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Der Nachsommer Indian Summer
Adalbert Stifter
The Project Gutenberg EBook of Der Nachsommer, by Adalbert Stifter
#2 in our series by Adalbert Stifter
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Title: Der Nachsommer
Indian Summer
Author: Adalbert Stifter
Release Date: May, 2005 [EBook #8126]
[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
[This file was first posted on June 16, 2003]
Edition: 10
Language: German
Character set encoding: ASCII
*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER NACHSOMMER ***
This text has been derived from HTML files at "Projekt Gutenberg - DE"
(http://www.gutenberg2000.de/stifter/nachsomm/nachsomm.htm), prepared
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Der Nachsommer
Eine Erzaehlung von
Adalbert Stifter
Inhalt:
Die Haeuslichkeit
Der Wanderer
Die Einkehr
Die Beherbergung
Der Abschied
Der Besuch
Die Begegnung
Die Erweiterung
Die Annaeherung
Der Einblick
Das Fest
Der Bund
Die Entfaltung
Das Vertrauen
Die Mitteilung
Der Rueckblick
Der Abschluss
Die Haeuslichkeit
Mein Vater war ein Kaufmann. Er bewohnte einen Teil des ersten
Stockwerkes eines maessig grossen Hauses in der Stadt, in welchem er zur
Miete war. In demselben Hause hatte er auch das Verkaufsgewoelbe, die
Schreibstube nebst den Warenbehaeltern und anderen Dingen, die er zu
dem Betriebe seines Geschaeftes bedurfte. In dem ersten Stockwerke
wohnte ausser uns nur noch eine Familie, die aus zwei alten Leuten
bestand, einem Manne und seiner Frau, welche alle Jahre ein oder zwei
Male bei uns speisten, und zu denen wir und die zu uns kamen, wenn
ein Fest oder ein Tag einfiel, an dem man sich Besuche zu machen oder
Glueck zu wuenschen pflegte. Mein Vater hatte zwei Kinder, mich, den
erstgeborenen Sohn, und eine Tochter, welche zwei Jahre juenger war als
ich. Wir hatten in der Wohnung jedes ein Zimmerchen, in welchem wir
uns unseren Geschaeften, die uns schon in der Kindheit regelmaessig
aufgelegt wurden, widmen mussten, und in welchem wir schliefen. Die
Mutter sah da nach und erlaubte uns zuweilen, dass wir in ihrem
Wohnzimmer sein und uns mit Spielen ergoetzen durften.
Der Vater war die meiste Zeit in dem Verkaufsgewoelbe und in der
Schreibstube. Um zwoelf Uhr kam er herauf, und es wurde in dem
Speisezimmer gespeiset. Die Diener des Vaters speisten an unserem
Tische mit Vater und Mutter, die zwei Maegde und der Magazinsknecht
hatten in dem Gesindezimmer einen Tisch fuer sich. Wir Kinder bekamen
einfache Speisen, der Vater und die Mutter hatten zuweilen einen
Braten und jedesmal ein Glas guten Weines. Die Handelsdiener bekamen
auch von dem Braten und ein Glas desselben Weines. Anfangs hatte der
Vater nur einen Buchfuehrer und zwei Diener, spaeter hatte er viere.
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In der Wohnung war ein Zimmer, welches ziemlich gross war. In demselben
standen breite, flache Kaesten von feinem Glanze und eingelegter
Arbeit. Sie hatten vorne Glastafeln, hinter den Glastafeln gruenen
Seidenstoff, und waren mit Buechern angefuellt. Der Vater hatte darum
die gruenen Seidenvorhaenge, weil er es nicht leiden konnte, dass die
Aufschriften der Buecher, die gewoehnlich mit goldenen Buchstaben auf
dem Ruecken derselben standen, hinter dem Glase von allen Leuten
gelesen werden konnten, gleichsam als wolle er mit den Buechern
prahlen, die er habe. Vor diesen Kaesten stand er gerne und oefter,
wenn er sich nach Tische oder zu einer andern Zeit einen Augenblick
abkargen konnte, machte die Fluegel eines Kastens auf, sah die Buecher
an, nahm eines oder das andere heraus, blickte hinein, und stellte es
wieder an seinen Platz.
An Abenden, von denen er selten einen ausser Hause zubrachte, ausser
wenn er in Stadtgeschaeften abwesend war oder mit der Mutter ein
Schauspiel besuchte, was er zuweilen und gerne tat, sass er haeufig eine
Stunde, oefter aber auch zwei oder gar darueber, an einem kunstreich
geschnitzten alten Tische, der im Buecherzimmer auf einem ebenfalls
altertuemlichen Teppiche stand, und las. Da durfte man ihn nicht
stoeren, und niemand durfte durch das Buecherzimmer gehen. Dann kam er
heraus und sagte, jetzt koenne man zum Abendessen gehen, bei dem die
Handelsdiener nicht zugegen waren, und das nur in der Mutter und in
unserer Gegenwart eingenommen wurde. Bei diesem Abendessen sprach er
sehr gerne zu uns Kindern und erzaehlte uns allerlei Dinge, mitunter
auch scherzhafte Geschichten und Maerchen. Das Buch, in dem er gelesen
hatte, stellte er genau immer wieder in den Schrein, aus dem er es
genommen hatte, und wenn man gleich nach seinem Heraustritte in das
Buecherzimmer ging, konnte man nicht im geringsten wahrnehmen, dass eben
jemand hier gewesen sei und gelesen habe. Ueberhaupt durfte bei dem
Vater kein Zimmer die Spuren des unmittelbaren Gebrauches zeigen,
sondern musste immer aufgeraeumt sein, als waere es ein Prunkzimmer. Es
sollte dafuer aber aussprechen, zu was es besonders bestimmt sei. Die
gemischten Zimmer, wie er sich ausdrueckte, die mehreres zugleich sein
koennen, Schlafzimmer, Spielzimmer und dergleichen, konnte er nicht
leiden. Jedes Ding und jeder Mensch, pflegte er zu sagen, koenne
nur eines sein, dieses aber muss er ganz sein. Dieser Zug strenger
Genauigkeit praegte sich uns ein und liess uns auf die Befehle der
Eltern achten, wenn wir sie auch nicht verstanden. So zum Beispiele
durften nicht einmal wir Kinder das Schlafzimmer der Eltern betreten.
Eine alte Magd war mit Ordnung und Aufraeumung desselben betraut.
In den Zimmern hingen hie und da Bilder, und es standen in manchen
Geraete, die aus alten Zeiten stammten und an denen wunderliche
Gestalten ausgeschnitten waren, oder in welchen sich aus verschiedenen
Hoelzern eingelegte Laubwerke und Kreise und Linien befanden.
Der Vater hatte auch einen Kasten, in welchem Muenzen waren, von denen
er uns zuweilen einige zeigte. Da befanden sich vorzueglich schoene
Taler, auf welchen geharnischte Maenner standen oder die Angesichter
mit unendlich vielen Locken zeigten, dann waren einige aus sehr alten
Zeiten mit wunderschoenen Koepfen von Juenglingen oder Frauen, und eine
mit einem Manne, der Fluegel an den Fuessen hatte. Er besass auch Steine,
in welche Dinge geschnitten waren. Er hielt diese Steine sehr hoch
und sagte, sie stammen aus dem kunstgeuebtesten Volke alter Zeiten,
nehmlich aus dem alten Griechenlande her. Manchmal zeigte er sie
Freunden; diese standen lange an dem Kaestchen derselben, hielten den
einen oder den andern in ihren Haenden und sprachen darueber.
Zuweilen kamen Menschen zu uns, aber nicht oft. Manches Mal wurden
Kinder zu uns eingeladen, mit denen wir spielen durften, und oefter
gingen wir auch mit den Eltern zu Leuten, welche Kinder hatten, und
uns Spiele veranstalteten. Den Unterricht erhielten wir in dem Hause
von Lehrern, und dieser Unterricht und die sogenannten Arbeitsstunden,
in denen von uns Kindern das verrichtet werden musste, was uns als
Geschaeft aufgetragen war, bildeten den regelmaessigen Verlauf der Zeit,
von welchem nicht abgewichen werden durfte.
Die Mutter war eine freundliche Frau, die uns Kinder ungemein liebte,
und die weit eher ein Abweichen von dem angegebenen Zeitenlaufe
zugunsten einer Lust gestattet haette, wenn sie nicht von der Furcht
vor dem Vater davon abgehalten worden waere. Sie ging in dem Hause
emsig herum, besorgte alles, ordnete alles, liess aus der obgenannten
Furcht keine Ausnahme zu und war uns ein ebenso ehrwuerdiges Bildnis
des Guten wie der Vater, von welchem Bildnisse gar nichts abgeaendert
werden konnte. Zu Hause hatte sie gewoehnlich sehr einfache Kleider an.
Nur zuweilen, wenn sie mit dem Vater irgend wohin gehen musste, tat
sie ihre stattlichen seidenen Kleider an und nahm ihren Schmuck, dass
wir meinten, sie sei wie eine Fee, welche in unsern Bilderbuechern
abgebildet war. Dabei fiel uns auf, dass sie immer ganz einfache,
obwohl sehr glaenzende Steine hatte, und dass ihr der Vater nie die
geschnittenen umhing, von denen er doch sagte, dass sie so schoene
Gestalten in sich haetten.
Da wir Kinder noch sehr jung waren, brachte die Mutter den Sommer
immer mit uns auf dem Lande zu. Der Vater konnte uns nicht
Gesellschaft leisten, weil ihn seine Geschaefte in der Stadt
festhielten; aber an jedem Sonntage und an jedem Festtage kam er,
blieb den ganzen Tag bei uns und liess sich von uns beherbergen. Im
Laufe der Woche besuchten wir ihn einmal, bisweilen auch zweimal in
der Stadt, in welchem Falle er uns dann bewirtete und beherbergte.
Dies hoerte endlich auf, anfaenglich weil der Vater aelter wurde und die
Mutter, die er sehr verehrte, nicht mehr leicht entbehren konnte;
spaeter aber aus dem Grunde, weil es ihm gelungen war, in der Vorstadt
ein Haus mit einem Garten zu erwerben, wo wir freie Luft geniessen, uns
bewegen und gleichsam das ganze Jahr hindurch auf dem Lande wohnen
konnten.
Die Erwerbung des Vorstadthauses war eine grosse Freude. Es wurde nun
von dem alten, finstern Stadthause in das freundliche und geraeumige
der Vorstadt gezogen. Der Vater hatte es vorher im allgemeinen
zusammen richten lassen, und selbst, da wir schon darin wohnten,
waren noch immer in verschiedenen Raeumen desselben Handwerksleute
beschaeftigt. Das Haus war nur fuer unsere Familie bestimmt. Es wohnten
nur noch unsere Handlungsdiener in demselben und gleichsam als
Pfoertner und Gaertner ein aeltlicher Mann mit seiner Frau und seiner
Tochter.
In diesem Hause richtete sich der Vater ein viel groesseres Zimmer
zum Buecherzimmer ein, als er in der Stadtwohnung gehabt hatte, auch
bestimmte er ein eigenes Zimmer zum Bilderzimmer; denn in der Stadt
mussten die Bilder wegen Mangels an Raum in verschiedenen Zimmern
zerstreut sein. Die Waende dieses neuen Bilderzimmers wurden mit
dunkelrotbraunen Tapeten ueberzogen, von denen sich die Goldrahmen
sehr schoen abhoben. Der Fussboden war mit einem mattfarbigen Teppiche
belegt, damit er die Farben der Bilder nicht beirre. Der Vater hatte
sich eine Staffelei aus braunem Holze machen lassen, und diese stand
in dem Zimmer, damit man bald das eine, bald das andere Bild darauf
stellen und es genau in dem rechten Lichte betrachten konnte.
Fuer die alten geschnitzten und eingelegten Geraete wurde auch ein
eigenes Zimmer hergerichtet. Der Vater hatte einmal aus dem Gebirge
eine Zimmerdecke mitgebracht, welche aus Lindenholz und aus dem Holze
der Zirbelkiefer geschnitzt war. Diese Decke liess er zusammen legen
und liess sie mit einigen Zutaten versehen, die man nicht merkte, so
dass sie als Decke in dieses Zimmer passte. Das freute uns Kinder sehr,
und wir sassen nun doppelt gerne in dem alten Zimmer, wenn uns an
Abenden der Vater und die Mutter dahin fuehrten, und arbeiteten dort
etwas, und liessen uns von den Zeiten erzaehlen, in denen solche Sachen
gemacht worden sind.
