mit unserm Geschicke.
Fuenftes Kapitel
Am naechsten Morgen sass Petra halb angekleidet in ihrem Stuebchen; weiter
kam sie den ganzen Tag ueber nicht. So oft sie auch den Versuch machte,
immer wieder sanken ihr die Arme in den Schoss. Wie vollreife Aehren, wie
schwere Glockenblumen auf dem Feld beugten sich ihre Gedanken. Stille,
Sicherheit und wogende Luftgebilde schwebten ueber den lichten
Schloessern, in denen sie hauste. Wieder durchlebte sie die gestrige
Begegnung, jedes Wort, jeden Blick, jeden Haendedruck, jeden Kuss. Sie
wollte sich den ganzen Verlauf, von der ersten Begegnung bis zum
Abschied, wieder vergegenwaertigen, aber sie kam nie damit zu Ende. Denn
jede einzelne Erinnerung verdaemmerte in blauen Traum, und alle Traeume
kamen mit neuer Verheissung zurueck. Und so suess diese Verheissung auch
war, Petra musste sie zurueckdraengen, um den Faden der Erinnerung da
wieder aufzunehmen, wo er ihr entglitten war; aber kaum hatte sie ihn,
verlor sie sich wieder ins Wunderbare.
Da sie nicht herunterkam, dachte die Mutter, sie habe, nun Oedegaard
zurueckgekehrt war, ihre Studien wieder aufgenommen. Sie schickte ihr das
Essen hinauf, damit sie den ganzen Tag in Ruhe oben bleiben konnte. Erst
gegen Abend stand Petra auf, um sich fertig zu machen. Jetzt ging es
ihrer Liebe entgegen! Sie schmueckte sich mit dem Besten, was sie hatte,
ihrem ganzen Konfirmationsstaat. Glaenzend war er nicht; aber das empfand
sie erst heute; das eine Stueck machte das andere haesslich, bis sie die
passenden Stuecke zusammengefunden hatte; und dann war das Ganze trotzdem
nicht huebsch! Was haette sie heute nicht darum gegeben, die schoenste zu
sein. Mit diesem Wort stieg eine Erinnerung in ihr auf, die sie mit
einer Handbewegung von sich wies; nichts, nichts durfte ihr heute nahen,
was sie beunruhigen konnte! Sie selbst bewegte sich ganz still; leise
ordnete sie dies und jenes in ihrem Stuebchen; denn noch war die Stunde
nicht da. Sie oeffnete das Fenster und sah hinaus; rote, warme Wolken
lagerten auf den Bergen, aber ein kuehlender Luftstrom zog herein und
brachte Botschaft vom nahen Wald. "Ich komme, ich komme!" Noch einmal
trat sie vor den Spiegel, um ihr braeutliches Glueck zu gruessen.
Da hoerte sie drunten bei der Mutter Oedegaards Stimme, hoerte, wie man ihn
nach ihrem Zimmer wies. Er kam, sie zu holen! Eine schamhafte Freude
umgluehte sie; sie sah sich um, ob auch alles in Ordnung sei, fuer ihn!
Dann ging sie auf die Tuer zu.
"Herein!" antwortete sie leise auf das leise Klopfen und trat ein paar
Schritte zurueck.
Am selben Morgen hatte man Oedegaard, als er um den Kaffee klingelte,
gemeldet, der Kaufmann Yngve Vold habe heute frueh schon zweimal nach ihm
gefragt. Dass seine Gedanken sich gerade jetzt mit den Anspruechen eines
Fremden befassen sollten, verstimmte ihn; aber ein Mensch, der ihn so
frueh aufsuchte, musste wohl ein wichtiges Anliegen haben. Er war auch
wirklich kaum angekleidet, als Yngve Vold eintrat. "Sie werden sich wohl
wundern, was? Tu' ich selber. Guten Morgen!" Die beiden begruessten sich,
und er legte seinen hellen Hut hin. "Schlafen Sie aber lang! Zweimal bin
ich schon hier gewesen. Ich habe etwas Wichtiges auf dem Herzen; ich muss
mit Ihnen reden."--"Bitte, nehmen Sie Platz!" Und Oedegaard setzte sich
selbst in einen Lehnstuhl. "Danke, danke! Ich gehe lieber auf und ab.
Ich kann nicht sitzen--bin zu aufgeregt. Seit vorgestern bin ich rein
wie von Sinnen--rein verrueckt, nicht mehr und nicht weniger! Und daran
sind Sie schuld!"--"Ich?"--"Ja, Sie! Sie haben das Maedchen ausgegraben.
Kein Mensch haette an das Maedel gedacht, kein Mensch haette es beachtet,
wenn Sie nicht gewesen waeren. Aber so--in meinem ganzen Leben hab? ich
so was--so was Unvergleichliches nicht gesehen,--nie, so wahr ich hier
stehe--so was--Sie wissen schon! So was verflixt Kraushaariges,
Wunderbares--was? Keine Ruhe hat's mir gelassen! Ich war rein
verhext! Wo ich ging und stand--immer war sie da. Ich bin auf Reisen
gegangen und bin wiedergekommen--es war mir unmoeglich--was? Wusste
erst ueberhaupt nicht, wer sie war--'das Fischermaedel', hiess sie.
Spanierin, Zigeunerin,--Hexe waere richtiger gewesen--! Einfach
Feuer--Augen, Busen, Haar--was? Funkelt, sprueht, tanzt, lacht, traellert,
erroetet--Teufelsweib!... Renne ihr nach, verstehen Sie, oben im Wald
zwischen den Baeumen--stiller Abend--sie steht da, ich steh' da--dann ein
paar Worte, Gesang, Tanz--und da, na ja, da gab ich ihr meine Kette.
Hatte, so wahr ich lebe, eine Minute vorher noch mit keinem Gedanken
daran gedacht! Das naechste Mal wieder an derselben Stelle, wieder
dasselbe Gerenne; sie hatte Angst, und ich,--ja, wollen Sie's
glauben?... ich brachte kein Sterbenswoertchen heraus, traute mich nicht,
sie anzuruehren! Aber als sie dann wiederkam--koennen Sie sich denken,
Mensch?--da macht' ich ihr einen Heiratsantrag! Und eine Sekunde vorher
hatt' ich mit keinem Gedanken daran gedacht! Gestern hab' ich mich dann
selbst geprueft,--wollte von ihr wegbleiben--aber auf Ehr' und Seligkeit,
ich bin verrueckt! Ich _kann_ einfach nicht, ich _muss_ bei ihr sein! Wenn
ich das Maedel nicht krieg', so schiess' ich mir ohne weiteres eine Kugel
vor den Kopf! Sehen Sie, so steht's mit mir. Um meine Mutter scher' ich
mich den Teufel, um die Stadt auch--ein Lumpennest, ein elendes
Kraehwinkel! Sie muss heraus, sehen Sie, heraus, hoch ueber dies
Nest hinaus! _Comme il faut_ soll sie werden, ins Ausland soll
sie--Frankreich--Paris--! Ich bezahl's und Sie arrangieren die Sache.
Ich koennte ja auch selber mit fort, mich irgendwo draussen festsetzen,
weg aus diesem Loch. Aber--der Fisch! Ich moechte was machen aus der
Stadt,--das liegt ja und schlaeft, denkt nicht, spekuliert nicht;
aber--der Fisch! Man versteht den Fisch nicht zu behandeln; Spanien, das
ganze Ausland beklagt sich; die Sache muss anders angefasst werden--andere
Trocknung, andere Verpackung, alles anders,--das Nest soll in
die Hoehe--Zug muss ins Geschaeft kommen--Millionen soll der Fisch
schaffen!--Wo bin ich stehen geblieben? Richtig--Fisch--Fischermaedel--das
passt zusammen: Fisch--Fischermaedel--hahaha! Also ich zahle,--Sie
arrangieren's! Sie wird meine Frau, und dann----"
Weiter kam er nicht. Er hatte waehrend seiner langen Rede gar nicht auf
Oedegaard geachtet, der jetzt totenblass aufsprang und sich mit einem
biegsamen spanischen Rohr in der Hand ueber ihn warf. Das Erstaunen des
andern war nicht zu beschreiben; den ersten Schlaegen wich er aus.
"Nehmen Sie sich in acht! Sie koennten mich treffen!" sagte er.--"Jawohl!
Ich treffe! Sehen Sie: spanisch, spanisches Rohr--das passt auch
zusammen!" und die Hiebe regneten auf Schultern, Arme, Haende, das
Gesicht herab, wo sie gerade hintrafen. Der andere schoss umher: "Sind
Sie verrueckt? Mensch, sind Sie toll?" rief er. "Ich will sie ja
heiraten! Hoeren Sie? heiraten!"--"Hinaus!" schrie Oedegaard, als sei er
mit seiner Kraft am Rande. Und der Blondkopf stuerzte zur Tuer hinaus, die
Treppe hinunter, fort von diesem Wahnsinnigen;--gleich darauf stand er
unten auf der Strasse und bruellte hinauf nach seinem hellen Hut. Der
wurde ihm durchs Fenster nachgeworfen. Dann war alles still.
"Herein!" antwortete Petra am Abend auf das leise Klopfen und trat ein
paar Schritte zurueck, um den Geliebten besser sehen zu koennen, waehrend
er eintrat. Wie wenn ein eisiger Wasserstrahl sich ueber sie ergoesse, wie
wenn die Erde unter ihren Fuessen wiche, so wirkte auf sie das Gesicht,
das da in der Tuer erschien. Sie taumelte zurueck und tastete nach dem
Bettpfosten; aber ihr Denken, von Abgrund zu Abgrund gestuerzt, versagte;
in weniger als einer Sekunde war sie von der Hoehe der glueckseligsten
Braut zur Tiefe der groessten Suenderin auf Erden herabgestuerzt. Sie
hoerte es donnern aus diesem Antlitz: in alle Ewigkeit konnte er ihr nicht
vergeben!--
"Ich seh' es--Du bist schuldig!" fluesterte er kaum hoerbar. Er lehnte
sich gegen die Tuer und hielt sich an der Klinke fest, als muesse er sonst
umsinken. Seine Stimme bebte, und die Traenen rannen ihm uebers Gesicht,
obwohl sein Antlitz ganz ruhig war.
"Weisst Du auch, was Du getan hast?" Und seine Augen schmetterten sie zu
Boden. Sie antwortete nicht--nicht einmal mit Traenen, Ohnmacht--voellige,
hoffnungslose Ohnmacht laehmte sie. "Einmal in meinem Leben habe ich
meine Seele hingegeben, und er, dem ich sie gab, starb durch meine
Schuld. Aus diesem Schmerz konnte nichts mich wieder aufrichten als ein
Menschenkind, das mir ganz gehoerte und mir eine ganze Seele zurueckgab.
Das hast Du getan,--und hast es zum Schein getan!" Er hielt inne. Ein
paarmal versuchte er vergebens wieder anzusetzen; dann fuhr er mit
ploetzlichem Ausdruck des Schmerzes fort: "Und Du konntest es uebers Herz
bringen, alles, was ich in diesen langen Jahren, Gedanken fuer Gedanken,
aufgebaut habe, niederzureissen, als sei es ein Bild von Ton! Kind, Kind!
konntest Du nicht verstehen, dass ich in Dir mich selbst wieder
aufrichtete? Jetzt ist es vorbei!" Er versuchte seinen Schmerz zu
beherrschen.
"Nein, Du bist zu jung, um es zu fassen," begann er wieder. "Du weisst
nicht, was Du getan hast.--Aber dass Du mich _betrogen_ hast, das musst
Du doch verstehen.--Sag' mir, was hab' ich Dir getan, dass Du etwas so
Grausames fertig bringen konntest? Kind, Kind! Haettest Du es mir
wenigstens gestern gesagt! Warum--warum hast Du mich so fuerchterlich
belogen?"
Sie hoerte alles, und alles, was er sagte, war Wahrheit.--Er war nach
einem Stuhl am Fenster geschwankt, um seinen Kopf auf den Tisch daneben
stuetzen zu koennen. Dann stand er wieder auf; es schluchzte in ihm vor
Schmerz, und wieder setzte er sich nieder, ganz still. "Und ich, der
nicht einmal dazu gut ist, seinem alten Vater zu helfen!" fluesterte er
vor sich hin. "Ich kann nicht, ich fuehle in mir nicht den Beruf dazu!
Darum soll auch mir niemand helfen. Alles soll mir unter den Haenden
zerbrechen, alles."--Er konnte nicht mehr; sein Haupt sank in seine
rechte Hand; die linke hing schlaff herab; er sah aus, als koenne er sich
ueberhaupt nicht mehr ruehren. Und so blieb er sitzen, ohne ein Wort zu
sagen. Da fuehlte er etwas Warmes auf seiner herabhaengenden Hand.
Erschrocken fuhr er zusammen; es war Petras Atem. Sie lag mit gesenktem
Kopf neben ihm auf den Knien; jetzt faltete sie die Haende und sah mit
einer unbeschreiblichen Gebaerde, die um Barmherzigkeit flehte, zu ihm
empor. Er blickte zu ihr nieder; keins wandte den Blick ab. Da hob er
wie abwehrend die Hand gegen sie, als fuehle er bei diesem Blick in
seinem Innern eine Stimme der Ueberzeugung, der er nicht Gehoer schenken
wollte, und jaeh, heftig bueckte er sich nach seinem Hut, der zu Boden
gefallen war, und eilte zur Tuer. Aber noch schneller vertrat sie ihm den
Weg, warf sich nieder, umklammerte seine Knie und bohrte ihre Augen in
seine--alles ohne einen Laut; aber er sah und fuehlte, sie kaempfe um ihr
Leben. Da wurde die alte Liebe zu maechtig in ihm; noch einmal sah er sie
an mit einem vollen, schmerzlichen Blick, noch einmal umfasste er mit
beiden Haenden ihr Haupt. Aber in seiner Brust schluchzte und sang es wie
in der Orgel nach dem letzten Zug der Register, wenn nur noch Luft, aber
kein Ton mehr in ihr ist. Dann zog er seine Haende zurueck und zwar in
einer Weise, dass sie fuehlen musste, was er dabei dachte: es war fuer
immer. "Nein, nein!--Du kannst Dich hingeben; aber Du kannst nicht
lieben!" Es ueberwaeltigte ihn. "Unglueckliches Kind, Deine Zukunft kann
ich nicht schuetzen! Gott verzeih Dir, dass Du meine vernichtet hast!" Er
ging an ihr vorbei, sie ruehrte sich nicht. Er oeffnete die Tuer und
schloss sie; sie blieb stumm,--sie hoerte ihn die Treppe hinuntergehen,
sie hoerte seine letzten Schritte auf der Haustreppe, auf dem Wege--da
brach der Bann. Sie stiess einen Schrei aus, einen einzigen;--aber darauf
eilte die Mutter herbei.
Als Petra wieder zu sich kam, fand sie sich in ihrem Bett, entkleidet
und wohl verwahrt; und vor ihr sass die Mutter, die Arme auf die Knie
gestemmt, den Kopf in beide Haende gestuetzt und die Glutaugen fest auf
die Tochter gerichtet. "Hast Du jetzt genug bei ihm studiert?" fragte
sie. "Hast Du jetzt was gelernt... Was soll denn nun aus Dir werden,
he?"--Petras Antwort war ein Strom von Traenen. Lange, sehr lange sass die
Mutter da und hoerte das Weinen mit an; dann sagte sie--seltsam
feierlich: "Gott der Herr verdamme ihn!"--Petra fuhr auf. "Mutter,
Mutter! Nicht ihn, nicht ihn! _Mich_, mich--nicht ihn!"--"Oh, ich kenn'
das Pack! Ich weiss schon, wer's verdient!"--"Nein, Mutter! er ist
betrogen--betrogen durch mich--_ich_, _ich_ hab' _ihn_ betrogen!" Und
hastig und schluchzend erzaehlte sie alles. Keinen Augenblick durfte ein
Verdacht auf ihm ruhen! Sie erzaehlte von Gunnar, was sie von ihm
verlangt hatte, ohne es zu verstehen, von Yngve Volds Unglueckskette, in
der sie sich verfangen hatte, zuletzt von Oedegaard, und wie sie bei
seinem Anblick alles andere vergessen hatte. Sie begriff auch jetzt noch
nicht, wie es zugegangen war; aber dass sie eine ungeheure Suende begangen
habe an allen dreien, und vor allem an ihm, der sie zu sich emporgezogen
und ihr alles gegeben hatte, was ein Mensch dem andern geben kann, das
begriff sie. Nachdem die Mutter lange schweigend dagesessen hatte, sagte
sie: "Und an mir hast Du Dich nicht versuendigt? Wo bin denn ich die
ganze Zeit gewesen, dass Du mir kein Sterbenswort von alledem gesagt
hast?"--"Oh, Mutter, hilf mir! Sei nicht hart gegen mich jetzt! Ich
fuehle ja, dass ich mein ganzes Leben lang dafuer buessen muss; aber ich
will Gott auch bitten, dass er mich bald sterben laesst!--Lieber, lieber
Gott!" fing sie sofort an und hob die gefalteten Haende zum Himmel,
"lieber, lieber Gott, erhoere mich! Ich hab' mein Leben zerstoert; es hat
fuer mich keinen Reiz mehr,--ich bin nicht fuers Leben geschaffen--ich
versteh' das Leben nicht. Lieber Gott, darum lass mich sterben!" Es lag
eine so ergreifende Innigkeit in diesem Gebet, dass Gunlaug die harten
Worte, die ihr schon auf der Zunge lagen, hinunterschluckte. Sie legte
ihre Hand auf den zum Gebet erhobenen Arm des Maedchens und drueckte
ihn hernieder. "Maessige Dich, Kind! Man soll Gott nicht versuchen. Wir
muessen leben, vielleicht gerade weil's uns hart ankommt!"--Dann stand
sie auf, und von Stund an setzte sie ihren Fuss nicht mehr in die
Giebelstube.
Oedegaard war schwer erkrankt, und die Krankheit drohte eine gefaehrliche
Wendung zu nehmen. Waehrend dieser Zeit zog der alte Vater zu seinem Sohn
hinauf und richtete sich sein Studierzimmer unmittelbar neben dem
Krankenzimmer ein. Wer ihn bat, sich zu schonen, erhielt immer dieselbe
Antwort; er koenne nicht; seine Pflicht sei, ueber seinen Sohn zu wachen,
so oft dieser Sohn einen verloren habe, den er mehr geliebt habe als den
Vater.
So standen die Dinge, als Gunnar zurueckkehrte.
Seiner Mutter jagte er einen Todschrecken ein, als sie ihn ploetzlich vor
sich sah, lange eh das Schiff, auf dem er fuhr, angekommen war; sie
glaubte, es sei sein Geist. Und nicht viel anders erging es seinen
Bekannten. Auf alle verwunderten Fragen gab er nur kurzen Bescheid. Bald
jedoch wusste man mehr als genug. Denn noch am selben Tag, an dem er
zurueckgekehrt war, wurde er bei Gunlaug zum Haus hinausgeworfen, und
zwar von ihr eigenhaendig. Von der Treppe aus schrie sie ihm nach, dass es
durch den ganzen Hohlweg droehnte: "Dass Du Dich hier nicht wieder blicken
laesst! Von der Sorte haben wir genug!" Er war noch nicht weit gegangen,
als ein Maedchen mit einem Paket hinter ihm drein gerannt kam. Das
Maedchen hatte noch ein zweites Paket mit und gab ihm das falsche; und so
kam es, dass Gunnar im Paket eine dicke goldene Kette fand. Er blieb
stehen, wog die Kette in der Hand und betrachtete sie. War ihm Gunlaugs
Wut schon vorhin raetselhaft erschienen--dass sie ihm jetzt eine goldene
Kette nachschickte, das war ihm noch unbegreiflicher. Er rief das
Maedchen zurueck; sie muesse sich geirrt haben. Jetzt gab sie ihm das
andere Paket und fragte, ob _das_ vielleicht das richtige sei. Und
wirklich--das Paket enthielt seine Geschenke fuer Petra.----Ja, das sei
das richtige. Aber wem sie denn das andere, das mit der goldenen Kette,
bringen solle? "Dem jungen Herrn Vold!" erwiderte das Maedchen und ging.
Gunnar blieb zurueck und dachte nach. "Der junge Vold? Macht _der_ ihr
Geschenke? Also _der_ hat sie mir gestohlen,--Yngve Vold,--na, dem will
ich--!" Seine Spannung, seine Erbitterung _musste_ sich Luft
machen,--irgend etwas _musste_ er zerschlagen.--Also--Yngve Vold.
Und zum zweitenmal wurde der unglueckselige Fischhaendler hoechst
unerwartet attakiert, und zwar auf seiner eigenen Haustreppe. Er
fluechtete vor dem Wahnwitzigen ins Kontor, aber Gunnar setzte ihm nach.
Saemtliche Kontoristen fielen ueber den Ruhestoerer her; der schlug und
wehrte sich nach allen Seiten. Stuehle, Tische, Pulte wurden ueber den
Haufen geworfen; Briefe, Rechnungen, Zeitungen stoben nur so durch die
Luft. Schliesslich rueckten--von Yngve Volds Warenschuppen
her--Hilfstruppen an, und Gunnar wurde, nach heissem Kampf, auf die
Strasse befoerdert. Aber da ging es erst recht los. Im Hafen lagen gerade
zwei Schiffe--ein auslaendisches und ein einheimisches. Es war gerade
Mittagspause, und die Matrosen nahmen diesen Jux nur zu gern mit. Sofort
war die Rauferei in schoenstem Gange, Mannschaft gegen Mannschaft,
Auslaender gegen Einheimische. Neue Truppen wurden herbeibeordert und
zogen in Sturmschritt heran; Arbeiter schlenderten herbei, alte Weiber,
Gassenjugend; schliesslich wusste kein Mensch mehr, weshalb oder mit wem
man raufte. Vergebens fluchten die Schiffer, vergebens befahlen ehrsame
Buerger, den einzigen Polizeidiener des Staedtchens herbeizuholen; der lag
just in aller Gemuetsruhe draussen auf dem Fjord und fischte. Man lief zum
Stadtschultheiss; aber der war zugleich Postmeister, hatte sich gerade
mit der neuesten Briefpost in seinem Bureau eingeschlossen und rief zum
Fenster heraus, er koenne nicht fort, sein Gehilfe sei bei einem
Begraebnis; sie muessten warten. Da man aber mit dem gegenseitigen
Totschlagen unmoeglich warten konnte, bis die Post sortiert war, so
schrien einige, vor allem ein paar geaengstigte Weiber, man solle den
Grobschmied Arne holen. Dem stimmten die ehrsamen Buerger zu, und seine
eigene Frau lief, ihn zu holen, "weil die Polizei nicht daheim sei." Er
kam--zum Jubel der Schuljugend--, fuhr ein paarmal in den Knaeuel hinein,
langte sich einen gelenkigen Spanier heraus und haemmerte mit dem nach
rechts und links auf die andern los.
Als alles vorbei war, kam der Stadtschultheiss mit seinem Spazierstock.
Er fand noch ein paar alte Weiber und Kinder auf der Walstatt. Diesen
gebot er mit gestrenger Miene, nach Hause zu gehen zum Mittagessen--was
er selbst ebenfalls tat.
Am Tag darauf begann er ein Verhoer anzustellen; das dauerte eine geraume
Zeit, obwohl kein Mensch auch nur eine Ahnung davon hatte, wer
eigentlich gerauft hatte. Bloss darin stimmten alle Aussagen
ueberein--Arne, der Grobschmied, war dabei gewesen; alle hatten sie ihn
mit dem Spanier auf die andern loshauen sehen. Also wurde ueber diesen
Arne eine Strafe von einem Speziestaler verhaengt, wofuer seine Frau, die
ihn in den Handel verwickelt hatte, die Pruegel einheimste. Am elften
Sonntag nach Trinitatis. Sie hatte Ursache, an den Tag zu denken! Das
war die einzige gerichtliche Folge, die die Rauferei hatte.
Aber sie hatte andere. Die kleine Stadt war keine stille Stadt mehr; das
Fischermaedel hatte sie in Aufruhr versetzt. Die seltsamsten Geruechte
liefen um. Zunaechst war es eifersuechtiger Groll, dass sie den kluegsten
Kopf der Stadt und die beiden besten Partien an sich gelockt und
ausserdem noch "mehrere" in petto hatte; denn aus Gunnar wurden im
Handumdrehen "mehrere junge Maenner". Bald aber erhob sich ein
allgemeiner Sturm sittlicher Entruestung. Die ganze Schande, an einer
grossen Strassenrauferei schuld zu sein und ueber drei der besten Familien
der Stadt Kummer gebracht zu haben, lastete auf dem jungen Maedchen, das
vor kaum einem halben Jahr eingesegnet worden war. Drei Verlobungen auf
einmal,--und die eine obendrein mit ihrem Lehrer, ihrem Wohltaeter, dem
sie alles verdankte--nein! Das brachte die Empoerung zum Ueberlaufen! War
sie nicht von kindauf ein Aergernis gewesen fuer die Stadt? Hatte man
nicht trotzdem,--als Oedegaard sich ihrer angenommen hatte, die schoensten
Erwartungen auf sie gesetzt? Und hatte sie nicht alle Leute zum Besten
gehabt, ihn zugrunde gerichtet und sich, ihrer zuegellosen Natur folgend,
rueckhaltlos einem Leben in die Arme geworfen, das sie zu einem Abschaum
der Menschheit machen und am Ende ins Zuchthaus bringen musste? Die
Mutter war selbstverstaendlich mitschuldig--in _ihrer_ Matrosenkneipe
hatte das Kind den Leichtsinn gelernt! Aber man werde das Joch, das
Gunlaug der Stadt aufbuerdete, nicht laenger tragen, man werde sie nicht
laenger unter sich dulden, weder Mutter, noch Tochter. Und so kam man
ueberein--sie aus der Stadt zu jagen.
Eines schoenen Abends versammelten sich Matrosen, die Gunlaug Geld
schuldig waren, versoffene Arbeiter, denen sie keinen Dienst verschaffen
wollte, junge Bursche, denen sie nichts borgen mochte, oben vor ihrem
Hause--angefuehrt von Buergern der "besseren" Staende. Sie pfiffen, sie
heulten, sie bruellten nach dem "Fischermaedel", nach der
"Fischer-Gunlaug". Bald flog ein Stein gegen die Haustuer; dann ein
zweiter oben durchs Giebelfenster. Erst nach Mitternacht verlief sich
die Rotte. Hinter den Fenstern war alles dunkel und still.
Am naechsten Tag liess sich bei Gunlaug kein Mensch blicken. Nicht einmal
ein Kind ging mehr am Berghang vorbei. Doch abends derselbe Auflauf; nur
dass heute alle mittaten, ohne Unterschied. Sie trampelten alles nieder,
sie zertruemmerten die Fenster, sie rissen den Gartenzaun um und
knickten die jungen Obstbaeume ab, und dabei sangen sie:
Mutter, ich hab' einen Seemann gefischt!
"So, hast du das?"
Mutter, ich hab' einen Kaufmann erwischt!
"Ja, hast du das?"
Mutter, ein Geistlicher sitzt an der Schnur.
"Lang' ihn dir nur!"--
O kling und klang,
Die Nase wird lang!
Die grossen Fische beissen fruchtlos an,
Wenn in das Boot man sie nicht ziehen kann.
Mutter, der Seemann, der hat sich gedrueckt!
"Ja, hat er das?"
Mutter, der Kaufmann ist ausgerueckt!
"So, ist er das?"
Mutter, nun will auch der Geistliche fliehn!
"Lange dir ihn!"
O kling und klang,
Die Nase wird lang!
Die grossen Fische beissen fruchtlos an,
Wenn in das Boot man sie nicht ziehen kann.
Besonders laut schrien sie nach Gunlaug. Gar zu sehr haette man sich
gefreut, sie toben zu hoeren in ihrer ohnmaechtigen Wut.
Gunlaug sass drinnen und hoerte jedes Wort; aber sie blieb stumm. Man muss
schon etwas dulden koennen fuer sein Kind.
Sechstes Kapitel
Den ersten Abend, als das Schreien, Pfeifen und Johlen anfing, war Petra
auf ihrem Zimmer. Sie flog auf, als staende das Haus in Flammen, oder als
wolle alles ueber ihr zusammenbrechen. Wie von gluehenden Ruten
gepeitscht, lief sie in ihrem Zimmer umher. In ihrer Seele schmerzte
und brannte es, ihre Gedanken jagten nach einem Ausweg. Aber zur Mutter
hinunter traute sie sich nicht, und draussen, vor ihrem Fenster, standen
_sie_! Ein Stein kam durchs Fenster gesaust und fiel auf ihr Bett. Sie
stiess einen Schrei aus, lief in den Winkel hinter die Gardine und
verkroch sich zwischen ihren alten Kleidern. Da hockte sie,
zusammengekauert, flammend vor Scham, zitternd vor Furcht. Bilder voll
unerhoerten Entsetzens jagten an ihr vorueber, die Luft war voll
wimmelnder Gesichter--gaffender, grinsender Gesichter! Ganz nah kamen
sie;--Feuer regnete es rings um sie--Hu! es war gar kein Feuer, Augen
waren es--ueberall regnete es Augen, grosse gluehende, kleine spruehende
Augen, die reglos glotzten, Augen, die unablaessig rollten,--Herr Jesus,
Herr Jesus, erbarme Dich!--
Oh, welch ein Aufatmen, als die letzten Schreie in der Nacht erstarben
und alles ganz still wurde und ganz dunkel. Sie wagte sich hervor; sie
warf sich auf ihr Bett und vergrub den Kopf in die Kissen; doch die
Gedanken wollten nicht weichen. Sie sah die Mutter drohend,
ungeheuerlich, wie ein Sturmgewoelk, das sich ueber den Bergen
zusammenballt;--denn, was musste die Mutter nicht erdulden--um
ihretwillen! Kein Schlaf kam in ihre Augen, kein Friede in ihre Seele.
Der Tag daemmerte herauf. Linderung brachte er ihr nicht. Auf und ab
wanderte sie, auf und ab, und dachte bloss daran, wie sie fliehen koenne.
Aber sie traute sich der Mutter nicht unter die Augen; hinaus traute sie
sich auch nicht, solang es Tag war, und mit dem Abend kamen sie
jedenfalls wieder! Trotzdem musste sie warten; denn vor Mitternacht zu
fliehen, war noch gefaehrlicher. Und ueberhaupt--wohin? Sie hatte kein
Geld, sie wusste keinen Weg.--Aber irgendwo musste es doch barmherzige
Menschen geben, wie es einen barmherzigen Gott gab! Er wusste--was sie
auch verbrochen hatte--Schlechtigkeit war es nicht gewesen. Er kannte
ihre Reue, er kannte auch ihre Hilflosigkeit! Sie horchte auf den
Schritt der Mutter drunten; aber sie hoerte nichts; sie zitterte, dass
sie die Treppe heraufkommen koenne; aber sie kam nicht. Das Dienstmaedchen
musste wohl davongelaufen sein; denn niemand brachte ihr das Essen
herauf. Sie selbst wagte sich nicht hinunter, nicht einmal ans Fenster;
draussen konnte ja einer stehen und ihr auflauern. Durch das zertruemmerte
Fenster zog es kalt herein, besonders als es wieder Abend wurde. Sie
hatte sich ein kleines Buendel mit Kleidungsstuecken zusammengeschnuert und
sich warm angezogen, um bereit zu sein. Aber erst musste sie den wuetenden
Haufen abwarten und ueber sich ergehen lassen, was kommen mochte.
Richtig, da waren sie wieder! Pfeifen, Gejohle, Steinewerfen--schlimmer,
viel schlimmer als am Abend vorher! Sie verkroch sich in ihren Winkel,
faltete die Haende und betete, betete! Wenn bloss die Mutter nicht zu
ihnen hinausginge! Wenn sie bloss nicht das Haus stuermten! Jetzt fingen
sie zu singen an; es war ein Schmaehlied; und obwohl jedes Wort ihr wie
ein Messer ins Herz schnitt, musste sie doch zuhoeren, lauschen! Aber als
sie hoerte, dass sie die schamlose Ungerechtigkeit hatten, auch die Mutter
mit zu beschimpfen, da sprang sie auf, da stuerzte sie hervor; sie wollte
zu dem feigen Gesindel reden, wollte sich auf sie herabstuerzen; aber da
kam ein Stein und noch einer und dann ein ganzer Hagel von Steinen
durchs Fenster geflogen; die Glassplitter stoben, die Steine sausten im
Zimmer herum, und sie kroch wieder in ihren Winkel. Der Schweiss brach
ihr aus, als saesse sie in der gluehendsten Sonne; aber sie weinte nicht,
sie fuerchtete sich auch nicht mehr.
Allmaehlich legte sich der Laerm. Sie wagte sich hervor, und als sie
nichts mehr hoerte, wollte sie ans Fenster und nachsehen. Aber sie trat
ueberall auf Glasscherben, und ging deshalb wieder zurueck. Dabei trat sie
wieder auf Steine; so blieb sie stehen, um nicht gehoert zu werden; denn
nun galt es, sich fortzuschleichen. Nachdem sie noch eine gute halbe
Stunde gewartet hatte, zog sie ihre Schuhe aus, ergriff ihr Buendel und
oeffnete leise die Tuer. Wieder wartete sie etwa fuenf Minuten und schlich
dann still die Treppe hinunter. Es tat ihr weh, die Mutter, der sie
solchen Kummer bereitet hatte, nun auch noch ohne Abschied verlassen zu
muessen; aber das Entsetzen peitschte sie vorwaerts. "Leb' wohl, Mutter!
Leb' wohl, Mutter!" fluesterte sie bei jedem Schritt, den sie auf der
Treppe machte, vor sich hin. "Leb' wohl, Mutter!" Jetzt war sie unten.
