aufzusuchen. Es gelingt ihnen denn auch ueberall etwas zu finden, dem sie
diesen Namen glauben geben zu duerfen. ANTIGONE erhebt sich gegen den
Traeger der socialen Ordnung; DESDEMONA versuendigt sich gegen die
vaeterliche Autoritaet, sie macht keinen Versuch, BRABANTIO durch Bitten
und Thraenen zur Einwilligung zu bewegen; und nun gar der Leichtsinn, das
Taschentuch zu verlieren!--EMILIA GALOTTI hat keine tatsaechliche, aber
eine "Gedankenschuld" auf sich geladen.--So sehen wir, kein Unschuldiger,
nur Schuldige werden vom tragischen Geschick ereilt.
Man wird nicht umhin koennen, den Scharfsinn zu bewundern, der zu solchen
Schuldbeweisen aufgeboten worden ist. Im uebrigen gewaehren sie ein wenig
erfreuliches Schauspiel. Als ob es nicht genug waere, dass der Dichter
seine Helden leiden laesst, werden sie nun auch noch von den Aesthetikern
misshandelt. Man zwingt sie erbarmungslos auf die Anklagebank, um alles an
ihnen hervorzukehren, das Innerlichste und Aeusserlichste, das was sie
gethan und das was sie, zwar nicht gegen ihre eigene, aber gegen des
Aesthetikers bessere Einsicht unterlassen haben, Fehler, von denen Dichter
und Kunstwerk wissen, und solche, von denen beide nichts wissen. Nachdem
so das Verborgenste ans Licht gezogen ist, "plaediert" man fuer und wider.
Wo der eine eine kleine Schuld findet, wittert der andere eine grosse; wo
der eine milde gestimmt ist, redet sich ein anderer in Entruestung hinein.
Alle aber stimmen sie schliesslich in das Schuldig ein: "Was brauchen wir
weiter Zeugnis? Weg mit ihnen."
Was aber will man denn eigentlich mit dem allem? Darum handelt es sich ja
doch nicht, ob die tragische Persoenlichkeit ueberhaupt "unschuldig" ist,
so unschuldig, dass auch derjenige, der seiner Theorie zuliebe einen Tadel
an ihr finden muss und will, keinen zu finden vermag. Wir sind allzumal
Suender, und die etwa ausgenommen sind, die neugeborenen Kinder oder die
Heiligen des Himmels, wird man gewiss auch in Zukunft nicht zu Helden von
Tragoedien machen. Nur das kann doch die Frage sein, ob der Held eine
Schuld auf sich geladen hat, fuer die das Leiden, das ihn trifft, als
gerechte _Strafe_ erscheint, eine Schuld, die nur mit _Vernichtung
gesuehnt_ werden kann. Und dies wiederum nicht nach einem Massstabe, den
wir speciell fuer die Tragoedie zurecht schneiden moegen, sondern nach
demjenigen, den unser natuerliches sittliches Gefuehl uns an die Hand
giebt.
Reden wir ganz speziell. Hat ein Weib, das ganz erfuellt von reinster
Bruderliebe, die heiligste Verpflichtung, die ihr diese Bruderliebe
auferlegt, festhaelt, trotz der Drohungen eines Tyrannen, angesichts der
Notwendigkeit elend dahinzusterben, kurz, hat ein Weib, das ebenso
handelt wie ANTIGONE, und aus ebensolcher Gesinnung, durch dies Handeln
und durch diese Gesinnung den Tod verdient, nicht irgend einen, sondern
den grausamen und schmachvollen, wie ihn ANTIGONE erleidet? Ist sie durch
unser natuerliches Gefuehl gerichtet, als eine, die nicht verdient,
weiterzuleben? Haben wir, wenn sie ihrem schrecklichen Schicksal
verfaellt, das Bewusstsein, ihr sei recht geschehen und weiter nichts, und
ist es dieses Bewusstsein, ist es dies befriedigte "Gerechtigkeitsgefuehl",
aus dem wir den erhabenen Genuss schoepfen, den uns die Tragoedie gewaehrt?
Man rede nicht von einem hoeheren sittlichen Standpunkte gegenueber dem
Kunstwerk. Reiner allerdings ist der Standpunkt, wir stehen nirgends auf
einem reineren sittlichen Standpunkt als gegenueber dem tragischen
Kunstwerk. Aber er ist reiner, nicht weil er dem natuerlichen Gefuehl Hohn
spricht, sondern sofern er eben dies Gefuehl unbeeinflusst durch
Ruecksichten, wie sie der Zusammenhang der Wirklichkeit mit sich bringt,
zur Geltung kommen laesst.