Am Ende eines hoelzernen Ganges, der in dem ersten Geschosse des Hauses
gegen den Garten hinaus lief, liess er ein glaesernes Stuebchen machen,
das heisst, ein Stuebchen, dessen zwei Waende, die gegen den Garten
schauten, aus lauter Glastafeln bestanden; denn die Hinterwaende waren
Holz. In dieses Stuebchen tat er alte Waffen aus verschiedenen Zeiten
und mit verschiedenen Gestalten. Er liess an den Staeben, in die das
Glas gefuegt war, viel Efeu aus dem Garten herauswachsen, auch im
Innern liess er Efeu an dem Gerippe ranken, dass derselbe um die alten
Waffen rauschte, wenn einzelne Glastafeln geoeffnet wurden, und der
Wind durch dieselben herein zog. Eine grosse hoelzerne Keule, welche in
dem Stuebchen war und welche mit graeulichen Naegeln prangte, nannte er
Morgenstern, was uns Kindern gar nicht einleuchten wollte, da der
Morgenstern viel schoener war.
Noch war ein Zimmerchen, das er mit kunstreich abgenaehten rotseidenen
Stoffen, die er gekauft hatte, ueberziehen liess. Sonst aber wusste man
noch nicht, was in das Zimmer kommen wuerde.
In dem Garten war Zwergobst, es waren Gemuese- und Blumenbeete, und an
dem Ende desselben, von dem man auf die Berge sehen konnte, welche die
Stadt in einer Entfernung von einer halben Meile in einem grossen Bogen
umgeben, befanden sich hohe Baeume und Grasplaetze. Das alte Gewaechshaus
hatte der Vater teils ausbessern, teils durch einen Zubau vergroessern
lassen.
Sonst hatte das Haus auch noch einen grossen Hof, der gegen den Garten
zu offen war, in dem wir, wenn das Gartengras nass war, spielen
durften, und gegen welchen die Fenster der Kueche, in der die Mutter
sich viel befand, und der Vorratskammern herab sahen.
Der Vater ging taeglich morgens in die Stadt in sein Verkaufsgewoelbe
und in seine Schreibstube. Die Handelsdiener mussten der Ordnung halber
mit ihm gehen. Um zwoelf Uhr kam er zum Speisen so wie auch jene
Diener, welche nicht eben die Reihe traf, waehrend der Speisestunde in
dem Verkaufsgewoelbe zu wachen. Nachmittag ging er groesstenteils auch
wieder in die Stadt. Die Sonntage und die Festtage brachte er mit uns
zu.
Von der Stadt wurden nun viel oefter Leute mit ihren Kindern zu uns
geladen, da wir mehr Raum hatten, und wir durften im Hofe oder in dem
Garten uns ergoetzen. Die Lehrer kamen zu uns jetzt in die Vorstadt,
wie sie sonst in der Stadt zu uns gekommen waren.
Der Vater, welcher durch das viele Sitzen an dem Schreibtische sich
eine Krankheit zuzuziehen drohte, goennte sich nur auf das Andringen
der Mutter taeglich eine freie Zeit, welche er dazu verwendete,
Bewegung zu machen. In dieser Zeit ging er zuweilen in eine
Gemaeldegalerie oder zu einem Freunde, bei welchem er ein Bild sehen
konnte, oder er liess sich bei einem Fremden einfuehren, bei dem
Merkwuerdigkeiten zu treffen waren. An schoenen Sommerfesttagen fuhren
wir auch zuweilen ins Freie und brachten den Tag in einem Dorfe oder
auf einem Berge zu.
Die Mutter, welche ueber die Erwerbung des Vorstadthauses
ausserordentlich erfreut war, widmete sich mit gesteigerter
Taetigkeit dem Hauswesen. Alle Samstage prangte das Linnen "weiss wie
Kirschenbluete" auf dem Aufhaengeplatze im Garten, und Zimmer fuer Zimmer
musste unter ihrer Aufsicht gereinigt werden, ausser denen, in welchen
die Kostbarkeiten des Vaters waren, deren Abstaeubung und Reinigung
immer unter seinen Augen vor sich gehen musste. Das Obst, die
Blumen und die Gemuese des Gartens besorgte sie mit dem Vater
gemeinschaftlich. Sie bekam einen Ruf in der Umgebung, dass
Nachbarinnen kamen und von ihr Dienstboten verlangten, die in unserem
Hause gelernt haetten.
Als wir nach und nach heran wuchsen, wurden wir immer mehr in den
Umgang der Eltern gezogen; der Vater zeigte uns seine Bilder und
erklaerte uns manches in denselben. Er sagte, dass er nur alte habe,
die einen gewissen Wert besitzen, den man immer haben koenne, wenn man
einmal genoetigt sein sollte, die Bilder zu verkaufen. Er zeigte uns,
wenn wir spazieren gingen, die Wirkungen von Licht und Schatten, er
nannte uns die Farben, welche sich an den Gegenstaenden befanden, und
erklaerte uns die Linien, welche Bewegung verursachten, in welcher
Bewegung doch wieder eine Ruhe herrsche, und Ruhe in Bewegung sei die
Bedingung eines jeden Kunstwerkes. Er sprach mit uns auch von seinen
Buechern. Er erzaehlte uns, dass manche da seien, in welchen das
enthalten waere, was sich mit dem menschlichen Geschlechte seit seinem
Beginne bis auf unsere Zeiten zugetragen habe, dass da die Geschichten
von Maennern und Frauen erzaehlt werden, die einmal sehr beruehmt gewesen
seien und vor langer Zeit, oft vor mehr als tausend Jahren gelebt
haben. Er sagte, dass in anderen das enthalten sei, was die Menschen in
vielen Jahren von der Welt und anderen Dingen, von ihrer Einrichtung
und Beschaffenheit in Erfahrung gebracht haetten. In manchen sei zwar
nicht enthalten, was geschehen sei, oder wie sich manches befinde,
sondern was die Menschen sich gedacht haben, was sich haette zutragen
koennen, oder was sie fuer Meinungen ueber irdische und ueberirdische
Dinge hegen.
In dieser Zeit starb ein Grossoheim von der Seite der Mutter. Die
Mutter erbte den Schmuck seiner vor ihm gestorbenen Frau, wir Kinder
aber sein uebriges Vermoegen. Der Vater legte es als unser natuerlicher
Vormund unter muendelgemaesser Sicherheit an und tat alle Jahre die
Zinsen dazu.
Endlich waren wir so weit herangewachsen, dass der gewoehnliche
Unterricht, den wir bisher genossen hatten, nach und nach aufhoeren
musste. Zuerst traten diejenigen Lehrer ab, die uns in den
Anfangsgruenden der Kenntnisse unterwiesen hatten, die man heutzutage
fuer alle Menschen fuer notwendig haelt, dann verminderten sich auch
die, welche uns in den Gegenstaenden Unterricht gegeben hatten,
die man Kindern beibringen laesst, welche zu den gebildeteren oder
ausgezeichneteren Staenden gehoeren sollen. Die Schwester musste nebst
einigen Faechern, in denen sie sich noch weiter ausbilden sollte, nach
und nach in die Haeuslichkeit eingefuehrt werden und die wichtigsten
Dinge derselben erlernen, dass sie einmal wuerdig in die Fussstapfen der
Mutter treten koennte. Ich trieb noch, nachdem ich die Faecher erlernt
hatte, die man in unseren Schulen als Vorkenntnisse und Vorbereitungen
zu den sogenannten Brotkenntnissen betrachtet, einzelne Zweige fort,
die schwieriger waren und in denen eine Nachhilfe nicht entbehrt
werden konnte. Endlich trat in Bezug auf mich die Frage heran, was
denn in der Zukunft mit mir zu geschehen habe, und da tat der Vater
etwas, was ihm von vielen Leuten sehr uebel genommen wurde. Er
bestimmte mich nehmlich zu einem Wissenschafter im Allgemeinen. Ich
hatte bisher sehr fleissig gelernt und jeden neuen Gegenstand, der von
den Lehrern vorgenommen wurde, mit grossem Eifer ergriffen, so dass,
wenn die Frage war, wie ich in einem Unterrichtszweige genuegt habe,
das Urteil der Lehrer immer auf grosses Lob lautete. Ich hatte den
angedeuteten Lebensberuf von dem Vater selber verlangt und er dem
Verlangten zugestimmt. Ich hatte ihn verlangt, weil mich ein gewisser
Drang meines Herzens dazu trieb. Das sah ich wohl trotz meiner Jugend
schon ein, dass ich nicht alle Wissenschaften wuerde erlernen koennen;
aber was und wie viel ich lernen wuerde, das war mir eben so
unbestimmt, als mein Gefuehl unbestimmt war, welches mich zu diesen
Dingen trieb. Mir schwebte auch nicht ein besonderer Nutzen vor, den
ich durch mein Bestreben erreichen wollte, sondern es war mir nur, als
muesste ich so tun, als liege etwas innerlich Gueltiges und Wichtiges in
der Zukunft. Was ich aber im Einzelnen beginnen und an welchem Ende
ich die Sache anfassen sollte, das wusste weder ich, noch wussten es die
Meinigen. Ich hatte nicht die geringste Vorliebe fuer das eine oder das
andere Fach, sondern es schienen alle anstrebenswert, und ich hatte
keinen Anhaltspunkt, aus dem ich haette schliessen koennen, dass ich zu
irgend einem Gegenstande eine hervorragende Faehigkeit besaesse, sondern
es erschienen mir alle nicht unueberwindlich. Auch meine Angehoerigen
konnten kein Merkmal finden, aus dem sie einen ausschliesslichen Beruf
fuer eine Sache in mir haetten wahrnehmen koennen.
Nicht die Ungeheuerlichkeit, welche in diesem Beginnen lag, war es,
was die Leute meinem Vater uebelnahmen, sondern sie sagten, er haette
mir einen Stand, der der buergerlichen Gesellschaft nuetzlich ist,
befehlen sollen, damit ich demselben meine Zeit und mein Leben widme,
und einmal mit dem Bewusstsein scheiden koenne, meine Schuldigkeit getan
zu haben.
Gegen diesen Einwurf sagte mein Vater, der Mensch sei nicht zuerst der
menschlichen Gesellschaft wegen da, sondern seiner selbst willen. Und
wenn jeder seiner selbst willen auf die beste Art da sei, so sei er
es auch fuer die menschliche Gesellschaft. Wen Gott zum besten Maler
auf dieser Welt geschaffen haette, der wuerde der Menschheit einen
schlechten Dienst tun, wenn er etwa ein Gerichtsmann werden wollte:
wenn er der groesste Maler wird, so tut er auch der Welt den groessten
Dienst, wozu ihn Gott erschaffen hat. Dies zeige sich immer durch
einen innern Drang an, der einen zu einem Dinge fuehrt, und dem man
folgen soll. Wie koennte man denn sonst auch wissen, wozu man auf der
Erde bestimmt ist, ob zum Kuenstler, zum Feldherrn, zum Richter, wenn
nicht ein Geist da waere, der es sagt, und der zu den Dingen fuehrt, in
denen man sein Glueck und seine Befriedigung findet.
Gott lenkt es schon so, dass die Gaben gehoerig verteilt sind, so dass
jede Arbeit getan wird, die auf der Erde zu tun ist, und dass nicht
eine Zeit eintritt, in der alle Menschen Baumeister sind. In diesen
Gaben liegen dann auch schon die gesellschaftlichen, und bei grossen
Kuenstlern, Rechtsgelehrten, Staatsmaennern sei auch immer die
Billigkeit, Milde, Gerechtigkeit und Vaterlandsliebe. Und aus solchen
Maennern, welche ihren innern Zug am weitesten ausgebildet, seien
auch in Zeiten der Gefahr am oeftesten die Helfer und Retter ihres
Vaterlandes hervorgegangen.