Sie holte ein paarmal schwer Atem und nun--zur Haustuer! Da packte jemand
sie von hinten am Arm. Sie stiess einen leichten Schrei aus und drehte
sich um. Es war die Mutter. Gunlaug hatte oben die Tuer gehen hoeren;
augenblicklich begriff sie, was Petra vorhatte, und erwartete sie nun
hier unten. Petra fuehlte, sie werde ohne Kampf nicht an ihr
vorueberkommen. Erklaerungen nuetzten hier nichts; was fuer Worte sie auch
finden werde, die Mutter wuerde ihr doch nicht glauben. Nun, so hiess es
eben kaempfen! Schlimmer als das Schlimmste konnte ja in der Welt nichts
sein, und das Schlimmste hatte sie hinter sich. "Wo willst Du hin?"
fragte leise die Mutter. "Fort!" antwortete sie ebenso leise, mit
klopfendem Herzen.--"Und wohin?"--"Ich weiss nicht--nur fort von hier!"
Und sie drueckte ihr Buendel fest an sich und tat einen Schritt vorwaerts.
"Komm mit!" versetzte die Mutter, die ihren Arm nicht losgelassen hatte;
"ich habe schon fuer alles gesorgt."--Augenblicklich gab Petra nach, wie
ein Mensch, der eine allzu schwere Last fallen laesst, und ueberliess sich
der Mutter. Diese ging voran in ein kleines, fensterloses Kaemmerchen
hinter der Kueche, wo Licht brannte; hier hatte sie versteckt gesessen,
waehrend die draussen laermten. Der Verschlag war so eng, dass sie sich
kaum darin umdrehen konnten. Die Mutter zog ein Buendel hervor, etwas
kleiner als Petras, oeffnete es und zog einen Matrosenanzug heraus.
"Zieh das an!" fluesterte sie. Petra wusste sofort, weshalb sie das
sollte; aber dass die Mutter es nicht in Worten aussprach, das ruehrte
sie. Sie zog sich aus und legte den Matrosenanzug an, die Mutter half
ihr, und als sie dabei dem Lichtkreis nahe genug kam, um ihr Gesicht
deutlich sehen zu koennen, da sah Petra, dass Gunlaug alt war. War
sie's in diesen letzten Tagen geworden, oder hatte Petra es nur vorher
nicht gesehen? Die Traenen des Kindes flossen auf die Mutter hernieder,
aber die Mutter blickte nicht auf, so dass sie kein Wort herausbrachte.
Als letztes reichte die Mutter ihr einen Suedwester, und als Petra ihn
aufgesetzt hatte, nahm ihr die Mutter ihr Buendel ab, blies das Licht
aus und fluesterte: "Jetzt komm!"
Wieder gingen sie durch den Flur, aber nicht zur Haustuer; Gunlaug
riegelte die Hoftuer auf und schloss sie nachher wieder ab. Sie gingen
durch den zerstampften Garten, ueber die ausgerissenen Baeume, den
zertruemmerten Zaun. "Sieh Dich noch einmal um!" sagte die Mutter, "Du
wirst schwerlich jemals wieder hierherkommen!"--Petra zuckte zusammen;
sie sah sich nicht um. Sie gingen den oberen Weg, am Walde hin, da, wo
sich ihr halbes Leben abgespielt, wo sie jenen Abend mit Gunnar, die
Abende mit Yngve Vold und jenen letzten Abend mit Oedegaard verlebt
hatte. Sie gingen durch fahles Laub, das der Herbst von den Baeumen
gefegt hatte; die Nacht war kalt, und Petra fror in ihrer ungewohnten
Kleidung. Jetzt bog die Mutter ab, auf einen Garten zu; Petra erkannte
ihn augenblicklich, obwohl sie hier an seiner oberen Seite nicht wieder
gewesen war seit jenem Tage, da sie ihn als Kind gestuermt hatte; es war
Pedro Ohlsens Garten. Die Mutter hatte den Schluessel dazu und schloss
auf.
Es war Gunlaug nicht leicht gefallen, Ohlsen am Vormittag aufzusuchen;
es fiel ihr auch jetzt nicht leicht, mit der ungluecklichen Tochter zu
ihm zu kommen, der sie selbst keine Heimat mehr zu bieten vermochte.
Aber es musste sein, und was sein musste, das konnte Gunlaug. Sie klopfte
an die Verandatuer, und fast im selben Augenblick hoerten sie Tritte und
sahen Licht. Gleich darauf wurde geoeffnet, und Pedro, blass und
angstvoll, stand im Reiseanzug und hohen Stiefeln vor ihnen. Er hielt
ein Talglicht in der Hand; und als er Petras vom Weinen geschwollenes
Gesicht erblickte, seufzte er. Sie sah zu ihm auf; aber da er sie nicht
zu kennen wagte, so wagte auch sie nicht ihn zu kennen. "Der Mann da hat
versprochen, Dir von hier fortzuhelfen", sagte die Mutter, wobei sie
weder Petra noch Ohlsen ansah, sondern den beiden voran durch den Flur
und in Pedros Zimmer auf der andern Seite des Hauses ging. Das Zimmer
war klein und niedrig; eine eigentuemlich dumpfe Luft schlug ihnen
entgegen, die Petra ganz uebel machte--seit mehr als vierundzwanzig
Stunden hatte sie weder geschlafen noch gegessen. Von der Mitte der
Decke hing ein Bauer mit einem Kanarienvogel. Man musste im Bogen drum
herumgehen, wollte man nicht daran stossen. Die alten schweren Stuehle,
ein maechtiger Tisch, ein paar grosse Bauernschraenke, die bis an die Decke
reichten, drueckten so auf das Zimmer, dass es noch niedriger erschien.
Auf dem Tisch lagen Noten und eine Floete. Pedro Ohlsen schlurfte in
seinen grossen Stiefeln geschaeftig hin und her. Aus dem Hinterzimmer
erklang eine schwache Stimme: "Wer ist da? Wer ist in der Stube?" worauf
er noch eiliger umhertrappte und dabei murmelte: "Oh, es ist--hm, hm--es
ist nur ... hm, hm..." Darauf verschwand er in der Stube, aus der die
Stimme gekommen war.
Gunlaug sass am Fenster, die Ellbogen auf die Knie gestemmt, den Kopf in
die Haende gestuetzt, und starrte vor sich hin auf den Sand, mit dem der
Fussboden bestreut war. Sie sprach kein Wort; aber von Zeit zu Zeit
entrang sich ihrer Brust ein schwerer Seufzer. Petra lehnte an der Tuer,
die Beine dicht zusammengepresst, beide Haende auf die Brust gedrueckt; sie
fuehlte sich ganz krank. Eine alte Wanduhr hackte die Zeit in Stuecke; das
Talglicht auf dem Tisch tropfte mit langer Schnuppe. Die Mutter fuehlte,
sie muesse einen Grund fuer ihre Anwesenheit in diesem Haus angeben, und
sagte: "Ich hab' diesen Mann mal frueher gekannt."
Kein Wort weiter. Es kam auch keine Antwort. Pedro blieb noch immer
fort. Das Talglicht tropfte, und die Uhr hackte. Die Uebelkeit uebermannte
Petra mehr und mehr--und dazwischendurch summten unablaessig die Worte
der Mutter: "Ich hab' diesen Mann frueher mal gekannt." Die Uhr griff es
auf und fing an zu ticken: "Ich hab'--diesen Mann--mal frueher--gekannt."
So oft ihr spaeter in ihrem Leben einmal eingeschlossene Luft
entgegenschlug, stand ihr die Stube und ihre eigene Uebelkeit und
die Uhr mit ihrem: "Ich hab'--diesen Mann--mal frueher--gekannt--"
vor Augen. So oft ihr an Bord eines Dampfers der Oelgeruch, der Gestank
des fauligen Meerwassers unter der Kajuete, der Dunst des Essens
entgegendrang,--augenblicklich wurde sie seekrank, und durch die
Seekrankheit hindurch hoerte sie bei Tag und bei Nacht ticken: "Ich
hab'--diesen Mann--mal frueher--gekannt."
Als Pedro wieder eintrat, hatte er eine wollene Muetze auf und einen
altmodischen steifen Mantel um, der ihm bis ueber die Ohren reichte. "Ja,
also ich waer' fertig," sagte er und streifte sich Faeustlinge ueber, als
solle er in den dicksten Winter hinaus. "Jetzt duerfen wir nicht
vergessen, den Mantel fuer--fuer--" er wandte sich um--"den Mantel fuer--"
Er blickte zu Petra hinueber und von ihr zu Gunlaug, die jetzt nach einem
blauen Umhang griff, der ueber einem Stuhl hing, und ihn Petra umlegte.
Petra jedoch--als sie ihn von nahem roch, empfand den eigentuemlichen
Dunst der Stube so heftig, dass sie bat, man moege sie an die frische Luft
lassen. Die Mutter sah, dass ihr schlecht wurde, machte schnell die Tuer
auf und fuehrte sie in den Garten hinaus. Hier sog sie in der kuehlen
Nacht die klare Herbstluft in langen, vollen Zuegen ein.--"Wo soll ich
hin?" fragte sie, als sie sich wieder etwas erholt hatte. "Nach Bergen!"
erwiderte die Mutter und half ihr den Mantel zuknoepfen. "Das ist eine
grosse Stadt, wo keiner Dich kennt." Als sie fertig war, stellte sie sich
vor die Haustuer. "Du kriegst hundert Taler mit," fuhr die Mutter fort;
"so hast Du, wenn es irgendwie schief geht, einen Notpfennig. Der--der
hier--borgt Dir das Geld," "--schenkt--schenkt--" fluesterte Pedro, der
eben an ihnen vorbei auf die Strasse heraustrat. "Borgt Dir das Geld,"
wiederholte die Mutter, als habe er nichts gesagt; "ich werd' es ihm
zurueckzahlen." Sie nahm ihr Halstuch ab, band es Petra um und sagte:
"Sobald es Dir gut geht, schreibst Du. Eher nicht."--"Mutter!"--"Und
jetzt bringt er Dich an Bord; das Schiff liegt draussen vor Anker."--"O
Gott, Mutter!"--"So, das waere wohl alles. Weiter gehe ich nicht
mit."--"Mutter! Mutter!"--"Gott behuete Dich! Leb' wohl!"--"Mutter!
Verzeih mir, Mutter!"--"Und erkaelte Dich nicht auf dem Wasser!" Damit
hatte sie Petra behutsam zur Gartenpforte hinausgeschoben und schloss
jetzt hinter ihr zu.
Petra stand draussen und blickte auf die verschlossene Pforte. Sie fuehlte
sich so elend, so ausgestossen, wie nur je ein Menschenkind sich fuehlen
kann. Und doch--gerade aus diesem Gefuehl des Verstossenseins, aus all dem
Unrecht, den Traenen stieg eine Ahnung auf, ein Glaube; wie ein
Flammenschein war es--, der aufglueht und wieder erlischt,
hochaufspruehend in alle Luefte und wieder in Asche gesunken; und
doch--einen Augenblick lang alles sieghaft ueberstrahlend--. Sie hob die
Augen. Und stand wieder im tiefen Dunkel.
Still--langsam--durch die oeden Gassen der kleinen Stadt, vorbei an den
ungastlichen, entblaetterten Gaerten, vorbei an den verschlossenen,
erloschenen Haeusern glitt sie dahin, hinter dem Mann, der in seinen
grossen Stiefeln und dem Mantel, vornuebergeneigt, gewissermassen ohne
Kopf, voranstapfte. Sie kamen in die Allee, wieder schritten sie durch
raschelndes Laub und sahen gespenstisch emporgereckte und verlangende
Aeste, die nach ihnen haschten. Sie krochen den Berg hinunter, zum gelben
Schuppen, wo das Boot lag; er machte sich sofort daran, es
auszuschoepfen; dann ruderte er sie hinaus, am Land entlang, das jetzt
dalag zu einem schwarzen Klumpen geballt, auf den sich schwer der
Himmel niedergesenkt hatte. Feld und Wald, Haeuser und Huegel, alles war
ausgeloescht. Nichts mehr erblickte sie von alledem, was sie von Kindheit
an bis gestern Tag fuer Tag vor Augen gehabt hatte; alles hatte sich
verschlossen--wie die Stadt; wie die Menschen sich vor ihr verschlossen,
in der Nacht, da sie hinausgestossen wurde; und kein Lebwohl begleitete
sie.
Auf dem Schiff, das dicht am Strand vor Anker lag und auf die
Morgenbrise wartete, ging ein Mann auf und ab. Sobald er die zwei unter
den Dillen sah, liess er die Schiffstreppe hinab, half ihnen an Bord und
benachrichtigte den Kapitaen, der sofort auf Deck kam. Petra kannte
beide, und beide kannten sie; aber ohne eine Frage, ohne Mitleid, nur
wie eine ganz alltaegliche Sache wurde ihr gesagt, was gesagt werden
musste--wo ihre Koje sei, und was sie zu tun habe, wenn sie irgendetwas
wuensche oder seekrank wuerde. Letzteres wurde sie auch fast
augenblicklich, als sie in ihre Kabine trat, und sie ging darum, sobald
sie sich umgekleidet hatte, wieder auf Deck. Da oben roch
es--jawohl--nach Schokolade! Sie verspuerte einen entsetzlichen Hunger;
es bohrte, es zerrte geradezu in ihrem Magen, und da kam auch schon der
Mann, der ihr an Bord geholfen hatte, mit einer grossen Kanne aus der
Schiffskueche; und dazu Kuchen! Ihre Mutter schicke ihr das, sagte er.
Waehrend sie ass und trank, berichtete er, die Mutter habe auch eine Kiste
mit ihren besten Kleidern und mit leinenem und wollenem Unterzeug an
Bord geschickt, auch Esswaren und allerhand Leckereien. Und in diesem
Augenblick stieg ploetzlich die Erinnerung an die Mutter gewaltig in ihr
auf--ein Bild, grosszuegig, wie sie es bisher noch nie empfunden hatte,
das ihr aber von Stund an ihr Leben lang blieb. Und vor dem Bild, sicher
und doch wehmutsvoll, eine Verheissung, ein Gebet, dass sie dereinst der
Mutter all das Leid, das sie ueber sie gebracht hatte, mit ein klein
bisschen Freude vergelten duerfe.
Pedro Ohlsen sass neben ihr, wo sie sass, und ging neben ihr, wo sie
ging--stets eifrig darauf bedacht, ihr nie und nirgends im Weg zu sein,
und darum fortwaehrend und ueberall im Weg auf dem mit Frachtstuecken
ueberfuellten Deck. Sie sah nichts von seinem Gesicht als die grosse Nase
und die Augen, und nicht einmal diese deutlich; doch immer merkte man
ihm an, dass er bedrueckt wurde von etwas, das er gern sagen wollte, und
doch nicht sagen konnte. Er seufzte, er setzte sich, stand auf, ging um
sie herum und setzte sich wieder; aber kein Wort kam aus seinem Munde,
und auch sie blieb stumm. Zuletzt konnte er es nicht laenger aushaken;
linkisch zog er ein Ungeheuer von einer ledernen Brieftasche hervor und
fluesterte ihr zu: da seien die hundert Taler--und noch ein bisschen
drueber. Sie streckte die Hand aus und bedankte sich; und dabei kam sie
seinem Gesicht so nahe, dass sie bemerkte, wie seine Augen in feuchtem
Glanz an den ihren hingen. Denn mit ihr schwand ja der letzte Rest von
Leben, der seinem dahinsiechenden Dasein noch geblieben war. Er haette
ihr so gern noch etwas gesagt, das ihm eine freundliche Erinnerung
gesichert haette, wenn er nun bald nicht mehr da sei; aber das war ihm
verboten; und obwohl er es trotzdem gern getan haette, wagte er es doch
nicht; sie kam ihm so gar nicht zu Hilfe! Petra war muede, so muede. Und
der Gedanke, er sei der Anlass gewesen, dass sie damals die erste Suende an
ihrer Mutter begangen habe, wollte gerade jetzt nicht von ihr weichen.
Sie konnte ihn nicht mehr gern haben; und je laenger er da sass, desto
schlimmer wurde es; denn wenn man muede ist, wird man leicht ungeduldig.
Der Aermste fuehlte das; es blieb ihm also nichts anderes uebrig, als sich
zu verabschieden; und waehrend er seine duerre Hand aus dem Fausthandschuh
zog, brachte er schliesslich ein gefluestertes Lebewohl heraus. Sie legte
ihre warme Hand in die seine, und beide standen auf. "Vielen Dank,--und
gruess' Mutter!" sagte sie. Er stiess einen Seufzer aus oder eine Art
Glucksen--einmal und noch ein paarmal; dann liess er ihre Hand los,
wandte sich ab und kletterte ruecklings, still, die Schiffstreppe
hinunter. Sie trat an die Reling; er sah noch immer herauf, gruesste,
setzte sich und ruderte langsam davon. Sie blieb stehen, bis er im
Dunkel verschwunden war. Dann aber ging auch sie gleich nach unten; sie
war so muede, dass sie sich kaum mehr auf den Fuessen halten konnte; und
obwohl sie sofort seekrank wurde, so hatte sie doch kaum den Kopf aufs
Kissen gelegt und die zwei oder drei ersten Bitten des Vaterunsers
gebetet, als sie auch schon schlief.
* * * * *
Droben neben dem gelben Bootschuppen sass zu derselben Stunde die Mutter.
Sie war ihnen langsam den ganzen Weg gefolgt, und hatte sich, gerade als
die beiden vom Lande stiessen, hinter den Schuppen gesetzt. Von derselben
Stelle aus war Pedro Ohlsen in alten Zeiten oft mit ihr hinausgerudert;
es war lange, lange her; aber als er jetzt mit ihrem Kinde davonruderte,
musste sie daran denken.
Sobald sie ihn allein zurueckkehren sah, stand sie auf und ging; sie
wusste jetzt, dass die Tochter wohlbehalten an Bord war. Sie ging nicht
nach Hause, sondern ins Land hinaus. Dort fand sie im Dunkeln den Pfad,
der in die Berge fuehrte; den schlug sie ein. Ueber einen Monat blieb ihr
Haus in der Stadt leer und halb zertruemmert stehen; sie wollte nicht
eher wieder heim, als bis sie gute Nachricht von der Tochter hatte.
Aber inzwischen hatte sich auch die feindliche Stimmung geklaert. Alle
niedrigen Naturen finden eine aufreizende Freude darin, sich zur
Verfolgung eines Staerkeren zusammenzutun; aber nur, solange dieser
Widerstand leistet. Sobald sie sehen, dass er sich ruhig misshandeln
laesst, beschleicht sie ein Gefuehl der Scham, und ihre ganze Wut
wendet sich nun gegen den, der es wagt, noch einen Stein zu werfen. Man
hatte sich darauf gefreut, Gunlaugs maechtige Stimme durch den Hohlweg
droehnen zu hoeren; man hatte gedacht, sie werde ihre Matrosen zu Hilfe
rufen und zum Strassenkampf aufbieten. Als der dritte Abend kam, und
sie sich noch immer nicht sehen liess, war der Haufen kaum zu
baendigen; man wollte hinein, wollte die beiden Weibsbilder
herauszerren, sie auf die Strasse werfen, sie zur Stadt hinausjagen!
Die Scheiben waren seit dem vorigen Abend noch nicht wieder eingesetzt;
unter dem Halloh der Menge krochen zwei Maenner durchs Fenster, um die
Tuer zu oeffnen, und hinein stuermte die ganze Bande! Sie durchsuchten
alle Raeume, oben und unten; sie sprengten Tueren, sie zerschlugen
alles, was im Wege stand; sie durchstoeberten jeden Winkel, bis hinab
zum Keller, nach Mutter und Tochter; keine Menschenseele war zu finden!
Die Verfolger wurden ploetzlich ganz maeuschenstill, als ihnen diese
Entdeckung zum Bewusstsein kam. Einer nach dem andern kamen sie alle,
die drinnen waren, wieder heraus und versteckten sich hinter den
uebrigen. Nicht lange, und der Platz vor dem Hause war leer.
Bald wurden in der Stadt Stimmen laut, die erklaerten, ein derartiges
Vorgehen zwei wehrlosen Frauen gegenueber sei einfach unwuerdig gewesen.
Man besprach das Ereignis, den Vorfall so lange, bis man zu dem Schluss
kam--was auch das _Fischermaedel_ verbrochen hatte--Gunlaug hatte keine
Schuld, und ihr war also schweres Unrecht geschehen. Die Stadt vermisste
sie schmerzlich. Schlaegereien und Strassenhaendel zwischen Betrunkenen
waren bald an der Tagesordnung: die Stadt hatte ihre Polizei verloren.
Auch ihre maechtige Gestalt unter der Tuer vermisste man, wenn man am Hause
vorueberging. Besonders aber vermissten die Matrosen sie. Nirgends sei es
so wie bei ihr, behaupteten sie. Bei ihr war jeder nach Verdienst
behandelt worden, jeder hatte seine bestimmte Rangordnung in ihrem
Vertrauen inne gehabt und bei ihr Hilfe gefunden in allen Lebenslagen.
Weder Matrosen noch Schiffer, weder Arbeitsherren noch Hausmuetter hatten
gewusst, was sie allen war, bis sie auf einmal nicht mehr da war.
Darum lief es wie eine einzige Freudenbotschaft durch die ganze Stadt,
als jemand sie wieder in ihrem Hause sitzen und kochen und braten
gesehen wie zuvor. Jeder einzelne musste hinauf und sich selbst davon
ueberzeugen, dass die Tuer wieder ganz war und neue Scheiben hatte, und
der Rauch aus dem Schornstein stieg. Ja, wirklich, es war so! Da war sie
wieder! Man kletterte an der andern Seite des Hohlwegs hinauf, um besser
sehen zu koennen. Da sass sie--vor dem Backofen; sie blickte weder auf
noch hinaus--die Augen folgten der Hand, und die Hand arbeitete. Denn
sie war zurueckgekehrt, um wieder zu verdienen, was sie verloren hatte,
vor allem die hundert Taler, die sie Pedro Ohlsen schuldete. Anfangs
begnuegte man sich damit, zu ihr hineinzugucken; man getraute sich nicht
ins Haus--des boesen Gewissens wegen! Aber so nach und nach kamen sie
doch wieder; zuerst die Hausmuetter, die lieben, guten! Aber sie fanden
keinerlei Gelegenheit, von anderem zu reden als von Geschaeften; Gunlaug
hoerte einfach auf nichts anderes. Dann kamen die Fischer, dann die
Kaufleute und Schiffer, die Leute dingen und sich bei ihr Auskunft holen
wollten, und endlich, am naechsten Sonntag, auch die Matrosen. Die mussten
sich verabredet haben; denn gegen Abend war das Haus mit einem Male so
ueberfuellt, dass nicht nur die beiden Stuben besetzt waren, sondern dass
man auch noch die Tische und Stuehle, die im Sommer im Garten standen,
hervorholen und im Flur, in der Kueche, im Hinterzimmer aufstellen musste.
Niemand, der diese Versammlung gesehen, haette ahnen koennen, mit welchen
Gefuehlen diese Leute hier sassen; denn mit dem Augenblick, da sie
Gunlaugs Schwelle wieder ueberschritten, hatte diese Frau stillschweigend
wieder das Kommando uebernommen, und die breite Sicherheit, mit der sie
jedem das seine verabfolgte, unterdrueckte jeden Willkommgruss, jede
Frage. Sie war ganz wie sonst, nur dass ihr Haar nicht mehr schwarz und
ihr Wesen ein bisschen stiller war. Aber als die Matrosen anfingen,
lustig zu werden, konnten sie sich nicht laenger halten; so oft Gunlaug
und das Maedchen draussen waren, schrien sie dem Bootsmann Knud zu, der
immer ihr Liebling gewesen war: er moege doch ein Hoch auf sie
ausbringen, wenn sie wieder hereinkomme. Doch selbst er fand nicht eher
den Mut dazu, als bis ihm die Hitze ein bisschen zu Kopf gestiegen war.
Da endlich, als sie hereinkam, um leere Glaeser und Flaschen abzuraeumen,
stand er auf und sagte: "Es sei man schoen, dass sie wieder da sei.
Denn--wahrhaft'gen Gott--es--es sei man schoen, dass sie wieder da sei!"
und alle fanden das gut gesprochen und erhoben sich und riefen: "Ja, das
is man schoen! Das is man schoen!" Und die im Flur und in der Kueche und in
den andern Stuben standen ebenfalls auf, und draengten herein und
stimmten mit ein, und der Bootsmann gab Gunlaug ein Glas in die Hand und
schrie Hurra! Und nun liessen sie alle ein paar Hurras los, als ob das
Dach auffliegen und in die Wolken fahren sollte. Bald hoerte man einen
laut verkuenden: sie haetten ihr schmaehlich unrecht getan, dann schwur ein
anderer dasselbe, und schliesslich schwur und fluchte die ganze
Gesellschaft: ihr sei das schmaehlichste Unrecht widerfahren. Als endlich
Stille eintrat, weil es alle nach einem Wort Gunlaugs verlangte, dankte
sie ihnen: "aber", fuegte sie hinzu und sammelte ihre Glaeser und Flaschen
ruhig weiter ein, "solange _ich_ nicht davon rede, braucht Ihr's auch
nicht. Verstanden?" Dann, nachdem sie so viele Glaeser und Flaschen
beisammen hatte, als sie tragen konnte, ging sie hinaus, um gleich
darauf die uebrigen zu holen. Von diesem Augenblick an war ihre Macht
unerschuetterlich.
Siebentes Kapitel
Es war Abend und dunkel, als das Schiff im Hafen von Bergen Anker warf.
Noch halb taumelnd von der Seekrankheit wurde Petra im Kapitaensboot
durch das Gewimmel von grossen und kleinen Schiffen und dann weiter durch
das Laermen und Toben der Bootsleute auf den Bruecken und der Bauern und
Strassenjungen in den engen Winkelgassen gefuehrt, durch die der Weg
ging. Vor einem kleinen huebschen Haus machten sie Halt, und dort nahm
auf die Bitte des Kapitaens eine aeltere Dame sich Petras liebevoll an.
Sie fuehlte Hunger und Muedigkeit, und beide Beduerfnisse konnte sie hier
befriedigen. Gegen Mittag des folgenden Tages wachte sie frisch und
munter auf, zu neuen Lauten, neuem Sprachklang und--als sie die Gardine
aufzog, zu einer neuen Natur, zu einer neuen Stadt mit neuen Menschen.
Ja, sie selbst war wie neugeboren, fand sie, als sie vor den Spiegel
trat. Dies Gesicht war nicht das alte mehr; worin die Veraenderung
bestand, darueber konnte sie sich freilich selbst nicht Rechenschaft
geben; sie wusste nicht, dass in ihrem Alter Leid und Gemuetsbewegung die
Zuege verfeinern und vergeistigen; aber sie musste doch, als sie sich im
Spiegel sah, wieder an die letzten Naechte denken, und sie bebte noch bei
diesem Nachhall. Darum beeilte sie sich, fertig zu werden, damit sie
hinunter konnte zu all dem Neuen, das ihrer wartete. Unten traf sie ihre
Wirtin und einige Damen, die sie zunaechst einmal gruendlich von allen
Seiten betrachteten und ihr dann versprachen, sich ihrer anzunehmen. Als
erstes wollten sie ihr die Stadt zeigen. Da sie allerlei einzukaufen
hatte, lief sie hinauf zu ihrer Brieftasche. Weil sie sich jedoch
schaemte, das plumpe dicke Ding mit hinunterzunehmen, oeffnete sie es, um
Geld herauszunehmen. Sie fand nicht hundert, sondern dreihundert Taler
darin! Also wieder Pedro Ohlsen, der gegen der Mutter Wissen und Willen
Geld schenken wollte! So wenig verstand sie vom Wert des Geldes, dass sie
sich ueber die Groesse der Summe nicht einmal wunderte; es kam ihr darum
auch gar nicht in den Sinn, ueber den Grund dieser grossen Freigebigkeit
weiter nachzudenken. Statt eines freudestrahlenden Dankbriefes voll
ahnungsvoller Fragen ueberbrachte Gunlaug Pedro Ohlsen ein Schreiben von
Petra an sie selbst, worin die Tochter mit schlecht verhehltem Aerger
ihren Wohltaeter verriet und fragte, was sie mit dem eingeschmuggelten
Geschenk anfangen solle.
Der erste Eindruck, den Petra von der Stadt empfing, war ein starker
Natureindruck. Sie konnte das Gefuehl nicht los werden, als umdraengten
die Berge sie so dicht, dass sie sich vor ihnen in acht nehmen muesse. So
oft sie das Auge erhob, fuehlte sie sich bedrueckt, und dann wieder trieb
es sie, die Hand auszustrecken und an den Stein zu pochen. Bisweilen war
ihr, als gebe es hier keinen Ausgang mehr. Sonnenverlassen und finster
standen die Berge, die Wolken hingen schwer darauf nieder oder jagten
darueber weg; Wind und Regen in unaufhoerlichem Wechsel; von den Bergen
kam es, die Berge sandten es hernieder auf die Stadt. Aber die Menge
Menschen rings um sie her hatte gar nichts Bedruecktes. Sie wurde bald
froh unter ihnen; denn in ihrer Geschaeftigkeit lag eine Freiheit, eine
Leichtigkeit, eine Heiterkeit, wie sie sie gar nicht kannte, und die ihr
nach allem, was sie erlebt hatte, wie ein Laecheln, ein Willkommgruss
erschien.
Als sie am naechsten Tag beim Mittagessen aeusserte, sie moechte am
liebsten irgendwohin, wo recht viele Leute seien, schlug man ihr vor,
ins Theater zu gehen; da koenne sie Hunderte von Menschen in einem
einzigen Haus beieinander sehen.--Jawohl, da wollte sie hin! Man
besorgte ihr ein Billet, das Theater lag ganz in der Naehe, und zur
bestimmten Zeit begleitete man sie hin und wies ihr einen Platz in der
ersten Reihe des Balkons an. Da sass sie, in strahlender Beleuchtung,
unter Hunderten froehlicher Menschen, ringsum leuchtende Farben und
Geplauder, das von allen Seiten ueber sie hereinbrauste wie das
Rauschen des offenen Meeres.
Was es hier eigentlich zu sehen gab, davon hatte Petra keine Ahnung. Ihr
Wissen beschraenkte sich auf das, was Oedegaard ihr gesagt, und was ihr
zufaelliger Verkehr sie gelehrt hatte. Aber das Theater hatte Oedegaard
mit keinem Worte je erwaehnt.
Die Matrosen hatten von einem Theater gesprochen, wo es wilde Tiere gab
und Kunstreiter; und die jungen Burschen der Stadt kamen gar nicht auf
den Gedanken, vom Schauspiel zu reden, wenn sie auch von der Schule her
ein bisschen davon wussten; denn das Staedtchen selbst hatte kein Theater,
nicht einmal ein Gebaeude, das den Namen fuehrte. Reisende Tierbaendiger,
Seiltaenzer und Clowns trieben ihre Kuenste entweder in einer Strandbude
oder auf freiem Feld. Ihre Unwissenheit war so gross, dass sie nicht
einmal imstande war, zu fragen; sie sass da und erwartete naiv irgend
etwas Merkwuerdiges, etwa Kamele oder Affen. Allmaehlich beherrschte diese
Vorstellung sie so, dass sie anfing, in jedem Gesicht um sich her ein
Tier zu sehen--Pferde, Hunde, Fuechse, Katzen, Maeuse; das machte ihr
Spass. Und so kam es, dass sich das Orchester versammelte, ohne dass sie es
merkte. Erschrocken schnellte sie auf; denn mit einem kurzen, scharfen
Gedroehne von Pauken, Trommeln, Posaunen und Hoernern setzte die Ouvertuere
ein. Sie hatte ihrer Lebtag noch niemals mehr als ein paar Geigen und
vielleicht eine Floete zusammen gehoert. Vor dieser brausenden
Herrlichkeit erbleichte sie; die hatte etwas von einer kalten, schwarzen
Sturzwelle; sie zitterte vor der naechsten; vielleicht wuerde die noch
schlimmer werden--und doch, sie wuenschte sich, dass es nicht aufhoeren
moege. Bald stroemten sanftere Harmonien Licht aus, bald oeffneten sich
Ausblicke, wie sie sie nie getraeumt hatte. Melodien wiegten sie hinaus,
empor, Spiel und Leben schwirrten rings durch die Luft, mit langem
Fluegelschlag schwang sich der ganze Zug aufwaerts, senkte sich leise,
sammelte sich wuchtig, teilte sich voll Uebermut, in spruehendem Gewimmel,
bis ein grosses Dunkel sich niedersenkte und alles deckte; es war, als ob
alles hinwegwirbele im Braus eines tosenden Sturzbachs. Dann wieder ein
vereinzelter Ton, wie ein Vogel auf nassem Zweig ueber der Tiefe:
wehmutvoll, furchtsam stimmte er an, aber waehrend seines Sangs klaerte
sich ueber ihm die Luft, ein Sonnenschimmer brach hervor, und wieder
lagen die weiten, blauenden Fernen voll jenes seltsamen Wogens und
Flatterns hinter den Sonnenstrahlen. Eine Weile waehrte das fort--dann--o
Wunder! verklang es in mildem Frieden. Die jubelnden Scharen zogen
ferner und immer ferner, nichts mehr war da als die Strahlen, die durch
die Luft sickerten und schmolzen; ueber der ganzen unendlichen Flaeche
nichts als Sonne, still, lichtdurchwoben alles--und in dieser Seligkeit
traeumte das Ganze aus. Sie erhob sich unwillkuerlich, als es zu Ende war;
denn sie selbst war auch am Ende. O Wunder--da ging die schoene gemalte
Wand gerade vor ihr in die Hoehe, bis an die Decke. Sie war in einer
Kirche, einer Kirche mit Bogen und Pfeilern, einer Kirche voll
Orgelbraus und Festesglanz, und Menschen in Gewaendern, wie sie sie nie
gesehen hatte, schritten herein, auf sie zu und redeten,--ja, wirklich,
sie redeten in der Kirche! Und in einer Sprache, die sie nicht verstand.