Es gibt solche, die sagen, sie seien zum Wohle der Menschheit
Kaufleute, Aerzte, Staatsdiener geworden; aber in den meisten Faellen
ist es nicht wahr. Wenn nicht der innere Beruf sie dahin gezogen hat,
so verbergen sie durch ihre Aussage nur einen schlechteren Grund,
nehmlich dass sie den Stand als ein Mittel betrachteten, sich Geld und
Gut und Lebensunterhalt zu erwerben. Oft sind sie auch, ohne weiter
ueber eine Wahl mit sich zu Rate zu gehen, in den Stand geraten
oder durch Umstaende in ihn gestossen worden und nehmen das Wohl der
Menschheit in den Mund, das sie bezweckt haetten, um nicht ihre
Schwaeche zu gestehen. Dann ist noch eine eigene Gattung, welche immer
von dem oeffentlichen Wohle spricht. Das sind die, welche mit ihren
eigenen Angelegenheiten in Unordnung sind. Sie geraten stets in Noete,
haben stets Aerger und Unannehmlichkeiten, und zwar aus ihrem eigenen
Leichtsinne; und da liegt es ihnen als Ausweg neben der Hand, den
oeffentlichen Zustaenden ihre Lage schuld zu geben und zu sagen, sie
waeren eigentlich recht auf das Vaterland bedacht, und sie wuerden alles
am besten in demselben einrichten. Aber wenn wirklich die Lage koemmt,
dass das Vaterland sie beruft, so geht es dem Vaterlande, wie es frueher
ihren eigenen Angelegenheiten gegangen ist. In Zeiten der Verirrung
sind diese Menschen die selbstsuechtigsten und oft auch grausamsten.
Es ist aber auch kein Zweifel. dass es solche gibt, denen Gott
den Gesellschaftstrieb und die Gesellschaftsgaben in besonderem
Masse verliehen hat. Diese widmen sich aus innerem Antriebe den
Angelegenheiten der Menschen, erlernen sie auch am sichersten, finden
Freude in den Anordnungen und opfern oft ihr Leben fuer ihren Beruf.
Aber in der Zeit, in der sie ihr Leben opfern, sei sie lange oder sei
sie ein Augenblick, empfinden sie Freude, und diese koemmt, weil sie
ihrem innern Andrange nachgegeben haben.
Gott hat uns auch nicht bei unseren Handlungen den Nutzen als Zweck
vorgezeichnet, weder den Nutzen fuer uns noch fuer andere, sondern
er hat der Ausuebung der Tugend einen eigenen Reiz und eine eigene
Schoenheit gegeben, welchen Dingen die edlen Gemueter nachstreben. Wer
Gutes tut, weil das Gegenteil dem menschlichen Geschlechte schaedlich
ist, der steht auf der Leiter der sittlichen Wesen schon ziemlich
tief. Dieser muesste zur Suende greifen, sobald sie dem menschlichen
Geschlechte oder ihm Nutzen bringt. Solche Menschen sind es auch,
denen alle Mittel gelten, und die fuer das Vaterland, fuer ihre Familie
und fuer sich selber das Schlechte tun. Solche hat man zu Zeiten,
wo sie im Grossen wirkten, Staatsmaenner geheissen, sie sind aber nur
Afterstaatsmaenner, und der augenblickliche Nutzen, den sie erzielten,
ist ein Afternutzen gewesen und hat sich in den Tagen des Gerichtes
als boeses Verhaengnis erwiesen.
Dass bei dem Vater kein Eigennutz herrschte, beweist der Umstand, dass
er im Rate der Stadt ein oeffentliches Amt unentgeltlich verwaltete,
dass er oefter die ganze Nacht in diesem Amte arbeitete, und dass er bei
oeffentlichen Dingen immer mit bedeutenden Summen an der Spitze stand.
Er sagte, man solle mich nur gehen lassen, es werde sich aus dem
Unbestimmten schon entwickeln, wozu ich taugen werde, und welche Rolle
ich auf der Welt einzunehmen haette.
Ich musste meine koerperlichen Uebungen fortsetzen. Schon als sehr kleine
Kinder mussten wir so viele koerperliche Bewegungen machen, als nur
moeglich war. Das war einer der Hauptgruende, weshalb wir im Sommer auf
dem Lande wohnten, und der Garten, welcher bei dem Vorstadthause war,
war einer der Hauptbeweggruende, weshalb der Vater das Haus kaufte.
Man liess uns als kleine Kinder gewoehnlich so viel gehen und laufen,
als wir selber wollten, und machte nur ein Ende, wenn wir selber aus
Muedigkeit ruhten. Es hatte in der Stadt sich eine Anstalt entwickelt,
in welcher nach einer gewissen Ordnung Leibesbewegungen vorgenommen
werden sollten, um alle Teile des Koerpers nach Beduerfnis zu ueben, und
ihrer naturgemaessen Entfaltung entgegen zu fuehren. Diese Anstalt durfte
ich besuchen, nachdem der Vater den Rat erfahrener Maenner eingeholt
und sich selber durch den Augenschein von den Dingen ueberzeugt hatte,
die da vorgenommen wurden. Fuer Maedchen bestand damals eine solche
Anstalt nicht, daher liess der Vater fuer die Schwester in einem Zimmer
unserer Wohnung so viele Vorrichtungen machen, als er und unser
Hausarzt, der ein Beguenstiger dieser Dinge war, fuer notwendig
erachteten, und die Schwester musste sich den Uebungen unterziehen,
die durch die Vorrichtungen moeglich waren. Durch die Erwerbung des
Vorstadthauses wurde die Sache noch mehr erleichtert. Nicht nur
hatten wir mehr Raum im Innern des Hauses, um alle Vorrichtungen zu
Koerperuebungen in besserem und ausgedehnterem Masse anlegen zu koennen.
sondern es war auch der Hofraum und der Garten da, in denen an sich
koerperliche Uebungen vorgenommen werden konnten und die auch weitere
Anlagen moeglich machten. Dass wir diese Sachen sehr gerne taten,
begreift sich aus der Feurigkeit und Beweglichkeit der Jugend von
selber. Wir hatten schon in der Kindheit schwimmen gelernt und gingen
im Sommer fast taeglich, selbst da wir in der Vorstadt wohnten, von
wo aus der Weg weiter war, in die Anstalt, in welcher man schwimmen
konnte. Selbst fuer Maedchen waren damals schon eigene Schwimmanstalten
errichtet. Auch ausserdem machten wir gerne weite Wege, besonders
im Sommer. Wenn wir im Freien ausser der Stadt waren, erlaubten die
Eltern, dass ich mit der Schwester einen besonderen Umgang halten
durfte. Wir uebten uns da im Zuruecklegen bedeutender Wege oder in
Besteigung eines Berges. Dann kamen wir wieder an den Ort zurueck, an
welchem uns die Eltern erwarteten. Anfangs ging meistens ein Diener
mit uns, spaeter aber, da wir erwachsen waren, liess man uns allein
gehen. Um besser und mit mehr Bequemlichkeit fuer die Eltern an jede
beliebige Stelle des Landes ausserhalb der Stadt gelangen zu koennen,
schaffte der Vater in der Folge zwei Pferde an, und der Knecht, der
bisher Gaertner und gelegentlich unser Aufseher gewesen war, wurde
jetzt auch Kutscher. In einer Reitschule, in welcher zu verschiedenen
Zeiten Knaben und Maedchen lernen konnten, hatten wir reiten gelernt
und hatten spaeter unsere bestimmten Wochentage, an denen wir uns
zu gewissen Stunden im Reiten ueben konnten. Im Garten hatte ich
Gelegenheit, nach einem Ziele zu springen, auf schmalen Planken zu
gehen, auf Vorrichtungen zu klettern und mit steinernen Scheiben
nach einem Ziele oder nach groesstmoeglicher Entfernung zu werfen. Die
Schwester, so sehr sie von der Umgebung als Fraeulein behandelt wurde,
liebte es doch sehr, bei sogenannten groeberen haeuslichen Arbeiten
zuzugreifen, um zu zeigen, dass sie diese Dinge nicht nur verstehe,
sondern an Kraft auch die noch uebertreffe, welche von Kindheit an
bei diesen Arbeiten gewesen sind. Die Eltern legten ihr bei diesem
Beginnen nicht nur keine Hindernisse in den Weg, sondern billigten es
sogar. Ausserdem trieb sie noch das Lesen ihrer Buecher, machte Musik,
besonders auf dem Klaviere und auf der Harfe, zu der sie auch sang,
und malte mit Wasserfarben.
Als ich den letzten Lehrer verlor, der mich in Sprachen unterrichtet
hatte, als ich in denjenigen wissenschaftlichen Zweigen, in welchen
man einen laengeren Unterricht fuer noetig gehalten hatte, weil sie
schwieriger oder wichtiger waren, solche Fortschritte gemacht hatte,
dass man einen Lehrer nicht mehr fuer notwendig erachtete, entstand die
Frage, wie es in Bezug auf meine erwaehlte wissenschaftliche Laufbahn
zu halten sei, ob man da einen gewissen Plan entwerfen und zu dessen
Ausfuehrung Lehrer annehmen sollte. Ich bat, man moechte mir gar keinen
Lehrer mehr nehmen, ich wuerde die Sachen schon selber zu betreiben
suchen. Der Vater ging auf meinen Wunsch ein, und ich war nun sehr
freudig, keinen Lehrer mehr zu haben und auf mich allein angewiesen zu
sein.
Ich fragte Maenner um Rat, welche einen grossen wissenschaftlichen Namen
hatten und gewoehnlich an der einen oder der andern Anstalt der Stadt
beschaeftigt waren. Ich naeherte mich ihnen nur, wenn es ohne Verletzung
der Bescheidenheit geschehen konnte. Da es meistens nur eine Anfrage
war, die ich in Bezug auf mein Lernen an solche Maenner stellte, und da
ich mich nicht in ihren Umgang draengte, so nahmen sie meine Annaeherung
nicht uebel, und die Antwort war immer sehr freundlich und liebevoll.
Auch waren unter den Maennern, die gelegentlich in unser Haus kamen,
manche, die in gelehrten Dingen bewandert waren. Auch an diese wandte
ich mich. Meistens betrafen die Anfragen Buecher und die Folge, in
welcher sie vorgenommen werden sollten. Ich trieb Anfangs jene Zweige
fort, in denen ich schon Unterricht erhalten hatte, weil man sie zu
jener Zeit eben als Grundlage einer allgemeinen menschlichen Bildung
betrachtete, nur suchte ich zum Teile mehr Ordnung in dieselben zu
bringen, als bisher befolgt worden war, zum Teile suchte ich mich auch
in jenem Fache auszudehnen, das mir mehr zuzusagen begann. Auf diese
Weise geschah es, dass in dem Ganzen doch noch eine ziemliche Ordnung
herrschte, da bei der Unbestimmtheit des ganzen Unternehmens die
Gefahr sehr nahe war, in die verschiedensten Dinge zersplittert und in
die kleinsten Kleinlichkeiten verschlagen zu werden. In Bezug auf die
Faecher, die ich eben angefangen hatte, besuchte ich auch Anstalten in
unserer Stadt, die ihnen foerderlich werden konnten: Buechersammlungen,
Sammlungen von Werkzeugen und namentlich Orte, wo Versuche gemacht
wurden, die ich wegen meiner Unreifheit und wegen Mangels an
Gelegenheit und Werkzeugen nie haette ausfuehren koennen. Was ich an
Buechern und ueberhaupt an Lehrmitteln brauchte, schaffte der Vater
bereitwillig an.
Ich war sehr eifrig und gab mich manchem einmal ergriffenen
Gegenstande mit all der entzuendeten Lust hin, die der Jugend bei
Lieblingsdingen eigen zu sein pflegt. Obwohl ich bei meinen Besuchen
der oeffentlichen Anstalten zu koerperlicher oder geistiger Entwicklung,
ferner bei den Besuchen, welche Leute bei uns oder welche wir bei
ihnen machten, sehr viele junge Leute kennen gelernt hatte, so war ich
doch nie dahin gekommen, so ausschliesslich auf blosse Vergnuegungen und
noch dazu oft unbedeutende erpicht zu sein, wie ich es bei der groessten
Zahl der jungen Leute gesehen hatte. Die Vergnuegungen, die in unserem
Hause vorkamen, wenn wir Leute zum Besuche bei uns hatten, waren auch
immer ernsterer Art.
Ich lernte auch viele aeltere Menschen kennen; aber ich achtete damals
weniger darauf, weil es bei der Jugend Sitte ist, sich mit lebhafter
Beteiligung mehr an die anzuschliessen, die ihnen an Jahren naeher
stehen, und das, was an aelteren Leuten befindlich ist, zu uebersehen.
Als ich achtzehn Jahre alt war, gab mir der Vater einen Teil meines
Eigentums aus der Erbschaft vom Grossoheime zur Verwaltung. Ich hatte
bis dahin kein Geld zu regelmaessiger Gebarung gehabt, sondern wenn ich
irgend etwas brauchte, kaufte es der Vater, und zu Dingen von minderem
Belange gab mir der Vater das Geld, damit ich sie selber kaufe. Auch
zu Vergnuegungen bekam ich gelegentlich kleine Betraege. Von nun an
aber, sagte der Vater, werde er mir am ersten Tage eines jeden Monats
eine bestimmte Summe auszahlen, ich solle darueber ein Buch fuehren, er
werde diese Auszahlungen bei der Verwaltung meines Gesammtvermoegens,
welche Verwaltung ihm noch immer zustehe, in Abrechnung bringen, und
sein Buch und das meinige muessten stimmen. Er gab mir einen Zettel, auf
welchem der Kreis dessen aufgezeichnet war, was ich von nun an mit
meinen monatlichen Einkuenften zu bestreiten haette. Er werde mir
nie mehr von seinem Gelde einen Gegenstand kaufen, der in den
verzeichneten Kreis gehoere. Ich muesse puenktlich verfahren und
haushaelterisch sein; denn er werde mir auch nie und nicht einmal unter
den dringendsten Bedingungen einen Vorschuss geben. Wenn ich zu seiner
Zufriedenheit eine Zeit hindurch gewirtschaftet haette, dann werde er
meinen Kreis wieder erweitern, und er werde nach billigstem Ermessen
sehen, in welcher Zeit er mir auch vor der erreichten gesetzlichen
Muendigkeit meine Angelegenheiten ganz in die Haende werde geben koennen.
Der Wanderer
Ich verfuhr mit der Rente, welche mir der Vater ausgesetzt hatte, gut.
Daher wurde nach einiger Zeit mein Kreis erweitert, wie es der Vater
versprochen hatte. Ich sollte von nun an nicht bloss nur einen Teil
meiner Beduerfnisse von dem zugewiesenen Einkommen decken, sondern
alle. Deshalb wurde meine Rente vergroessert. Der Vater zahlte sie mir
von nun an auch nicht mehr monatlich, sondern vierteljaehrlich aus, um
mich an groessere Zeitabschnitte zu gewoehnen. Sie mir halbjaehrlich oder
gar nach ganzen Jahren einzuhaendigen wollte er nicht wagen, damit ich
doch nicht etwa in Unordnungen geriete. Er gab mir nicht die ganzen
Zinsen von der Erbschaft des Grossoheims, sondern nur einen Teil, den
andern Teil legte er zu der Hauptsumme, so dass mein Eigentum wuchs,
wenn ich auch von meiner Rente nichts eruebrigte. Als Beschraenkung
blieb die Einrichtung, dass ich in dem Hause meiner Eltern wohnen und
an ihrem Tische speisen musste. Es ward dafuer ein Preis festgesetzt,
den ich alle Vierteljahre zu entrichten hatte. Jedes andere Beduerfnis,
Kleider, Buecher, Geraete oder was es immer war, durfte ich nach meinem
Ermessen und nach meiner Einsicht befriedigen.
Die Schwester erhielt auch Befugnisse in Hinsicht ihres Teiles
der Erbschaft des Grossoheims, in so weit sie sich fuer ein Maedchen
schickten.
Wir waren ueber diese Einrichtung sehr erfreut und beschlossen, nach
dem Wunsche und dem Willen der Eltern zu verfahren, um ihnen Freude zu
machen.
Ich ging, nachdem ich in den verschiedenen Zweigen der Kenntnisse,
die ich zuletzt mit meinen Lehrern betrieben hatte und welche als
allgemein notwendige Kenntnisse fuer einen gebildeten Menschen gelten,
nach mehreren Richtungen gearbeitet hatte, auf die Mathematik ueber.
Man hatte mir immer gesagt, sie sei die schwerste und herrlichste
Wissenschaft, sie sei die Grundlage zu allen uebrigen, in ihr sei alles
wahr, und was man aus ihr habe, sei ein bleibendes Besitztum fuer das
ganze Leben. Ich kaufte mir die Buecher, die man mir riet, um von den
Vorkenntnissen, die ich bereits hatte, ausgehen und zu dem Hoeheren
immer weiter streben zu koennen. Ich kaufte mir eine sehr grosse
Schiefertafel, um auf ihr meine Arbeiten ausfuehren zu koennen. So sass
ich nun in manchen Stunden, die zum Erlernen von Kenntnissen bestimmt
waren, an meinem Tische und rechnete. Ich ging den Gaengen der Maenner
nach, welche die Gestaltungen dieser Wissenschaft nach und nach
erfunden hatten und von diesen Gestaltungen zu immer weiteren gefuehrt
worden waren. Ich setzte mir bestimmte Zeitraeume fest, in welchen ich
vom Weitergehen abliess, um das bis dahin Errungene wiederholen und
meinem Gedaechtnisse einpraegen zu koennen, ehe ich zu ferneren Teilen
vorwaerts schritt. Die Buecher, welche ich nach und nach durchnehmen
wollte, hatte ich in der Ordnung auf einem Buecherbrett aufgestellt.
Ich war nach einer verhaeltnismaessigen Zeit in ziemlich schwierige
Abteilungen des hoeheren Gebietes dieser Wissenschaft vorgerueckt.
Der Vater erlaubte mir endlich, zuweilen im Sommer eine Zeit hindurch
entfernt von den Eltern auf irgend einem Punkte des Landes zu wohnen.
Zum ersten Aufenthalte dieser Art wurde das Landhaus eines Freundes
meines Vaters nicht gar ferne von der Stadt erwaehlt. Ich erhielt ein
Zimmerchen in dem obersten Teile des Hauses, dessen Fenster auf die
nahen Weinberge und zwischen ihren Senkungen durch auf die entfernten
Gebirge gingen. Die Frau des Hauses gab mir in sehr kurzen
Zwischenzeiten immer erneuerte schneeweisse Fenstervorhaenge. Sehr oft
kamen die Eltern heraus, besuchten mich und brachten den Tag auf dem
Lande zu. Sehr oft ging ich auch zu ihnen in die Stadt und blieb
manchmal sogar ueber Nacht in ihrem Hause.
Der zweite Aufenthalt im naechst darauf folgenden Sommer war viel
weiter von der Stadt entfernt in dem Hause eines Landmanns. Man hat
haeufig in den Haeusern unserer Landleute, in welchen alle Wohnstuben
und andere Raeumlichkeiten ebenerdig sind, doch noch ein Geschoss ueber
diesen Raeumlichkeiten, in welchem sich ein oder mehrere Gemaecher
befinden. Unter diesen Gemaechern ist auch die sogenannte obere Stube.
Haeufig ist sie bloss das einzige Gemach des ersten Geschosses. Die
obere Stube ist gewissermassen das Prunkzimmer. In ihr stehen die
schoeneren Betten des Hauses, gewoehnlich zwei, in ihr stehen die
Schreine mit den schoenen Kleidern, in ihr haengen die Scheiben- und
Jagdgewehre des Mannes, wenn er dergleichen hat, so wie die Preise,
die er im Schiessen etwa schon gewonnen, in ihr sind die schoeneren
Geschirre der Frau, besonders wenn sie Kruege aus Zinn oder etwas aus
Porzellan hat, und in ihr sind auch die besseren Bilder des Hauses und
sonstige Zierden, zum Beispiel ein schoenes Jesuskindlein aus Wachs,
welches in weissem feinem Flaume liegt. In einer solchen oberen Stube
des Hauses eines Landmanns wohnte ich. Das Haus war so weit von der
Stadt entfernt, dass ich die Eltern nur ein einziges Mal mit Benutzung
des Postwagens besuchen konnte, sie aber gar nie zu mir kamen.
Dieser Aufenthalt brachte Veraenderungen in mir hervor. Weil ich mit
den Meinigen nicht zusammen kommen konnte, so lebte die Sehnsucht nach
Mitteilung viel staerker in mir, als wenn ich zu Hause gewesen waere und
sie jeden Augenblick haette befriedigen koennen. Ich schritt also zu
ausfuehrlichen Briefen und Berichten. Ich hatte bisher immer aus
Buechern gelernt, deren ich mir bereits eine ziemliche Menge in meine
Buecherkaesten von meinem Gelde gekauft hatte; aber ich hatte mich nie
geuebt, etwas selber in groesserem Zusammenhange zusammen zu stellen.
Jetzt musste ich es tun, ich tat es gerne, und freute mich, nach
und nach die Gabe der Darstellung und Erzaehlung in mir wachsen zu
fuehlen. Ich schritt zu immer zusammengesetzteren und geordneteren
Schilderungen.
Auch eine andere Veraenderung trat ein.
Ich war schon als Knabe ein grosser Freund der Wirklichkeit der Dinge
gewesen, wie sie sich so in der Schoepfung oder in dem geregelten
Gange des menschlichen Lebens darstellte. Dies war oft eine grosse
Unannehmlichkeit fuer meine Umgebung gewesen. Ich fragte unaufhoerlich
um die Namen der Dinge, um ihr Herkommen und ihren Gebrauch und konnte
mich nicht beruhigen, wenn die Antwort eine hinausschiebende war. Auch
konnte ich es nicht leiden, wenn man einen Gegenstand zu etwas Anderem
machte, als er war. Besonders kraenkte es mich, wenn er, wie ich
meinte, durch seine Veraenderung schlechter wurde. Es machte mir
Kummer, als man einmal einen alten Baum des Gartens faellte und ihn in
lauter Kloetze zerlegte. Die Kloetze waren nun kein Baum mehr, und da
sie morsch waren, konnte man keinen Schemel, keinen Tisch, kein Kreuz,
kein Pferd daraus schnitzen. Als ich einmal das offene Land kennen
gelernt und Fichten und Tannen auf den Bergen stehen gesehen hatte,
taten mir jederzeit die Bretter leid, aus denen etwas in unserem Hause
verfertigt wurde, weil sie einmal solche Fichten und Tannen gewesen
waren. Ich fragte den Vater, wenn wir durch die Stadt gingen, wer die
grosse Kirche des heiligen Stephan gebaut habe, warum sie nur einen
Turm habe, warum dieser so spitzig sei, warum die Kirche so schwarz
sei, wem dieses oder jenes Haus gehoere, warum es so gross sei, weshalb
sich an einem andern Hause immer zwei Fenster neben einander befaenden
und in einem weiteren Hause zwei steinerne Maenner das Sims des
Haustores tragen.
Der Vater beantwortete solche Fragen je nach seinem Wissen. Bei
einigen aeusserte er nur Mutmassungen, bei anderen sagte er, er wisse
es nicht. Wenn wir auf das Land kamen, wollte ich alle Gewaechse und
Steine kennen und fragte um die Namen der Landleute und der Hunde. Der
Vater pflegte zu sagen, ich muesste einmal ein Beschreiber der Dinge
werden oder ein Kuenstler, welcher aus Stoffen Gegenstaende fertigt,
an denen er so Anteil nimmt, oder wenigstens ein Gelehrter, der die
Merkmale und Beschaffenheiten der Sachen erforscht.
Diese Eigenschaft nun fuehrte mich, da ich auf dem Lande wohnte, in
eine besondere Richtung. Ich legte die Mathematik weg und widmete
mich der Betrachtung meiner Umgebungen. Ich fing an, bei allen
Vorkommnissen des Hauses, in dem ich wohnte, zuzusehen. Ich lernte
nach und nach alle Werkzeuge und ihre Bestimmungen kennen. Ich ging
mit den Arbeitern auf die Felder, auf die Wiesen und in die Waelder
und arbeitete gelegentlich selber mit. Ich lernte in kurzer Zeit auf
diese Weise die Behandlung und Gewinnung aller Bodenerzeugnisse des
Landstriches, auf dem ich wohnte, kennen. Auch ihre erste laendliche
Verarbeitung zu Kunsterzeugnissen suchte ich in Erfahrung zu bringen.
Ich lernte die Bereitung des Weines aus Trauben kennen, des Garnes und
der Leinwand aus Flachs, der Butter und des Kaeses aus der Milch, des
Mehles und Brotes aus dem Getreide. Ich merkte mir die Namen, womit
die Landleute ihre Dinge benannten, und lernte bald die Merkmale
kennen, aus denen man die Guete oder den geringeren Wert der
Bodenerzeugnisse oder ihre naechsten Umwandlungen beurteilen konnte.