Wie? Hinter ihr redeten sie auch? "Setzen!" sagte jemand. Aber da war
doch gar nichts zum Hinsitzen; und die beiden in der Kirche blieben auch
ganz ruhig stehen; und je laenger sie hinsah, desto klarer wurde es ihr,
dass diese Trachten dieselben waren, die sie auf einem Bild von Olaf dem
Heiligen gesehen hatte. Und da,--da nannten sie ja auch den Namen des
heiligen Olaf!--"Setzen!" toente es wieder hinter ihr. "Setzen!" riefen
jetzt mehrere Stimmen. Vielleicht ist dahinten auch irgend etwas, dachte
Petra und drehte sich hastig um. Ein Haufen zorniger Gesichter, manche
darunter geradezu drohend, starrte ihr entgegen. Alles das geht nicht
mit rechten Dingen zu! dachte sie und wollte gehen. Da zupfte eine alte
Dame, die neben ihr sass, sie sachte am Rock. "So setzen Sie sich doch,
Kindchen!" fluesterte sie. "Die hinter Ihnen koennen ja nichts sehen." Im
Nu war sie wieder auf ihrem Platz. Natuerlich--das da vorn ist das
Theater, und wir sind die Zuschauer,--natuerlich, das Theater! Und sie
wiederholte das Wort, wie um es sich selbst ins Gedaechtnis
zurueckzurufen. Und wieder blickte sie in die Kirche. Aber so viel Muehe
sie sich auch gab, sie konnte den Menschen, der da redete, nicht
verstehen. Erst als sie so nach und nach dahinter kam, dass es ein Mann
war, jung und huebsch, fing sie ab und zu ein Wort auf. Und als sie
begriff, dass er von Liebe redete, dass er verliebt war, da verstand sie
so ziemlich alles. Jetzt kam ein Dritter hinzu, der sofort ihre ganze
Aufmerksamkeit auf sich lenkte; denn von Abbildungen her wusste sie, dass
das ein Moench sein musste; und einen Moench zu sehen, das war schon immer
ihr sehnlichster Wunsch gewesen. Der Moench ging auf so leisen Sohlen,
bewegte sich so still, zeigte ein so frommes Gebaren; er redete so
treuherzig, sprach so langsam, dass sie jedem seiner Worte folgen konnte.
Da auf einmal drehte er sich um und sagte just das Gegenteil von dem,
was er vorher gesagt hatte.--Herrgott! Das ist ja ein Boesewicht! Hoert
Ihr nicht? Ein Boesewicht ist er! Man sieht es ihm ja auch an! Dass der
junge huebsche Mann das nicht merkt! Aber hoeren koennt' er's doch
wenigstens! "Er hintergeht Sie!" fluesterte sie halblaut. "Psst!" sagte
die alte Dame. Aber nein, der junge Mann hoert nichts. Er geht fort, ganz
vertrauensvoll; alle gehen sie fort. Ein alter Mann kommt jetzt herein.
Ja, was ist denn das? Wenn der Alte spricht, so ist es, als spraeche der
Juengling. Und dabei ist es doch ein alter Mann. Und ploetzlich,--o Gott,
o Gott! Ein leuchtender Zug von weissgekleideten Jungfrauen, die zwei und
zwei langsam durch die Kirche ziehen. Noch lange, nachdem sie
verschwunden waren, blickte sie ihnen nach, und in ihrer Erinnerung
stieg eine aehnliche Erscheinung aus ihrer Kindheit auf. An einem
Wintertag war sie mit ihrer Mutter uebers Gebirge gegangen; und wie sie
durch den frischgefallenen Schnee gewatet waren, hatten sie unversehens
einen Schwarm junger Schneehuehner aufgescheucht, die mit einem Schlag
die Luft vor ihnen gefuellt hatten; weiss waren sie gewesen, und weiss der
Schnee, weiss der Wald,--noch lange nachher streiften alle Gedanken weiss
an ihr vorueber... Und in diesem Augenblick hatte sie dasselbe Gefuehl.
Aber eine der weissgekleideten Jungfrauen tritt allein vor, mit einem
Kranz in der Hand, und kniet nieder. Der Alte ist ebenfalls auf die Knie
gesunken; und sie redet mit ihm; er hat Botschaft fuer sie und einen
Brief,--aus fremden Landen. Er zieht den Brief heraus,--ha, man sieht es
ihr an, der Brief ist von einem, den sie lieb hat. Wie himmlisch! Alle
lieben sie einander hier! Sie macht den Brief auf,--aber es ist gar kein
Brief--es ist alles lauter Musik,--und sieh doch, sieh! Der Brief ist ja
er selber! Der Greis ist der Juengling, der Juengling, den sie liebt! Sie
sinken einander in die Arme,--Himmel! Sie kuessen sich! Petra fuehlte, wie
sie feuerrot wurde; sie barg ihr Gesicht in den Haenden, waehrend sie
weiter zuhoerte. Horch',--da erzaehlt er ihr, dass sie auf der Stelle
Hochzeit halten wollen, und sie zupft ihn laechelnd am Bart und sagt, er
sei ein Barbar geworden; und er sagt, sie sei ganz wunderschoen geworden,
und gibt ihr einen Ring und verspricht ihr Scharlach und Sammet, goldene
Schuhe und einen goldenen Guertel. Dann nimmt er froehlich Abschied und
geht zum Koenig, um die Hochzeit auszurichten. Die Braut sieht ihm nach,
leuchtend, strahlend; doch wie sie sich wieder umwendet, da ist es
leer--leer.
Jetzt gleitet ganz schnell die Wand wieder herab. Wie? Schon zu Ende?
Nachdem es eben erst angefangen hat? Gluehend wendet sie sich der alten
Dame zu: "Ist es aus?"--"Nein, nein, Kindchen! Das war ja nur der erste
Akt. Fuenf sind es.--Fuenf Akte", wiederholte sie seufzend, "fuenf
Akte!"--"Immer das Gleiche?" fragte Petra.--"Wie denn?"--"Ich meine,
kommen immer die gleichen Leute wieder, und geht es immer weiter?"--"Sie
sind wohl noch nie im Theater gewesen, was?"--"Nein."--"Freilich; ein
Theater gibt's nicht ueberall; es ist ja auch so teuer."--"Aber was ist
denn das eigentlich alles?" fragte Petra erregt, atemlos, als koenne sie
die Antwort kaum erwarten. "Was sind denn das fuer Menschen?"--"Das ist
die Truppe des Direktor Naso, eine ganz ausgezeichnete Truppe; er ist
wirklich ein tuechtiger Kerl."--"Hat er denn das alles erfunden? Ja? Ach
Gott! So sagen Sie mir's doch!"--"Aber Kindchen, wissen Sie denn gar
nicht, was ein Schauspiel ist? Wo kommen Sie denn her?"---Doch als Petra
an ihre Vaterstadt dachte, fiel ihr auch gleich ihre ganze Schande, ihre
Flucht wieder ein; sie schwieg und getraute sich nicht, weiter zu
fragen.
Der zweite Akt kam, und mit ihm der Koenig. Wirklich, der Koenig! Jetzt
sah sie endlich einmal den Koenig! Sie hoerte nicht, was er sagte, sie sah
nicht, mit wem er sprach, sie sah nur des Koenigs Kleider, des Koenigs
Gebaren, des Koenigs Mienen. Sie wachte erst wieder auf, als der Juengling
auftrat. Und jetzt zogen sie alle davon, um die Braut einzuholen.--Also
hiess es wieder warten.
In der Pause beugte die alte Dame sich zu ihr hinueber. "Sie spielen doch
wundervoll, nicht?" sagte sie. Petra blickte sie voll Erstaunen an.
"Spielen? Wie denn?" Sie merkte gar nicht, dass alle, die in ihrer Naehe
sassen, sie beobachteten; dass die alte Dame sie nur ausfragen wollte. Sie
merkte nicht, dass man sich ueber sie lustig machte.--"Aber sie reden ja
ganz anders wie wir?" fragte sie, als sie keine Antwort erhielt.--"Es
sind doch Daenen!" antwortete die Dame und fing zu lachen an. Jetzt
begriff sie, dass die Gute ueber ihr vieles Fragen lachte, und fortan
schwieg sie; sie sah nur unverwandt nach dem Vorhang hin.
Als der wieder aufging, wurde ihr die grosse Freude zuteil, einen
Erzbischof zu sehen. Wieder erging es ihr wie vorhin: sie verlor sich so
gaenzlich in seinen Anblick, dass sie von dem, was er sagte, ueberhaupt
kein Wort hoerte. Aber jetzt erklang Musik--leise, leise--aus weiter
Ferne. Sie kam naeher--Gesang von Frauenstimmen--ein Spiel von Floeten und
Geigen und einem Instrument, das nicht Guitarre war und doch wie viele
Guitarren, bloss weicher, voller, mit schwingenden Toenen--die ganze
Harmonie flutete zu langen, schwebenden Wellen zusammen. Und als alles
zu wogenden Farben geworden war, da kam der Zug,--Soldaten mit
Hellebarden, Chorknaben mit Weihrauchfaessern, Moenche mit brennenden
Kerzen, der Koenig mit der Krone auf dem Haupt und an seiner Seite der
Braeutigam, im weissen Gewand--hinter ihnen wieder die weissen Jungfrauen;
singend streuten sie Rosen vor der Braut, die in weisser Seide, mit einem
roten Rosenkranz im Haar, einherschritt. An ihrer Seite ging eine hohe
Frauengestalt in golddurchwirktem, langschleppendem Purpurgewand, auf
dem Haupt eine schmale, funkelnde Krone; das musste die Koenigin sein. Die
ganze Kirche war voll Musik und Farben, und alles, was nun geschah, vom
Augenblick an, da der Braeutigam die Braut zum Brautschemel fuehrte, auf
dem sie niederkniete, waehrend das ganze Brautgefolge im Kreis um sie
kniete, bis der Erzbischof an der Spitze der Klosterbrueder
erschien,--das alles waren bloss Verschlingungen in der bunten
Harmonienkette.
Aber als nun die Trauung vor sich gehen sollte, da erhob der Erzbischof
ploetzlich seinen Stab und gebot Einhalt. Ihre Vermaehlung sei wider die
heiligen Vorschriften, nie und nimmer duerften sie einander angehoeren. O
himmlischer Vater, erbarme dich! Die Braut sank in Ohnmacht; und Petra
fiel mit einem durchdringenden Schrei auf ihren Platz zurueck; denn sie
hatte zuletzt wieder gestanden.
"Wasser! Wasser!" rief es um sie her. "Nicht noetig!" erwiderte die alte
Dame. "Sie ist ja gar nicht bewusstlos." "Still!" rief es vom Parkett
herauf. "Ruhe da oben!" "Ruhe da unten!" toente es vom Balkon
zurueck.--"Sie muessen sich's nicht so zu Herzen nehmen", fluesterte die
alte Dame. "Es ist doch alles bloss erdichtet und erfunden! Aber Frau
Naso spielt wirklich brillant!"
"Still!" rief nun auch Petra. Sie war schon wieder ganz in der Handlung.
Der diabolische Moench war wieder da, mit einem Schwert in der Hand. Die
beiden Liebenden mussten ein Tuch zwischen sich halten, und er schnitt
es in der Mitte durch, wie die Kirche schneidet, wie der Schmerz
schneidet, wie das Schwert ueber der Pforte des Paradieses schnitt an
jenem ersten Tag. Weinende Frauen nahmen der Braut den roten Kranz vom
Haar und setzten ihr einen weissen auf; damit war sie fuers Leben dem
Kloster geweiht. Und er, dem sie angehoerte fuer Zeit und Ewigkeit, er
sollte sie am Leben wissen und sie dennoch nimmermehr sein eigen nennen,
sollte sie hinter Klostermauern wissen und sie nimmer wiedersehen. Wie
herzzerreissend war dies letzte Lebewohl! Keine groessere Not gab es auf
Erden als ihre!--
"Du lieber Gott!" fluesterte die alte Dame, als der Vorhang fiel, "so
seien Sie doch nicht so naerrisch! Es ist doch bloss Frau Naso, dem
Direktor seine Frau!" Petra riss die Augen auf und starrte die brave Frau
an. Die muss verrueckt sein! dachte sie. Und da die alte Dame von Petra
schon laengst dasselbe gedacht hatte, redeten sie nun ueberhaupt nicht
mehr miteinander, sondern warfen sich nur von Zeit zu Zeit scheue Blicke
zu.
Als der Vorhang wieder aufging, kam Petra nicht mehr so recht mit. Sie
sah nur noch die Braut hinter den Klostermauern und den Braeutigam, der
Tag und Nacht voller Verzweiflung draussen umherirrte; sie litt ihre
Qualen mit, sie betete mit ihnen ihre Gebete; das, was sich vor ihren
Augen abspielte, glitt farblos an ihr vorueber. Da ploetzlich wurde sie
durch eine mahnende Stille in die Gegenwart zurueckgerufen. Der leere
Kirchenraum wird weit und gross, die zwoelf Schlaege der Mitternachtsstunde
hallen durch den Raum. Das Gewoelbe erdroehnt, die Mauern erbeben; der
heilige Olaf, im Totengewand, erhebt sich aus seinem Sarge, hoch und
draeuend; den Speer in der Hand, kommt er geschritten; die Wache
flieht,--ein Donnerschlag--und der Moench sinkt, vom Speer durchbohrt,
nieder. Dann wird alles dunkel, die Erscheinung ist verschwunden. Nur
der Moench liegt noch da wie ein Haufen Asche auf der Stelle, wo der
Blitz niederfuhr.
Petra hatte sich unwillkuerlich an die alte Dame angeklammert, der es
unter diesem krampfhaften Griff hoechst unbehaglich zumute war, und die
nun, als sie das Maedchen immer blasser werden sah, rasch sagte: "Du
meine Guete, Kind, es ist doch nur Knutsen; es ist die einzige Rolle, die
er spielen kann, mit seiner heiseren Stimme!"--"Nein, nein, nein, nein!
Ich hab' Flammen rings um ihn gesehen!" sagte Petra, "und die Kirche hat
gezittert unter seinen Tritten!"--"Ruhe!" ertoente es von verschiedenen
Seiten. "Wer nicht still sitzen kann,--'raus!"--"Heda! Ruhe da oben!"
klang es vom Parkett. "Ruhe!" klang es vom Balkon zurueck. Petra war ganz
in sich zusammengekrochen, als wolle sie sich verstecken; aber gleich
darauf hatte sie alles um sich her vergessen. Denn ploetzlich waren die
beiden Liebenden wieder da,--der Blitz hat ihnen den Weg gebahnt,--sie
wollen fliehen. Sie haben sich wieder,--sie sinken sich in die Arme,--o
Gott im Himmel, beschuetze sie!
Da erhebt sich ein Laerm--Geschrei und Hoernerklang--der Braeutigam wird
von ihrer Seite gerissen,--es gilt den Kampf--den Kampf fuers Vaterland.
Er wird verwundet, und sterbend sendet er der Geliebten seinen letzten
Gruss!----Petra fasst erst, was geschehen ist, als die Braut still
hereintritt und--seine Leiche erblickt. Und da ist es, als sammelten
alle Wolken des Schmerzes sich ueber einem einzigen Punkt; aber ein Blick
zerteilt sie: die Braut blickt auf von des Toten Brust und fleht zum
Himmel, dass er auch sie sterben lasse. Und der Himmel oeffnet sich diesem
Blick, ein Leuchten senkt sich nieder, droben wartet der
Hochzeitssaal--lasset die Braut ein! Schon sieht sie den Himmel offen;
von ihren Augen strahlt ein Friede gleich dem Frieden hoher Gipfel. Ihre
Augenlider schliessen sich, dem Kampf erblueht eine erhaben-edlere
Loesung, ihrer Treue eine herrlichere Krone; sie sind vereint.
Lange sass Petra regungslos da; ihr Herz war im Glauben erhoben, die
Macht des Grossen erfuellte sie. Sie schwang sich empor ueber alles Kleine;
sie schwang sich empor ueber Furcht und Schmerz; sie schwang sich empor,
mit einem Laecheln fuer alle: denn alle waren Brueder und Schwestern. Das
Boese, das da trennt, war nicht mehr,--es war zerschmettert vom Donner.
Die Leute lachten sie an,--das war ja das Maedel, das sich waehrend der
Vorstellung so verrueckt benommen hatte. Sie aber sah in ihrem Laecheln
nichts anderes als den Wiederschein des Sieges Jubels, der in ihr selber
war. Und in dem Glauben, dass die anderen mit ihr laechelten, laechelte
sie so strahlend zur Antwort, dass die anderen alle laecheln mussten
mit ihrem Laecheln. Sie schritt die breite Treppe hinab zwischen zwei
auseinanderweichenden Reihen von Menschen, die ihr Freude von ihrer
Freude, Schoenheit von der Schoenheit zurueckgaben, die ueber ihr
leuchtete. Der Glanz unseres Innern kann oft so maechtig werden, dass wir
alles um uns her in Klarheit tauchen, ob wir es selbst auch nicht sehen.
Das ist der groesste Triumphzug der Welt, angekuendigt, getragen und
geleitet zu werden von unseren eigenen leuchtenden Gedanken.
Als sie, ohne zu wissen wie, zu Hause angelangt war, fragte sie, was das
alles denn eigentlich gewesen sei. Einige der Anwesenden verstanden sie
auch und gaben ihr hilfreich Auskunft. Und als sie nun genau Bescheid
wusste, was ein Schauspiel ist, und was grosse Schauspieler vermoegen, da
stand sie auf und sagte: "Das ist das Groesste auf Erden; das will ich
werden."
Zur Verwunderung aller zog sie ihren Mantel wieder an und ging noch
einmal aus; sie musste allein sein und im Freien. Sie liess die Stadt
hinter sich und wanderte im heftigen Wind hinaus auf die naechste
Landzunge. Unter ihr brauste das Meer; die Stadt aber lag zu beiden
Seiten der Bucht, in einem Lichtnebel, hinter dem die zahllosen
einzelnen Flammen mit vereinigten Kraeften arbeiteten, ohne doch mehr zu
erreichen, als den Flor zu durchleuchten, den sie nicht heben konnten.
Das wurde ihr zum Bild ihrer eigenen Seele. Das grosse Dunkel zu ihren
Fuessen gab mit seinem dumpfen Tosen Kunde von einer undurchdringlichen
Tiefe; es galt, entweder hinabzusinken oder sich emporzuheben und zu
versuchen, mitzuleuchten. Sie fragte sich, warum ihr frueher nie solche
Gedanken gekommen waren, und sie antwortete sich selbst: weil immer nur
der Augenblick ueber sie Macht gehabt hatte. Jetzt aber fuehlte sie: auch
sie hatte Macht ueber den Augenblick. Jetzt sah sie es: so viele Lichter
dort drueben funkelten, so viele Augenblicke wuerden ihr gegeben werden,
und sie bat Gott um die Kraft, sie alle voll auszunuetzen, damit er
keinen vergebens entzuendet haette. Sie stand auf; denn es wehte ein
eisiger Wind. Sie war nicht lange draussen gewesen; aber als sie wieder
nach Hause ging, da wusste sie, wohin sie ging.
* * * * *
Am naechsten Tage stand sie vor der Tuer des Direktors. Heftiges Schelten
toente ihr von drinnen entgegen. Die eine Stimme schien ihr Aehnlichkeit
mit der Stimme der Liebhaberin von gestern Abend zu haben. Freilich ging
sie jetzt aus einer andern Tonart, aber Petra erbebte doch bei ihrem
Klang. Sie wartete lange; als es immer noch kein Ende nehmen wollte,
klopfte sie an. "Herein!" schrie eine wuetende Maennerstimme. "Oh!"
kreischte eine Frauenstimme, und als Petra oeffnete, sah sie das
fliehende Entsetzen eines Nachtgewandes und aufgeloesten Haares durch
eine Seitentuer verschwinden. Der Direktor, ein langer Mensch mit
unfreundlichen Augen, die er eiligst hinter einer goldenen Brille
versteckte, lief aufgeregt im Zimmer hin und her. Seine lange Nase
beherrschte das Gesicht so gaenzlich, dass alles uebrige nur ihretwegen da
zu sein schien; die Augen guckten wie zwei Gewehrlaeufe hinter diesem
Wall hervor, der Mund war der Graben und die Stirn eine leichte Bruecke
vom Wall hinueber zu dem Wald oder dem "Verhau".--"Was wuenschen Sie?" Er
blieb mit einem Ruck stehen. "Sind Sie die Dame, die gern Choristin
werden moechte?" setzte er eilfertig hinzu.--"Choristin? Was ist
das?"--"Nanu--das wissen Sie gar nicht? So, so! Na, was wollen Sie denn
sonst?"--"Ich will Schauspielerin werden."--"So, Schauspielerin wollen
Sie werden--und wissen nicht, was eine Choristin ist. Hm, hm. Aber Sie
reden ja Dialekt!"--"Dialekt? Was ist das?"--"So, also das wissen Sie
auch nicht. Und dabei wollen Sie Schauspielerin werden. Hm, hm. Ja, das
ist wieder mal echt Norwegisch. Dialekt--das will sagen, dass Sie nicht
so sprechen wie wir."--"Ja, aber ich hab' mich den ganzen Morgen darin
geuebt."--"So, wirklich? Schau', schau'! Also schiessen Sie mal
los!"--Und Petra stellte sich auf und deklamierte wie die Liebhaberin
gestern Abend: "Un so wist Deine Valborg Du verlaten!"[2] "Na,
aber,--Himmelkreuzdonnerwetter! Sind Sie etwa hergekommen, um sich ueber
meine Frau lustig zu machen?" Aus dem Nebenzimmer ertoente schallendes
Gelaechter. Der Direktor oeffnete die Tuer und rief, augenscheinlich ohne
die leiseste Erinnerung daran, dass sie sich den Augenblick vorher noch
auf Leben und Tod gezankt hatten: "Da ist eine kleine Norwegerin, die
Dich karikieren will! Komm doch mal und sieh sie Dir an!" Ein Damenkopf
mit ungekaemmtem, trotzig schwarzem Haar, dunkeln Augen und einem grossen
Mund schaute herein und lachte. Petra aber eilte augenblicklich auf sie
zu; das _musste_ die Heldin sein von gestern Abend--oder nein, ihre
Mutter, dachte sie, als die Dame naeher kam. Petra sah sie an und sagte:
"Ich weiss nicht--sind Sie's ... oder sind Sie ihre Mutter?" Jetzt lachte
auch der Direktor. Der Frauenkopf hatte sich wieder zurueckgezogen, aber
aus dem Nebenzimmer toente noch immer das Lachen. Petras Verlegenheit
malte sich so lebhaft in Stellung, Gesicht, Mienenspiel, dass der
Direktor aufmerksam wurde. Er betrachtete sie eine Weile; dann griff er
nach einem Buch und sagte so ganz beilaeufig: "Kommen Sie mal her, Kind,
und lesen Sie. Aber lesen Sie einfach so, wie Sie fuer gewoehnlich
sprechen." Petra las.--"Nein, nein--das ist ja Unsinn! Hoeren Sie zu!"
Und er las ihr vor, und sie las ihm nach, genau so, wie er gelesen
hatte. "Nein doch, nein! So lesen Sie doch norwegisch--den Teufel noch
mal--norwegisch!" Und Petra las wieder wie vorhin. "Nein doch, sag' ich!
Das ist ja der helle Bloedsinn! Begreifen Sie denn nicht, was ich meine?
Sind Sie dumm!"--Er versuchte es wieder und wieder; dann gab er ihr ein
anderes Buch. "Da,--hier haben Sie was anderes: etwas Komisches. Also
los!" Und Petra las. Aber wieder war es dieselbe Geschichte, bis er
endlich gelangweilt ausrief: "Ach was, nein doch, nein! So hoeren
Sie endlich einmal auf! Was, Teufel, wollen Sie denn eigentlich
beim Theater? Was wollen Sie denn spielen zum Kuckuck?"--"Das,
was ich gestern gesehen hab', will ich spielen."--"Aha! Na ja,
selbstverstaendlich! natuerlich! Na--und...?"--"Ja," sagte sie ein
bisschen verlegen, "es war ja auch wirklich so wunderschoen gestern; aber
ich hab' mir heut doch gedacht,--noch viel schoener waere es, wenn es gut
ausginge. Das moecht' ich gern machen."--"So, also das moechten Sie.--Hm,
na ja, genieren Sie sich nur nicht! Der Dichter ist tot. Der steht
natuerlich heutzutage nicht mehr auf der Hoehe; und darum wollen
Sie, die weder lesen noch schreiben kann, ihn umdichten;--echt
Norwegisch!"--Petra begriff kein Wort; nur das begriff sie--ihre Sache
stand schlecht. Und ihr wurde aengstlich zumute. "Also ich darf nicht?"
fragte sie leise. "I, aber natuerlich! Durchaus nichts im Wege! Bitte!
Hoeren Sie!" sagte er in ganz veraendertem Ton, waehrend er dicht an sie
herantrat, "vom Komoedienspielen verstehen Sie so wenig wie eine Katze.
Und Talent haben Sie keins, weder fuers Komische, noch fuers Tragische;
ich hab' Sie jetzt in beidem geprueft. Weil Sie ein huebsches Fraetzchen
haben und eine huebsche Figur, haben die Leute Ihnen in den Kopf gesetzt,
Sie seien die geborene Schauspielerin, natuerlich eine viel bessere als
meine Frau! Und dazu suchen Sie sich auch gleich die groesste Rolle im
ganzen Repertoir aus und dichten sie noch obendrein um. Jawohl! Echt
Norwegisch! Die koennen ja alles!"--Petras Atem ging schneller und
schneller; sie schluckte und schluckte und endlich wagte sie zu
fluestern: "Also ich darf wirklich nicht?"--Der Direktor stand am Fenster
und sah hinaus. Er hatte gedacht, sie sei schon laengst fort. Erstaunt
wandte er sich um. Aber als er ihre Erregung sah und die wunderbare
Kraft, die sich dadurch ihrem ganzen Wesen aufpraegte, stand er einen
Augenblick still, griff dann ploetzlich aufs neue nach dem Buch und sagte
mit einer Stimme und einem Gesichtsausdruck, in denen alles
Vorhergegangene wie weggeblasen war: "Da, lesen Sie mal das da, ganz
langsam,--damit ich einmal Ihr Organ hoere. Na, los!" Aber sie konnte
nicht lesen. Die Buchstaben tanzten ihr vor den Augen. "Na, nur nicht so
verzagt!" Endlich fing sie an, aber kalt, farblos. Er liess sie die
Stelle wiederholen--"mit mehr Gefuehl". Es wurde nur noch schlechter. Da
nahm er ihr das Buch ruhig aus der Hand und sagte: "Ich habe Sie jetzt
nach jeder Richtung hin geprueft; mehr kann ich nicht tun. Ich versichere
Ihnen, mein bestes Fraeulein, ob ich meinen Stiefel auf die Buehne schicke
oder Sie--es wuerde genau denselben Eindruck machen, naemlich einen hoechst
sonderbaren. Und damit wollen wir's genug sein lassen!" Mit letzter
Aufbietung ihrer Kraefte stotterte Petra flehend: "Ich glaube, ich
versteh' es doch, wenn ich bloss--" "Natuerlich! Selbstredend! Jedes
lumpige Fischernest versteht ja mehr davon als wir. Das norwegische
Publikum ist das gebildetste der ganzen Welt. Na, wenn Sie nicht gehen
wollen, so geh' ich!" Sie wandte sich zur Tuer und brach in Traenen aus.
"Sagen Sie mal--" rief er; denn bei ihrer heftigen Erregung ging ihm
ploetzlich ein Licht auf. "Sie sind doch nicht etwa die Person, die
gestern abend solchen Skandal im Theater gemacht hat?"--Sie wandte sich
feuerrot um und sah ihn an. "Natuerlich sind Sie's! Jetzt weiss ich, wer
Sie sind! Das 'Fischermaedel'! Ich war nach dem Theater mit einem Herrn
aus Ihrem Heimatort zusammen; mit einem, der Sie 'gut kannte!' So, also
darum moechten Sie so gern zum Theater! Sie moechten Ihre Kuenste dort
probieren--aha! Wissen Sie was: mein Theater ist ein anstaendiges
Institut, und ich verbitte mir jeglichen Versuch, es zu reformieren.
Machen Sie, dass Sie fortkommen! Aber etwas ploetzlich, wenn ich bitten
darf!"--Und laut aufschluchzend rannte Petra zur Tuer hinaus, die Treppe
hinunter und auf die Strasse. Schluchzend, weinend lief sie so, mitten
unter allen Menschen. Eine Dame, die am hellichten Tag weinend durch die
Strassen laeuft, musste, wie man sich denken kann, grosses Aufsehen
erregen. Leute blieben stehen, Gassenjungen rannten hinter ihr drein, erst
einige, dann mehrere. Und in diesem Laerm hinter sich her hoerte Petra
wieder das Toben und Branden jener Naechte in ihrem Giebelstuebchen--sah
wieder all die Gesichter in der Luft--und rannte, rannte! Aber wie
hinter ihr der Laerm, so wuchs mit jedem Schritt auch die Erinnerung, und
als sie das Haus erreicht, die Haustuer hinter sich zugeschlagen, sich
auf ihr Zimmer gefluechtet und den Schluessel umgedreht hatte, da musste
sie sich niederwerfen in einen Winkel und die Gesichter abwehren; mit
den Haenden schlug sie danach--stiess Drohungen aus.--Schliesslich sank sie
erschoepft zusammen,--ihre Traenen flossen ruhiger,--sie war gerettet.
[2] Aus Adam Oehlenschlaegers Schauspiel "Axel und Valborg."
* * * * *
Noch am Abend desselben Tages verliess sie Bergen und fuhr landeinwaerts.
Sie wusste selbst nicht wohin. Sie wollte nur irgendwohin, wo man sie
nicht kannte. Sie sass im Karriol, ihr Koffer war hinten aufgeschnallt,
und obendrauf sass der Postbub. Es regnete in Stroemen; sie sass
zusammengekauert unter einem grossen Regendach und blickte voll Bangen
bald an der Bergwand empor, bald in den Abgrund auf der andern Seite
hinab. Der Wald vor ihr war eine einzige bruetende Nebelmasse, voll
Gespenster. Im naechsten Augenblick musste sie mitten drin sein. Aber
immer wieder wich der Nebel zurueck, mit jedem Schritt, den sie in den
Wald hineintat. Ein maechtiges Droehnen, das immer gewaltiger wurde,
verstaerkte in ihr das Gefuehl, als bewege sie sich in einem
geheimnisvollen Kreis, in dem alles seine eigene Bedeutung, seinen
dunkeln Zusammenhang hatte und in dem der Mensch nichts war als ein
furchtsamer Wandersmann, der eben sehen musste, wie er weiter kam. Das
Droehnen ruehrte von den Sturzbaechen her, die durch die Regenguesse zu
Riesen angeschwollen waren und nun unter Bruellen und Tosen stossweise von
Fels zu Fels in die Tiefe sprangen. Wo der Weg ging, fuehrten schmale
Bruecken hinueber; sie sah es unter sich brodeln in den hohlen Kesseln.
Bald ging es in Kruemmungen und Windungen abwaerts; da und dort ein
vereinzeltes Stueck Ackerland, ein paar torfbedeckte Huetten auf einem
Klumpen. Dann wieder aufwaerts, dem Wald und dem Rauschen entgegen. Sie
war durchnaesst, sie fror. Aber sie wollte weiter, solang es Tag war,
weiter auch am naechsten Tag,--immer tiefer ins Land hinein, bis sie eine
Staette fand, wo sie geborgen war. Und dazu wuerde er ihr helfen, er, der
Allmaechtige, der sie jetzt leitete durch Dunkel und Sturm.
Achtes Kapitel
Ein mildes Spaetjaehr kann manchmal gerade in den fruchtbaren und
geschuetzten Gebirgstaelern des Stiftes Bergen noch tief im Herbst die
reinsten Sommertage bringen. Da laesst man ueber Mittag das Vieh wieder auf
die Weide, auch wenn es schon zur Winterfuetterung eingebracht ist. Und
die Tiere sind wohlgenaehrt und uebermuetig um diese Zeit und bringen, wenn
sie am Abend heimgetrieben werden, Leben genug auf den Hof.
So kamen sie gerade den Viehsteig herunter, auf ein grosses Gehoeft
zu--Kuehe, Schafe und Ziegen, bruellend, bloekend und tanzend ... als Petra
vorueberfuhr. Der Tag war hell; das lange weisse Gutshaus leuchtete mit
seinen Fenstern in der Sonne, und ueber dem Haus stieg das Gebirge auf,
so vollgepackt von Foehren, Birken, Faulbaeumen und Ebereschen, von
Heckenrosen und allen Auslaeufern, dass die Gebaeude darunter wie
eingebettet lagen. Vor dem Hauptgebaeude, am Weg, war ein Garten; darin
standen ueppige Aepfel-, Kirsch- und Morellenbaeume; und an den Wegen und
am Zaun wuchsen Stachelbeer-, Johannisbeer- und Himbeerbuesche. Ueber
alles hin ragten ein paar grosse alte Eschen mit breiten Kronen. Das Haus
sah wie ein verstecktes Nest zwischen den Aesten hervor, ein Nest, in das
niemand drang, als die Sonne. Aber gerade dieses Versteckte erregte
Petras Sehnsucht. Und weil die Sonne aus den Scheiben funkelte, und die
Herdenglocken so froehlich lockten, und sie hoerte, dass das ein Pfarrhof
sei, griff sie hurtig in die Zuegel: "Halt! Hier muss ich hinein!" Und bog
seitwaerts ab, am Garten entlang.
Ein paar Wolfshunde stuerzten ihr wuetend entgegen, als sie in den Hof
fuhr. Der Hof war ein grosses, eingebautes Viereck. Dem Wohnhaus
gegenueber der Kuhstall, rechts ein Fluegel des Wohnhauses, links
Waschhaus und Gesindewohnung. Der ganze Hof war gerade voll von Vieh.
Mitten unter den Tieren stand eine Dame, ziemlich gross und sehr schlank.
Sie trug ein eng anschliessendes Kleid und ueber dem Kopf ein kleines
seidenes Tuch. Rings um sie herum und an ihr hinauf sprangen Ziegen,
weisse, braune, scheckige, schwarze, alle mit kleinen Glocken, die im
Dreiklang abgestimmt waren. Und fuer jede Ziege hatte sie einen
Kosenamen und einen Leckerbissen in einer Schuessel, die die Milchmagd
immer wieder fuellte. Auf der niedrigen Treppe, die vom Wohnhaus auf den
Hof fuehrte, stand der Propst mit einer Schuessel Salz, und vor der
Staffel standen die Kuehe und leckten ihm das Salz aus der Hand und von
den Steinfliessen, auf die er es streute, Der Propst war kein grosser,
aber gedrungener Mann, mit kurzem Hals und niederer Stirn. Die buschigen
Brauen beschatteten ein Paar Augen, die nicht gern geradeaus, sondern
nur ab und zu seltsam funkelnd von der Seite blickten. Das
kurzgeschnittene dichte Haar war grau und straeubte sich nach allen
Seiten; es wuchs den Nacken hinab fast ebenso stark wie auf dem Kopf; er
trug keine Krawatte, das Hemd war mit mit einem Knopf zusammengehalten
und stand vorn offen, so dass die behaarte Brust sichtbar war; auch die
Hemdaermel waren nicht zugeknoepft und hingen lose ueber den kleinen
kraeftigen, augenblicklich klebrigen Haenden, mit denen er das Salz
austeilte. Haende und Arme waren dicht behaart. Er warf von der Seite her
einen scharfen Blick auf die fremde Dame, die da ausgestiegen war und
sich durch die Ziegen den Weg zu seiner Tochter gebahnt hatte. Was die
beiden miteinander redeten, konnte er vor dem Laerm, den Kuehe, Hunde und
Schellen machten, nicht hoeren; aber jetzt blickten die beiden zu ihm
herueber und kamen, umringt von den Ziegen, auf die Treppe zu. Ein
Hirtenjunge trieb auf einen Wink des Propstes die Kuehe fort. Und Signe,
die Tochter, rief jetzt... Petra empfand voll Behagen den Wohllaut der
Stimme: "Vater, da ist eine fremde Dame, die gern einen Tag bei uns
ausruhen moechte!"--"Sie ist mir herzlich willkommen!" rief der Propst
zurueck; dann gab er das Salzfass einer Magd und ging in sein
Studierzimmer rechts vom Hausflur, um sich zu waschen und
zurechtzumachen. Petra folgte dem Fraeulein in den Hausflur, der
eigentlich ein Vorzimmer war, so hell und so geraeumig war er. Der
Postjunge wurde abgelohnt, ihr Gepaeck wurde ins Haus geschafft, in
einem der Studierstube gegenueberliegenden Nebenzimmer machte sie sich
ein bisschen zurecht und trat dann wieder hinaus in den Flur, um sich von
dort ins Wohnzimmer fuehren zu lassen.
Was fuer ein helles grosses Zimmer! Fast die ganze Wand nach dem Garten zu
bestand aus Fenstern; das mittlere war zugleich eine Gartentuer. Die
Fenster waren breit und hoch und reichten beinah bis auf den Fussboden;
aber sie standen ganz voll Blumen. Blumen auf Staendern bis tief ins
Zimmer herein, Blumen auf den Fensterbrettern, und statt der Gardinen
schlangen sich Efeuranken aus zwei kleinen Blumenhecken hoch oben am
Fensterrahmen bis auf die Erde. Und da auch draussen Straeucher und Blumen
standen, unter dem Fenster, an beiden Seiten, um die Scheiben
herumgerankt und auf dem Rasenplatz davor, so glaubte man in ein
Treibhaus zu treten, das mitten in einem Garten lag. Und doch,--kaum war
man einige Augenblicke im Zimmer, so sah man die Blumen gar nicht mehr;
man sah nur noch die Kirche, die frei auf einer Anhoehe zur Rechten lag,
und das blauschimmernde Wasser, das ihr Bild aufnahm und flimmernd
dahinstroemte, bis tief in die Berge hinein, so tief, dass man nicht
wusste, war es ein Binnensee oder ein Meeresarm, der sich
hereinschlaengelte. Und dann die Berge selbst! Kein einzelner Berg, nein,
ganze Ketten von Bergen, ein Bergruecken immer gewaltiger hinter dem
andern emporragend, als sei hier die Grenze der bewohnten Welt!
Als Petras Blicke sich endlich von diesem Bilde loesten, war alles im
Zimmer wie geweiht durch den Anblick da draussen; rein und anmutig
schlang es sich als ein Blumenrahmen um das grosszuegige Gemaelde. Ihr war,
als umgebe sie ein Unsichtbares, das auf ihr Tun, auf ihr Denken Acht
hatte; ohne sich dessen bewusst zu sein, ging sie pruefend im Zimmer umher
und beruehrte die einzelnen Gegenstaende. Da sah sie ueber dem Sofa an der
langen Wand dem Licht gegenueber das lebensgrosse Bild einer Frau, die
auf sie herablaechelte. Sie sass mit leicht geneigtem Haupt und gefalteten
Haenden da; der rechte Arm ruhte auf einem Buch, dessen Ruecken in
deutlichen Lettern die Inschrift: "Sonntagsbuch", trug. Blond von Haar
und licht von Farbe, strahlte sie hernieder und verlieh Sonntagsruhe
allem, was sie bestrahlte. Ihr Laecheln war Ernst, aber der Ernst war
Hingebung; es war, als ziehe sie alles und alle in Liebe an sich; denn
es war, als verstehe sie alles, weil sie in allem nur das Gute sah. Ihr
Antlitz trug das Gepraege krankhafter Zartheit; aber diese Schwaeche musste
ihre Staerke sein; denn den Menschen, der dieser Schwaeche hatte wehtun
koennen, den gab es sicherlich nicht. Um den Rahmen hing ein
Immortellenkranz; sie war also tot.
"Das war meine Mutter!"--hoerte Petra hinter sich eine sanfte Stimme
sagen; sie wandte sich um und sah die Tochter des Hauses vor sich
stehen, die vorhin hinausgegangen und jetzt wieder eingetreten war. Aber
das ganze Zimmer war fortan ausgefuellt von dem Bilde; alles leitete zu
ihm hinan, alles erhielt von ihm sein Licht, alles war nur des Bildes
wegen da, und die Tochter war sein stiller Abglanz. Ein bisschen
schweigsamer erschien die Tochter, ein bisschen zurueckhaltender. Die
Mutter zog den Blick auf sich und gab ihn voll zurueck; die Tochter hielt
den ihren gesenkt. Aber dabei dieselbe Klarheit, dieselbe Milde. Auch
die Gestalt der Mutter hatte sie; doch ohne eine Spur von Kraenklichkeit.
Die lebhaften Farben ihres festanliegenden Kleides, ihrer Schuerze, der
kleinen Krawatte, die von einer roemischen Nadel zusammengehalten war,
gaben im Gegenteil ihrem Gesicht etwas Frisches und liessen eine Anmut
und einen Sinn fuer Anmut ahnen, die sie zur Tochter des Bildes dort oben
und zum guten Genius des Hauses stempelten. Und wie sie das Maedchen so
zwischen den Blumen der Mutter umhergehen sah, stieg eine grosse
Sehnsucht nach ihr in Petra auf. Im Umgang mit dieser Frau, in diesem
Hause musste alles Gute gedeihen. Wenn sie nur Einlass faende! Sie empfand
ihre Verlassenheit doppelt. Unverwandt folgten ihre Blicke Signe, wo
diese ging und stand; Signe fuehlte es und suchte auszuweichen;
vergebens. Zuletzt wurde sie ganz verlegen und beugte sich ueber ihre
Blumen. Endlich wurde Petra sich ihrer Aufdringlichkeit bewusst; sie
schaemte sich und haette gern um Verzeihung gebeten. Aber etwas an diesem
sorgfaeltig geordneten Haar, der feinen Stirn, dem eng anliegenden Kleid
mahnte sie zur Vorsicht. Sie blickte auf zur Mutter; oh, die haette sie
auf der Stelle umarmen koennen! War es nicht, als ob sie sie willkommen
hiesse? Durfte sie wirklich hoffen? So hatte noch kein Mensch sie
angesehen! In diesem Blick stand geschrieben: alles weiss ich; ich kenne
dich, du Verirrte,--und ich verzeihe dir! Und sie brauchte diese
Nachsicht,--sie konnte den Blick nicht abwenden von diesen guetigen
Augen. Sie neigte das Haupt, wie die Frau auf dem Bilde, sie faltete die
Haende,--und fast ohne es selber zu wissen, wandte sie sich um: "Lassen
Sie mich hier bleiben!" Signe richtete sich auf und sah sie an; sie war
so erstaunt, dass sie gar nicht antworten konnte. "Lassen Sie mich hier
bleiben!" bat Petra wieder und ging auf sie zu. "Hier ist es schoen!" Und
ihre Augen fuellten sich mit Traenen.
"Ich will meinen Vater holen!" sagte das junge Maedchen. Petra folgte ihr
mit den Augen, bis sie hinter der Tuer des Studierzimmers verschwunden
war. Aber sobald sie wieder allein war, ueberfiel sie eine Angst vor dem,
was sie getan hatte; und als sie in der Tuer das erstaunte Gesicht des
Propstes sah, zitterte sie. Er trat ein, etwas sorgfaeltiger gekleidet
als vorhin, im Munde die Pfeife, die er mit festem Griff umklammert
hielt. So oft er den Rauch einsog, liess er sie aus den Lippen gleiten,
und stiess dann den Rauch in drei Absaetzen wieder heraus, wobei er
jedesmal leise paffte. Das wiederholte er einige Male, waehrend er mitten
im Zimmer gerade vor Petra stehen blieb, ohne sie anzusehen, aber als
erwarte er, dass sie etwas sagen solle. Sie getraute sich nicht, diesem
Mann gegenueber ihre Bitte zu wiederholen; er sah so streng aus. "Sie
moechten hier bleiben?" fragte er und streifte sie mit einem langen,
leuchtenden Seitenblick. Die Angst verlieh ihrer Stimme etwas Bebendes.
"Ich weiss nicht, wo ich sonst hin soll." "Wo sind Sie her?" Petra nannte
leise ihren Geburtsort und ihren Namen. "Wie kommen Sie denn hierher?"
"Ich weiss nicht--ich moechte--ich will gern bezahlen--ich--ich weiss
nicht--" Sie wandte sich ab; eine Weile konnte sie ueberhaupt nicht mehr
sprechen, dann fasste sie wieder Mut und sagte: "Ich will ja alles tun,
was Sie von mir verlangen,--wenn ich bloss hier bleiben darf und nicht
weiter muss,--und nicht noch einmal ein zweites Mal bitten--" Die Tochter
war mit dem Vater wieder hereingekommen, war aber beim Kamin stehen
geblieben und fingerte dort, ohne aufzublicken, in den gedoerrten
Rosenblaettern herum. Der Propst erwiderte nichts. Man hoerte nur sein
Pfeifenpaffen, waehrend er abwechselnd bald Petra, bald die Tochter, bald
das Bild ansah. Nun kann ein und derselbe Gegenstand einen ganz
verschiedenen Eindruck hervorrufen. Waehrend Petra innerlich flehte, das
Bild moege ihn guenstig stimmen, schien es dem Propst, als fluestere es ihm
zu: "Schuetze unser Kind! Nimm niemand Fremdes zu ihr ins Haus!" Mit
einem scharfen Seitenblick wandte er sich zu Petra und sagte: "Nein! Sie
koennen nicht bleiben."
Petra erblasste, seufzte tief auf, blickte sich unsicher um und stuerzte
ins Nebenzimmer, dessen Tuer halb offen stand. Dort warf sie sich
kopfueber auf einen Tisch und ueberliess sich haltlos ihrem Schmerz und
ihrer Enttaeuschung!--Vater und Tochter sahen einander an.
Solch ein Mangel an Lebensart--ohne weiteres in ein fremdes Zimmer zu
stuermen und sich einfach gehen zu lassen--das hatte wirklich nur
seinesgleichen in der Art, wie sie von der Landstrasse hereingeschneit
war, gebeten hatte, hier bleiben zu duerfen, und dann, als man ihr das
abschlug, laut zu heulen anfing. Der Propst ging ihr nach, nicht um mit
ihr zu reden, sondern um die Tuer hinter ihr zuzumachen. Mit feuerrotem
Gesicht kam er zurueck und sagte leise zur Tochter, die noch am Ofen
stand: "Hast Du jemals so was von Frauenzimmer gesehen? Wer ist sie
denn? Was will sie?" Die Tochter antwortete nicht gleich; aber als sie
endlich antwortete, sprach sie noch leiser als der Vater: "Sie fuehrt
sich ja freilich verdreht auf. Aber etwas Besonderes hat sie doch an
sich." Der Propst ging im Zimmer auf und ab und blickte immer wieder zur
Tuer. Zuletzt blieb er stehen und fluesterte: "Sie muss nicht ganz richtig
im Kopf sein!" Und als Signe nichts erwiderte, trat er naeher auf sie zu
und wiederholte bestimmter: "Sie ist verrueckt, Signe. Einfach verrueckt.
Das ist das Besondere an ihr!" Wieder fing er an, auf und ab zu gehen;
schliesslich kam er auf andere Gedanken; und fast hatte er schon
vergessen, was er eben gesagt hatte, als die Tochter fluesternd
antwortete: "Das glaub' ich nicht. Aber sehr ungluecklich muss sie sein!"
Und sie beugte sich ueber die welken Rosenblaetter, mit denen ihre Finger
noch immer spielten. Der Klang der Stimme sowie dies Spielen haette fuer
einen Fremden nichts Auffallendes gehabt; aber der Vater wurde sofort
aufmerksam. Er ging, das Bild an der Wand betrachtend, ein paarmal
durchs Zimmer und sagte endlich sehr leise: "Meinst Du, weil sie
ungluecklich aussieht--wuerde--Mutter ihr erlaubt haben, zu
bleiben?"--"Mutter haette mit ihrer Antwort ueberhaupt ein paar Tage
gewartet!" fluesterte die Tochter und beugte sich noch tiefer ueber die
Rosen. Die leiseste Erinnerung an sie da droben konnte, wenn die Tochter
sie ihm zu Gemuete fuehrte, den buschigen Loewenkopf zahm machen wie ein
Lamm. Er fuehlte sogleich die Wahrheit ihrer Worte und stand da wie ein
Schuljunge, der beim Luegen ertappt wird; er vergass seine Pfeife, er
dachte nicht mehr ans Gehen, und erst nach einer langen Weile fluesterte
er: "Soll ich sie bitten, ein paar Tage bei uns zu bleiben?" "Du hast
ihr ja schon geantwortet."
"Nun ja,--aber sie ganz bei uns aufnehmen oder sie ein paar Tage
behalten,--das ist zweierlei." Auch Signe schien zu ueberlegen. Endlich
sagte sie: "Tu, was Du fuer das Beste haeltst!"
Der Propst schien sich diesen Vorschlag doch noch naeher zu ueberlegen. Er
ging wieder verschiedene Male im Zimmer auf und ab und stiess dicke
Rauchwolken aus. Endlich blieb er stehen. "Willst Du zu ihr hinein--oder
soll ich--?" "Es wird schon das beste sein, Du gehst zu ihr!" sagte die
Tochter mit einem weichen Blick.
Der Propst hatte schon die Hand an der Tuerklinke, als von drinnen ein
schallendes Gelaechter ertoente. Dann wieder Stille--und aufs neue eine
wahre Lachsalve. Der Propst war zurueckgeprallt; jetzt ging er wieder auf
die Tuer los; die Tochter hinter ihm her. Das Maedchen da drin musste krank
geworden sein.
Als die Tuer aufging, sahen sie Petra noch an derselben Stelle sitzen, wo
sie sich vorhin hingeworfen hatte. Vor ihr lag ein aufgeschlagenes Buch,
ueber das sie sich, ohne zu wissen, was sie tat, hergemacht hatte. Ihre
Traenen waren auf die Blaetter des Buchs gefallen und sie hatte sie
abwischen wollen. Da war ihr Blick auf einen der saftigen Ausdruecke
gefallen, deren sie sich aus den Tagen ihres Strassenjungenlebens her
noch so gut erinnerte, und die sie nie im Leben fuer druckfaehig gehalten
hatte. Vor lauter Entsetzen vergass sie zu weinen; sass nur und starrte in
das Buch! Um Gotteswillen ... was war denn das? Sie las weiter, mit
offenem Mund. Es wurde immer aerger, furchtbar derb, aber so
unwiderstehlich komisch, dass sie gar nicht anders konnte: sie musste
immer weiter lesen. Und sie las, bis sie ueberhaupt nichts mehr wusste,
las ueber Kummer und Traenen, ueber Zeit und Raum hinweg--mit dem alten
Vater Holberg. Denn kein anderer war es als er! Sie lachte, sie
schuettelte sich vor Lachen. Und noch als der Propst und seine Tochter
schon vor ihr standen, merkte sie gar nicht, wie ernst sie waren, dachte
gar nicht mehr an ihr eigenes Anliegen, sondern lachte nur und lachte
und fragte: "Was ist denn das? Was in aller Welt ist denn das?" Und
dabei schlug sie das Titelblatt auf...
Ploetzlich wurde sie blass; sie sah zu den beiden auf, sah wieder in das
Buch, auf die wohlbekannten Schriftzuege. Es gibt Dinge, die einen ins
Herz treffen, wie eine Kugel, Dinge, von denen man sich hunderte von
Meilen entflohen waehnt, und die man auf einmal dicht vor sich sieht.
Da--auf dem ersten Blatt--stand geschrieben: "Hans Oedegaard."
Flammendrot rief sie: "Gehoert _ihm_ das Buch?--Kommt _er_ hierher?" Und
sie stand auf. "Ja, versprochen hat er's", erwiderte Signe. Und Petra
entsann sich, dass er im Ausland mit einer Pastorenfamilie aus dem Stift
Bergen zusammengewesen war. Sie selbst war nur im Ring herumgefahren,
sie war geradenwegs auf ihn zugereist. "Kommt er bald? Ist er etwa gar
hier?" Sie schickte sich auf der Stelle an, davonzulaufen.--"Nein, er
ist ja doch krank", sagte Signe.--"Ach, richtig, er ist ja krank!"
wiederholte Petra schmerzlich und sank zusammen.
"Sagen Sie mal," rief Signe, "Sie sind doch nicht etwa--?" "Das
Fischermaedel?" vollendete der Propst. Petra sah flehend zu ihnen auf.
"Ja, ich bin das Fischermaedel", sagte sie.
Die war ihnen gar wohl bekannt; Oedegaard hatte ja von nichts anderem
gesprochen. "Das aendert freilich die Sache!" sagte der Propst; er
fuehlte, hier war etwas Zerbrochenes--hier tat die Hilfe von Freunden
not. "Bleiben Sie einstweilen hier!" sagte er.
Petra sah auf; sie bemerkte den Blick, mit dem Signe ihm dankte, und das
tat ihr so wohl, dass sie zu Signe hinging, ihre beiden Haende fasste--mehr
getraute sie sich nicht--und, allerdings in Verlegenheit, sagte: "Ich
will Ihnen alles erzaehlen, sobald wir allein sind."
Eine Stunde spaeter kannte Signe Petras ganze Geschichte, die sie sofort
ihrem Vater mitteilte. Auf seinen Rat schrieb sie noch am selben Tag an
Oedegaard, und damit fuhr sie fort, solange Petra bei ihnen im Hause war.
Petra aber, als sie sich an diesem Abend in den maechtigen Daunenkissen
zur Ruhe legte, in einem gemuetlichen Zimmer, wo im Ofen die
Birkenscheiter knisterten und wo auf dem weissen Nachttisch zwischen den
zwei Kerzen das Neue Testament lag, griff nach dem Buch und dankte ihrem
Gott fuer alles, Gutes und auch Boeses...
* * * * *
Der Propst hatte als junger Mann von feuriger Seele und grosser
Rednergabe den Wunsch gehabt, Geistlicher zu werden. Seine wohlhabenden
Eltern waren dagegen gewesen; sie haetten es lieber gesehen, wenn er das
gewaehlt haette, was sie eine "_unabhaengige_ Lebensstellung" nannten. Aber
ihr Widerstand spornte seinen Eifer noch mehr an, und als er fertig war,
ging er ins Ausland, um dort weiter zu studieren. Auf der Durchreise
lernte er in Daenemark eine Dame kennen; sie gehoerte einer
Glaubensrichtung an, die ihm nicht streng genug und darum verwerflich
erschien. Er suchte ununterbrochen auf sie einzuwirken; aber die Art,
wie sie ihn dabei ansah und ihn zum Schweigen brachte, konnte er spaeter
waehrend seines ganzen Aufenthaltes im Ausland nicht vergessen. Als er
zurueckkam, suchte er sie sogleich auf. Sie verkehrten viel zusammen und
gewannen einander immer mehr lieb, bis sie sich schliesslich verlobten
und gleich darauf heirateten. Nun aber stellte es sich heraus, dass jedes
von ihnen dabei einen Nebengedanken gehabt hatte. Er hatte sich
vorgenommen, sie mit all ihrer Lieblichkeit zu sich hinueberzuziehen in
seine duestere Lehre, und sie hatte sich wie ein Kind in der Sicherheit
gewiegt, seine Kraft und Beredsamkeit fuer den Dienst ihrer
Glaubensgemeinschaft gewinnen zu koennen. Sein erster, ganz leiser
Versuch stiess auf _ihren_ ersten, ganz leisen. Enttaeuscht, misstrauisch
zog er sich zurueck. Sie war klug genug, das sofort zu merken, und von
diesem Tag an lauerte er nun immer auf einen weiteren Versuch
_ihrerseits_ und sie auf einen zweiten Versuch _seinerseits_. Aber keins
von ihnen machte einen zweiten; denn beiden war angst geworden. Er hatte
Angst vor seiner eigenen leidenschaftlichen Natur, und sie hatte Furcht,
sie wuerde sich durch einen verfehlten Versuch jede Aussicht verscherzen,
ihn zu sich herueberzuziehen. Denn diese Hoffnung gab sie nie auf; die
war ihr zur Lebensaufgabe geworden. Nie aber kam es zum Kampf; denn wo
sie war, da gab es keinen Kampf. Irgendwie jedoch musste er seinem
arbeitenden Willen, seiner zurueckgedraengten Leidenschaft Luft machen;
und das geschah jedesmal, wenn er auf der Kanzel stand und sie unter
sich sitzen sah. Wie in einem Wirbel riss er dann die Gemeinde mit sich
fort; bald erhitzte er seine Zuhoerer, bald erhitzten sie ihn. Sie sah es
mit an und liess ihr geaengstigtes Herz ausruhen in Wohltaetigkeit, und
spaeter, als sie Mutter wurde, bei ihrem Kinde, das sie in koerperlichem
und geistigem innigsten Umfangen an ihren stillen Stunden teilnehmen
liess. Da gab sie, da empfing sie, da wiegte sie ihr eigenes grosses Kind
in der Unschuld des Kindes, da feierte sie ein Fest der Liebe, von dem
sie zu ihm, dem Strengen, zurueckkehrte mit aller vereinten Milde des
Weibes und des Christentums; und ihm war es dann natuerlich nicht
moeglich,--etwas zu sagen, was nicht liebreich gewesen waere. Er _musste_
sie ja lieben, ueber alles auf der Welt, aber um so schmerzlicher war es
ihm, um so heftiger blutete ihm das Herz, dass er ihr nicht helfen konnte
bei ihrer Seele Seligkeit. Mit dem stillschweigenden Recht der Mutter
entzog sie auch das Kind seiner religioesen Unterweisung. Die Liedchen
des Kindes, die Fragen des Kindes wurden ihm bald eine neue und tiefe
Quelle des Schmerzes. Und hatte ihn dann auf der Kanzel seine
leidenschaftliche Gemuetsbewegung bis zur Haerte aufgestachelt, so
begegnete ihm, wenn sie miteinander heimgingen, sein Weib nur mit um so
groesserer Milde; die Augen redeten; der Mund redete nie ein Wort. Und die
Tochter nahm seine Hand und sah zu ihm auf mit Augen, die die Augen der
Mutter waren.
Ueber alles wurde gesprochen in diesem Hause, nur ueber das eine nicht,
das die Wurzel ihres ganzen Denkens war. Aber eine so aufreibende
Spannung war auf die Dauer nicht zu ertragen. Wohl laechelte die Frau
noch; aber nur, weil sie nicht wagte, zu weinen. Als die Zeit
herannahte, wo die Tochter zur Einsegnung vorbereitet werden sollte, und
er sie also kraft seines Amtes jetzt ebenso stillschweigend in seine
Richtung haette hinueberziehen koennen, wie die Mutter sie seither in der
ihren gehalten hatte, da stieg die Spannung bis aufs aeusserste. Und nach
dem Sonntag, an dem die Namen der Konfirmanden von der Kanzel verlesen
waren, wurde die Mutter krank; etwa so, wie man sonst muede wird.
Laechelnd sagte sie, sie koenne nicht mehr gehen; und ein paar Tage
darauf--noch immer laechelnd--sie koenne nicht mehr sitzen. Die Tochter
wollte sie immer um sich haben, obgleich sie nicht mehr mit ihr reden
konnte; sehen konnte sie ihr Kind doch wenigstens. Und die Tochter
wusste, was die Mutter am liebsten mochte. Sie las ihr vor aus dem Buch
des Lebens, sie sang ihr die Choraele ihrer Kinderzeit, die neuen,
lebenswarmen ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft vor. Der Propst konnte
lange nicht fassen, was sich hier vorbereitete; aber als er es endlich
begriff, da verlor er jede Richtschnur; nur ein Wunsch beherrschte ihn
noch: sie noch einmal zu sich reden, sie nur ein paar Worte noch sagen
zu hoeren. Aber sie hatte nicht mehr die Kraft; sprechen konnte sie nicht
mehr. Er stand am Fussende des Bettes und sah sie an und flehte. Und sie
laechelte ihm zu, bis er auf die Knie fiel und die Hand der Tochter nahm
und sie in die Hand der Mutter legte, als wollte er sagen: "Da, behalte
sie! Bei Dir soll sie bleiben in alle Ewigkeit!" Und da laechelte sie,
wie sie noch nie gelaechelt hatte; und in diesem Laecheln verschied sie.
Lange Zeit schloss sich der Propst von allem Umgang ab. Ein anderer
uebernahm die Sorge fuer die Gemeinde; er selber wanderte von Zimmer zu
Zimmer, von Ort zu Ort, als suche er etwas. Er trat leise auf; wenn er
sprach, sprach er mit gedaempfter Stimme; und nur dadurch, dass sie ganz
auf diese stille Art einging, vermochte die Tochter allmaehlich wieder
einen Verkehr mit ihm herzustellen. Jetzt half sie ihm suchen. Jedes
Wort der Mutter wurde wieder hervorgeholt; alles, was sie gewollt hatte,
wurde zur Richtschnur, nach der sie fortan lebten. Das Zusammenleben der
Mutter mit der Tochter, bei dem der Vater bisher aussen gestanden hatte,
wurde jetzt erst so recht durchlebt. Vom ersten Augenblick an, dessen
sie sich als Kind entsinnen konnte, wurde alles wieder vorgenommen; ihre
Lieder wurden gesungen, ihre Gebete gebetet; die Predigten, die sie am
liebsten gehoert hatte, wurden eine nach der anderen vorgelesen, und alle
ihre Worte und Auflegungen treulich ins Gedaechtnis zurueckgerufen. Also
in Wirksamkeit gesetzt, empfand er bald das Verlangen, das Land
wiederzusehen, wo er sie gefunden hatte, um auch dort auf dieselbe Weise
ihren Spuren nachzugehen. Sie gingen auf Reisen. Und dadurch, dass er so
ihr ganzes Leben ungeteilt in sich aufnahm, gesundete er wieder. Ihm,
der selbst wieder Anfaenger wurde, ging der Sinn auf fuer alles um ihn
her, was da in seinen Anfaengen lag,--fuer die grossen nationalen, fuer die
kleineren politischen Ideen: und das gab ihm ein Stueck seiner eigenen
Jugend wieder. Seine Kraefte kamen zurueckgestroemt, und mit ihnen all die
heissen Hoffnungen von ehedem. Jetzt wollte er das Wort Gottes verkuenden,
und zwar so, dass es zum Leben vorbereitete und nicht nur zum Tode!
Doch bis er sich wieder mit dieser seiner neuen geliebten Taetigkeit in
seiner Bergheimat einschloss, wuenschte er noch einen weiteren, tieferen
Blick in das zu tun, was draussen sich regte. So waren sie also noch
weiter in der Welt herumgefahren, und lebten jetzt ihren grossen
Erinnerungen.
Unter diesen Menschen lebte Petra.
Neuntes Kapitel
Drei Jahre spaeter, an einem Freitag kurz vor Weihnachten, sassen die
beiden jungen Maedchen in der Daemmerstunde beisammen. Eben war der
Propst mit seiner Pfeife eingetreten. Der Tag war verflossen, wie so
ziemlich jeder Tag dieser letzten zwei Jahre--morgens ein Spaziergang,
nach dem Fruehstueck eine Stunde Musizieren, Klavierspiel und Gesang,
darauf Sprach- und anderer Unterricht und zuletzt ein bisschen
Haushaltungsarbeit. Nachmittags beschaeftigte jeder sich auf seinem
Zimmer; Signe heute gerade wieder mit einem Brief an Oedegaard, nach dem
Petra uebrigens niemals fragte, wie sie ueberhaupt niemals von der
Vergangenheit hoeren mochte. In der Daemmerung waren sie Schlitten
gefahren, und jetzt sass man zusammen, um zu plaudern oder zu singen oder
spaeter vorzulesen. Dazu fand sich der Propst stets ein. Er las
ausgezeichnet, und ebenso Signe. Petra lauschte beiden ihre Art und
Weise und besonders ihre Aussprache ab. Signes Aussprache und Tonfall
hatten fuer ihr Ohr einen solchen Wohllaut, dass es noch, wenn sie allein
war, in ihr nachklang. Ueberhaupt schwaermte Petra so fuer Signe, dass ein
Mann schon den vierten Teil fuer die gluehendste Liebe gehalten haette;
Signe wurde auch oft ganz rot dabei. Bei diesen abendlichen
Vorlesungen--Petra selbst war nie zum Lesen zu bewegen--hatte man die
Hauptdichter der norwegischen Literatur durchgenommen und war nach und
nach weiter in die grosse Weltliteratur geraten. Am liebsten lasen sie
dramatische Werke. Eben als man die Lampen anzuenden und anfangen wollte,
kam die Koechin herein und sagte, draussen sei jemand, der Petra einen
Gruss ausrichten wolle. Es stellte sich heraus, dass es ein Matrose aus
ihrer Vaterstadt war, den ihre Mutter beauftragt hatte, Petra
aufzusuchen, da er zufaellig in die Gegend kam. Er war ueber eine Meile zu
Fuss gewandert und musste schleunigst wieder umkehren, weil sein Schiff
gleich darauf unter Segel ging. Petra begleitete ihn ein Stueck, um ein
bisschen laenger mit ihm zu plaudern; er war ein ehrlicher Mensch, den sie
von frueher her kannte. Der Abend war ziemlich finster; auch auf dem
Pfarrhof waren alle Fenster dunkel, ausser im Waschhaus, wo grosse Waesche
war. Auf der Landstrasse war kein einziges Licht zu sehen, kaum dass man
den Weg selbst sah; denn der Mond hatte sich noch nicht ueber die Berge
emporgeschlaengelt. Trotzdem ging Petra tapfer mit, sogar bis in den Wald
hinein, obwohl es zwischen den Baeumen unheimlich duester war. Besonders
eine Nachricht hatte sie interessiert. Der Matrose hatte ihr naemlich
erzaehlt, Pedro Ohlsens Mutter sei gestorben, und er habe sein Haus
verkauft und sei hinaufgezogen zu Gunlaug, wo er in Petras Giebelstube
hause. Das war nun schon fast zwei Jahre her, und dabei hatte die Mutter
dies mit keinem Wort erwaehnt. Jetzt endlich ging Petra ein Licht auf,
wer die Briefe fuer die Mutter schrieb; vergebens hatte sie sie immer
wieder danach gefragt; denn in jedem Brief stand am Schluss: "Auch einen
Gruss von dem, der den Brief geschrieben hat." Der Matrose war von der
Mutter beauftragt, zu fragen, wie lange Petra noch im Pfarrhause bleiben
wolle und was fuer Absichten sie fuer spaeter habe. Auf die erste Frage
antwortete Petra, das wisse sie nicht, und als Erwiderung auf die zweite
Frage liess sie der Mutter sagen, es gaebe in der Welt nur eins, was sie
gern moechte, und wenn sie das nicht werden koenne, so sei sie ungluecklich
fuers ganze Leben; sie koenne aber vorlaeufig noch nicht sagen, was es sei.