Selbst in Gespraeche, wie man dieses oder jenes auf eine vielleicht
zweckmaessigere Weise hervorbringen koennte, liess ich mich ein, fand aber
da einen hartnaeckigen Widerstand.
Als ich diese Hervorbringung der ersten Erzeugnisse in jenem Striche
des Landes, in welchem ich mich aufhielt, kennen gelernt hatte, ging
ich zu den Gegenstaenden des Gewerbfleisses ueber. Nicht weit von meiner
Wohnung war ein weites flaches Tal, das von einem Wasser durchstroemt
war, welches sich durch seine gleichbleibende Reichhaltigkeit und
dadurch, dass es im Winter nicht leicht zufror, besonders zum Treiben
von Werken eignete. In dem Tale waren daher mehrere Fabriken
zerstreut. Sie gehoerten meistens zu ansehnlichen Handelshaeusern. Die
Eigentuemer lebten in der Stadt und besuchten zuweilen ihre Werke, die
von einem Verwalter oder Geschaeftsleiter versehen wurden.
Ich besuchte nach und nach alle diese Fabriken und unterrichtete mich
ueber die Erzeugnisse, welche da hervorgebracht wurden. Ich suchte
den Hergang kennen zu lernen, durch welchen der Stoff in die Fabrik
geliefert wurde, durch welchen er in die erste Umwandlung, von dieser
in die zweite und so durch alle Stufen gefuehrt wurde, bis er als
letztes Erzeugnis der Fabrik hervorging. Ich lernte hier die Guete der
einlangenden Rohstoffe kennen und wurde auf die Merkmale aufmerksam
gemacht, aus denen auf eine vorzuegliche Beschaffenheit der endlich in
der Fabrik fertig gewordenen Erzeugnisse geschlossen werden konnte.
Ich lernte auch die Mittel und Wege kennen, durch welche die
Umwandlungen, die die Stoffe nach und nach zu erleiden hatten, bewirkt
wurden.
Die Maschinen, welche hiezu groesstenteils verwendet wurden, waren mir
durch meine bereits erworbenen Vorkenntnisse in ihren allgemeinen
Einrichtungen schon bekannt. Es war mir daher nicht schwer, ihre
besonderen Wirkungen zu den einzelnen Zwecken, die hier erreicht
werden sollten, einsehen zu lernen. Ich ging durch die Gefaelligkeit
der dabei Angestellten alle Teile durch, bis ich das Ganze so vor mir
hatte und zusammen begreifen konnte, als haette ich es als Zeichnung
auf dem Papier liegen, wie ich ja bisher alle Einrichtungen solcher
Art nur aus Zeichnungen kennen zu lernen Gelegenheit hatte.
In spaeterer Zeit begann ich, die Naturgeschichte zu betreiben. Ich
fing bei der Pflanzenkunde an. Ich suchte zuerst zu ergruenden, welche
Pflanzen sich in der Gegend befaenden, in welcher ich mich aufhielt. Zu
diesem Zwecke ging ich nach allen Richtungen aus und bestrebte mich,
die Standorte und die Lebensweise der verschiedenen Gewaechse kennen zu
lernen und alle Gattungen zu sammeln. Welche ich mit mir tragen konnte
und welche nur einiger Massen aufzubewahren waren, nahm ich mit in
meine Wohnung. Von solchen, die ich nicht von dem Orte bringen konnte,
wozu besonders die Baeume gehoerten, machte ich mir Beschreibungen,
welche ich zu der Sammlung einlegte. Bei diesen Beschreibungen, die
ich immer nach allen sich mir darbietenden Eigenschaften der Pflanzen
machte, zeigte sich mir die Erfahrung, dass nach meiner Beschreibung
andere Pflanzen in eine Gruppe zusammen gehoerten, als welche von den
Pflanzenkundigen als zusammengehoerig aufgefuehrt wurden. Ich bemerkte,
dass von den Pflanzenlehrern die Einteilungen der Pflanzen nur nach
einem oder einigen Merkmalen, zum Beispiele nach den Samenblaettern
oder nach den Bluetenteilen, gemacht wurden, und dass da Pflanzen in
einer Gruppe beisammen stehen, welche in ihrer ganzen Gestalt und
in ihren meisten Eigenschaften sehr verschieden sind. Ich behielt
die herkoemmlichen Einteilungen bei und hatte aber auch meine
Beschreibungen daneben. In diesen Beschreibungen standen die Pflanzen
nach sinnfaelligen Linien und, wenn ich mich so ausdruecken duerfte, nach
ihrer Baufuehrung beisammen.
Bei den Mineralien, welche ich mir sammelte, geriet ich beinahe in
dieselbe Lage. Ich hatte mir schon seit meiner Kinderzeit manche
Stuecke zu erwerben gesucht. Fast immer waren dieselben aus
anderen Sammlungen gekauft oder geschenkt worden. Sie waren schon
Sammlungsstuecke, hatten meistens das Papierstueckchen mit ihrem Namen
auf sich aufgeklebt.
Auch waren sie womoeglich immer im Kristallzustande. Das System von
Mohs hatte einmal grosses Aufsehen gemacht; ich war durch meine
mathematischen Arbeiten darauf gefuehrt worden, hatte es kennen und
lieben gelernt. Allein da ich jetzt meine Mineralien in der Gegend
meines Aufenthaltes suchte und zusammen trug, fand ich sie weit oefter
in unkristallisirtem Zustande als in kristallisirtem, und sie zeigten
da allerlei Eigenschaften fuer die Sinne, die sie dort nicht haben. Das
Kristallisiren der Stoffe, welches das System von Mohs voraussetzt,
kam mir wieder wie ein Bluehen vor, und die Stoffe standen nach
diesen Blueten beisammen. Ich konnte nicht lassen, auch hier neben
den Einteilungen, die gebraeuchlich waren, mir ebenfalls meine
Beschreibungen zu machen.
Ungefaehr eine Meile von unserer Stadt liegt gegen Sonnenuntergang hin
eine Reihe von schoenen Huegeln. Diese Huegel setzen sich in Stufenfolgen
und nur hie und da von etwas groesseren Ebenen unterbrochen immer weiter
nach Sonnenuntergang fort, bis sie endlich in hoeher gelegenes, noch
huegligeres Land, das sogenannte Oberland, uebergehen. In der Naehe der
Stadt sind die Huegel mehrfach von Landhaeusern besetzt und mit Gaerten
und Anlagen geschmueckt, in weiterer Entfernung werden sie laendlicher.
Sie tragen Weinreben oder Felder auf ihren Seiten, auch Wiesen sind
zu treffen, und die Gipfel oder auch manche Rueckenstrecken sind mit
laubigen, mehr busch- als baumartigen Waeldern besetzt. Die Baeche und
sonstigen Gewaesser sind nicht gar haeufig, und oft traf ich im Sommer
zwischen den Huegeln, wenn mich Durst oder Zufall hinab fuehrte, das
ausgetrocknete, mit weissen Steinen gefuellte Bett eines Baches. In
diesem Huegellande war mein Aufenthalt, und in demselben rueckte ich
immer weiter gegen Sonnenuntergang vor. Ich streifte weit und breit
herum und war oft mehrere Tage von meiner Wohnung abwesend. Ich ging
die einsamen Pfade, welche zwischen den Feldern oder Weingelaenden
hinliefen und sich von Dorf zu Dorf, von Ort zu Ort zogen und manche
Meilen, ja Tagereisen in sich begriffen. Ich ging auf den abgelegenen
Waldpfaden, die in Stammholz oder Gebueschen verborgen waren und
nicht selten im Laubwerk, Gras oder Gestrippe spurlos endeten.
Ich durchwanderte oft auch ohne Pfad Wiesen, Wald und sonstige
Landflaechen, um die Gegenstaende zu finden, welche ich suchte. Dass
wenige von unseren Stadtbewohnern auf solche Wege kommen, ist
begreiflich, da sie nur kurze Zeit zu dem Genusse des Landlebens sich
goennen koennen und in derselben auf den breiten herkoemmlichen Strassen
des Landvergnuegens bleiben und von anderen Pfaden nichts wissen.
An der Mittagseite war das ganze Huegelland viele Meilen lang von
Hochgebirge gesaeumt. Auf einer Stelle der Basteien unserer Stadt kann
man zwischen Haeusern und Baeumen ein Fleckchen Blau von diesem Gebirge
sehen. Ich ging oft auf jene Bastei, sah oft dieses kleine blaue
Fleckchen und dachte nichts weiter als: das ist das Gebirge. Selbst
da ich von dem Hause meines ersten Sommeraufenthaltes einen Teil des
Hochgebirges erblickte, achtete ich nicht weiter darauf. Jetzt sah
ich zuweilen mit Vergnuegen von einer Anhoehe oder von dem Gipfel eines
Huegels ganze Strecken der blauen Kette, welche in immer undeutlicheren
Gliedern ferner und ferner dahin lief. Oft, wenn ich durch wildes
Gestrippe ploetzlich auf einen freien Abriss kam und mir die Abendroete
entgegen schlug, weithin das Land in Duft und roten Rauch legend, so
setzte ich mich nieder, liess das Feuerwerk vor mir verglimmen, und es
kamen allerlei Gefuehle in mein Herz.
Wenn ich wieder in das Haus der Meinigen zurueckkehrte, wurde ich
recht freudig empfangen, und die Mutter gewoehnte sich an meine
Abwesenheiten, da ich stets gereifter von ihnen zurueck kam. Sie und
die Schwester halfen mir nicht selten, die Sachen, die ich mitbrachte,
aus ihren Behaeltnissen auspacken, damit ich sie in den Raeumen, die
hiezu bestimmt waren, ordnen konnte.
So war endlich die Zeit gekommen, in welcher es der Vater fuer geraten
fand, mir die ganze Rente der Erbschaft des Grossoheims zu freier
Verfuegung zu uebertragen. Er sagte, ich koenne mit diesem Einkommen
verfahren, wie es mir beliebe, nur muesste ich damit ausreichen. Er
werde mir auf keine Weise aus dem Seinigen etwas beitragen, noch mir
je Vorschuesse machen, da meine Jahreseinnahme so reichlich sei, dass
sie meine jetzigen Beduerfnisse, selbst wenn sie noch um Vieles groesser
wuerden, nicht nur hinlaenglich decke, sondern dass sie selbst auch
manche Vergnuegungen bestreiten koenne, und dass doch noch etwas uebrig
bleiben duerfte. Es liege somit in meiner Hand, fuer die Zukunft, die
etwa groessere Ausgaben bringen koennte, mir auch eine groessere Einnahme
zu sichern. Meine Wohnung und meinen Tisch duerfe ich nicht mehr, wenn
ich nicht wolle, in dem Hause der Eltern nehmen, sondern wo ich immer
wollte. Das Stammvermoegen selber werde er an dem Orte, an welchem
es sich bisher befand, liegen lassen. Er fuegte bei, er werde mir
dasselbe, sobald ich das vierundzwanzigste Jahr erreicht habe,
einhaendigen. Dann koenne ich es nach meinem eigenen Ermessen verwalten.
"Ich rate dir aber", fuhr er fort, "dann nicht nach einer groesseren
Rente zu geizen, weil eine solche meistens nur mit einer groesseren
Unsicherheit des Stammvermoegens zu erzielen ist. Sei immer deines
Grundvermoegens sicher und mache die dadurch entstehende kleinere Rente
durch Maessigkeit groesser. Solltest du den Rat deines Vaters einholen
wollen, so wird dir derselbe nie entzogen werden. Wenn ich sterbe oder
freiwillig aus den Geschaeften zurueck trete, so werdet ihr beide auch
noch von mir eine Vermehrung eures Eigentums erhalten. Wie gross
dieselbe sein wird, kann ich noch nicht sagen, ich bemuehe mich, durch
Vorsicht und durch gut gegruendete Geschaeftsfuehrung sie so gross als
moeglich und auch so sicher als moeglich zu machen; aber alle stehen
wir in der Hand des Herrn, und er kann durch Ereignisse, welche kein
Menschenauge vorher sehen kann, meine Vermoegensumstaende bedeutend
veraendern. Darum sei weise und gebare mit dem Deinigen, wie du bisher
zu meiner und zur Befriedigung deiner Mutter getan hast." Ich war
geruehrt ueber die Handlungsweise meines Vaters und dankte ihm von
ganzem Herzen. Ich sagte, dass ich mich stets bestreben werde, seinem
Vertrauen zu entsprechen, dass ich ihn instaendig um seinen Rat bitte,
und dass ich in Vermoegensangelegenheiten wie in anderen nie gegen ihn
handeln, und dass ich auch nicht den kleinsten Schritt tun wolle,
ohne nach diesem Rat zu verlangen. Eine Wohnung ausser dem Hause
zu beziehen, solange ich in unserer Stadt lebe, waere mir sehr
schmerzlich, und ich bitte, in dem Hause meiner Eltern und an ihrem
Tische bleiben zu duerfen, solange Gott nicht selber durch irgend eine
Schickung eine Aenderung herbei fuehre.