Waehrend Petra mit dem Matrosen schwatzte, sassen der Propst und Signe im
Wohnzimmer und sprachen von Petra, an der sie beide ihre Herzensfreude
hatten. Da kam der Grossknecht herein, und nachdem er den Tagesbericht
erstattet hatte, fragte er, ob die Herrschaft eigentlich wisse, dass die
fremde Jungfer nachts an einer Strickleiter aus ihrem Fenster und wieder
hinauf klettere. Er musste es dreimal wiederholen, bis einer von den
beiden begriff, was er da sagte; er hatte ebensogut erzaehlen koennen, sie
klettere an den Mondstrahlen auf und ab. Es war dunkel im Zimmer, und
jetzt wurde es ganz still; nicht einmal des Propstes Pfeife war zu
hoeren. Endlich fragte der Propst mit einem gewissen dumpfen Klang in der
Stimme: "Wer hat das gesehen?"--"Ich hab's gesehen. Ich war gerade auf
und fuetterte die Pferde; es mag wohl so um eins 'rum gewesen sein."--"An
einer Strickleiter ist sie hinuntergeklettert?"--"Und wieder
hinauf."--Abermals lange Pause. Petras Zimmer lag im Oberstock,--das
Eckzimmer, das auf die Einfahrt hinausging. Sie war die einzige, die
oben schlief; niemand ausser ihr wohnte nach dieser Seite zu. Ein
Missverstaendnis konnte also nicht obwalten. "Sie wird's im Schlaf getan
haben", sagte der Knecht und wollte sich davonmachen.--"Aber die
Strickleiter--die kann sie doch nicht im Schlaf gemacht haben", sagte
der Propst. "Das dacht' ich mir eben auch; und darum sagt' ich mir: es
wird schon das beste sein, ich sag's dem Hausvater; sonst hab' ich
keinem davon gesagt."--"Hat es ausser Dir noch jemand gesehen?"--"Nein;
aber wenn der Hausvater mir nicht glaubt, so muss die Strickleiter mein
Zeuge sein; wenn sie die nicht oben liegen hat, dann werd' ich ja wohl
falsch gesehen haben."--Der Propst stand sogleich auf. "Vater!" bat
Signe. "Mach' Licht!" antwortete der Propst in einem Ton, der keinen
Widerspruch zuliess. Signe zuendete selbst das Licht an. "Vater!" bat sie
noch einmal, als sie es ihm reichte. "Solange sie in meinem Hause ist,
bin ich auch ihr Vater. Es ist meine Pflicht, die Sache zu untersuchen."
Der Propst ging mit dem Licht voran. Signe und der Grossknecht
hinterdrein. In dem kleinen Zimmer war alles in Ordnung; nur auf dem
Nachttisch lag ein ganzer Stapel von Buechern, das eine aufgeschlagen
ueber dem andern. "Liest sie des Nachts?"--"Ich weiss nicht; aber vor eins
macht sie nie das Licht aus." Der Propst und Signe sahen einander an. Um
zehn, halb elf abends ging man im Pfarrhaus auseinander, und um sechs,
sieben Uhr versammelte man sich morgens. "Weisst Du davon?" Signe
antwortete nicht. Aber der Grossknecht, der in einer Ecke kniete und
kramte, sagte: "Sie ist doch nicht allein."--"Was sagst Du da?"
"Freilich, es ist immer einer bei ihr, mit dem sie redet; manchmal
machen sie einen Heidenlaerm; ich hab' oft gehoert, wie sie gebettelt und
gedroht hat. Wahrscheinlich hat irgendein Kerl sie in seiner Gewalt, das
arme Wurm!" Signe wandte sich ab; der Propst war totenblass geworden.
"Und da ist auch die Leiter", fuhr der Grossknecht fort. Er zog sie
hervor und stand auf. Zwei Waescheleinen, zusammengehalten durch eine
dritte, die an die eine geknotet war, dann quer zur anderen hinueberlief,
dort ebenfalls festgeknotet war und so, in der Breite von etwa einer
halben Elle, stufenweise fort, bis die Leiter fertig war. Alle
betrachteten sie aufmerksam. "War sie lange fort?" fragte der Propst.
Der Grossknecht sah ihn an. "Wie denn fort?"--"Ich meine, ob sie lange
fortblieb, nachdem sie die Leiter hinuntergeklettert war?" Signe
zitterte vor Angst und Kaelte. "Sie ist doch gar nicht weggegangen; sie
ist gleich wieder hinaufgeklettert."--"Wieder hinauf? Wer ist denn
weggegangen?"--Signe machte eine Bewegung und brach in Traenen aus. "Den
Abend war keiner da; das ist gestern gewesen."--"Also war sonst keiner
auf der Strickleiter? Bloss sie?"--"Ja, sonst keiner."--"Und sie ist
hinuntergeklettert und gleich wieder hinauf?"--"Ja."--
"Sie hat sie also nur probieren wollen", sagte der Propst und es war,
als atme er ein bisschen erleichtert auf. "Jawohl, bis sie jemand anders
dran 'raufklettern laesst", fuegte der Knecht hinzu. Der Propst sah ihn an.
"Du meinst, dies waere nicht die erste, die sie gemacht hat?"--"Nein. Wie
sollte denn sonst jemand zu ihr herauf kommen?"--"Hast Du schon lange
gewusst, dass jemand zu ihr kommt?"--"Erst seit diesem Winter, als sie
immer so spaet in die Nacht hinein Licht hatte; vorher ist mir's nie
eingefallen, nachzusehen." Der Propst fragte streng: "Also den ganzen
Winter hast Du es schon gewusst? Weshalb hast Du mir's nicht schon eher
gesagt?"--"Ich hab' geglaubt, es waer' jemand vom Haus, der bei ihr sei.
Aber wie ich sie gestern Nacht auf der Leiter sah, da kam ich erst
drauf, dass es jemand anders sein muesse."--"Ja, es ist leider kein
Zweifel--sie hat uns alle getaeuscht." Signe blickte flehend auf. "Sie
muesste vielleicht nicht so weit weg von den andern schlafen", meinte der
Grossknecht, waehrend er die Strickleiter zusammenwickelte. "Sie sollte
eigentlich ueberhaupt nicht mehr in diesem Hause schlafen!" sagte der
Propst und ging. Die anderen folgten ihm. Aber als sie wieder unten
waren, und er das Licht hingestellt hatte, warf Signe sich an seine
Brust. "Ja, mein Kind, das ist eine arge Enttaeuschung!"
Eine Weile darauf sass Signe in der Sofaecke, ihr Taschentuch vor die
Augen gepresst; der Propst hatte seine Pfeife angesteckt und ging unruhig
auf und ab. Da hoerten sie aus der Kueche ein Geschrei, ein hastiges
Laufen auf der Treppe und Getrappel oben im Flur. Sie eilten beide
hinaus. In Petras Zimmer brannte es. Von der Kerze war ein Funken in die
Ecke gefallen--denn dort war das Feuer entstanden--hatte sich im Nu die
Tapete entlang gefressen, das Holzwerk am Fenster erreicht, und dort
hatte ein Voruebergehender es bemerkt und war sofort ins Waschhaus
gerannt, wo die Maegde bei der Waesche waren. Das Feuer war bald geloescht.
Aber auf dem Lande, wo alles jahraus, jahrein seinen gleichmaessigen Gang
geht, bringt die geringste Stoerung die Gemueter in Aufruhr. Das Feuer ist
ihr schlimmster und gefaehrlichster Feind, an den sie bestaendig denken,
und wenn er wirklich eines Nachts kommt, sein Haupt aus dem Abgrund
emporreckt und mit gierigen Zungen zischend nach Beute leckt, da erbebt
alles und findet wochenlang keine Ruhe mehr, ja, manche ihr ganzes Leben
lang nicht mehr.
Als der Propst und seine Tochter wieder im Wohnzimmer waren, wo jetzt
die Lampen brannten, da war es beiden ganz unheimlich zumute, dass
Petras Zimmer so rasch geraeumt und jede Erinnerung an sie verbrannt war.
Im selben Augenblick hoerten sie Petras klare Stimme fragen und rufen;
sie sprang die Treppe hinauf und wieder herunter, lief vom Boden in den
Hausflur, vom Flur in die Kueche und kam dann, noch in Hut und Mantel, in
die Wohnstube gestuermt. "Gott, es hat ja in meinem Zimmer gebrannt!"
Niemand antwortete; aber sie fuhr in einem Atem fort: "Wer ist oben
gewesen? Wann ist es denn geschehen? Wie ist das Feuer ausgekommen?" Er
selbst sei oben gewesen, antwortete jetzt der Propst, er habe etwas
gesucht; dabei sah er sie scharf an. Aber Petra verriet nicht durch das
mindeste Zeichen, dass sie dabei etwas Auffallendes finde, zeigte auch
keinerlei Besorgnis, dass man irgend etwas gefunden haben koenne. Sie
schoepfte nicht einmal Verdacht, als Signe gar nicht von ihrer Sofaecke
aufblicken wollte. Sie glaubte, es sei noch der Schreck vom Brande her,
und fragte in einem fort, wie es entdeckt und geloescht worden sei, wer
es zuerst gesehen habe, und als ihr nicht rasch genug Bescheid wurde,
stuerzte sie wieder hinaus, wie sie hereingekommen war. Bald kam sie
wieder dahergestuermt, diesmal ohne Hut und Mantel, und erzaehlte dem
Propst und Signe, wie alles zugegangen und dass sie selber den
Feuerschein gesehen und furchtbar schnell gelaufen sei; aber jetzt sei
sie nur froh, dass es nicht schlimmer sei. Waehrenddem legte sie vollends
ab, trug die Sachen hinaus, kam wieder herein und setzte sich auf ihren
Platz am Tisch, ununterbrochen berichtend, was der gesagt und jener
getan hatte; das ganze Haus stand ja auf dem Kopf, und das machte ihr
den groessten Spass. Als die andern immer noch stumm blieben, klagte sie,
dass ihnen nun der ganze Abend verdorben sei; sie haette sich doch so
schrecklich auf "Romeo und Julia" gefreut, was sie eben lasen; gerade
heut abend habe sie Signe bitten wollen, die Szene, die ihr am besten
gefiele vom ganzen Stueck, naemlich Romeos Abschied von Julia auf dem
Balkon, noch einmal zu lesen. Mitten in ihrem Redestrom erschien ein
Maedchen aus der Waschkueche, um zu sagen, es fehlten Waescheleinen; ein
ganzes Bund sei fortgekommen. Petra wurde puterrot und sprang auf: "Ich
weiss, wo sie sind; ich hole sie." Sie machte ein paar Schritte auf die
Tuer zu; da fiel ihr der Brand ein; sie blieb stehen und erroetete noch
tiefer: "Ach Gott, die sind gewiss verbrannt! Sie lagen in meinem
Zimmer!" Signe hatte sich nach ihr umgewandt; der Propst blickte sie von
der Seite durchdringend an. "Wozu brauchst Du denn Waescheleinen?" Sein
Atem flog; er konnte kaum sprechen. Petra sah ihn an; sein furchtbarer
Ernst machte ihr beinahe Angst; im naechsten Augenblick jedoch reizte er
sie zum Lachen. Ein paar Sekunden kaempfte sie dagegen an, aber als sie
ihn dann noch einmal ansah, brach sie in ein so herzhaftes Gelaechter
aus, dass sie ueberhaupt nicht mehr aufhoeren konnte; von boesem Gewissen
war darin so wenig wie in einem rieselnden Bach. Signe hoerte das am
Klang und schnellte vom Sofa auf: "Was ist denn? Was ist denn?" Petra
wandte sich ab, lachte, huepfte, duckte sich und wollte zur Tuer hinaus.
Aber Signe vertrat ihr den Weg: "Was ist es, Petra? So rede doch!" Petra
versteckte sich hinter ihr, als wolle sie sich ganz verkriechen, lachte
aber immer weiter, ganz masslos. Nein, so benimmt sich die Schuld nicht,
das wurde doch auch jetzt dem Propst klar. Und er, der noch eben auf dem
Sprung gewesen war, sich in ein Toben der Wut hineinzusteigern, stuerzte
sich statt dessen kopfueber ins Lachen; und Signe mit ihm. Nichts in der
Welt ist so ansteckend, wie Lachen, und vor allem ein Lachen, das so
ganz unfasslich ist. Die vergeblichen Versuche, die bald der Propst, bald
Signe machten, zu ergruenden, worueber sie eigentlich lachten, steigerte
die Heiterkeit bis ins Ausgelassene. Die Magd, die noch immer wartete,
fing zuletzt ebenfalls an, mitzuwiehern; sie hatte das sonderbare
Grubenlachen, das immer wie ein Aus-der-Tiefe-Emporwinden und -Keuchen
klingt; und da sie selber fuehlte, dass es nicht recht unter so feine
Moebel und Menschen passte, machte sie, dass sie zur Tuer hinauskam, um in
der Kueche erst recht loszuplatzen. Natuerlich steckte sie die draussen
auch an; bald waelzte sich eine wahre Sturmflut von Gelaechter auch zur
Kueche heraus, in der man noch weniger wusste, worueber man eigentlich
lachte, und das entfachte wiederum das Gelaechter im Zimmer aufs neue.
Schliesslich, als alle schon ganz krank vor Lachen waren, machte Signe
einen letzten Versuch, endlich hinter die Ursache dieser Heiterkeit zu
kommen. "Jetzt aber musst Du's mir sagen!" rief sie und hielt Petra bei
den Haenden fest. "Nicht um alles in der Welt!"--"Ach Du, ich weiss schon,
was es ist!" rief Signe wieder. Petra sah sie an und schrie auf; aber
Signe rief: "Und Vater weiss es auch!" Diesmal schrie Petra nicht mehr;
sie bruellte und riss sich los, kam auch gluecklich bis zur Tuer; aber da
erwischte Signe sie wieder. Petra drehte sich um, um mit ihr zu ringen;
sie wollte fort, um jeden Preis. Sie lachte, waehrend sie miteinander
kaempften; aber an ihren Wimpern hingen Traenen. Da liess Signe sie los.
Petra stuerzte hinaus, Signe hinter ihr drein, und beide verschwanden in
Signes Zimmer. Dort fiel Signe Petra um den Hals, und die umschlang sie
mit beiden Armen. "O Gott, so wisst Ihr es?" fluesterte sie. Und Signe
fluesterte zurueck: "Ja, wir waren oben mit dem Grossknecht; er hat Dich
gesehen. Und wir haben die Strickleiter gefunden!" Abermaliges
Aufschreien und abermalige Flucht; aber diesmal bloss in die Sofaecke, wo
sie sich versteckte; gleich war Signe bei ihr, und sich halb ueber sie
neigend, berichtete sie Petra fluesternd von der ganzen Entdeckungsreise
samt ihren brenzlichen Folgen. Was sie vor kurzem noch Traenen der Angst
gekostet hatte, erschien ihr jetzt so komisch, dass sie es voller Humor
erzaehlte. Petra hoerte, hielt sich die Ohren zu, blickte auf und
versteckte sich wieder. Als Signe fertig war und beide wieder im Dunkeln
nebeneinandersassen, fluesterte Petra: "Weisst Du, was ich gemacht hab'?...
Ich kann unmoeglich schon um zehn Uhr, wenn wir auf unser Zimmer gehen,
schlafen; dazu hat das, was wir gelesen haben, noch viel zu viel Macht
ueber mich. Und so lern' ich es auswendig; alles, was mir am besten
gefaellt. Ganze Szenen kann ich auswendig; und die sag' ich ganz fuer mich
laut her. Als wir 'Romeo und Julia' lasen, da hatte ich das Gefuehl, als
gaeb' es ueberhaupt auf der ganzen Welt nichts Schoeneres; rein toll und
verrueckt war ich ... ich _musste_ die Sache mit der Strickleiter
probieren; nie ist mir vorher der Gedanke gekommen, dass man an einer
Strickleiter auf- und abklettern kann. Ich erwischte ein paar
Waescheleinen... Und dabei steht der Spitzbub unten und guckt mir zu!...
Ja, es ist gar nicht zum Lachen, Du! Schrecklich unweiblich ist es. Ich
bleib' ueberhaupt mein Lebtag ein Junge! Und natuerlich bin ich morgen das
Gespoett der ganzen Nachbarschaft!" Aber Signe, die aufs neue in einen
Lachkrampf geraten war, fiel mit Kuessen und Streicheln ueber sie her und
stuerzte dann davon: "Das muss ich Vater erzaehlen!"--"Bist Du verrueckt,
Signe?" Und so kamen sie, eine nach der andern, wieder ins Zimmer
gestuermt, wie sie hinausgestuerzt waren. Fast rannten sie den Propst ueber
den Haufen, der gerade hinaus wollte, um zu sehen, was aus den beiden
geworden war. Signe fing zu erzaehlen an, Petra schrie auf und stuerzte
wieder hinaus, wobei ihr dann einfiel, dass sie gerade haette bleiben
muessen, um Signe am Erzaehlen zu verhindern. Also wollte sie wieder
hinein; aber der Propst hielt die Tuer zu. Keine Moeglichkeit, sie zu
oeffnen. Sie trommelte mit beiden Faeusten dagegen, sie sang, sie
trampelte mit den Fuessen, um Signe zu uebertaeuben, die nur umso lauter
sprach; und als der Propst endlich alles gehoert und ebenso herzlich und
lustig wie Signe ueber diese neue Methode, Klassiker zu lesen, gelacht
hatte, machte er die Tuer auf; aber nun rannte Petra davon.
Nach dem Abendessen, zu dem Petra sich wieder eingestellt hatte, und bei
dem sie vom Propst reichlich geneckt worden war, sollte sie zur Strafe
alles aufsagen, was sie auswendig konnte. Und da zeigte es sich, dass
sie wirklich alle die beruehmtesten Szenen kannte; nicht bloss eine Rolle
darin, sondern alle. Sie sagte sie her, als ob sie sie ablaese; manchmal
war es, als wolle sie Feuer fangen; aber sofort daempfte sie es wieder.
Kaum merkte das der Propst, als er auch schon mehr Ausdruck verlangte;
aber sie wurde nur immer scheuer. Stundenlang ging das so weiter; sie
konnte alle komischen Szenen und alle tragischen, neckische und
ernsthafte. Ihr Gedaechtnis war zum Bewundern und zum Lachen; sie selber
lachte mit und verlangte, man solle sie nur weiter examinieren.
"Man koennte wirklich wuenschen, die armen Schauspieler haetten bloss den
zehnten Teil Deines Gedaechtnisses!" sagte Signe.--"Gott verhuete, dass sie
je Schauspielerin wird!" versetzte der Propst und wurde ploetzlich ernst.
"Aber, Vater! Wie kannst Du glauben, dass Petra an so was denkt!"
erwiderte Signe lachend. "Ich kam bloss zufaellig darauf, weil ich immer
wieder gefunden habe, dass ein Mensch, der von Jugend auf sozusagen
aufwaechst mit der Poesie seiner Sprache, nie das Verlangen hat, zur
Buehne zu gehen. Waehrend einer, der nie viel gewusst hat von Poesie, bis
er erwachsen ist, dafuer schwaermt. Die so ganz ploetzlich erwachte
Sehnsucht ist es, die ihn verfuehrt."--"Gewiss ist das wahr", versetzte
der Propst. "Ein wirklich gebildeter Mensch geht wohl selten zur
Buehne."--"Und noch seltener ein poetisch Gebildeter."--"Freilich. Und
wenn es geschieht, so spielt irgendein Mangel an Charakter mit, der
Eitelkeit und Leichtsinn die Oberhand gewinnen laesst. Ich habe viele
Schauspieler gekannt, in meiner Studienzeit und auf Reisen; aber einen
Schauspieler, der ein echt christliches Leben gefuehrt haette, den hat
wohl noch kein Mensch gesehen. Zur Religion hingezogen koennen sie sich
fuehlen; das hab' ich selbst erlebt. Aber es ist in ihrem Beruf zu viel
Unruhiges, Aufreibendes; sie koennen sich nicht konzentrieren, auch wenn
sie schon laengst die Buehne verlassen haben. So oft ich auch mit einem
darueber gesprochen habe--jeder hat es zugegeben und es beklagt; aber
gleich darauf hiess es: Wir muessen uns eben damit troesten, dass wir auch
nicht schlimmer sind als wer weiss wie viele andere! Bloss, dass man das
einen schlechten Trost nennen muss. Ein Leben, das sich nach keiner
Richtung hin auf den Christen in uns aufbaut, das ist ein suendiges
Leben.--Der Herr helfe ihnen und bewahre jedes reine Herz vor ihnen!"
* * * * *
Am Tag darauf, es war Sonnabend, war der Propst wie gewoehnlich schon vor
sieben Uhr auf, machte seine Morgenrunde zu seinen Arbeitern und noch
ein bisschen weiter hinaus und kam heim, als es eben hell werden wollte.
Da sah er, gerade als er am Hause vorbei in den Hof einbiegen wollte, an
der Erde etwas wie ein aufgeschlagenes Schreibheft, das man
wahrscheinlich gestern aus Petras Fenster geworfen und nicht wieder
gefunden hatte, weil es dieselbe Farbe hatte wie der Schnee. Er hob das
Heft auf und ging damit in sein Studierzimmer. Als er es
auseinanderklappte, um es zu trocknen, sah er, dass es ein
verabschiedetes franzoesisches Aufsatzheft war, in das jetzt Verse
geschrieben waren. Es fiel ihm gar nicht ein, die Verse zu lesen; da
fiel sein Blick auf das Wort "Schauspielerin", das an allen Ecken und
Enden, kreuz und quer geschrieben stand,--auch in den Versen stand es
da. Er setzte sich ordentlich hin, um sich die Sache genauer anzusehen.
Nach allerhand Ansaetzen und durchstrichenen Zeilen fand er folgende
Reimerei, die trotz vieler Verbesserungen zu entziffern war:
Eines, du Trauter, bekenn' ich dir still,
Und das ist, was ich werden will.
Schauspielerin, das moecht' ich werden,
Zeigen der Welt in Wort und Gebaerden
Moecht' ich die Frau, wie sie lacht vor Spott,
Leidet und liebt und betet zu Gott,
Wie sie ist, wenn sie reizend blickt,
Wie sie ist, wenn in Suende verstrickt.
Vater im Himmel, ach, hilf mir zu werden,
Was mein einziger Wunsch auf Erden!
Und ein bisschen weiter unten:
Darf ich denn, o Gott, nicht sein dein eigen?
Willst du nicht Erhoerung mir bezeigen?
Dann, wahrscheinlich als Randglosse zu einer Dichtung, die sie vor ein
paar Monaten gelesen hatten:
O, zu gehn nach Elfenweise,
Elfenweise,
Mondenschein und Nebelkreise,
Nebelkreise,
Vorwaerts huschen, rueckwaerts rauschen,
Rueckwaerts rauschen,
Toeten den, der sucht zu lauschen,
Sucht zu lauschen--
Nein, 's war' suendhaft, lirum, larum, la!
Und nach unzaehligen Aenderungen, Streichungen, Kritzeleien und Noten:
Hopsasa,--hopsasa,
Tanzen mit allen, doch niemals gefangen!
Tralala,--tralala,
Stets Nummer eins, doch an niemandem hangen.
Dann, deutlich und sauber, folgender Brief:
Mein Herzens-Heinrich!
Deucht Dich nicht, dass Du und ich die Weisesten sind in der ganzen
Comoedia? Wohl tuet man uns grossen Verdruss an, hat aber nichts zu sagen.
Ich _engrassiere_ Dich, mich morgen abend auf die mascarade zu fuehren;
denn ich war noch niemals auf solcher, und mich verlangt nach einer
rechten Narretei; hier im Hause ist es gar still und truebselig!
Du bist ein rechter Schelm, Heinrich--wo schwaermst Du wieder umher?
Ach, hier sitzt einsam
Deine Pernille.
Endlich stand da, mit grossen Buchstaben, deutlich und mehrmals
wiederholt, folgende Strophe, die sie irgendwo aufgestoebert haben musste
und hatte auswendig lernen wollen:
Ach, dem Grossen gilt mein Draengen;
Schier die Brust will mir's zersprengen.
Hoechstes Denken kuehn zu wagen,
Kraft, um's kraftvoll vorzutragen,
Die verborgnen Quellen finden,
Balder loesen, Loke binden--
Dies in deiner Gnade gib
Du, der mir verlieh den Trieb!
Noch vieles andere stand da; aber der Propst las nicht weiter.
Also um Schauspielerin zu werden, war sie in sein Haus gekommen und
hatte sich von seiner Tochter unterrichten lassen. Um dieses heimlichen
Zieles willen hatte sie Abend fuer Abend so begierig gelauscht und
nachher selber auswendig gelernt. Zum besten gehabt hatte Petra sie die
ganze Zeit. Noch gestern, da sie ihnen alles zu offenbaren schien, hatte
sie etwas verheimlicht; waehrend sie am herzlichsten lachte, hatte sie
gelogen.
Und dieses heimliche Ziel! Was der Propst so oft in ihrer Gegenwart
verdammt hatte, schmueckte sie zu einem goettlichen Beruf aus und wagte,
Gott um seinen Segen dazu zu bitten! Ein Leben voller Aeusserlichkeit und
Eitelkeit, voll Eifersucht und Leidenschaft, voll Traegheit und
Sinnlichkeit, voll Luege und zunehmender Charakterlosigkeit, das alle
Geier umkreisten wie ein Aas,--einem solchen Leben sich zu weihen, das
war ihr Sehnen, das ihr Gebet zu Gott! Und dazu sollten er und sein Kind
ihr verholfen haben, hier, in ihrem stillen Pfarrhause, unter der
strengen Obhut einer erweckten Gemeinde.
Als Signe eintrat, klar, leicht wie der Wintermorgen, um dem Vater
guten Tag zu sagen, fand sie das Studierzimmer ganz voll Rauch. War dies
schon immer ein Zeichen von Gemuetsverstimmung, so war es das doppelt so
frueh am Morgen. Er sagte auch kein Wort, sondern gab ihr nur das Heft.
Sie sah sogleich, dass es Petra gehoerte. Die Erinnerung an den Verdacht
und den Kummer von gestern abend durchzuckte sie; sie mochte gar nicht
hineinsehen; ihr Herz klopfte so heftig, dass sie sich setzen musste. Doch
dasselbe Wort, das der Propst zuerst wahrgenommen hatte, fiel auch ihr
auf, sprang auch ihr in die Augen; sie musste naeher hinsehen; und dann
las sie. Ihr erstes Gefuehl war Scham, nicht fuer Petra, sondern weil der
Vater das auch gelesen hatte.
Bald aber empfand sie die tiefe Demuetigung, die darin liegt, sich von
jemand, den man lieb hat, getaeuscht zu sehen. Einen Augenblick will uns
der Mensch, der das fertig gebracht hat, groesser, klueger, erfinderischer
als wir erscheinen, ja, er streift geradezu ans Geheimnisvolle. Bald
aber sammelt sich die Seele wieder in Empoerung; die Ehrlichkeit gewinnt
Macht durch Kraefte, die, wenn auch unsichtbar, doch nicht geheimnisvoll
sind; man fuehlt in sich die Staerke, mit einem Schlag hundert kleinliche
Ausfluechte zu zermalmen; man _verachtet_ das, wodurch man sich eben,
noch gedemuetigt fuehlte. Drin im Wohnzimmer hatte Petra sich ans Klavier
gesetzt, und eben hoerte man sie singen:
Auf ist der Tag und die Freude entbrannt,
Und des Missmuts Wolkenburg stuermisch berannt,
Ueber den gluehenden Bergen im Klaren
Lagern in Zelten des Lichtkoenigs Scharen.
"Auf nun! Auf nun!" Vogel im Hag,
"Auf!" was singen und jubeln mag,
Auf zum Licht, meine Hoffnung!
Dann jagte es wie ein Sturm uebers Klavier, und mitten heraus brauste ein
zweites Lied:
Gut ist dein Rat!
Doch auf lockendem Pfad
Treib' ich mein Boot hinaus
In der Brandung Gebraus.
Und fuehrt auch die Fahrt durch des Todes Tor--
Lasst mich kosten, was nie ich gekostet zuvor.
Nicht bloss zum Spiel
Such' ich mein Ziel,--
Will mit Sturmwogen ringen--
Will das Weltmeer bezwingen--
Will sehn, wie der Kiel sich zur Seite legt--
Muss versuchen, wie weit und wie lang er mich traegt!
Nein! Jetzt wurde es dem Propst zu bunt! Er riss im Vorbeigehen Signe das
Heft aus der Hand; er stuermte nach der Tuer; und diesmal hielt sie ihn
nicht zurueck. Er fuhr wie ein Pfeil auf Petra los, schleuderte das Heft
vor sie hin aufs Klavier, machte Kehrt und rannte durchs ganze Zimmer
auf und ab. Als er wieder umdrehte, war sie aufgestanden. Sie hielt das
Heft an die Brust gepresst und sah sich mit verstoerten Blicken nach allen
Seiten um. Er blieb vor ihr stehen, um ihr klaren Wein einzuschenken;
aber sein Zorn, die Erbitterung, dass er ueber zwei Jahre lang sich von
diesem verschlagenen jungen Ding hatte missbrauchen lassen, und vor allem
darueber, dass sie sein eigenes, warmherziges, hingebendes Kind zum besten
gehabt hatte, empoerte ihn so, dass er nicht gleich Worte fand. Und als er
sie endlich fand, da fuehlte er selber, dass sie zu hart waren. Als er
noch einmal durchs Zimmer gestuermt war und ihr wieder gegenueber stand,
mit blutrotem Gesicht, da wandte er ihr einfach den Ruecken und ging ohne
eine Silbe zu sagen in sein Studierzimmer zurueck. Als er hinkam, war
Signe fort.
Den ganzen Tag blieb jedes auf seinem Zimmer. Der Propst ass allein zu
Mittag; keins der Maedchen erschien. Petra hielt sich im Zimmer der
Wirtschafterin auf, das man ihr nach dem Brand vorlaeufig angewiesen
hatte. Vergebens hatte sie Signe ueberall gesucht, um ihr alles zu
erklaeren; Signe schien ueberhaupt gar nicht im Hause zu sein.
Petra fuehlte--sie stand vor einer Entscheidung. Ihres Lebens
heimlichster Gedanke war ihr entrissen, und man wollte sich einen
Einfluss erzwingen, den sie nicht dulden konnte. Sie fuehlte selbst am
besten--wenn sie dies ihr Lebensziel aufgab, so war sie allen Winden des
Zufalls preisgegeben. Sie konnte froh sein mit den Froehlichen,
vertrauensvoll mit den Vertrauenden; immer und ueberall sicher,--aber
alles nur kraft jenes geheimen Ziels: einmal all das zu erreichen, dem
ihre Faehigkeiten in heissem Sehnen entgegenwuchsen. Sich noch einmal
jemand anvertrauen, nach jenem ersten, missglueckten Versuch in
Bergen--nein, das konnte sie nicht, nicht einmal Oedegaard; sie musste es
allein in sich tragen, bis es so stark geworden war, dass es jedem
Zweifel standzuhalten vermochte.
Aber jetzt war alles anders geworden. Unablaessig stand das feuerrote
Gesicht des Propstes vor ihrem aufgeschreckten Gewissen. Jetzt galt es,
sich zu retten! Sie suchte Signe, immer hastiger, immer aufgeregter;
aber schon war es Nachmittag, und immer noch war Signe nicht da. Je
weiter ein Mensch, den wir suchen, sich uns entzieht, desto mehr
vergroessern wir uns selbst die Ursache der Trennung; und so kam es, dass
ihr endlich klar wurde: es war ein Verrat gewesen an Signe, ihre
Freundschaft heimlich zu etwas zu missbrauchen, was Signe fuer eine grosse
Suende hielt. Gott, der Allwissende, war ihr Zeuge, dass eine solche
Auffassung der Dinge ihr bisher ueberhaupt nicht in den Sinn gekommen
war. Wie eine grosse Suenderin kam sie sich vor.
Genau wie damals zu Hause fuehlte sie sich wie zerschmettert und hatte
doch noch kurz vorher ueberhaupt keine Ahnung davon gehabt! Dass dies
Entsetzliche sich wiederholen konnte, dass sie noch keinen Schritt
weitergekommen war, das steigerte ihre unsichere Angst bis zum Grausen.
Aber in dem Mass, wie ihre eigene Schuld wuchs, wuchs das Bild Signes an
Seelenreinheit und grossherziger Hingebung. Ja, Signe hatte in Wahrheit
gluehende Kohlen auf ihr Haupt gesammelt. Am liebsten haette sie sich ihr
zu Fuessen geworfen, sie angerufen, sie angebettelt, haette nicht
abgelassen mit Flehen, bis Signe ihr wieder einen einzigen guten Blick
geschenkt!
Es war dunkel geworden. Jetzt _musste_ Signe doch endlich wieder da sein,
wo sie auch sonst gewesen war! Petra lief hinunter, durch den Gang im
Fluegel, wo Signes Zimmer lag; die Tuer war verriegelt. Also musste sie
drin sein! Ihr Herz klopfte, waehrend sie nochmals die Klinke
niederdrueckte und bettelte: "Signe! Ich muss mit Dir reden! Ich halt' es
nicht aus, Signe!"--Im Zimmer kein Laut. Petra bueckte sich, horchte,
klopfte. "Signe, Signe! Wenn Du wuesstest, wie ungluecklich ich
bin!"--Keine Antwort. Langes Horchen. Nichts. Wenn man lang gar keine
Antwort erhaelt, so faengt man zuletzt zu zweifeln an, ob ueberhaupt jemand
da ist, selbst wenn man es weiss; und wenn es dazu noch dunkel ist, so
wird man noch aengstlich dabei. "Signe! Signe! Bist Du da? So hab' doch
Erbarmen! Antworte doch!--Signe!" Es war und blieb still. Sie begann zu
zittern und zu froesteln. Da ging die Kuechentuer auf mit einem breiten
Lichtstreifen; leichte lustige Schritte liefen ueber den Hof. Das gab ihr
einen Plan ein. Sie wollte ebenfalls auf den Hof, wollte auf den
Vorsprung an der Steinmauer klettern, wo der Seitenfluegel lag, und dann
auf diesem Sims entlang um das ganze Gebaeude gehen bis auf die andere
Seite, wo es sehr hoch war. Und dann wollte sie in Signes Zimmer
hineingucken!
Es war ein klarer Sternenabend; Berge und Haeuser standen in scharfen
Umrissen; sonst war nichts zu sehen; nur diese Umrisse. Der Schnee
schimmerte; die dunkeln Pfade zwischendurch hoben seine Helle nur noch
schaerfer hervor. Von der Landstrasse klang Schlittengelaeut; das eilige
Sausen, der Glanz wirkten ermunternd; Petra sprang auf den Sims. Sie
wollte sich an den vorstehenden Balken der Holzverkleidung festhalten;
aber sie verlor das Gleichgewicht und fiel wieder herunter. Jetzt holte
sie eine leere Tonne und rollte sie an die Mauer, stieg hinauf und von
der Tonne auf den Sims. Dort kroch sie auf Haenden und Fuessen ruckweise
weiter, jedesmal etwa ein Viertelmeter. Es gehoerten die starken Finger
einer starken Hand dazu, um sich festzuhalten; denn die Balken sprangen
kaum einen Zoll vor. Auch hatte sie Angst, man koenne sie entdecken; denn
natuerlich wuerde man das gleich wieder mit der Strickleiter in Verbindung
bringen. Wenn sie bloss erst von der Seite, die auf den Hof hinausging,
weg und auf der Querwand war! Aber als sie endlich dort anlangte, drohte
neue Gefahr: die Fenster waren nicht verhangen, und sie musste sich
ducken, waehrend sie, in steter Angst zu fallen, vor den Fenstern
vorueberkroch. An der Laengswand wurde es immer hoeher; darunter, die ganze
Mauer entlang, stand eine Stachelbeerhecke, die sie jedenfalls aufnehmen
wuerde, wenn sie fiel. Aber sie hatte keine Angst mehr. Ihre Finger
brannten, ihre Sehnen zitterten, der ganze Koerper bebte; aber sie
kletterte weiter. Jetzt nur noch ein paar Schritte und das Fenster war
erreicht. Bei Signe brannte kein Licht, und der Vorhang war nicht
herabgelassen. Der Mond schien voll ins Zimmer--sie musste bis in den
aeussersten Winkel sehen koennen! Auch das gab ihr neuen Mut. Sie erreichte
den Fenstersims, konnte sich endlich mit der Hand fest anklammern und
ausruhen; denn nun, da sie am Ziel war, fing ihr Herz so heftig zu
klopfen an, dass es ihr fast den Atem benahm. Aber je laenger sie
zauderte, desto schlimmer wurde es; also hiess es kurzen Prozess
machen... Und so beugte sie sich rasch entschlossen in voller Hoehe
gegen das Fenster. Ein gellender Schrei aus dem Zimmer war die Antwort.
Signe hatte in der Sofaecke gesessen; jetzt stand sie mit einem Satz
mitten im Zimmer, wehrte die grauenhafte Erscheinung in wildem Entsetzen
ab und fluechtete. Diese Gestalt vor dem Fenster im Schein des Monds,
diese ruecksichtslose, widerwaertige Derbheit, das Gesicht, scharf vom
Mond umrissen, erhitzt, funkelnd,--Petra begriff selbst mit
Blitzesschnelle, dass ihr unglueckseliger Einfall Signe nichts als Abscheu
hatte einjagen koennen, ja, dass fortan ihr Bild vielleicht immer ein
Schreckgespenst bleiben wuerde fuer Signe. Sie verlor das Bewusstsein und
fiel mit einem durchdringenden Schrei hinunter. Die Leute im Hause waren
auf Signes Ruf herbeigestuerzt, hatten jedoch niemand gefunden. Da hoerten
sie wieder einen solchen Schrei; der ganze Hof lief zusammen, man
suchte, man rief, ohne etwas zu finden; es war ein blosser Zufall, dass
der Propst aus Signes Fenster hinausblickte und im Mondschein Petra in
den Bueschen liegen sah. Eine grosse Angst ueberkam alle. Es kostete Muehe,
sie von den Dornen loszumachen und hinaufzutragen. Man brachte sie in
Signes Zimmer, weil die Stube der Wirtschafterin nicht geheizt war; man
zog sie aus und brachte sie zu Bett, man wusch ihr Hals und Haende, die
tuechtig zerkratzt waren, waehrend wieder andere es recht warm und hell
und behaglich im Zimmer machten. Als sie wieder zu sich gekommen war und
sich umsah, bat sie, man moege sie allein lassen. Die ruhige
Behaglichkeit des Zimmers, das feine Weiss, womit Fenster,
Toilettentisch, Bett und Stuehle behaengt waren, mahnten unendlich
wehtuend an Signe. Petra dachte an ihre reine Lieblichkeit, ihre stille
Stimme, die einen so milchweissen Klang hatte, ihr feines Gefuehl fuer die
Denkart anderer, ihre weiche Guete. Und all das hatte sie selbst jetzt
verscherzt. Bald musste sie wieder aus diesem Zimmer, wie wohl ueberhaupt
aus dem Hause. Und dann--wohin? Zum drittenmal wird man mich nicht von
der Landstrasse auflesen, und selbst wenn es geschaehe--sie selber wollte
nicht mehr. Es wuerde ja doch nur wieder dasselbe Ende nehmen. Kein
Mensch konnte Zutrauen zu ihr fassen; was auch der Grund sein mochte ...
sie fuehlte, es war so. Sie war ja auch noch keinen Schritt weiter
gekommen; nie wuerde sie ueberhaupt einen Schritt weiter kommen. Denn
ohne das Vertrauen der Menschen ging es nicht. Oh, wie sie betete, wie
sie weinte! Sie waelzte und wand sich in ihrer Seelenqual, bis sie ganz
erschoepft war und einschlief.
Und im Schlaf wurde sofort alles schneeweiss und allmaehlich auch seltsam
hoch. Nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Hoehe und ein so lichtes
Funkeln von Millionen Sternen gesehen.
Zehntes Kapitel
Noch als sie aufwachte, war sie dort oben; die Gedanken des Tages, die
sofort auf sie einstuermten, wollten nach, wurden aber eingefangen und
fortgetragen von etwas, das die ganze Luft erfuellte--von dem
Glockengelaeut des Sonntagmorgens. Sie sprang auf und zog sich an, holte
sich aus der Speisekammer etwas Fruehstueck, packte sich warm ein und
machte sich eilig auf den Weg,--so geduerstet nach Gottes Wort hatte sie
noch nie! Als sie hinkam, hatte der Gottesdienst gerade angefangen, und
die Tuer war verschlossen; es war ein kalter Tag, und die Finger
erstarrten ihr, als sie den Schluessel anfasste und umdrehte. Der Pfarrer
stand gerade am Altar, sie blieb an der Tuer stehen, bis er fertig war
und der Kuester ihm das Messgewand abgenommen hatte; dann ging sie hinueber
nach dem sogenannten Bischofsstuhl, der im Chor stand und mit Vorhaengen
versehen war. Der eigentliche Pfarrstuhl lag auf der Empore; wollte man
aber aus irgendeinem Grunde lieber versteckt und allein sitzen, so nahm
man seine Zuflucht zu dem Bischofsstuhl. Als sie gerade hineinschluepfen
wollte, sah sie Signe schon darin sitzen, in der aeussersten Ecke. Sie
trat einen Schritt zurueck, aber gerade da drehte der Propst sich um, um
vom Altar an ihr vorbei in die Sakristei zu gehen; sie ging eilig wieder
in den Stuhl hinein und setzte sich ganz hinten in eine Ecke; Signe
hatte ihren Schleier heruntergelassen. Das tat Petra weh. Sie schaute
ueber die Gemeinde hin: in hohem Holzgestuehl sassen rechts die Maenner,
links die Frauen eng nebeneinander; ihr Atem lag wie zitternder Nebel
ueber ihnen, an den Fenstern war das Eis zolldick; die plump geschnitzten
Holzstatuen, der schleppende, eintoenige Gesang, die vermummten
Menschen--das alles harmonierte miteinander; es war hart und unnahbar;
ihr fiel der Eindruck ein, den die Natur an jenem Nachmittage, als sie
Bergen verliess, auf sie gemacht hatte; sie war auch hier nur ein
furchtsamer Wanderer.
Der Propst bestieg die Kanzel; auch er machte ein strenges Gesicht. Er
betete: Fuehre uns nicht in Versuchung! Wir wissen, dass alle Gaben, die
Gott uns verliehen hat, eine Versuchung bergen; er moege gnaedig sein und
uns nicht ueber unsere Kraft versuchen; wir sollen nie vergessen, ihn
darum zu bitten; denn nur, wenn wir unsere Faehigkeiten ihm unterordnen,
gereichen sie uns zum Heil. Die Predigt behandelte dieses Thema weiter,
indem sie von unserer doppelten Lebensaufgabe ausging, dass erstens ein
jeder seinen Lebensberuf da ausfuellen muesse, wohin ihn seine Faehigkeiten
und seine Verhaeltnisse gestellt haetten,--und zweitens, dass man
Christentum heranbilden muesse in sich selbst und in denen, die unserer
Obhut anvertraut seien. Man muesse vorsichtig sein in der Wahl seines
Lebensberufs, denn es gebe leider Berufe, die in sich selbst suendig
seien, es gebe auch welche, die uns zur Suende werden koennten, weil sie
entweder nicht fuer uns passten, oder doch unseren boesen Geluesten
allzusehr entgegenkaemen. Weiter: so gewiss ein jeder versuchen muesse,
nach seinen Faehigkeiten zu waehlen, so gewiss koenne eine solche Wahl,
auch wenn sie richtig und gut sei, uns doch zur Versuchung werden, wenn
wir, weil der Beruf uns zusage, unsere ganze Zeit und unsere ganzen
Gedanken in seinen Dienst stellten. Das Christentum in uns duerfe nicht
vernachlaessigt werden, so wenig wie unsere Elternpflichten gegen
unsere Kinder. Wir muessten uns in uns selbst konzentrieren koennen,
damit der Heilige Geist staendig in uns wirke. Wir muessten die gute
Saat des Christentums in unsere Kinder pflanzen und sie pflegen
koennen. Es gebe keine Pflicht, keinen Vorwand, der uns hiervon zu
befreien vermoechte, auch wenn die Gelegenheit abgewartet werden
muesse.
Und dann ging er weiter,--ging auf die Berufe derer ein, die da sassen,
ging in ihre Haeuser, behandelte ihre Verhaeltnisse, ihre Ansichten. Dann
fuehrte er Beispiele aus anderen Lebensbedingungen an, aus hoeheren
Wirkungskreisen, die ihre Streiflichter hierherwarfen. Der Propst war
allen, die ihn im taeglichen Leben kannten, ganz fremd von dem Augenblick
an, da er auf der Kanzel auftauchte. Auch in seinem Aeussern war er
anders; sein verschlossenes, energisches Gesicht hatte sich geoeffnet und
liess die Flut der Gedanken durchscheinen; sein Auge war lebhaft, es
schaute fest und zielbewusst und brachte erhabene Kunde; all das Zottige,
das wie zusammengerollt in seiner Natur lag, trat jetzt hervor gleich
der Maehne eines Loewen; seine Stimme rollte wie ein langgezogener Donner
dahin oder in kurzen, heftigen Wendungen, sank zuweilen auch einmal zu
sanften Toenen herab, aber nur, um gleich wieder die Hoehe zu erklimmen.
Er konnte im Grunde nur in einem grossen Raeume reden, und wenn er fuer
seine Gedanken die Unendlichkeit hatte; denn seine Stimme hatte keinen
Wohllaut, bis sie laut sprach, sein Gesicht keine Klarheit, seine
Gedanken keine treffende Deutlichkeit, bis sie in Feuer gerieten. Nicht
als ob er das Thema dann erst gefunden haette; nein, so gewiss wie der
Schmerz grosse Schaetze in diese Seele zusammengetragen hatte, so gewiss
hatten das auch die Gedanken getan; er war ein strenger, verschlossener
Arbeiter. Aber er war nicht immer geruestet, er konnte im Gespraech keine
Gedanken praegen; er musste allein das Wort haben, musste wenigstens auf
und ab laufen koennen. Ein Wortgefecht mit ihm anzufangen, kam fast einem
Ueberfall auf einen Wehrlosen gleich, war aber doch gefaehrlich; denn
seine Ueberzeugung stand sofort und mit solcher Heftigkeit fest, dass er
keine Zeit hatte, sie zu begruenden; zwang man ihn doch dazu, so konnte
zweierlei geschehen: entweder er ueberspruehte seinen Gegner so, dass dem
Gegner ganz bange werden konnte, oder er schwieg eigensinnig, weil er
sich selbst nicht traute. Keiner war leichter zum Schweigen zu bringen
als dieser energische, beredte Mann.
Petra war erzittert, als der Propst sein Gebet begonnen, denn sie
fuehlte, woher er es genommen hatte. Je weiter er im Text kam, desto
naeher rueckte er ihr; sie kroch in sich zusammen, und sie sah, wie Signe
dasselbe tat. Aber unbarmherzig legte der Gewaltige los; der Loewe war
auf Beute aus; sie kam sich wie von allen Seiten verfolgt, wie umzingelt
und eingefangen vor,--aber was in Strenge angepackt wurde, hielt die
Hand des Erbarmens milde fest. Es war, als werde sie--ohne ein Wort der
Verdammung--von der allguetigen Liebe in den Arm genommen. Und da betete
sie und weinte, und sie hoerte Signe dasselbe tun und hatte sie lieb
deswegen!
Als der Propst von seinem Thron der Wahrheit herunterkam, um sich in die
Sakristei zu begeben, lag noch der Glanz der Begegnung mit dem Hoechsten
auf seinem Gesicht. Seine Augen fielen forschend gerade auf Petra, aber
als sie ihn gross ansah, da glitt ein Strahl von Milde zu ihr hin; im
Weitergehen blickte er rasch nach der Ecke, wo seine Tochter sass.
Signe erhob sich gleich darauf; den Schleier hatte sie vorm Gesicht, so
dass Petra nicht zu folgen wagte. Deshalb ging sie spaeter. Aber heute
sassen sie wieder alle drei bei Tisch; der Propst sprach ab und zu, Signe
aber war scheu. Sobald der Propst, der augenscheinlich die Rede auf das
Vorgefallene bringen wollte, die leiseste Andeutung machte, wich Signe
so schuechtern und zart aus, dass der Propst an ihre Mutter erinnert
wurde,--er verstummte und wurde allmaehlich schwermuetig. Dazu gehoerte
sehr wenig.
Nun gibt es nichts Peinlicheres als einen missglueckten
Versoehnungsversuch. Man stand auf, ohne sich in die Augen blicken und
sich gesegnete Mahlzeit wuenschen zu koennen. Im Wohnzimmer wurde die
Stimmung schliesslich so gedrueckt, dass sie alle drei gern hinausgegangen
waeren,--aber niemand mochte zuerst gehen;--Petra fuer ihr Teil hatte das
Gefuehl: wenn sie jetzt gehe, so gehe sie fuer immer. Sie konnte Signe
nicht wiedersehen, wenn sie sie nicht liebhaben durfte; sie konnte es
nicht ertragen, den Propst traurig zu sehen um ihretwillen. Aber musste
sie fort, dann ohne Abschied; denn wie haette sie von diesen Menschen
Abschied nehmen koennen? Schon der Gedanke peitschte sie in eine Erregung
hinein, die sie nur mit aeusserster Anstrengung zurueckzuhalten vermochte.
Jede Minute, die eine solche drueckende Stille verlaengert, in der wir
aufeinander warten, macht sie unertraeglicher. Man kann sich nicht
ruehren, weil man fuehlt, es wird bemerkt; jeder Seufzer ist zu hoeren; man
hoert sogar, wenn einer ganz ruhig ist; denn das hoert sich an wie Haerte.
Man kommt in Spannung, weil nichts gesagt wird, und man zittert davor,
dass etwas gesagt werden wird.
Jeder fuehlte, dieser Augenblick komme nie wieder. Die Mauern, die man
zwischen sich aufbaut, wachsen, unsere eigene Schuld waechst, die der
andern waechst auch, waechst mit jedem Atemzuge; bald sind wir
verzweifelt, bald empoert; denn wer sich so gegen uns benimmt, ist
unbarmherzig, ist schlecht; wir ertragen es nicht, wir koennen es ihm
nicht verzeihen,--Petra hielt es nicht laenger aus, entweder musste sie
aufschreien oder davonlaufen!
Da klang Schlittengelaeut auf der Strasse; bald sah man einen Mann im
Wolfspelz auf einem Rennschlitten, auf dem hinten der Postillon sass, am
Garten vorbei und in den Hof hineinsausen.--Alle atmeten erleichtert auf
und lauschten der Erloesung entgegen! Sie hoerten den Ankoemmling auf dem
Flur, wo er die Reisestiefel und den Pelz ablegte und mit dem Maedchen
sprach, das ihm behilflich war; der Propst stand auf, um ihm
entgegenzugehen,--kehrte aber wieder um, weil er die beiden Maedchen
nicht allein lassen wollte;--wieder sprach der Fremde auf dem Flur,
jetzt schon mehr in der Naehe, so dass beim Klang dieser Stimme alle drei
aufsahen, Petra aber sich erhob und die Augen auf die Tuer heftete.--Es
klopfte;--"herein!" sagte der Propst aufgeregt,--ein Mann mit einem
lichten Gesicht und einer Brille stand in der Tuer, Petra stiess einen
Schrei aus und sank wieder auf ihren Stuhl:--das war ja Oedegaard.
Er kam dem Propst und Signe nicht unerwartet; man hatte auf sein Kommen
zu Weihnachten gerechnet, obwohl niemand Petra etwas davon gesagt hatte;
aber dass er gerade jetzt kam, war eine Fuegung des Schicksals,--das
empfanden sie alle.
Petra sah und hoerte nichts, bis er vor ihr stand und ihre Hand gefasst
hatte. Er hielt sie lange in seiner, sagte aber kein Wort, auch sie
nicht; sie konnte nicht einmal aufstehen. Aber waehrend sie ihn
anschaute, liefen ihr zwei Traenen die Backen herunter. Er war sehr blass,
sonst aber ganz ruhig und guetig; er zog seine Hand wieder zurueck und
ging dann durch das Zimmer auf Signe zu, die sich zwischen den Blumen
ihrer Mutter in der aeussersten Fensterecke verkrochen hatte.
Petra sehnte sich, allein zu sein; deshalb zog sie sich zurueck. Signe
hatte im Hause zu tun, so dass sich der Propst mit Oedegaard in sein
Arbeitszimmer zu einem Glase Wein setzen konnte, das dem Reisenden not
tat. Hier erfuhr er in Kuerze, was die letzten Tage gebracht hatten; er
wurde sehr nachdenklich, aeusserte sich aber nicht darueber. Sie wurden
uebrigens auf seltsame Weise unterbrochen.
* * * * *
Am Fenster kamen zwei Frauen und drei Maenner vorbei, je einer hinter dem
andern, und kaum sah der Propst sie, als er aufsprang: "Da sind sie
wieder!--Jetzt heisst's Geduld haben."--Herein kamen zuerst die Frauen,
dann die Maenner, langsam und schweigend. Sie stellten sich an der Wand
unter dem Buecherregal auf, gerade gegenueber dem Sofa, auf dem Oedegaard
sass. Der Propst setzte ihnen Stuehle hin und holte noch ein paar aus dem
andern Zimmer; sie setzten sich auch alle mit Ausnahme eines staedtisch
gekleideten jungen Menschen, der dankte und sich mit einem etwas
trotzigen Gesicht, beide Haende in den Hosentaschen, an die Tuer lehnte.
Nach einer langen Pause, waehrend der Propst seine Pfeife stopfte und
Oedegaard, der nicht rauchte, die Leute sich naeher betrachtete, begann
schliesslich eine blasse, blonde Frau von vielleicht vierzig Jahren das
Gespraech. Ihre Stirn war sehr schmal, ihre Augen gross, aber scheu; sie
wussten nicht recht, wo sie hinsehen sollten. Sie sagte: "Der Herr
Pfarrer hat heute solch schoene Predigt gehalten; sie passte so gut zu
unsern Gedanken;--denn wir auf dem Hof haben letzthin viel von der
Versuchung geredet."--Sie seufzte; ein Mann mit einem etwas kurz
geratenen Untergesicht und einem grossen, breiten Oberkopf seufzte auch:
"Herr, bewache unsere Wege! Wende meine Augen ab, dass sie nicht auf
eitle Dinge schauen!"--Und Else, dieselbe, die zuerst gesprochen hatte,
seufzte wieder und sagte: "Herr, wie soll ein junges Menschenkind seinen
Pfad rein halten, dass es wandelt nach Deinem Worte?"--Das klang in ihrem
Munde etwas seltsam, denn sie war nicht mehr jung. Ein Mann in mittleren
Jahren aber, der den Kopf schief hielt und sich in einem fort hin und
her wiegte, wobei er seine Augenlider nie ganz aufschlug, sagte wie im
Halbschlaf:
"Jedwedem, dem der Name Christ
Durch Jesu Tod gegeben,
Dem folget Satans Trug und List
Wohl durch sein ganzes Leben."
Der Propst kannte sie zu gut, um nicht zu wissen, dass dies bloss die
Einleitung war; deshalb wartete er, als sei nichts gesagt worden, obwohl
wieder eine lange Pause eintrat, die nur von Seufzern unterbrochen
wurde.
Eine kleine Frau, die noch kleiner dadurch wurde, dass sie gebueckt dasass,
und die in so unglaublich viele Tuecher eingemummt war, dass sie wie ein
Buendel aussah--ihr Gesicht war voellig verdeckt--fing jetzt an, auf ihrem
Stuhl hin und herzurutschen, und gab schliesslich ein paar "Hm, hm!" von
sich. Sofort schrak die blonde Frau auf und sagte: "Auf dem Oeyhof ist
jetzt Schluss mit allem Spiel und Tanz;--aber----" sie hielt wieder inne,
Lars dagegen, der Mann mit dem grossen Oberkopf und der kurzen unteren
Gesichtshaelfte, fuhr fort: "--aber einer, der Spielmann Hans, der will
nicht Schluss machen."--Als auch Lars ueber das weitere nachgruebelte, kam
der junge Mensch ihm zu Hilfe: "Denn er weiss, dass auch der Herr Propst
ein Instrument hat, nach dem hier im Pfarrhaus getanzt und gesungen
wird."--"Das kann fuer ihn wohl keine groessere Suende sein als fuer den
Herrn Propst", sagte Lars.--"Es liegt so, dass das Spielen beim Herrn
Propst die andern in Versuchung fuehrt", sagte Else behutsam, wie um
ihnen vorwaerts zu helfen. Der junge Mensch aber fuegte kraeftiger hinzu:
"Es aergert die Unmuendigen, wie geschrieben steht: Wer aber aergert dieser
Geringsten einen, die an mich glauben, dem waere besser, dass ein
Muehlstein an seinen Hals gehaengt, und er ersaeufet wuerde im Meer, da es
am tiefsten ist." Und Lars loeste ihn ab: "Unser Anliegen an Dich ist
also, dass Du Dein Instrument forttust oder es verbrennst, damit es nicht
zum Aergernis wird--"--"Fuer Deine Pfarrkinder", fuegte der junge Mensch
hinzu.
Der Propst dampfte und paffte und sagte schliesslich in dem sichtbaren
Bemuehen, seine Ruhe zu bewahren: "Mir ist dies Spiel keine Versuchung,
mir ist es eine Erquickung und eine Befreiung.--Nun wisst Ihr aber, dass
alles, was unsern Geist frei machen kann, uns empfaenglicher und
verstaendnisvoller macht; deshalb glaube ich ganz gewiss, dass diese Musik
mir eine Hilfe ist."--"Und ich weiss, es gibt Pfarrer, die nach Pauli
Wort trotzdem darauf verzichten wuerden, wenn ihre Pfarrkinder sie darum
baeten", sagte der junge Mensch.--"Vielleicht habe ich frueher seine Worte
auch in diesem Sinne aufgefasst," antwortete der Propst, "aber jetzt
nicht mehr. Man kann wohl auf eine Gewohnheit oder auf einen Genuss
verzichten; aber man soll sich hueten, einseitig und beschraenkt zu werden
mit den Einseitigen und Beschraenkten. Ich handle dadurch nicht allein
unrecht an mir selbst, sondern auch an den Menschen, denen ich ein
Beispiel geben soll; denn ich gebe ihnen ja ein falsches Beispiel, ein
Beispiel gegen meine Ueberzeugung." Der Propst brachte selten ausserhalb
seiner Kanzel eine so lange Auseinandersetzung zustande. Er fuegte hinzu:
"Ich werde mein Instrument nicht weggeben und nicht verbrennen; ich will
es noch oft hoeren, weil ich oft das Beduerfnis danach habe, und ich
moechte wuenschen, dass auch Ihr bisweilen in aller Unschuld Euren Geist
freimachtet durch Gesang, durch Spiel und Tanz; denn ich halte das fuer
gut und richtig."
Der junge Mensch beugte den Kopf zur Seite, "Pfui!" er spuckte aus.
Der Propst wurde blutrot im Gesicht, und es entstand eine Pause. Da
setzte der Hin- und Herwiegende mit lauter Stimme ein:
"O Herr, wie schwach ist dieser Leib,
Denn nur mit Angst und Zagen
Kann arm und reich, kann Mann und Weib
Sein Kreuz geduldig tragen.
Denn Fleisch und Blut gebrechlich sind,
Das muessen wir alle sagen."--
Und dann Lars mit sanfter Stimme: "Also Du sagst, Spiel und Tanz sei
richtig,--na!----Also es ist richtig, den Satan durch die Sinne
aufzuwecken, na!--Also das sagt unser Herr Pfarrer,--na, dann wissen wir
es ja!----Na, also er sagt, alles, was in Muessiggang und Sinnlichkeit
geschieht, ist zur Erloesung und zur Hilfe da,----alles, was einen in
Versuchung fuehrt, ist richtig!"--Jetzt mischte sich aber Oedegaard ein,
denn er sah dem Propst an, dass die Sache schief gehen wuerde: "Sag' mal,
guter Mann, was fuehrt uns denn nicht in Versuchung?"
Alle sahen dahin, woher diese sicheren, schneidigen Worte kamen. Die
Frage an sich war so unerwartet, dass Lars im Handumdrehen nicht wusste,
was er antworten sollte, auch die andern nicht. Da klang es wie aus
einem Brunnen oder aus einem Keller heraus: "Das ist die Arbeit."--Die
Stimme kam von den vielen Tuechern her; es war Randi, die zum erstenmal
auch ein Wort sagte. Ein triumphierendes Schmunzeln zog ueber Lars'
kurzes Untergesicht, die blonde Frau blickte zuversichtlich zu ihr hin,
selbst der junge Mensch an der Tuer verlor fuer einen Augenblick die
spoettische Woelbung der Lippen. Oedegaard war es klar, dass dies das Haupt
sein musste, trotzdem es nicht zu sehen war. Er wandte sich deshalb an
sie: "Wie muss denn die Arbeit beschaffen sein, damit sie uns nicht in
Versuchung fuehrt?" Sie wollte hierauf nicht antworten; der junge Mensch
aber entgegnete: "Der Fluch lautet: im Schweisse Deines Angesichts sollst
Du Dein Brot essen; sie soll aber Schweiss und Muehe bringen."--"Und ausser
Schweiss und Muehe nichts? Zum Beispiel keinen Vorteil?"--Hierauf wollte
auch er nicht antworten; aber nun fuehlte sich das kurze Untergesicht
berufen: "Doch, soviel Vorteil wie moeglich."--"Aber dann muss doch auch
in der Arbeit eine Versuchung liegen, naemlich die Lockspeise eines zu
grossen Vorteils." Bei dieser Umzingelung kam Entsatz aus der Tiefe: "So
ist es der Vorteil, der uns versucht, und nicht die Arbeit."---"Ja, aber
was will das sagen, wenn die Arbeit um des Vorteils willen uebertrieben
wird?" Sie verkroch sich wieder; Lars aber wagte sich heraus: "Was heisst
die Arbeit uebertreiben?"--"Na, wenn sie Dich zu einem Tier macht, wenn
sie Dich in Sklaverei bringt."--"Sklaverei muss sein", sagte der, der den
Schweiss des Angesichts haben wollte.--"Aber kann Sklaverei zu Gott
fuehren?"--"Arbeit ist Gottesdienst!" rief Lars.--"Kannst Du das von
Deiner ganzen Arbeit sagen?" Lars schwieg.--"Nein, sei vernuenftig und
gib mir zu, dass um des Vorteils willen die Arbeit so uebertrieben werden
kann, _als ob wir nur dafuer lebten_. Also liegt auch in der Arbeit eine
Versuchung."--"Ja, eine Versuchung liegt in allem, Kinder,--eine
Versuchung liegt in allem!" entschied jetzt der Propst, indem er
aufstand und, als wolle er der Sache ein Ende machen, seine Pfeife
ausklopfte. In den vielen Umschlagtuechern seufzte es, aber eine Antwort
kam nicht.
"Seht," begann Oedegaard wieder,--und der Propst stopfte sich eine neue
Pfeife,--"wenn nun die Arbeit einen Vorteil, das heisst Frucht bringt, so
haben wir doch wohl das Recht, diese Frucht zu geniessen? Wenn sie uns
Reichtum bringt, haben wir doch wohl das Recht, diesen Reichtum zu
geniessen?"--Das erregte grosses Bedenken; einer blickte den andern an.
"Ich will antworten, waehrend Ihr darueber nachdenkt", sagte er. "Gott hat
uns die Moeglichkeit gelassen, seinen Fluch in Segen zu verwandeln; denn
er selbst leitete die Patriarchen und sein ganzes Volk zum Genuss des
Reichtums an."--"Die Apostel durften nichts besitzen", warf der junge
Mensch siegessicher ein.--"Ja, das stimmt; denn die wollte er ueber alle
menschlichen Lebensbedingungen stellen, damit sie nur Gott schauen
sollten;--sie waren berufen!"--"Wir sind alle berufen!"--"Aber nicht im
gleichen Sinne; bist Du zum Apostel berufen?"--Der junge Mensch wurde
leichenblass, seine Augen unter der Stirnmauer verduesterten sich; er
musste seinen Grund haben, sich das zu Herzen zu nehmen.
"Aber der Reiche soll auch arbeiten", meinte Lars; "denn Arbeit ist ein
Gebot."--"Gewiss soll er das, wenn er auch andere Mittel und andere
Aufgaben hat; jeder hat seine. Aber sag', soll der Mensch unaufhoerlich
arbeiten?"--"Er soll auch beten", fiel die blonde Frau ein und faltete
die Haende, als komme ihr jetzt zum Bewusstsein, dass sie es zu lange
versaeumt habe.--"Also: immer wenn ein Mensch nicht arbeitet, soll er
beten?--Kann ein Mensch das?--Was waere das fuer ein Beten, und was waere
das fuer ein Arbeiten?--Soll er nicht auch ausruhen?"--"Wir sollen erst
ausruhen, wenn wir nicht mehr koennen; dann werden wir nicht von boesen
Gedanken versucht,--ja, dann werden wir nicht in Versuchung gefuehrt!"
sagte Eise wieder, und der Psalmist fiel ein:
"So gehet ein, ihr Mueden,
In Jesu suessen Frieden,
Die Arbeit war so gross.
Die Zeit ist nicht mehr weit,
Da man fuer euch bereit't
Ein Bettlein in der Erde Schoss!"----
"Still, Erik, und hoer' zu," sagte der Propst. Oedegaard aber zog jetzt
die Schlinge zusammen: "Seht Ihr, die Arbeit traegt ihre Frucht und
braucht ihre Rast. Nun aber ist meine Ansicht von Geselligkeit, von Sang
und Spiel und dergleichen, dass sie nicht nur eine suesse Frucht der Arbeit
sind, sondern dass sie zugleich auch dem Geist eine erquickende Musse
bieten."
Hier entstand eine Bewegung im Lager; alle sahen zu Randi hin, denn
jetzt mussten die Haupttruppen heranruecken; sie wackelte und wackelte und
schliesslich kam es langsam und still heraus: "Weltlicher Sang und Spiel
und Tanz sind keine Musse, denn das entfacht das Fleisch zu suendiger
Begierde. Eine Frucht der Arbeit kann auch wohl so etwas nicht sein, das
die Arbeit vergeudet und das verweichlicht."--"Ja, in so etwas liegt
eine grosse Versuchung!" sagte die blonde Frau seufzend. Dabei fiel Erik
der Vers ein:
"Mit Schmerz erkennen wir,
Dass staendig wachsen hier
Die Laster und Begierden,
Geschmueckt gleich Tugendzierden,
Die leise uns umringen
Und sich zum Himmel schwingen--"
"Sei still, Erik!" sagte der Propst; "Du verwirrst uns nur."--"Ach ja,
das mag wohl sein", sagte Erik und fing wieder an:
"Wenn euch mit heuchlerischem Sinn
Ein anderer will fuehren hin
Zum breiten, glatten Suendenpfad,
Den waehlt euch nicht als Kamerad----"
"Nun hoer' aber auf, Erik!--Das Lied ist ja recht schoen, aber alles zu
seiner Zeit und am rechten Ort."--"Ja, ja, Herr Pfarrer, das
stimmt,--alles zu seiner Zeit und am rechten Ort:
"Schenk' jede Stunde heute
Dem Hoechsten frueh und spaet
Ein jeder Herzschlag laeute
Wie Glocken zum Gebet--"
"Nein, nein, Erik, dann wuerde ja auch das Gebet zur Versuchung; Du
muesstest Katholik werden und ins Kloster gehen!"--"Gott behuete!" sagte
Erik und riss die Augen weit auf, machte sie dann wieder zu und fing an:
"Wie Staub und Schlacken zu echtem Gold
Ist kathol'sch--"
"Hoer' mal, Erik, wenn Du nicht ruhig sein kannst, so geh gefaelligst mit
dem Rest hinaus.--Wo waren wir denn stehen geblieben?" Oedegaard aber
hatte mit grossem Behagen Erik angehoert und wusste es nicht mehr. Da kam
es friedlich aus den vielen Tuechern heraus: "Ich sagte, es koenne doch
keine Musse und keine Frucht der Arbeit in etwas sein, das--"--"Jetzt
erinnere ich mich: das eine Versuchung in sich traegt,--und dann kam Erik
und bewies uns, dass auch im Gebet eine Versuchung liegen kann.--Wir
wollen also ueberlegen, was jene Dinge sonst fuer Folgen haben koennen.