Der Vater und die Mutter waren ueber diese Worte erfreut. Die Mutter
sagte, dass sie mir zu meiner bisherigen Wohnung, die mir doch als
einem nunmehr selbstaendigen Manne besonders bei meinen jetzigen
Verhaeltnissen zu klein werden duerfte, noch einige Raeumlichkeiten
zugeben wolle, ohne dass darum der Preis unverhaeltnismaessig wachse. Ich
war natuerlicher Weise mit Allem einverstanden. Ich musste gleich mit
der Mutter gehen und die mir zugedachte Vergroesserung der Wohnung
besehen. Ich dankte ihr fuer ihre Sorgfalt. Schon in den naechsten Tagen
richtete ich mich in der neuen Wohnung ein.
Den Winter benutzte ich zum Teile mit Vorbereitungen, um im naechsten
Sommer wieder grosse Wanderungen machen zu koennen. Ich hatte mir
vorgenommen, nun endlich einmal das Hochgebirge zu besuchen, und in
ihm so weit herum zu gehen, als es mir zusagen wuerde.
Als der Sommer gekommen war, fuhr ich von der Stadt auf dem kuerzesten
Wege in das Gebirge. Von dem Orte meiner Ankunft aus wollte ich dann
in ihm laengs seiner Richtung von Sonnenaufgang nach Sonnenuntergang zu
Fusse fort wandern. Ich begab mich sofort auf meinen Weg. Ich ging den
Taelern entlang, selbst wenn sie voll meiner Richtung abwichen und
allerlei Windungen verfolgten. Ich suchte nach solchen Abschweifungen
immer meinen Hauptweg wieder zu gewinnen. Ich stieg auch auf Bergjoche
und ging auf der entgegengesetzten Seite wieder in das Tal hinab.
Ich erklomm manchen Gipfel und suchte von ihm die Gegend zu sehen und
auch schon die Richtung zu erspaehen, in welcher ich in naechster Zeit
vordringen wuerde. Im Ganzen hielt ich mich stets, soweit es anging,
nach dem Hauptzuge des Gebirges und wich von der Wasserscheide so
wenig als moeglich ab.
In einem Tale an einem sehr klaren Wasser sah ich einmal einen toten
Hirsch. Er war gejagt worden, eine Kugel hatte seine Seite getroffen,
und er mochte das frische Wasser gesucht haben, um seinen Schmerz zu
kuehlen. Er war aber an dem Wasser gestorben. Jetzt lag er an demselben
so, dass sein Haupt in den Sand gebettet war und seine Vorderfuesse in
die reine Flut ragten. Ringsum war kein lebendiges Wesen zu sehen. Das
Tier gefiel mir so, dass ich seine Schoenheit bewunderte und mit ihm
grosses Mitleid empfand. Sein Auge war noch kaum gebrochen, es glaenzte
noch in einem schmerzlichen Glanze, und dasselbe, so wie das Antlitz,
das mir fast sprechend erschien, war gleichsam ein Vorwurf gegen seine
Moerder. Ich griff den Hirsch an, er war noch nicht kalt. Als ich
eine Weile bei dem toten Tiere gestanden war, hoerte ich Laute in den
Waeldern des Gebirges, die wie Jauchzen und wie Heulen von Hunden
klangen. Diese Laute kamen naeher, waren deutlich zu erkennen, und
bald sprang ein Paar schoener Hunde ueber den Bach, denen noch einige
folgten. Sie naeherten sich mir. Als sie aber den fremden Mann bei
dem Wilde sahen, blieben einige in der Entfernung stehen und bellten
heftig gegen mich, waehrend andere heulend weite Kreise um mich
zogen, in ihnen dahin flogen und in Eilfertigkeit sich an Steinen
ueberschlugen und ueberstuerzten. Nach geraumer Zeit kamen auch Maenner
mit Schiessgewehren. Als sich diese dem Hirsche genaehert hatten und
neben mir standen, kamen auch die Hunde herzu, hatten vor mir keine
Scheu mehr, beschnupperten mich und bewegten sich und zitterten um das
Wild herum. Ich entfernte mich, nachdem die Jaeger auf dem Schauplatze
erschienen waren, sehr bald von ihm.
Bisher hatte ich keine Tiere zu meinen Bestrebungen in der
Naturgeschichte aufgesucht, obwohl ich die Beschreibungen derselben
eifrig gelesen und gelernt hatte. Diese Vernachlaessigung der
leiblichen wirklichen Gestalt war bei mir so weit gegangen, dass ich,
selbst da ich einen Teil des Sommers schon auf dem Lande zubrachte,
noch immer die Merkmale von Ziegen, Schafen, Kuehen aus meinen
Abbildungen nicht nach den Gestalten suchte, die vor mir wandelten.
Ich schlug jetzt einen andern Weg ein. Der Hirsch, den ich gesehen
hatte, schwebte mir immer vor den Augen. Er war ein edler gefallner
Held und war ein reines Wesen. Auch die Hunde, seine Feinde,
erschienen mir berechtigt wie in ihrem Berufe. Die schlanken
springenden und gleichsam geschnellten Gestalten blieben mir ebenfalls
vor den Augen. Nur die Menschen, welche das Tier geschossen hatten,
waren mir widerwaertig, da sie daraus gleichsam ein Fest gemacht
hatten. Ich fing von der Stunde an, Tiere so aufzusuchen und zu
betrachten, wie ich bisher Steine und Pflanzen aufgesucht und
betrachtet hatte. Sowohl jetzt, da ich noch in dem Gebirge war, als
auch spaeter zu Hause und bei meinen weiteren Wanderungen betrachtete
ich Tiere und suchte ihre wesentlichen Merkmale sowohl an ihrem Leibe
als auch an ihrer Lebensart und Bestimmung zu ergruenden. Ich schrieb
das, was ich gesehen hatte, auf und verglich es mit den Beschreibungen
und Einteilungen, die ich in meinen Buechern fand. Da geschah es
wieder, dass ich mit diesen Buechern in Zwiespalt geriet, weil es meinen
Augen widerstrebte, Tiere nach Zehen oder anderen Dingen in einer
Abteilung beisammen zu sehen, die in ihrem Baue nach meiner Meinung
ganz verschieden waren. Ich stellte daher nicht wissenschaftlich, aber
zu meinem Gebrauche eine andere Einteilung zusammen.
Einen besonderen Zweck, den ich bei dem Besuche des Gebirges befolgen
wollte, hatte ich dieses erste Mal nicht, ausser was sich zufaellig
fand. Ich war nur im Allgemeinen in das Gebirge gegangen, um es zu
sehen. Als daher dieser erste Drang etwas gesaettigt war, begab ich
mich auf dem naechsten Wege in das flache Land hinaus und fuhr auf
diesem wieder nach Hause.
Allein der kommende Sommer lockte mich abermals in das Gebirge. Hatte
ich das erste Mal nur im Allgemeinen geschaut, und waren die Eindruecke
wirkend auf mich heran gekommen, so ging ich jetzt schon mehr in das
Einzelne, ich war meiner schon mehr Herr und richtete die Betrachtung
auf besondere Dinge. Viele von ihnen draengten sich an meine Seele.
Ich sass auf einem Steine und sah die breiten Schattenflaechen und die
scharfen, oft gleichsam mit einem Messer in sie geschnittenen Lichter.
Ich dachte nach, weshalb die Schatten hier so blau seien und die
Lichter so kraeftig und das Gruen so feurig und die Waesser so blitzend.
Mir fielen die Bilder meines Vaters ein, auf denen Berge gemalt waren,
und mir wurde es, als haette ich sie mitnehmen sollen, um vergleichen
zu koennen. Ich blieb in kleinen Ortschaften zuweilen laenger und
betrachtete die Menschen, ihr taegliches Gewerbe, ihr Fuehlen, ihr
Reden, Denken und Singen. Ich lernte die Zither kennen, betrachtete
sie, untersuchte sie und hoerte auf ihr spielen und zu ihr singen. Sie
erschien mir als ein Gegenstand, der nur allein in die Berge gehoert
und mit den Bergen Eins ist. Die Wolken, ihre Bildung, ihr Anhaengen
an die Bergwaende, ihr Suchen der Bergspitzen so wie die Verhaeltnisse
des Nebels und seine Neigung zu den Bergen waren mir wunderbare
Erscheinungen.
Ich bestieg in diesem Sommer auch einige hohe Stellen, ich liess mich
von den Fuehrern nicht bloss auf das Eis der Gletscher geleiten, welches
mich sehr anregte und zur Betrachtung aufforderte, sondern bestieg
auch mit ihrer Hilfe die hoechsten Zinnen der Berge. Ich sah die
Ueberreste einer alten, untergegangenen Welt in den Marmoren, die in
dem Gebirge vorkommen und die man in manchen Taelern zu schleifen
versteht. Ich suchte besondere Arten aufzufinden und sendete sie nach
Hause. Den schoenen Enzian hatte ich im frueheren Sommer schon der
Schwester in meinen Pflanzenbuechern gebracht, jetzt brachte ich ihr
auch Alpenrosen und Edelweiss. Von der Zirbelkiefer und dem Knieholze
nahm ich die zierlichen Fruechte. So verging die Zeit, und so kam ich
bereichert nach Hause.
Ich ging von nun an jeden Sommer in das Gebirge.
Wenn ich von den Zimmern meiner Wohnung in dem Hause meiner Eltern
nach einem dort verbrachten Winter gegen den Himmel blickte und nicht
mehr so oft an demselben die grauen Wolken und den Nebel sah, sondern
oefter schon die blauen und heiteren Luefte, wenn diese durch ihre Farbe
schon gleichsam ihre groessere Weichheit ankuendigten, wenn auf den
Mauern und Schornsteinen und Ziegeldaechern, die ich nach vielen
Richtungen uebersehen konnte, schon immer kraeftigere Tafeln von
Sonnenschein lagen, kein Schnee sich mehr blicken liess und an den
Baeumen unseres Gartens die Knospen schwollen: so mahnte es mich
bereits in das Freie. Um diesem Drange nur vorlaeufig zu genuegen, ging
ich gerne aus der Stadt und erquickte mich an der offenen Weite der
Wiesen, der Felder, der Weinberge. Wenn aber die Baeume bluehten und das
erste Laub sich entwickelte, ging ich schon dem Blau der Berge zu,
wenngleich ihre Waende noch von mannigfaltigem Schnee erglaenzten. Ich
erwaehlte mir nach und nach verschiedene Gegenden, an denen ich mich
aufhielt, um sie genau kennen zu lernen und zu geniessen.
Mein Vater hatte gegen diese Reisen nichts, auch war er mit der
Art, wie ich mit meinem Einkommen gebarte, sehr zufrieden. Es
blieb nehmlich in jedem Jahre ein Erkleckliches ueber, was zu dem
Grundvermoegen getan werden konnte. Ich spuerte desohngeachtet in meiner
Lebensweise keinen Abgang. Ich strebte nach Dingen, die meine Freude
waren und wenig kosteten, weit weniger als die Vergnuegungen, denen
meine Bekannten sich hingaben. Ich hatte in Kleidern, Speise und Trank
die groesste Einfachheit, weil es meiner Natur so zusagte, weil wir
zur Maessigkeit erzogen waren und weil diese Gegenstaende, wenn ich
ihnen grosse Aufmerksamkeit haette schenken sollen, mich von meinen
Lieblingsbestrebungen abgelenkt haetten. So ging alles gut, Vater und
Mutter freuten sich ueber meine Ordnung, und ich freute mich ueber ihre
Freude.
Da verfiel ich eines Tages auf das Zeichnen. Ich koennte mir ja meine
Naturgegenstaende, dachte ich, eben so gut zeichnen als beschreiben,
und die Zeichnung sei am Ende noch sogar besser als die Beschreibung.