Ist Euch aufgefallen, dass froehliche Menschen besser arbeiten als
schwermuetige? Woher kommt das?"
Lars merkte, worauf das hinausging, und sagte deshalb: "Froehlich macht
der Glaube."--"Ja, wenn es ein heller Glaube ist; aber weisst Du nicht,
dass der Glaube so finster machen kann, dass die Welt um uns her zu einem
Zuchthause wird?"
Die blonde Frau seufzte unaufhoerlich, so dass die vielen Tuecher dadurch
in Bewegung kamen; Lars blickte sie auch scharf an, und da schwieg
sie.--Oedegaard fuhr fort: "Ein ewiges Einerlei, sei es Arbeit, Gebet
oder Vergnuegen, macht dumm und finster. Du kannst den Acker umgraben,
dass Du zu einem Tier wirst, beten, bis Du ein Gewohnheitsmoench bist,
spielen, bis Du eine schlappe Spielpuppe bist. Aber mische es einmal!
Der Wechsel staerkt Sinn und Gedanken; dabei gedeiht Deine Arbeit, und
Dein Glaube wird licht."--"Wir wollen uns also jetzt aufs Froehlichsein
verlegen!" sagte der junge Mensch und lachte.--"Ja, dann wuerdest Du fuer
Dein Teil eine Gemeinschaft mit andern Menschen finden; denn erst in der
Freude sieht man das Gute bei andern und liebt es. Man kann aber Gott
nur lieben, wenn man seinen Naechsten liebt."
Da nicht sogleich ein Widerspruch erfolgte, versuchte Oedegaard zum
zweitenmal die Schlinge zusammenzuziehen und sagte: "Die Dinge, die
_freimachen_, also dass der Heilige Geist in uns wirken kann,--denn in
den Gefesselten kann er nicht wirken,--die Dinge, die uns helfen, muessen
einen Segen in sich tragen,--und das tun diese Dinge." Der Propst stand
auf, er hatte seine Pfeife schon wieder auszuklopfen.
In der Pause, die jetzt folgte, und in der kein Seufzer zu hoeren war,
merkte man, wie die vielen Tuecher sich abmuehten, und schliesslich hoerte
man ein zaghaftes: "Es steht geschrieben: Was Du aber tust, das tu zu
Gottes Ehre;--sind aber weltlicher Gesang, Spiel und Tanz zu Gottes
Ehre?"
"Ohne weiteres nicht;--aber koennen wir dieselbe Frage nicht beim Essen,
beim Schlafen, beim Anziehen stellen? Und doch _muessen_ wir das alles
tun. Es kann also nur gemeint sein, dass man nichts tun soll, was Suende
ist."--"Ja, ist das denn aber keine Suende?"
Zum erstenmal wurde Oedegaard ein bisschen ungeduldig. Er beschraenkte sich
deshalb darauf, zu sagen: "Wir lesen in der Bibel, dass Gesang, Spiel und
Tanz Brauch waren."--"Ja, zu Gottes Ehre."--"Nun ja, zu Gottes Ehre.
Aber dass die Juden immer und in allem den Namen Gottes im Munde fuehrten,
geschah aus dem Grunde, weil sie wie Kinder die Dinge noch nicht
eingeteilt hatten. Den Kindern ist jeder fremde Mensch, der Mann",--auf
die Frage des Kindes: "Woher kommt dies, woher kommt das?' antworten wir
immer dasselbe: 'von Gott'; aber als Erwachsene Erwachsenen gegenueber
nennen wir zugleich das Zwischenglied, wir nennen nicht bloss den Geber,
Gott. So kann zum Beispiel ein schoenes Lied von Gott handeln oder zu
Gott fuehren, auch wenn Gottes Name nicht genannt ist; denn gar vieles
fuehrt zu ihm hin, wenn auch nicht auf dem direkten Wege. Unser Tanz,
wenn in Wahrheit gesunde, unschuldige Menschen ihre Freude an ihm haben,
preist--wenn auch nicht direkt--ihn, der uns die Gesundheit schenkte,
und der das Kind in uns liebt."
"Merkt Euch das, merkt Euch das!" sagte der Propst; er war sich klar,
dass er lange Zeit diese Dinge missverstanden und sie andern falsch
ausgelegt hatte.
Lars aber hatte lange nachdenklich dagesessen. Jetzt war er fertig. Das
Samenkorn hatte sich von der hohen Stirn zu dem kurzen, knorrigen
Untergesicht herabgesenkt; hier war es ausgedroschen und gemahlen worden
und kam jetzt heraus: "All die Maerchen und Erzaehlungen und Geschichten,
all die Gedichte und das erfundene Zeug, wie es heutzutage die Buecher
fuellt,--ist das auch erlaubt? Steht nicht geschrieben: Jedes Wort, das
aus Deinem Munde gehet, sei Wahrheit?"
"Es freut mich, dass Du darauf kommst.--Siehst Du, mit den Gedanken ist
es genau wie mit dem Hause, in dem Du wohnst. Waere es so eng, dass Du
kaum mit dem Kopf hineinkoenntest und nur eben die Beine ausstrecken, so
muesstest Du es auch wohl ausbauen. Und die Dichtung erhebt die Gedanken
und baut sie aus. Waere das Mass der Gedanken, das ueber das
Allernotwendigste hinausgeht, Luege, so wuerden bald auch die
allernotwendigsten Gedanken Luege werden. Sie wuerden Dich so einklemmen
in Dein Erdenhaus, dass Du nie die Ewigkeit erreichtest, und doch geht
Dein Weg dahin, und die Gedanken sollten Dich im Glauben dahin
fuehren."--"Aber etwas Erdichtetes ist doch etwas, was nicht gewesen ist,
und dann ist es doch Luege?" sagte Randi nachdenklich.--"Nein, es zeigt
uns oft eine groessere Wahrheit, als die Dinge, die wir sehen", antwortete
Oedegaard. Jetzt blickten ihn alle zweifelnd an, und der junge Mensch
warf ein: "Ich habe bis jetzt nicht gewusst, dass in den Sagen von Askelad
mehr Wahrheit ist, als in dem, was ich mit meinen Augen sehe!"--Alle
lachten leise.--"So sage mir, ob Du immer den Zusammenhang dessen
begreifst, was Du vor Augen siehst?"--"Ich bin wohl nicht gelehrt
genug?"--"Oh, ein Gelehrter begreift ihn gewiss noch viel weniger! Ich
meine naemlich solche Dinge des taeglichen Lebens, die uns Kummer und
Herzeleid machen, und ueber die wir gruebeln, bis wir schwarz werden, wie
man so sagt. Kommt so etwas nicht vor?"--Er antwortete nicht; aus den
vielen Tuechern heraus aber ertoente es in tiefem Ernst: "Doch, sehr
oft."--"Wenn Du nun aber eine erfundene Geschichte hoertest, die Deiner
eigenen so gliche, dass Du Deine Geschichte verstaendest, wenn Du die
andere hoertest? Wuerdest Du von der Geschichte, die Dir Deine eigene klar
macht, die Dir den Trost und die Festigung gibt, die im Verstaendnis
liegen,--nicht sagen, die Geschichte habe fuer Dich groessere Wahrheit als
Deine eigene?" Die blonde Frau sagte: "Ich habe einmal eine Geschichte
gelesen, die mir ueber einen grossen Kummer so hinweggeholfen hat, dass
das, was mich bisher so bedrueckt hatte, mir fast eine Freude wurde." Aus
den Tuechern heraus erscholl ein Raeuspern;--"ja, es ist doch wahr", fuegte
sie aengstlich hinzu.
Der junge Mensch aber wollte es nicht zugeben: "Koennen die Sagen von
Askelad einem Menschen zum Trost gereichen?"--"Nun, je nachdem. Der
Humor hat grosse Macht, und jene Sagen zeigen lustig, dass einer, von dem
die Welt am wenigsten haelt, oft am weitesten kommt,--dass alles dem
beisteht, der selbst guten Muts ist, und dass der Mann vorwaerts kommt,
der es von ganzem Herzen will. Meinst Du nicht, es ist fuer viele Kinder
gut, wenn sie daran erinnert werden, und fuer viele Erwachsene
auch?"--"Aber es ist doch Aberglauben, wenn man an den Teufel und an
Hexerei glaubt."--"Wer hat gesagt, dass Du daran glauben sollst? Das ist
Bilderschrift."--"Aber es ist uns verboten, Bilder und Zeichen zu
gebrauchen, weil jeglicher Schein dem Teufel zugehoert."--"So; wo steht
das?"--"In der Bibel."--Hier fiel der Propst ein: "Nein, das ist ein
Missverstaendnis; denn die Bibel gebraucht selbst Bilder."--Alle blickten
zu ihm auf. "Sie gebraucht auf jeder Seite Bilder, wie das ueberhaupt den
morgenlaendischen Voelkern eigen ist. Wir haben selbst auch Bilder in
unserer Kirche, wir haben Bilder in unserer Sprache, in Holz, auf
Leinwand, in Stein, und wir koennen uns die Gottheit nur durch Bilder
vorstellen. Nicht genug damit: Jesus wendet Bilder an; hat Gott der Herr
selbst nicht mancherlei Gestalt angenommen, wenn er sich den Propheten
offenbarte? Kam er nicht in Gestalt eines Wanderers zu Abraham nach
Mamre und ass mit ihm an seinem Tisch? Kann aber die Gottheit mancherlei
Gestalten annehmen und Bilder gebrauchen, so koennen die Menschen es
auch."--Man musste ihm beipflichten. Oedegaard aber stand auf und schlug
den Propst leicht auf die Schulter: "Schoenen Dank, da haben Sie eben
ganz praechtig aus der Bibel bewiesen, dass das Schauspiel zulaessig
ist!"--Der Propst blieb erschrocken stehen: der Rauch, den er im Munde
hatte, quoll ganz von selbst langsam heraus.
Oedegaard ging dann durch die Stube auf die Frau mit den vielen
Umschlagtuechern zu und bueckte sich, um eine Spur ihres Gesichts zu
entdecken, allein vergeblich. "Moechtest Du noch mehr wissen?" fragte er;
"denn Du scheinst ueber dies und jenes nachgedacht zu haben."--"O Gott
sei mir gnaedig, ich denke wohl nicht immer das richtige."--"Ja,--in der
ersten Zeit nach der Gnade der Bekehrung ist man so erfuellt von diesem
Wunder, dass einem alles andere zwecklos und unrichtig erscheint. Man ist
wie ein Liebhaber, der nur nach seiner Geliebten Sehnsucht hat."--"Ja,
aber sieh die ersten Christen an, die sollen uns doch ein Beispiel
sein."--"Nein, ihre strengen Lebensbedingungen mitten unter den Heiden
sind nicht mehr die unseren; wir haben andere Aufgaben, wir muessen das
Christentum in unserem heutigen Leben unterbringen."--"Aber im Alten
Testament stehen so viele Worte, die dem, was Du sagst, widersprechen",
sagte der junge Mensch zum erstenmal ohne Bitterkeit.--"Ja, denn jene
Worte sind jetzt tot, sie sind abgeschafft', wie der Apostel Paulus
sagt: _Welcher auch uns tuechtig gemacht hat, das Amt zu fuehren des Neuen
Testaments; nicht des Buchstabens, sondern des Geistes_,--und weiter:
_Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit_. Und: _Ich habe es
alles Macht_, sagt Paulus weiter, doch er fuegt hinzu: Es frommt aber
nicht alles.--Nun sind wir so gluecklich, das Leben eines Mannes vor
Augen zu haben, das uns zeigt, was Paulus gemeint hat. Luthers Leben.
Von Luther glaubt Ihr doch, dass er ein guter, aufgeklaerter Christ war?"
Ja, das glauben sie.--"Luthers Glaube war ein lichter Glaube, es war der
Glaube des Neuen Testamentes! Er hatte von dem finsteren Glauben die
Ansicht, dahinter liege der Teufel am liebsten auf der Lauer. Er hatte
von der Furcht vor der Versuchung die Ansicht, dass der am wenigsten
versucht wird, der sich am wenigsten fuerchtet. Er nutzte alle Gaben,
die Gott ihm gegeben hatte, auch die Faehigkeit, sich zu freuen, er nahm
das Leben als Ganzes. Wollt Ihr Beispiele? Der fromme Melanchthon
schrieb einmal so eifrig an einer Verteidigung der reinen Lehre, dass er
sich die Zeit zu den Mahlzeiten nicht goennte. Da nahm Luther ihm die
Feder aus der Hand. 'Man dient Gott nicht allein durch Arbeit,' sagte
er, 'sondern auch durch Ruhe und Erholung; deshalb hat Gott das dritte
Gebot gegeben und den Sabbat eingesetzt,' Und weiter: Luther wandte in
seiner Rede viele Bilder an, scherzhafte und ernste durcheinander, und
er steckte voll von guten, oft sehr lustigen Einfallen. Er uebersetzte
auch alte, schoene Volkssagen in seine Muttersprache und sagt in der
Vorrede, dass er naechst der Bibel kaum bessere Ermahnungen kenne als
diese. Er spielte, wie Ihr vielleicht wisst, die Laute, und sang mit
seinen Kindern und seinen Freunden,--nicht bloss Choraele, nein, auch
alte, froehliche Lieder; er liebte Gesellschaftsspiele, spielte Schach
und liess die Jugend in seinem Hause tanzen; er verlangte nur, dass alles
in Zucht und Ehren geschehe. Dies hat ein alter, treuherziger Schueler
Luthers, naemlich der Pfarrer Johann Mathesius, aufgezeichnet und seinen
Pfarrkindern von der Kanzel herab erzaehlt. Er betete, er moege ihnen die
Wege weisen,--und wir wollen nun das gleiche beten!"
Der Propst stand auf: "Liebe Freunde, jetzt wollen wir es fuer heute
genug sein lassen!" Alle erhoben sich. "Hier ist manches Wort zur
Aufklaerung gesprochen worden; moege Gott seinen Segen zu dieser Aussaat
geben!--Liebe Freunde, Ihr wohnt an abgelegenen Staetten; Ihr wohnt hoch
oben auf den Hoehen, wo der Frost das Korn haeufiger maeht als die Sichel.
Solche Einoeden sollte man wieder den Sagen und dem weidenden Vieh
ueberlassen. Das geistige Leben gedeiht spaerlich da oben und wird
kuemmerlich wie die Kraeuter. Das Vorurteil drueckt auf das Leben wie die
Berge, unter denen es heranwaechst; sie werfen ihre Schatten darauf und
treten trennend dazwischen. Der Herr sammle, der Herr erleuchte
Euch!--Ich danke Euch fuer heute, meine Freunde! Auch mir hat dieser Tag
zu groesserer Klarheit verhelfen." Er gab jedem von ihnen die Hand, und
selbst der junge Mensch streckte ihm seine Hand freundlich hin, ohne
jedoch aufzublicken.
"Ihr muesst ueber die Berge;--wann kommt Ihr denn nach Hause?" fragte der
Propst, als sie gehen wollten.--"Ach, in der Nacht wohl," antwortete
Lars; "es hat sich jetzt viel Schnee angesammelt, und wo der fortgeweht
ist, liegt Hoeckereis."--"Ja, liebe Freunde, es ist aller Ehren wert,
unter solchen Umstaenden zur Kirche zu kommen. Moeget Ihr jetzt auf dem
Wege nicht zu Schaden kommen!"--Erik antwortete leise:
"Ist Gott fuer mich, so trete
Gleich alles wider mich,
So oft ich ruf und bete,
Weicht alles hinter sich!"
"Das stimmt, Erik,--diesmal hast Du's getroffen!" "Ja, wartet mal",
sagte Oedegaard, als sie sich zum Gehen wandten; "es ist nicht zu
verwundern, dass Ihr mich nicht kennt; aber ich duerfte auf den Oedhoefen
doch wohl Verwandte haben." Alle wandten sich nach ihm um, selbst der
Propst, der es wohl gewusst, aber voellig vergessen hatte. "Ich heisse Hans
Oedegaard, der Sohn von Knut Hansen Oedegaard, dem Propst, der damals mit
dem Raenzel auf dem Ruecken von Euch fortzog."--Da klang es aus den vielen
Tuechern heraus: "Herr Gott,--das ist ja mein Bruder."--Sie waren alle
stehen geblieben, aber keiner wusste, was er sagen sollte. Schliesslich
fragte Oedegaard: "Also bin ich damals, wo ich als kleiner Bursch Vater
hinaufbegleitete, bei Dir gewesen?"--"Ja, bei mir."--"Und eine Zeitlang
auch bei mir", sagte Lars; "Dein Vater ist mein Schwesterkind."--Randi
aber sagte wehmuetig: "Also Du bist der kleine Hans;--ja, ja, die Zeit
vergeht."--"Wie geht es Eise?" fragte Oedegaard.--"Dies ist Eise", sagte
Randi und zeigte auf die blonde Frau.--"Du bist Eise!" rief er. "Du
hattest damals einen Liebeskummer; Du wolltest den Dorfspielmann haben;
hast Du ihn gekriegt?" Niemand antwortete. Obwohl es schon daemmerig war,
sah er, wie Eise sehr rot wurde, und wie die Maenner zur Seite oder zu
Boden blickten,--ausgenommen der junge Mensch, der Eise fest ansah.
Oedegaard merkte, dass er etwas Toerichtes gefragt hatte; der Propst kam
ihm zu Hilfe: "Nein, der Spielmann Hans ist unverheiratet geblieben;
Eise hat Lars' Sohn bekommen; aber jetzt ist sie wieder frei, sie ist
Witwe."--Wieder wurde sie gluehend rot, der junge Mensch sah es und
laechelte spoettisch.
Randi aber sagte: "Ja, Du hast wohl weite Reisen gemacht? Du hast viel
gelernt, wie ich gehoert habe."--"Ja, bis jetzt habe ich studiert oder
bin gereist, aber nun will ich im Lande bleiben und mich nuetzlich
machen."--"Ach ja, so geht's--manche reisen weit und kommen zum Licht
und zur Gelehrsamkeit; andere kleben an der Scholle." Und Lars fuegte
hinzu: "Die heimische Erde ist oft schwer zu brechen. Bringt sie aber
einen Mann hervor, der Hilfe leisten kann, so zieht er von
dannen."--"Der Beruf ist verschieden; jeder muss dem seinen folgen",
sagte der Propst.--"Mit unsers Herrgotts Hilfe wird schon Arbeit mehrend
zu Arbeit kommen", sagte Oedegaard; "meines Vaters Wirksamkeit wird Euch
vielleicht auch noch einmal zugute kommen, so Gott will."--"Ach ja, das
mag wohl sein", sagte Randi sanft; "aber das Warten faellt oft schwer;
denn es dauert so lange."
Sie schieden; der Propst stellte sich an das eine, Oedegaard an das
andere Fenster, um ihnen nachzuschauen; denn jetzt mussten sie ueber die
Berge; der junge Mensch ging hinterher. Oedegaard erfuhr, er stamme aus
der Stadt, wo er alles moegliche getrieben habe, doch immer mit den
Leuten in Streit geraten sei. Er glaubte sich zu etwas Grossem berufen,
vielleicht zum Apostel, war aber seltsamerweise auf den Oedhoefen haengen
geblieben,--manche meinten aus Liebe zu Eise. Er war ein Feuerkopf, der
viele Enttaeuschungen erlebt hatte und dessen noch mehr harrten.
Sie kamen jetzt auf dem Berge zum Vorschein; das Dach des Kuhstalls
verdeckte sie nicht mehr. Sie arbeiteten sich muehselig empor,
verschwanden hinter Baeumen und kamen wieder heraus, immer hoeher und
hoeher. Es fuehrte kein Weg durch den tiefen Schnee, die Baeume waren die
Wegweiser in der Wueste, und zur Seite zeigten die Firnen ihnen die
Richtung nach ihrer Wohnstaette.
Drinnen aus der Stube aber kamen ein paar trillernde Akkorde und dann:
Mein Lied ist dem Fruehling ergeben,
Bevor er erwachte zum Leben.
Mein Lied ist dem Fruehling ergeben,
Wie Sehnsucht ihn sehnet herbei,
Da schliessen ein Buendnis die zwei,
Zu locken die Sonne zum Siege,
Damit ihr der Winter erliege,
Das Murmeln der Baeche zu wecken,
Damit sie im Chor ihn erschrecken
Zu bannen ihn flugs aus den Lueften
Mit stetigen Blumen duften.--
Mein Lied ist dem Fruehling ergeben!
Elftes Kapitel
Seit diesem Tage war der Propst sehr wenig mit den andern zusammen;
teils nahm ihn das Weihnachtsfest in Anspruch, teils konnte er nicht zur
Klarheit kommen, ob das Schauspiel den Christen erlaubt sei oder nicht;
sowie sich Petra nur sehen liess, wurde er unruhig.
Waehrend der Propst so in seinem Arbeitszimmer sass, seine Predigten oder
eine christliche Ethik vor sich, sass Oedegaard bei den jungen Maedchen,
zwischen denen er staendig Vergleiche ziehen musste. Petra spruehte und
war, sich nie gleich; wer ihr folgen wollte, wurde wie bei einem Buch in
steter Spannung gehalten. Signe dagegen war so wohltuend in ihrer
gleichmaessigen Innigkeit; ihre Bewegungen waren nie ueberraschend; denn
sie spiegelten ihr Wesen wieder. Petras Stimme konnte jede Faerbung
annehmen, grelle und weiche, und jeden Staerkegrad. Signes Stimme hatte
einen eigenen Wohllaut, war aber nicht wechselnd,--ausser fuer den Vater,
der meisterlich die Nuancen unterscheiden konnte. Petra blieb bei einer
Sache; war sie bei mehr Dingen, so geschah's, um zu beobachten, nicht um
zu helfen. Signe hatte auf alles und auf alle ein Auge und verteilte
sich, ohne dass man es merkte. Sprach Oedegaard mit Petra ueber Signe, so
hoerte er eine hoffnungslos Liebende klagen, sprach er aber mit Signe
ueber Petra, so wurde sie ziemlich einsilbig. Miteinander plauderten die
Maedchen haeufig und ungezwungen; aber immer nur ueber Gleichgueltiges.
Er hatte gegen Signe grosse Verpflichtungen; denn ihr verdankte er das,
was er "seinen neuen Menschen" nannte. Der erste Brief, den er in seinem
grossen Schmerz von Signe bekam, hatte ihm wie eine weiche Hand ueber die
Stirn gestrichen. So schonend erzaehlte sie, Petra sei zu ihnen gekommen,
missverstanden und misshandelt. So fein war ihre Auslegung, dass dies
zufaellige Kommen wie eine Fuegung Gottes erschien, "weil nichts
zerbrechen soll", ihm klang es wie fernes Locken aus einem Walde, wenn
man noch steht und ueber den Weg nachsinnt, den man gehen soll.
Signes Briefe folgten ihm ueberall, wohin er reiste; sie waren der Faden,
der ihn hielt. Jede ihrer Zeilen hatte den Zweck, Petra direkt in seine
Arme zu fuehren, und doch erreichte sie gerade das Gegenteil; denn Petras
Kuenstlernatur trat ihm durch diese Briefe klar vor Augen; den
Mittelpunkt ihrer Begabung, den er selbst vergebens gesucht, hatte Signe
unbewusst stets vor Augen, und sowie er das einsah, sah er auch ihren und
seinen Irrtum ein und wurde gewissermassen ein neuer Mensch dadurch.
Er huetete sich wohl, Signe von dem zu schreiben, was ihre Briefe ihn
gelehrt hatten. Das erste Wort durfte nicht von Petras Umgebung kommen,
sondern von ihr selbst, damit nichts ueberstuerzt werde. Aber von dem
Augenblick an, da ihm dies klar geworden war, hatte er auch Petra in
einem neuen Licht gesehen. Natuerlich: diese ewig sich jagenden Impulse,
von denen jeder einzelne voll empfunden war, alle aber in einem grossen
Widerspruch zueinander standen, das musste ja der Anfang eines
Kuenstlertums sein. Es hiess also, dies alles zu einer starken
Wesenseinheit zu sammeln; sonst wuerde alles Stueckwerk und ihr Leben
selbst nur Kunst. Also: nicht zu frueh hinein in die Bahn! Solange wie
moeglich schweigen, ja Widerstand.
Von all dem ganz erfuellt, merkte er selbst nicht, dass Petra wieder
unausgesetzt seine Seele beschaeftigte,--diesmal jedoch mit einem fremden
Ziel. Er nahm die Kunst um sich herum aufs Korn, besonders aber die
Kuenstler und unter ihnen vor allem die Schauspieler. Er sah vieles, was
einen Christenmenschen abschrecken musste. Er sah die ungeheuren
Missstaende. Aber sah er dasselbe nicht ueberall, sah er es nicht auch in
der Kirche? Weil da hohle Pfaffen standen, nannte man ganz dasselbe gross
und ewig. Wenn das Streben nach Wahrheit, das ueberall sich regte, im
Leben und in der Dichtung Macht bekam,--konnte es dann nicht auch bis
zum Theater vordringen?
Er war allmaehlich seiner Sache sicher geworden. Mit grosser Freude sah er
aus Signes Briefen, dass Petra sich sehr heranbildete und dass Signe die
rechte war, ihr dabei zu helfen. Jetzt war er gekommen, um diesen
Schutzgeist, der selbst nicht wusste, was er ihm gewesen war, zu sehen
und ihm zu danken.
Aber er war auch gekommen, um Petra wiederzusehen. Wie weit war sie
vorgeschritten? Das Wort war ausgesprochen, er konnte also offen mit ihr
darueber reden; das war ihnen auch beiden willkommen; dann brauchten sie
ja doch nicht von der Vergangenheit zu sprechen.
Indessen, sie wurden bald durch Gaeste aus der Stadt gestoert, gebetene
und ungebetene! Die Dinge standen da aber schon so, dass ein einziger,
wohlgenutzter Zufall Klarheit bringen konnte,--und dazu verhalfen die
Gaeste. Es wurde naemlich eine grosse Gesellschaft veranstaltet, und auf
dieser Gesellschaft, gleich nach Tisch, als die Herren im Arbeitszimmer
sassen, kam das Gespraech auf die Schauspielkunst; denn ein Stiftskaplan
hatte auf dem Schreibtisch eine christliche Ethik aufgeschlagen gesehen
und war auf das entsetzliche Wort "Schauspiel" gestossen. Es entspann
sich ein heftiges Wortgefecht, und mitten hinein kam der Propst, der
nicht mit bei Tisch hatte sein koennen, weil er zu einem Kranken gerufen
worden; er war sehr ernst gestimmt, er ass nicht, er nahm auch nicht an
dem Gespraech teil, aber er stopfte seine Pfeife und hoerte zu. Sowie
Oedegaard merkte, dass der Propst still da sass und dem Gespraech folgte,
mischte er sich hinein, versuchte aber lange vergeblich, Zusammenhang in
die Sache zu bringen; denn der Stiftskaplan hatte die Angewohnheit, so
oft ein Glied in der Beweiskette geknuepft werden sollte, zu rufen: "Ich
leugne!" (er wollte nicht sagen: verleugne), und dann musste das, was
beweisen sollte, erst selbst bewiesen werden; es ging infolgedessen
rueckwaerts; man war vom Schauspiel schon auf die Schiffahrt gekommen und
wollte, um in der Schiffahrt einen Beweis fuehren zu koennen, eben zum
Ackerbau uebergehen.
Nun, da ernannte Oedegaard den Propst zum Wortfuehrer. Ausser ihm waren
noch einige Pfarrer anwesend, sowie der Kapitaen, ein kleiner
schwarzhaariger Mann mit einem riesigen Bauch und ein paar kleinen
Beinen darunter, die wie Trommelschlaegel wirbelten. Oedegaard erteilte
dem Stiftskaplan das Wort, damit er alles vorbringen koenne, was er gegen
das Schauspiel einzuwenden habe. Der Stiftskaplan nahm das Wort:
"Schon rechtschaffene Heiden waren gegen das Schauspiel wie Plato und
Aristoteles, weil es die Sitten verderbe. Sokrates sah sich freilich ab
und zu ein Schauspiel an, will aber jemand daraus den Schluss ziehen,
dass er es billigte, so leugne ich das, denn man muss vieles sehen, was
einem nicht gefaellt. Die ersten Christen wurden eindringlich vor dem
Schauspiel gewarnt, siehe Tertullian! Seitdem das Schauspiel in neuerer
Zeit wieder aufgelebt ist, haben ernste Christen dagegen gesprochen und
geschrieben. Ich nenne Namen wie Spener und Francke; ich nenne einen
christlichen Ethiker wie Schwarz, ich nenne Schleiermacher. ('Hoert,
hoert!' rief der Kapitaen, denn diesen Namen kannte er.) Die letzten
beiden raeumen die Zulaessigkeit dramatischer Dichtung ein, Schleiermacher
ist sogar der Ansicht, in Privatgesellschaften duerfe von Dilettanten
eine gute Dichtung aufgefuehrt werden; er verurteilt aber den
Schauspielerberuf. Der Stand der Schauspieler hat fuer einen Christen so
mannigfaltige Versuchungen, dass er ihn meiden soll.---Aber ist es nicht
auch fuer die Zuschauer eine Versuchung? Von erdichtetem Leiden geruehrt,
von erdichtetem Tugendheldentum erhoben zu werden, dessen man sich beim
Lesen leichter erwehren kann, verlockt zu dem Glauben, man selbst sei
das, was man sieht; das schwaecht den Willen, die Arbeit an sich selbst,
das zieht uns herab zu Hoerlust, Schaulust und Phantasterei. Habe ich
nicht recht? Wer ist hauptsaechlich in der Komoedie zu finden?
Muessiggaenger, die sich unterhalten wollen, Wolluestige, die aufgereizt,
Eitle, die selbst gesehen werden wollen, Phantasten, die aus dem
wirklichen Leben, mit dem sie's nicht aufzunehmen wagen,
hierherfluechten. Suende hinter dem Vorhang, Suende vor dem Vorhang! Ich
habe nie einen ernsthaften Christen anders reden hoeren!"
Der Kapitaen: "Da kann einem ja angst und bange vor einem selbst werden.
Bin ich immer, wenn ich in der Komoedie war, in so einer Wolfshoehle
gewesen, dann soll der Teufel--"--"Pfui, Herr Kapitaen", sagte ein
kleines Maedchen, das mit ins Zimmer geschluepft war; "Du darfst nicht
fluchen, denn sonst kommst Du in die Hoelle!"--"Ja, mein Kind,
natuerlich, natuerlich."--Oedegaard aber nahm das Wort:
"Plato hatte gegen die Dichtung dieselben Einwendungen wie gegen das
Schauspiel, und die Ansicht des Aristoteles steht nicht fest. Ich lasse
diese beiden also aus dem Spiel. Die ersten Christen aber taten gut
daran, sich den heidnischen Schauspielen fernzuhalten,--sie uebergeh' ich
ebenfalls. Dass ernsthafte Christen in neuerer Zeit ihre Bedenken auch
gegen die Schauspiele gehabt haben, die christliche Stoffe behandeln,
kann ich verstehen; ich habe selbst Bedenken gehabt. Aber wenn man
zugibt, dass dem Dichter erlaubt sein soll, ein Drama zu schreiben, dann
muss dem Schauspieler auch erlaubt sein, es zu spielen. Denn was tut der
Dichter beim Schreiben anders, als dass er es spielt,--in seinen
Gedanken, feurig, mit Lust, und 'wer ein Weib ansieht ihrer zu begehren'
usw.--Ihr kennt Christi eigene Worte. Wenn Schleiermacher sagt, das
Drama duerfe nur privatim und von Ungeuebten gespielt werden, dann sagt
er, dass die Gaben, die wir von Gott bekommen haben, vernachlaessigt
werden sollen, waehrend es doch Gottes Wille ist, dass sie zur
groesstmoeglichen Vollkommenheit gebracht werden; denn dazu haben wir sie
erhalten. Wir alle schauspielern tagtaeglich, indem wir andere nachmachen
oder im Scherz oder Ernst eine fremde Meinung annehmen. Die Sache
ueberwiegt bei einzelnen Menschen alle andern, und da moechte ich doch
sehen, wenn man es unterliesse, dies Talent zu pflegen, ob sich nicht
bald von selbst herausstellen wuerde, dass gerade in der Unterlassung die
Suende liegt. Denn wer seinem Beruf nicht nachgeht, wird untauglich zu
andern Dingen, wird unredlich, wankelmuetig,--kurz, faellt allen
Versuchungen viel leichter zur Beute, als wenn er seinem Berufe folgt.
Wo die Arbeit und die Freude daran zusammenfallen, wird manche
Versuchung ausgeschaltet.--Aber, mag man sagen, der Beruf ist an sich
voller Versuchungen. Ja, darueber laesst sich streiten. Fuer mich liegt in
dem Beruf die groesste Versuchung, der einem den Glauben vorspiegelt, man
sei selbst gerecht, weil man Kunde bringt von dem Allgerechten,--den
Glauben, man selbst sei glaeubig, weil man zu dem Glauben anderer redet,
oder deutlicher: fuer mich liegt in dem Priesterberuf die groesste
Versuchung." (Grosser Laerm: Ich leugne! Richtig! Ich leugne! Stimmt!
Ruhe!) Der Kapitaen: "Das habe ich noch nie gehoert, dass die Pfarrer
schlimmer sind als die Schauspieler!" Gelaechter und Rufe von allen
Seiten: "Nein, das hat er nicht gesagt." Der Kapitaen: "Doch, zum
Teufel--"--"Aber, Herr Kapitaen, jetzt kommt der Teufel gleich!"--"Gut,
mein Kind, schon gut!" Oedegaard nahm den Faden wieder auf: "All die
Versuchung, sich vom Augenblick hinreissen zu lassen, in Hoerlust und
Phantasterei herabzusinken, ohne Arbeit an sich das Leben von
Tugendhelden zu seinem eigenen zu machen, all das ist wahrhaftig auch in
der Kirche zu finden!" (Derselbe fuerchterliche Laerm.)