Ich erstaunte, weshalb ich denn nicht sogleich auf den Gedanken
geraten sei. Ich hatte wohl frueher immer gezeichnet, aber mit
mathematischen Linien, welche nach Rechnungsgesetzen entstanden,
Flaechen und Koerper in der Messkunst darstellten und mit Zirkel und
Richtscheit gemacht worden waren. Ich wusste wohl recht gut, dass man
mit Linien alle moeglichen Koerper darstellen koenne, und hatte es an den
Bildern meines Vaters vollfuehrt gesehen: aber ich hatte nicht weiter
darueber gedacht, da ich in einer andern Richtung beschaeftigt war. Es
musste diese Vernachlaessigung von einer Eigenschaft in mir herruehren,
die ich in einem hohen Grade besass und die man mir zum Vorwurfe
machte. Wenn ich nehmlich mit einem Gegenstande eifrig beschaeftigt
war, so vergass ich darueber manchen andern, der vielleicht groessere
Bedeutung hatte. Sie sagten, das sei einseitig, ja es sei sogar Mangel
an Gefuehl.
Ich fing mein Zeichnen mit Pflanzen an, mit Blaettern, mit Stielen,
mit Zweigen. Es war Anfangs die Aehnlichkeit nicht sehr gross, und die
Vollkommenheit der Zeichnung liess viel zu wuenschen uebrig, wie ich
spaeter erkannte. Aber es wurde immer besser, da ich eifrig war und vom
Versuchen nicht abliess. Die frueher in meine Pflanzenbuecher eingelegten
Pflanzen, wie sorgsam sie auch vorbereitet waren, verloren nach und
nach nicht bloss die Farbe, sondern auch die Gestalt, und erinnerten
nicht mehr entfernt an ihre urspruengliche Beschaffenheit.
Die gezeichneten Pflanzen dagegen bewahrten wenigstens die
Gestalt, nicht zu gedenken, dass es Pflanzen gibt, die wegen ihrer
Beschaffenheit, und selbst solche, die wegen ihrer Groesse in ein
Pflanzenbuch nicht gelegt werden koennen, wie zum Beispiele Pilze oder
Baeume. Diese konnten in einer Zeichnung sehr wohl aufbewahrt werden.
Die blossen Zeichnungen aber genuegten mir nach und nach auch nicht
mehr, weil die Farbe fehlte, die bei den Pflanzen, besonders bei den
Blueten, eine Hauptsache ist. Ich begann daher, meine Abbildungen mit
Farben zu versehen und nicht eher zu ruhen, als bis die Aehnlichkeit
mit den Urbildern erschien und immer groesser zu werden versprach.
Nach den Pflanzen nahm ich auch andere Gegenstaende vor, deren Farbe
etwas Auffallendes und Fassliches hatte. Ich geriet auf die Falter und
suchte mehrere nachzubilden. Die Farben von minder hervorragenden
Gegenstaenden, die zwar unscheinbar, aber doch bedeutsam sind, wie die
der Gesteine im unkristallischen Zustande, kamen spaeter an die Reihe,
und ich lernte ihre Reize nach und nach wuerdigen.
Da ich nun einmal zeichnete und die Dinge deshalb doch viel genauer
betrachten musste, und da das Zeichnen und meine jetzige Bestrebungen
mich doch nicht ganz ausfuellten, kam ich auch noch auf eine andere,
viel weiter gehende Richtung.
Ich habe schon gesagt, dass ich gerne auf hohe Berge stieg und von
ihnen aus die Gegenden betrachtete. Da stellten sich nun dem geuebteren
Auge die bildsamen Gestalten der Erde in viel eindringlicheren
Merkmalen dar und fassten sich uebersichtlicher in grossen Teilen
zusammen. Da oeffnete sich dem Gemuete und der Seele der Reiz des
Entstehens dieser Gebilde, ihrer Falten und ihrer Erhebungen,
ihres Dahinstreichens und Abweichens von einer Richtung, ihres
Zusammenstrebens gegen einen Hauptpunkt und ihrer Zerstreuungen in die
Flaeche. Es kam ein altes Bild, das ich einmal in einem Buche gelesen
und wieder vergessen hatte, in meine Erinnerung. Wenn das Wasser in
unendlich kleinen Troepfchen, die kaum durch ein Vergroesserungsglas
ersichtlich sind, aus dem Dunste der Luft sich auf die Tafeln unserer
Fenster absetzt, und die Kaelte dazu koemmt, die noetig ist, so entsteht
die Decke von Faeden, Sternen, Wedeln, Palmen und Blumen, die wir
gefrorene Fenster heissen. Alle diese Dinge stellen sich zu einem
Ganzen zusammen, und die Strahlen, die Taeler, die Ruecken, die
Knoten des Eises sind durch ein Vergroesserungsglas angesehen
bewunderungswuerdig. Eben so stellt sich von sehr hohen Bergen aus
gesehen die niedriger liegende Gestaltung der Erde dar. Sie muss aus
einem erstarrenden Stoffe entstanden sein und streckt ihre Faecher
und Palmen in grossartigem Massstabe aus. Der Berg selber, auf dem ich
stehe, ist der weisse, helle und sehr glaenzende Punkt, den wir in
der Mitte der zarten Gewebe unserer gefrorenen Fenster sehen. Die
Palmenraender der gefrorenen Fenstertafeln werden durch Abbroecklung
wegen des Luftzuges oder durch Schmelzung wegen der Waerme lueckenhaft
und unterbrochen. An den Gebirgszuegen geschehen Zerstoerungen durch
Verwitterung in Folge des Einflusses des Wassers, der Luft, der
Waerme und der Kaelte. Nur braucht die Zerstoerung der Eisnadeln an den
Fenstern kuerzere Zeit als der Nadeln der Gebirge. Die Betrachtung der
unter mir liegenden Erde, der ich oft mehrere Stunden widmete, erhob
mein Herz zu hoeherer Bewegung, und es erschien mir als ein wuerdiges
Bestreben, ja als ein Bestreben, zu dem alle meine bisherigen
Bemuehungen nur Vorarbeiten gewesen waren, dem Entstehen dieser
Erdoberflaeche nachzuspueren und durch Sammlung vieler kleiner Tatsachen
an den verschiedensten Stellen sich in das grosse und erhabene Ganze
auszubreiten, das sich unsern Blicken darstellt, wenn wir von
Hochpunkt zu Hochpunkt auf unserer Erde reisen und sie endlich alle
erfuellt haben und keine Bildung dem Auge mehr zu untersuchen bleibt
als die Weite und die Woelbung des Meeres.
Ich begann, durch diese Gefuehle und Betrachtungen angeregt, gleichsam
als Schlussstein oder Zusammenfassung aller meiner bisherigen Arbeiten
die Wissenschaft der Bildung der Erdoberflaeche und dadurch vielleicht
der Bildung der Erde selber zu betreiben. Nebstdem, dass ich
gelegentlich von hohen Stellen aus die Gestaltung der Erdoberflaeche
genau zeichnete, gleichsam als waere sie durch einen Spiegel gesehen
worden, schaffte ich mir die vorzueglichsten Werke an, welche ueber
diese Wissenschaft handeln, machte mich mit den Vorrichtungen, die man
braucht, bekannt, so wie mit der Art ihrer Benuetzung.
Ich betrieb nun diesen Gegenstand mit fortgesetztem Eifer und mit
einer strengen Ordnung.
Dabei lernte ich auch nach und nach den Himmel kennen, die Gestaltung
seiner Erscheinungen und die Verhaeltnisse seines Wetters.
Meine Besuche der Berge hatten nun fast ausschliesslich diesen Zweck zu
ihrem Inhalte.
Die Einkehr
Eines Tages ging ich von dem Hochgebirge gegen das Huegelland hinaus.
Ich wollte nehmlich von einem Gebirgszuge in einen andern uebersiedeln
und meinen Weg dahin durch einen Teil des offenen Landes nehmen.
Jedermann kennt die Vorberge, mit welchen das Hochgebirge gleichsam
wie mit einem Uebergange gegen das flachere Land auslaeuft. Mit Laub-
oder Nadelwald bedeckt ziehen sie in angenehmer Faerbung dahin, lassen
hie und da das blaue Haupt eines Hochberges ueber sich sehen, sind hie
und da von einer leuchtenden Wiese unterbrochen, fuehren alle Waesser,
die das Gebirge liefert und die gegen das Land hinaus gehen, zwischen
sich, zeigen manches Gebaeude und manches Kirchlein und strecken sich
nach allen Richtungen, in denen das Gebirge sich abniedert, gegen die
bebauteren und bewohnteren Teile hinaus.
Als ich von dem Hange dieser Berge herab ging und eine freiere
Umsicht gewann, erblickte ich gegen Untergang hin die sanften Wolken
eines Gewitters, das sich sachte zu bilden begann und den Himmel
umschleierte. Ich schritt ruestig fort und beobachtete das Zunehmen und
Wachsen der Bewoelkung. Als ich ziemlich weit hinaus gekommen war und
mich in einem Teile des Landes befand, wo sanfte Huegel mit maessigen
Flaechen wechseln, Meierhoefe zerstreut sind, der Obstbau gleichsam in
Waeldern sich durch das Land zieht, zwischen dem dunkeln Laube die
Kirchtuerme schimmern, in den Talfurchen die Baeche rauschen und ueberall
wegen der groesseren Weitung, die das Land gibt, das blaue, gezackte
Band der Hochgebirge zu erblicken ist, musste ich auf eine Einkehr
denken; denn das Dorf, in welchem ich Rast halten wollte, war kaum
mehr zu erreichen. Das Gewitter war so weit gediehen, dass es in einer
Stunde und bei beguenstigenden Umstaenden wohl noch frueher ausbrechen
konnte.
Vor mir hatte ich das Dorf Rohrberg, dessen Kirchturm von der Sonne
scharf beschienen ueber Kirschen- und Weidenbaeumen hervor sah. Es lag
nur ganz wenig abseits von der Strasse. Naeher waren zwei Meierhoefe,
deren jeder in einer maessigen Entfernung von der Strasse in Wiesen und
Feldern prangte. Auch war ein Haus auf einem Huegel, das weder ein
Bauerhaus noch irgend ein Wirtschaftsgebaeude eines Buergers zu sein
schien, sondern eher dem Landhause eines Staedters glich. Ich hatte
schon frueher wiederholt, wenn ich durch die Gegend kam, das Haus
betrachtet, aber ich hatte mich nie naeher um dasselbe bekuemmert. Jetzt
fiel es mir um so mehr auf, weil es der naechste Unterkunftsplatz von
meinem Standorte aus war und weil es mehr Bequemlichkeit als die
Meierhoefe zu geben versprach. Dazu gesellte sich ein eigentuemlicher
Reiz. Es war, da schon ein grosser Teil des Landes, mit Ausnahme des
Rohrberger Kirchturmes, im Schatten lag, noch hell beleuchtet und sah
mit einladendem schimmerndem Weiss in das Grau und Blau der Landschaft
hinaus.
Ich beschloss also, in diesem Hause eine Unterkunft zu suchen.
Ich forschte dem zu Folge nach einem Wege, der von der Strasse auf
den Huegel des Hauses hinauffuehren sollte. Nach meiner Kenntnis des
Landesgebrauches war es mir nicht schwer, den mit einem Zaune und
mit Gebuesch besaeumten Weg, der von der Landstrasse ab hinauf ging,
zu finden. Ich schritt auf demselben empor und kam, wie ich richtig
vermutet hatte, vor das Haus. Es war noch immer von der Sonne hell
beschienen. Allein da ich naeher vor dasselbe trat, hatte ich einen
bewunderungswuerdigen Anblick. Das Haus war ueber und ueber mit Rosen
bedeckt, und wie es in jenem fruchtbaren huegligen Lande ist, dass,
wenn einmal etwas blueht, gleich alles mit einander blueht, so war es
auch hier: die Rosen schienen sich das Wort gegeben zu haben, alle
zur selben Zeit aufzubrechen, um das Haus in einen Ueberwurf der
reizendsten Farbe und in eine Wolke der suessesten Gerueche zu huellen.
Wenn ich sage, das Haus sei ueber und ueber mit Rosen bedeckt gewesen,
so ist das nicht so wortgetreu zu nehmen. Das Haus hatte zwei ziemlich
hohe Geschosse.