Die Damen aber konnten diesen wiederholten Laerm nicht hoeren, ohne dabei
sein zu wollen. Jetzt wurde die Tuer geoeffnet. Oedegaard sah Petra
zwischen den andern stehen und sagte mit lauterer Stimme: "Freilich gibt
es Schauspieler, die sich auf der Buehne ruehren lassen und von dort in
die Kirche rennen und sich da auch ruehren lassen,--und doch schlecht
bleiben. Freilich gibt es Schauspieler, die hohle Sprachrohre sind, die
sonst im Leben zu nichts zu gebrauchen gewesen waeren, in diesem Beruf
sich aber doch wenigstens als Sprachrohr nuetzlich machen. Aber meist ist
es so, dass die Schauspieler gleich den Seeleuten oft in den bittersten
Noeten stecken,--denn die Augenblicke vor dem Auftreten koennen
entsetzlich sein!--und dass sie oft zu einem Werkzeug Gottes berufen
sind, so oft dem Unerwarteten, dem Grossen gegenueberstehen, dass sie in
ihrem Herzen eine Furcht und eine Sehnsucht tragen, ein grosses Gefuehl
des eigenen Unwertes, und wir wissen, dass Christus zu den Zoellnern und
zu den reuigen Suenderinnen am liebsten kam. Ich gebe ihnen keinen
Freibrief; wirklich, je groesser die Aufgabe ist, die sie meines Erachtens
im Lande haben,--was auch daraus erhellt, dass in einem Volke nicht viele
grosse Schauspieler auf einmal leben!--desto groessere Schuld laden sie auf
sich, wenn ihr Wirken sie zur Gehaessigkeit hinreisst oder sie in einen
schlappen Leichtsinn hineinschleudert. Aber gleichwie es keinen
Schauspieler gibt, der nicht aus einer Reihe von Enttaeuschungen gelernt
hat, wie nichtssagend Beifall und Schmeichelei sind, obwohl die meisten
sich den Anschein geben, als glaubten sie daran,--so sehen wir wohl ihre
Fehltritte und ihre Schwaechen, aber wir kennen nicht ihr Verhaeltnis zu
ihnen, und darauf kommt es doch an."
Viele meldeten sich zum Wort, sie fingen auch alle zugleich zu reden an,
aber:
"Ich mag wohl vierzehn Jahre gewesen sein--" klang es vom Klavier her,
und alles stroemte ins andere Zimmer; denn Signe sang, und Signes
schwedische Volkslieder waren das entzueckendste, was man sich denken
konnte. Ein Lied folgte dem andern, und als nun diese schoensten
Volkslieder der Welt, die treulich Kunde bringen von der Seele eines
grossen Volkes, alle in erwartungsvolle Weihestimmung versetzt hatten, da
stand Oedegaard auf und bat Petra, ein Gedicht vorzutragen. Sie musste
darauf vorbereitet sein, denn sie wurde feuerrot. Aber sie trat sogleich
vor, obwohl sie so zitterte, dass sie sich an einer Stuhllehne festhalten
musste, dann wurde sie leichenblass und fing an:
Ihm ward nicht verstattet, zu fahren hinaus;
Sein Vater war alt, seine Mutter war schwach,
Und die Wirtschaft ward groesser allgemach:--
"Was brauchen ihn Wikingerfahrten zu scheren?
Hier hat er, was immer sein Herz kann begehren."
Doch der Bursch sah sehnend die Wolken fliehn,
Sah reisige Recken zur Walstatt ziehn;
Und sehnend gewahrt' er im Sonnenstrahl
Den Koenig in seinem prangenden Saal.
Er stand, er vergass der taeglichen Pflichten,
Er stand und gedachte der alten Geschichten.
Ein Morgen kam, wo die Flucht er ergriff
Zur aeussersten Klippe, zum offenen Meer,
Zu schaun auf das Spiel um Strand und Riff,
Zu lauschen dem Droehnen der Brandung umher.
Es war ein Tag in des Lenzes Beginn,
Wo der Sturmwind ruft uebers Land dahin:
Du sollst nicht mehr schlafend im Eise stocken!--
Da musst' ihn ein Bild zum Wagnis verlocken.
Da lag ein Langschiff in stahlgrauer Bucht,
Ausruhend von feindlicher Stuerme Wucht.
Die Segel gerefft vor Anker lag's,
Schien aber sich wenig zu freuen des Tags;
Denn die Segel zuckten, der Mast war gebogen,
Und den schaukelnden Bug umschaeumten die Wogen.
Man goennte sich kurze Rast an Bord;
Wer grade nicht schmauste, der schlummerte dort.
Da hoerten sie rufen herab von den Klippen--
Fast klang's wie ein Wort von des Wahnsinns Lippen--:
"Ist keinem auf haushohen Wogen geheuer,
Mich draengt es danach;--drum gebt mir das Steuer!"
Empor zu dem Berghang blickten ein paar;
Sonst wandte sich keiner herum von der Schar,
Und keiner liess sich die Esslust rauben.
Da fiel ein Stein; zwei mussten dran glauben.
Auf sprang man von Deck; die Schuesseln waren
Im Nu verschwunden, die Waffen erhoben;
Es schwirrten die Pfeile;--jedoch der droben
Stand ruhig und sagte mit festem Gebaren:
"Hauptmann, magst willig dein Schiff du mir geben
Oder drum kaempfen auf Tod und Leben?"
Fuer Scherz nur nahm es der wilde Hauf,
Ein Pfeilschuss war die Antwort darauf.
Der traf ihn nicht. Er sagte gelassen:
"Noch will mich des Todes Haus nicht fassen.
Du, der die saemtlichen Meere durchpfluegte,
Kannst dorthin gehn oder heim dich trollen.
Was immer sich deiner Herrschaft fuegte,
Muss mein sein; denn jetzt begann mein Wollen.
Du sammeltest mir zu Nutz und Frommen!
Man wartet auf mich; meine Zeit ist gekommen."
Stolz lachte der andre in klirrenden Waffen:
"Ernennt dich dein Sehnsuchtstraum zum Sieger,
Sollst Frieden du haben. Komm, sei mein Krieger!"--
"Ich kann nicht; ich bin zum Hauptmann geschaffen.
Mich weist mein Weg, als Herrscher zu schalten;
Das Neue kann nimmer gehorchen dem Alten."
Vergeblich nach Antwort sein Ohr sich spannte.
Da sprang er hinunter die Felsenkante:
"Ihr Helden, am Hauptmann ist es, zu zeigen,
Wem Walvater siegverleihend erschienen.
Dem Sieger sollen die Mannen sich neigen.
Schmach denen, die nicht dem Groessten dienen!"
Der Hauptmann ergluehte vor Zorn; vom Schiff
Ins Wasser sprang er und schwamm zum Lande:
Der andere lief hinab zum Strande
Und zog ihn herauf mit markigem Griff.
Der Hauptmann sah ihm ins Aug', und klar
Erkannt' er, wie hohen Sinnes er war.
"Werft schnell ihm herueber die fehlenden Waffen,"
So rief er zum Schiff. "Wirst Sieg du erraffen,
Dir reichte das Schwert, kannst du dann sagen,
Er selber, den du damit erschlagen."
Und am Bergfuss strafften im Kampf sich die Glieder;
Auf jeglichen Streich folgt' aechzendes Droehnen.
Vom Meer scholl zornig des Drachen Stoehnen;
Bald sank sein Hauptmann getroffen darnieder.
Ein Schrei zum eisgrauen Felsen klang,
Von Steven zu Steven hinab in die Fluten
Stuermten die Mannen in Rachegluten
Und standen bald oben am Klippenhang.
Da hob der Gefallene, schon am Rand
Des Todes, gebietend noch einmal die Hand:
"Ein Mann muss fallen vorm Lebensreste!
Denn gross soll enden ein Heldengesang.
Nehmt ihn zum Hauptmann; er ist der Beste!"
Da ward ihm fuer immer Schweigen geboten;
Die Recken umringten einen Toten.
An Odins Tisch war bereitet sein Platz;
Vorm Scheiden wies er den rechten Ersatz.
Der neue Hauptmann saeumte mit nichten.
Er trat auf den Stein und sprach mit Bedacht:
"Erst sollt ihr dem Helden ein Grabmal errichten,
Des Grossen gedenkend, das er vollbracht.
Doch gilt's noch vor Abend die Ruder zu stemmen:
Der Tod darf die Reise des Lebens nicht hemmen."
Und das Mal ward gebaut und die Segel gezogen,
Bald schwankte der Drache auf zackigen Wogen.
Zu ihm auf der Toteninsel zieht
Zurueck uebers Meer ein Weihelied,
Ein Willkommgruss fuer den jungen Streiter;
Kuehn steuernd fuehrt er das Fahrzeug weiter.
Doch als er die Heimatkueste beruehrt,
Wo alle sich hastig am Strande scharen,
Um staunenden Blicks den Mann zu gewahren,
Der Oegers seestarkes Schiff nun fuehrt,--
Faellt roetlich der Abendsonne Strahl
Auf Segel und Schiff und den Helden zumal.
Er steuert so mutig, dass rings im Rund
Sie angstvoll rufen: "Er geht zu Grund!"
Er lenkt das Schiff in den wildesten Braus,
Hinlaechelnd zu ihnen: "Darf jetzt ich hinaus?"
Das Gedicht wurde mit bebender Stimme, feierlich und ohne eine Spur von
Ziererei vorgetragen. Alle standen da, als sei zwischen ihnen ein hoher,
hoher Lichtstrahl aus der Erde hervorgebrochen im Regenbogenglanz.
Keiner sprach, keiner ruehrte sich;--der Kapitaen aber konnte es nicht
lange aushaken, er sprang auf, schnaufte, reckte sich und sagte: "Ja,
ich weiss nicht, wie es Euch andern ergeht; aber wenn ich auf die Art
angefasst werde, dann muss ich, der Teufel hol's--"--"Herr Kapitaen, nun
hast Du wieder geflucht", sagte das kleine Maedchen und drohte ihm mit
dem Finger; "nun kommt der Teufel gleich und holt Dich!"--"Ja, das ist
mir ganz egal, Kind, lass ihn nur kommen, denn jetzt muss ich, hol's der
Teufel, ein patriotisch Lied hoeren!" Ohne weiteres setzte sich Signe ans
Klavier, und die frohe Gesellschaft sang:
Ich will schuetzen mein Land,
Ich will bauen mein Land,
Will es lieben in meinem Gebet, meinem Kind,
Will ihm mehren die Macht,
Will es wissen bewacht
Bis hinaus zu dem Fischer in Wellen und Wind.
Hier ist Sonne genug,
Hier ist Saatgrund genug,
Wenn nur uns es, nur uns es an Liebe nicht fehlt.
Hier ist schoepfrischer Drang,
Der des Werkeltags Gang,
Wenn wir einig ihm folgen, beschwingt und beseelt.
Wir befuhren das Meer
Und die Stroeme umher,
In den Landen rings ragt manch normannischer Turm.
Doch noch weiter fliegt heut
Unser Banner und beut
Seine purpurne Brust immer staerkerem Sturm.
Und noch vor uns liegt viel;
Denn wir haben ein Ziel,
Und dies Ziel ist der Tag, der drei Staemme verschweisst.
Was du tust, sei ein Zoll
An ein heiliges Soll,
Sei ein Quell in den Strom, der die Daemme zerreisst.
Diese Scholle ist mein
Und wird teuer mir sein,
Wie sie's ist, wie sie's war, so in Drangsal wie Glueck.
Und wie sie uns geliebt,
Diese Heimat, so gibt
Unser dankbares Herz ihr nun Liebe zurueck.
Signe stand vom Klavier auf, trat auf Petra zu, legte den Arm um sie und
zog sie in das Arbeitszimmer, wo weiter niemand war.--"Petra, wir wollen
wieder Freunde sein!"----"O Signe, endlich verzeihst Du mir!"--"Jetzt
kann ich alles tun, was ich soll! Petra, liebst Du Oedegaard
nicht?"----"O Gott, Signe!"--"Petra, das habe ich vom ersten Tage an
geglaubt,--und ich habe gedacht, er sei jetzt endlich gekommen,
um------bei allem, was ich seit zweieinhalb Jahren fuer Euch gedacht und
getan habe, habe ich dies vor Augen gehabt, und Vater hat es auch
geglaubt; er hat jetzt sicher auch mit Oedegaard darueber
gesprochen."--"Aber, Signe--!"--"Schscht!" sie legte die Hand auf den
Mund und lief aus dem Zimmer; man hatte sie gerufen; man wollte zu Tisch
gehen.
Bei der Abendtafel gab es Wein, weil der Propst beim Mittagessen nicht
zugegen gewesen war. Aber der Propst, der die ganze Zeit ueber sehr ernst
und sehr still gewesen war, sass auch jetzt da, als sei ausser ihm kein
Mensch im Zimmer, bis man von Tisch aufstehen wollte. Da schlug er an
sein Glas und sagte: "Ich habe eine Verlobung zu verkuenden!"--Alle
blickten zu den jungen Maedchen hin, die nebeneinander sassen, und die
beiden waeren vor Schreck fast vom Stuhl gefallen.
"Ich habe eine Verlobung zu verkuenden", fing der Propst wieder an, als
werde es ihm schwer, in Fluss zu kommen. "Ich will zugeben, dass sie mir
im Anfang nicht nach dem Herzen gewesen ist";--alle Gaeste blickten
Oedegaard in grosser Verblueffung an; diese Verblueffung wuchs ins
Grenzenlose, als er ganz ruhig dasass und den Propst ansah. "Ich dachte,
offen gestanden, er sei ihrer nicht wuerdig."--Jetzt wurden die Gaeste so
verlegen, dass niemand mehr aufzusehen wagte, und da die jungen Maedchen
das schon lange nicht mehr gewagt hatten, so konnte der Propst nur noch
zu einem einzigen Gesicht sprechen, zu Oedegaards, der freilich mit der
groessten Seelenruhe zuhoerte. "Aber jetzt," fuhr der Propst fort, "jetzt,
da ich ihn naeher kennen gelernt habe, ist es so gekommen, dass ich nicht
weiss, ob sie seiner wuerdig ist, so gross erscheint er mir jetzt; denn es
ist der Kuenstlerberuf, die erhabene Schauspielkunst, und die Braut ist
meine Pflegetochter Petra, mein geliebtes Kind; moege es Euch gut ergehen
miteinander! Ich zittere um Euch, aber was Gott zusammengefuegt, das soll
der Mensch nicht scheiden. Gott sei mit Dir, meine Tochter!" Sie war im
Nu bei ihm und lag an seiner Brust.
Da keiner sich wieder hinsetzte, so verliess die ganze Gesellschaft
natuerlich die Tafel. Petra aber ging auf Oedegaard zu, der gleich mit ihr
in die aeusserste Fensternische trat; er hatte ihr etwas zu sagen, aber
sie kam ihm zuvor: "Ihnen verdanke ich alles!"--"Nein, Petra; ich bin
Dir ein treuer Bruder gewesen; es war eine grosse Suende von mir, dass ich
Dir mehr sein wollte; denn waere es geschehen, dann waere Deine ganze
Laufbahn vernichtet worden."--"Oedegaard!"--Sie hatten sich die Haende
gereicht, sahen sich aber nicht an; nach einer Weile liess er sie los und
ging. Sie aber sank auf einen Stuhl und weinte.
Am Tage darauf reiste Oedegaard ab.
* * * * *
Gegen den Fruehling erhielt Petra einen grossen Brief mit einem maechtigen
Amtssiegel; sie bekam ordentlich Furcht und brachte ihn dem Propst, der
ihn oeffnete und las. Er war von dem Amtsvorsteher ihrer Heimatstadt und
lautete:
"Pedro Ohlsen, der gestern mit Tode abgegangen ist, hat ein Testament
folgenden Wortlauts hinterlassen:
'Alles, was sich nach meinem Tode vorfindet und genau aufgezeichnet ist
in dem Kontobuch, das in der blauen Truhe liegt, die in meinem Zimmer im
Hause von Gunlaug, der Tochter Aamunds am Berge, steht, und zu der eben
diese Gunlaug den Schluessel hat, wie sie allein auch ueber alles Bescheid
weiss,--hinterlasse ich hiermit, sofern Gunlaug, Tochter Aamunds, ihre
Zustimmung dazu gibt, die sie nicht geben kann, wenn sie nicht zulaesst,
dass eine Bedingung, die ich daran geknuepft habe und welche sie allein,
die die einzige ist, die sie kennt, erfuellen kann, erfuellt wird--der
Jungfrau Petra, der Tochter der erwaehnten Gunlaug, der Tochter Aamunds,
das heisst, wenn Jungfer Petra es nicht fuer unter ihrer Wuerde haelt, sich
eines alten, kranken Mannes zu erinnern, dem sie viel Gutes erwiesen
hat, obwohl sie nichts davon wusste, was sie ja auch nicht konnte, und
dessen einzige Freude in seinen letzten Lebensjahren sie gewesen ist,
wofuer er ihr auch einmal eine kleine Freude hat machen wollen, die sie
nicht verschmaehen moege. Gott sei mir armen Suender gnaedig!
Pedro Ohlsen'
und ich erlaube mir die Anfrage, ob Sie selbst sich deswegen an Ihre
Mutter wenden wollen, oder ob ich es tun soll."
Die naechste Post brachte einen Brief von der Mutter, den Propst Oedegaard
geschrieben hatte, der einzige, dem sie sich anzuvertrauen gewagt hatte;
darin stand, dass sie ihre Zustimmung gebe und die Bedingung erfuelle,
Petra mitzuteilen, wer Pedro war.
Die Nachricht und das Geld versetzten sie in eine eigene Stimmung; es
schien, als komme jetzt alles ins Gleichgewicht; es war eine Mahnung
mehr, abzureisen.
Also fuer ihr Kuenstlertum hatte der alte Per Ohlsen sich auf Hochzeiten
und bei Tanzereien sein erstes Geld zusammengefiedelt, dafuer hatten er,
sein Sohn und sein Enkel sich auf alle Art gemueht und geplagt. Die Summe
war nicht gross, aber sie reichte aus, Petra ein Stueck weiter in die Welt
hineinzutragen und damit auch schneller vorwaerts.
Hell wie die Sonne aber stieg der Gedanke in ihr auf, jetzt koenne ihre
Mutter zu ihr kommen, jetzt koenne sie tagtaeglich ihrer Mutter Freude
bereiten,--sie koenne ihr alles vergelten! Sie schrieb an jedem Posttag
einen langen Brief an sie und konnte kaum die Antwort erwarten. Als sie
kam, brachte sie eine grosse Enttaeuschung; denn Gunlaug dankte ihr,
meinte aber, "jeder bleibe am besten fuer sich". Da versprach der Propst
zu schreiben, und als Gunlaug dessen Brief bekam, da konnte sie es nicht
laenger bei sich behalten, sie musste ihren Matrosen und ihren andern
Bekannten erzaehlen, aus ihrer Tochter werde etwas Grosses, und sie wolle
sie zu sich nehmen. Dadurch wurde die Angelegenheit zu einer ziemlich
brennenden Frage; sie wurde am Hafen und auf den Schiffen und in allen
Kuechen eroertert. Gunlaug, die bis dahin ihre Tochter nie erwaehnt hatte,
sprach jetzt von nichts anderem als von "meiner Tochter Petra", wie auch
die andern fortan ueber nichts anderes mehr mit ihr sprachen.
Aber als Petras Abreise schon bevorstand, hatte Gunlaug noch immer keine
Nachricht gegeben, worueber ihre Tochter sehr betruebt war. Dagegen
versprachen ihr der Propst und Signe feierlich, beide hinzukommen, wenn
sie zum erstenmal auftreten wuerde.
* * * * *
Der Schnee auf den Bergen begann zu schmelzen, auf den Feldern
schimmerte es gruen. Das Leben, das zu Beginn des Fruehlings in den
Bergtaelern erwacht, ist maechtig, wie die Sehnsucht maechtig war; die
Menschen werden flinker, die Arbeit geht leichter von der Hand, die
Wanderlust schaut ueber die Berge hinweg. Aber obwohl Petra sich
hinaussehnte, hatte sie doch nie diese Staette und alle Dinge so lieb
gehabt wie jetzt, da sie von ihnen Abschied nehmen musste; ja, es war
ihr, als habe sie alles bis dahin gering geschaetzt, weil sie es erst
jetzt verstand. Nur noch wenige Tage blieben ihr; sie ging mit Signe
ueberall herum und sagte allen und allem Lebewohl,--zumal den Staetten,
die ihnen zusammen lieb geworden waren. Da erzaehlte ihnen ein Bauer,
Oedegaard sei oben auf den Oeyhoefen und beabsichtige, sie aufzusuchen. Die
Maedchen wurden beide ganz verlegen und stellten ihre Ausgaenge ein.
Doch als Oedegaard kam, war er so sonnig und froehlich, wie man ihn nie
zuvor gesehen hatte. Er war mit dem Vorhaben ins Dorf gekommen, eine
Volkshochschule zu gruenden und sie in der ersten Zeit, bis er einen
passenden Lehrer gefunden habe, selbst zu leiten; spaeter wollte er noch
mancherlei anderes ins Werk setzen. Auf die Weise, sagte er, bezahle er
etwas von der Schuld seines Vaters an das Dorf ab, und sein Vater habe
versprochen, zu ihm zu ziehen, sobald das Haus fertig sei. Der Propst
wie Signe freuten sich ungeheuer ueber diese Nachbarschaft; Petra auch,
aber es befremdete sie doch, dass er sich gerade jetzt hier ansiedelte,
wo sie fortging.
Der Propst wuenschte, dass sie am Tage vor Petras Abreise zusammen das
heilige Abendmahl naehmen. Dadurch breitete sich eine stille
Feierlichkeit ueber die letzten Tage, und wenn sie zusammen sprachen,
taten sie es halblaut. Im Schein dieser Stimmung redete alles, was Petra
zum letztenmal ansah, eine gar ernste Sprache zu ihr. Alles Erlebte
musste noch einmal durchdacht werden; sie hielt grosse Abrechnung, denn
bis jetzt hatte sie nie zurueck, nur immer vorwaerts geschaut. Jetzt
rueckte alles zusammen, von der Kindheit an bis heute; wieder ertoenten
die ersten lockenden spanischen Lieder, all die Verirrungen einer
verworrenen Sehnsucht, die ihre Kindheit und ihre Jugend in ihr
aufgespeichert hatten, nahm sie sich vor, Stueck fuer Stueck, wie man alte
Kostueme anprobiert. Vergass sie eins, so erinnerte irgend etwas in ihrer
Umgebung sie gleich daran; denn beim Anblick dieses oder jenes
Gegenstandes hatte sie einmal an irgend etwas gedacht, und fortan waren
Gegenstand und Gedanke eins geworden. Besonders das Klavier brachte
ueberwaeltigend viele Erinnerungen. Sie blieb daran sitzen, ohne doch den
Mut zu haben, die Tasten anzuruehren, und spielte Signe, so konnte sie es
kaum im Zimmer aushalten. Sie war auch am liebsten allein; Oedegaard und
Signe verstanden das und hielten sich zurueck; alle Leute sahen sie mit
wehmuetiger Freundlichkeit an, und der Propst ging in diesen Tagen nie an
ihr vorbei, ohne ihr uebers Haar zu streichen.
Endlich kam der Tag. Es war ein halbklarer, gedaempfter Tag; es taute auf
den Bergen und gruente auf den Aeckern. Die vier blieben jeder auf seinem
Zimmer, bis die Stunde kam, da sie zusammen zur Kirche gehen sollten.
Ausser ihnen waren nur der Kuester und ein fremder Pfarrer zugegen; der
Propst wollte selbst das heilige Abendmahl nehmen; zugleich aber wollte
er die Predigt halten, denn er hatte der Scheidenden besonders ein paar
Worte zu sagen. Er sprach so, wie wenn sie an einem Heiligen Abend oder
einem Geburtstag daheim bei Tisch saessen. Es werde sich bald
herausstellen, meinte er, ob die Zeit, die sie heute mit einem Gebet um
Gnade abschliesse, einen Grundstein gelegt habe. Kein Mensch sei ganz er
selbst, bis er zu seinem richtigen Wirken gekommen sei. Es sei ein Beruf
der Verkuendigung, der ihr geworden sei, und wer die Wahrheit bringe und
sich selber dessen wert erhalte, der ernte die reichsten und dauerndsten
Fruechte. Gott bediene sich ganz gewiss oft auch der Unwuerdigen, so gewiss
wie wir im hoeheren Sinne alle unwuerdig seien; er bediene sich unserer
Sehnsucht. Aber es gebe eine Verkuendigung, die kein Mensch aus seiner
Sehnsucht allein schoepfen koenne, und die wolle sie doch wohl zu
erreichen trachten; alle muessten danach streben, das Hoechste zu
erreichen. Er bat sie, zu ihnen zurueckzukehren, denn das sei der Sinn
einer Gemeinde, dass Gemeinschaft im Glauben helfe und staerke. Wenn sie
fehlgreife, werde sie hier Barmherzigkeit finden, und wenn sie selbst
nicht wisse, dass sie vom Wege abgekommen sei, so wuerden sie ihr das in
aller Guete sagen duerfen.
Sie gingen nach der heiligen Handlung zusammen heimwaerts, so wie sie
gekommen waren; den Rest des Tages aber verbrachte jeder fuer sich. Nur
Petra und Signe waren abends lange auf Petras Zimmer zusammen.
Fuer den naechsten Morgen war die Abreise angesetzt. Bei der letzten
Mahlzeit nahm der Propst sehr zaertlich von ihr Abschied. Er sei mit
ihrem Freunde einig darin, sagte er, dass sie so beginnen muesse, wie sie
nun einmal sei, und allein beginnen. In dem Kampf, der ihr bevorstehe,
werde sie erfahren, wie gut es tue zu wissen, dass da irgendwo ein paar
Menschen beieinander saessen, auf die sie sich verlassen koennte. Schon mit
Bestimmtheit zu wissen, dass sie bestaendig fuer sie beteten,--das allein
wuerde schon helfen, werde sie sehen!--Nach den Abschiedsworten an Petra
bot er Oedegaard einen Willkommengruss. "In Liebe zu einem Menschen
vereint zu sein, sei die schoenste Einleitung, einander zu lieben." Der
Propst dachte bei diesem Trinkspruch ganz gewiss nicht an das, was bei
diesen Worten erst Signe und dann Petra erroeten liess; ob auch Oedegaard
erroetete, wussten sie nicht, denn keine wagte ihn anzusehen.
Aber als die Pferde vor der Tuer standen und die drei Freunde das junge
Maedchen und alle Maegde und Knechte den Wagen umringten, da fluesterte
Petra, als sie Signe zum letztenmal umarmte: "Ich weiss, ich werde bald
eine grosse Neuigkeit von Euch hoeren; Gott segne Euch!"
Eine Stunde spaeter zeigten ihr nur noch die weissen Gipfel, wo die Staette
war.
Zwoelftes Kapitel
Eines Abends, kurz vor Weihnachten, war das Theater der Hauptstadt
ausverkauft; eine neue Schauspielerin sollte auftreten, von der alles
moegliche erzaehlt wurde. Aus dem Volke stammend--ihre Mutter sei eine
arme Fischerfrau--sei sie mit Unterstuetzung anderer, denen ihre
Faehigkeiten aufgefallen seien, jetzt soweit gediehen und solle zu den
groessten Hoffnungen berechtigen. Das Publikum tuschelte sich, bis der
Vorhang aufging, mancherlei in die Ohren. Sie solle eine schreckliche
Range und, seit sie erwachsen war, mit sechs Leuten auf einmal verlobt
gewesen sein, und das ein halbes Jahr lang durchgefuehrt haben. Sie habe
unter polizeilichem Schutz aus ihrem Heimatsort geleitet werden muessen,
weil um ihretwillen die Stadt in hellen Aufruhr geraten sei; es sei
merkwuerdig, dass die Direktion eine solche Person auftreten lasse. Andere
behaupteten, es sei kein Koernchen Wahrheit daran; sie sei von ihrem
zehnten Jahre an bei einer stillen Pfarrerfamilie im Stifte Bergen
erzogen worden; sie sei ein gebildetes, liebenswuerdiges Maedchen, sie
kennten sie genau, sie muesse ein unvergleichliches Talent haben; sie sei
doch so huebsch.
Es gab aber Leute, die mehr wussten. Zunaechst der ueber das ganze Land
bekannte Fischgrossist--Yngve Vold. Er war ganz zufaellig auf einer
Geschaeftsreise hier; man sagte freilich, die glutvolle Spanierin, mit
der er verheiratet war, mache ihm zu Hause die Hoelle so heiss, dass er nur
reise, um sich abzukuehlen. Heut hatte er sich die groesste Loge des
Theaters genommen und seine zufaelligen Tischgenossen aus dem Hotel
eingeladen, sich mal "was ganz Hoellisches" anzusehen. Er war in
glaenzender Stimmung, bis er--war er das denn wirklich?--in einer Loge
des zweiten Ranges, inmitten einer ganzen Schiffsmannschaft,--nein!
doch!--ja natuerlich, das war Gunnar Ask! Gunnar Ask, der mit dem Gelde
seiner Mutter Eigentuemer und Kapitaen der "Norwegischen Verfassung"
geworden war, hatte bei der Ausfahrt aus dem Fjord neben einem Schiff
hergesegelt, das den Namen "Daenische Verfassung" fuehrte; da kam es
Gunnar vor, als wolle dies Schiff ihn ueberholen, und das konnte doch
nicht gut angehen; er hisste alle Segel, die er hatte, es krachte in der
alten Verfassung, und die Folge war, dass er, um so lange wie moeglich den
Wind auszunuetzen, das Fahrzeug an einer ganz ungeeigneten Stelle auf
Grund rannte. Jetzt lag er unfreiwillig in der Stadt, waehrend "Die
norwegische Verfassung" geflickt wurde. Er hatte in der Stadt eines
Tages Petra getroffen, die hinter ihm herkam und diesmal und spaeter auch
so lieb und nett zu ihm war, dass er nicht nur seinen Groll vergass,
sondern sich selbst das groesste Hornvieh nannte, das aus ihrer
gemeinsamen Vaterstadt je hervorgegangen sei, weil er sich habe
einbilden koennen, er habe ein Maedchen wie die Petra verdient. Er hatte
heute fuer seine ganze Schiffsmannschaft Billets zu erhoehten Preisen
gekauft und sass nun da mit dem stillen Vorsatz, sie zwischen jedem Akt
zu traktieren, und die Matrosen, die alle aus Petras Heimatstadt und in
der Wirtschaft ihrer Mutter, diesem Paradies auf Erden, wohlgelitten
waren, empfanden Petras Ehre als ihre eigene und nahmen sich gegenseitig
das Versprechen ab, so zu klatschen, wie kein Mensch es je gehoert habe.
Unten im Parkett aber sah man das harte, dichte Haar des Propstes. Er
sass in aller Gemuetsruhe da; er hatte ihre Sache einem Hoeheren
anvertraut. Neben ihm sass Signe, jetzt Signe Oedegaard. Ihr Mann, sie und
Petra waren gerade von einer dreimonatlichen Auslandsreise
zurueckgekommen; sie sah sehr gluecklich aus und sass und laechelte zu
Oedegaard hinueber; denn zwischen ihnen sass eine alte Frau mit
schlohweissem Haar, das wie eine Krone ueber dem braunen Gesicht lag. Sie
ueberragte alle Umsitzenden, sie konnte vom ganzen Hause gesehen werden,
und bald waren auch alle Glaeser auf sie gerichtet; denn man sagte, dies
sei die Mutter der jungen Schauspielerin. Sie, die einen maennlichen
Namen fuehrte, machte auch jetzt einen so gewaltigen Eindruck, dass sie
ein Licht des Friedens auf die Tochter warf. Junge Menschen sind voller
Erwartung; sie haben den Glauben an die Urkraefte ihrer Natur, und der
Anblick dieser Mutter weckte den Glauben.
Sie selbst sah nichts und niemand; was das alles fuer Geschichten waren,
kuemmerte sie wenig; sie wollte bloss gern mit dabei sein, um zu wissen,
ob die Leute gut gegen ihre Tochter seien oder nicht.
Jetzt musste es gleich beginnen; das Geplauder erstarb in einer Spannung,
die nach und nach alle erfasste und sie guetig stimmte.
Mit einem starken Paukenschlag, mit Trommeln und Hoernern zugleich setzte
die Ouvertuere ein. Adam Oehlenschlaegers "Axel und Valborg" wurde
gegeben, und Petra hatte selbst um diese Ouvertuere gebeten. Sie sass
hinter einer Kulisse und hoerte zu. Vor dem Vorhang aber sass der kleine
Teil ihrer Landsleute, den das Haus fassen konnte, voll Sorge um sie,
wie immer vor einem Anfang, der uns erwartungsvoll macht, weil er einen
koestlichen Besitz offenbaren soll. Es war, als muesse jeder von ihnen
selbst vor die Rampe; in solchen Augenblicken steigen viele Gebete
empor, auch aus Herzen, die sonst selten beten.
Die Ouvertuere ebbte ab; Friede breitete sich ueber die Harmonien,
allmaehlich verschmolzen sie wie im Sonnenschein. Die Ouvertuere war zu
Ende, eine bange Stille trat ein.
Und der Vorhang ging auf.
***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK BJöRNSTJERNE BJöRNSON GESAMMELTE
WERKE IN FüNF BäNDEN; ERSTER BAND***
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States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
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While we cannot and do not solicit contributions from states where we
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ways including including checks, online payments and credit card
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Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.
Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
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editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
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