Die Wand des Erdgeschosses war bis zu den Fenstern des oberen
Geschosses mit den Rosen bedeckt. Der uebrige Teil bis zu dem Dache war
frei, und er war das leuchtende weisse Band, welches in die Landschaft
hinaus geschaut und mich gewissermassen herauf gelockt hatte. Die Rosen
waren an einem Gitterwerke, das sich vor der Wand des Hauses befand,
befestigt. Sie bestanden aus lauter Baeumchen. Es waren winzige
darunter, deren Blaetter gleich ueber der Erde begannen, dann hoehere,
deren Staemmchen ueber die ersten empor ragten, und so fort, bis die
letzten mit ihren Zweigen in die Fenster des oberen Geschosses hinein
sahen. Die Pflanzen waren so verteilt und gehegt, dass nirgends eine
Luecke entstand und dass die Wand des Hauses, soweit sie reichten,
vollkommen von ihnen bedeckt war.
Ich hatte eine Vorrichtung dieser Art in einem so grossen Massstabe noch
nie gesehen.
Es waren zudem fast alle Rosengattungen da, die ich kannte, und
einige, die ich noch nicht kannte. Die Farben gingen von dem reinen
Weiss der weissen Rosen durch das gelbliche und roetliche Weiss der
Uebergangsrosen in das zarte Rot und in den Purpur und in das blaeuliche
und schwaerzliche Rot der roten Rosen ueber. Die Gestalten und der Bau
wechselten in eben demselben Masse. Die Pflanzen waren nicht etwa nach
Farben eingeteilt, sondern die Ruecksicht der Anpflanzung schien nur
die zu sein, dass in der Rosenwand keine Unterbrechung statt finden
moege. Die Farben bluehten daher in einem Gemische durch einander.
Auch das Gruen der Blaetter fiel mir auf. Es war sehr rein gehalten, und
kein bei Rosen oefter als bei andern Pflanzen vorkommender Uebelstand
der gruenen Blaetter und keine der haeufigen Krankheiten kam mir zu
Gesichte. Kein verdorrtes oder durch Raupen zerfressenes oder durch
ihr Spinnen verkruemmtes Blatt war zu erblicken. Selbst das bei Rosen
so gerne sich einnistende Ungeziefer fehlte. Ganz entwickelt und
in ihren verschiedenen Abstufungen des Gruens prangend standen die
Blaetter hervor. Sie gaben mit den Farben der Blumen gemischt einen
wunderlichen Ueberzug des Hauses. Die Sonne, die noch immer gleichsam
einzig auf dieses Haus schien, gab den Rosen und den gruenen Blaettern
derselben gleichsam goldene und feurige Farben.
Nachdem ich eine Weile mein Vorhaben vergessend vor diesen Blumen
gestanden war, ermahnte ich mich und dachte an das Weitere. Ich sah
mich nach einem Eingange des Hauses um. Allein ich erblickte keinen.
Die ganze ziemlich lange Wand desselben hatte keine Tuer und kein Tor.
Auch durch keinen Weg war der Eingang zu dem Hause bemerkbar gemacht;
denn der ganze Platz vor demselben war ein reiner, durch den Rechen
wohlgeordneter Sandplatz. Derselbe schnitt sich durch ein Rasenband
und eine Hecke von den angrenzenden, hinter meinem Ruecken liegenden
Feldern ab. Zu beiden Seiten des Hauses in der Richtung seiner
Laenge setzten sich Gaerten fort, die durch ein hohes, eisernes, gruen
angestrichenes Gitter von dem Sandplatze getrennt waren. In diesen
Gittern musste also der Eingang sein.
Und so war es auch.
In dem Gitter, welches dem den Huegel heranfuehrenden Wege zunaechst
lag, entdeckte ich die Tuer oder eigentlich zwei Fluegel einer Tuer, die
dem Gitter so eingefuegt waren, dass sie von demselben bei dem ersten
Anblicke nicht unterschieden werden konnten. In den Tueren waren die
zwei messingenen Schlossgriffe und an der Seite des einen Fluegels ein
Glockengriff.
Ich sah zuerst ein wenig durch das Gitter in den Garten. Der Sandplatz
setzte sich hinter dem Gitter fort, nur war er besaeumt mit bluehenden
Gebueschen und unterbrochen mit hohen Obstbaeumen, welche Schatten
gaben. In dem Schatten standen Tische und Stuehle; es war aber kein
Mensch bei ihnen gegenwaertig. Der Garten erstreckte sich rueckwaerts um
das Haus herum und schien mir bedeutend weit in die Tiefe zu gehen.
Ich versuchte zuerst die Tuergriffe, aber sie oeffneten nicht. Dann nahm
ich meine Zuflucht zu dem Glockengriffe und laeutete.
Auf den Klang der Glocke kam ein Mann hinter den Gebueschen des Gartens
gegen mich hervor. Als er an der innern Seite des Gitters vor mir
stand, sah ich, dass es ein Mann mit schneeweissen Haaren war, die er
nicht bedeckt hatte. Sonst war er unscheinbar und hatte eine Art
Hausjacke an, oder wie man das Ding nennen soll, das ihm ueberall
enge anlag und fast bis auf die Knie herabreichte. Er sah mich einen
Augenblick an, da er zu mir herangekommen war, und sagte dann: "Was
wollt ihr, lieber Herr?"
"Es ist ein Gewitter im Anzuge", antwortete ich, "und es wird in
Kurzem ueber diese Gegend kommen. Ich bin ein Wandersmann, wie ihr an
meinem Raenzchen seht, und bitte daher, dass mir in diesem Hause so
lange ein Obdach gegeben werde, bis der Regen, oder wenigstens der
schwerere, vorueber ist."
"Das Gewitter wird nicht zum Ausbruche kommen", sagte der Mann.
"Es wird keine Stunde dauern, dass es koemmt", entgegnete ich, "ich bin
mit diesen Gebirgen sehr wohl bekannt und verstehe mich auch auf die
Wolken und Gewitter derselben ein wenig."
"Ich bin aber mit dem Platze, auf welchem wir stehen, aller
Wahrscheinlichkeit nach weit laenger bekannt als ihr mit dem Gebirge,
da ich viel aelter bin als ihr", antwortete er, "ich kenne auch seine
Wolken und Gewitter und weiss, dass heute auf dieses Haus, diesen Garten
und diese Gegend kein Regen niederfallen wird."
"Wir wollen nicht lange darueber Meinungen hegen, ob ein Gewitter
dieses Haus netzen wird oder nicht", sagte ich; "wenn ihr Anstand
nehmet, mir dieses Gittertor zu oeffnen, so habet die Guete und ruft den
Herrn des Hauses herbei."
"Ich bin der Herr des Hauses."
Auf dieses Wort sah ich mir den Mann etwas naeher an. Sein Angesicht
zeigte zwar auch auf ein vorgeruecktes Alter, aber es schien mir
juenger als die Haare und gehoerte ueberhaupt zu jenen freundlichen,
wohlgefaerbten, nicht durch das Fett der vorgerueckten Jahre entstellten
Angesichtern, von denen man nie weiss, wie alt sie sind. Hierauf sagte
ich: "Nun muss ich wohl um Verzeihung bitten, dass ich so zudringlich
gewesen bin, ohne weiteres auf die Sitte des Landes zu bauen. Wenn
eure Behauptung, dass kein Gewitter kommen werde, einer Ablehnung
gleich sein soll, werde ich mich augenblicklich entfernen. Denkt
nicht, dass ich als junger Mann den Regen so scheue; es ist mir zwar
nicht so angenehm, durchnaesst zu werden als trocken zu bleiben, es ist
mir aber auch nicht so unangenehm, dass ich deshalb jemandem zur Last
fallen sollte. Ich bin oft von dem Regen getroffen worden, und es
liegt nichts daran, wenn ich auch heute getroffen werde."
"Das sind eigentlich zwei Fragen", antwortete der Mann, "und ich muss
auf beide etwas entgegnen. Das Erste ist, dass ihr in Naturdingen eine
Unrichtigkeit gesagt habet, was vielleicht daher koemmt, dass ihr die
Verhaeltnisse dieser Gegend zu wenig kennt oder auf die Vorkommnisse
der Natur nicht genug achtet. Diesen Irrtum musste ich berichtigen;
denn in Sachen der Natur muss auf Wahrheit gesehen werden. Das Zweite
ist, dass, wenn ihr mit oder ohne Gewitter in dieses Haus kommen wollt,
und wenn ihr gesonnen seid, seine Gastfreundschaft anzunehmen, ich
sehr gerne willfahren werde. Dieses Haus hat schon manchen Gast gehabt
und manchen gerne beherbergt, und wie ich an euch sehe, wird es auch
euch gerne beherbergen und so lange verpflegen, als ihr es fuer noetig
erachten werdet. Darum bitte ich euch, tretet ein."
Mit diesen Worten tat er einen Druck am Schlosse des Torfluegels,
der Fluegel oeffnete sich, drehte sich mit einer Rolle auf einer
halbkreisartigen Eisenschiene und gab mir Raum zum Eintreten.
Ich blieb nun einen Augenblick unentschlossen.
"Wenn das Gewitter nicht koemmt", sagte ich, "so habe ich im Grunde
keine Ursache, hier einzutreten; denn ich bin nur des anziehenden
Gewitters willen von der Landstrasse abgewichen und zu diesem Hause
heraufgestiegen. Aber verzeiht mir, wenn ich noch einmal die Frage
anrege. Ich bin beinahe eine Art Naturforscher und habe mich mehrere
Jahre mit Naturdingen, mit Beobachtungen und namentlich mit diesem
Gebirge beschaeftigt, und meine Erfahrungen sagen mir, dass heute ueber
diese Gegend und dieses Haus ein Gewitter kommen wird."
"Nun muesst ihr eigentlich vollends herein gehen", sagte er, "jetzt
handelt es sich darum, dass wir gemeinschaftlich abwarten, wer von uns
beiden recht hat. Ich bin zwar kein Naturforscher und kann von mir
nicht sagen, dass ich mich mit Naturwissenschaften beschaeftigt habe;
aber ich habe manches ueber diese Gegenstaende gelesen, habe waehrend
meines Lebens mich bemueht, die Dinge zu beobachten und ueber das
Gelesene und Gesehene nachzudenken. In Folge dieser Bestrebungen habe
ich heute die unzweideutigen Zeichen gesehen, dass die Wolken, welche
jetzt noch gegen Sonnenuntergang stehen, welche schon einmal gedonnert
haben und von denen ihr veranlasst worden seid, zu mir herauf zu
steigen, nicht ueber dieses Haus und ueberhaupt ueber keine Gegend einen
Regen bringen werden. Sie werden sich vielleicht, wenn die Sonne
tiefer koemmt, verteilen und werden zerstreut am Himmel herum stehen.
Abends werden wir etwa einen Wind spueren, und morgen wird gewiss wieder
ein schoener Tag sein. Es koennte sich zwar ereignen, dass einige schwere
Tropfen fallen oder ein kleiner Spruehregen nieder geht, aber gewiss
nicht auf diesen Huegel."
"Da die Sache so ist", erwiderte ich, "trete ich gerne ein und harre
mit euch gerne der Entscheidung, auf die ich begierig bin."
Nach diesen Worten trat ich ein, er schloss das Gitter und sagte, er
wolle mein Fuehrer sein.
Er fuehrte mich um das Haus herum; denn in der den Rosen
entgegengesetzten Seite war die Tuer. Er fuehrte mich durch dieselbe
ein, nachdem er sie mit einem Schluessel geoeffnet hatte. Hinter der Tuer
erblickte ich einen Gang, welcher mit Amonitenmarmor gepflastert war.
"Dieser Eingang", sagte er, "ist eigentlich der Haupteingang; aber da
ich mir nicht gerne das Pflaster des Ganges verderben lasse, halte ich
ihn immer gesperrt, und die Leute gehen durch eine Tuer in die Zimmer,
welche wir finden wuerden, wenn wir noch einmal um die Ecke des
Hauses gingen. Des Pflasters willen muss ich euch auch bitten, diese
Filzschuhe anzuziehen."
Es standen einige Paare gelblicher Filzschuhe gleich innerhalb der
Tuer. Niemand konnte mehr als ich von der Notwendigkeit ueberzeugt
sein, diesen so edlen und schoenen Marmor zu schonen, der an sich
so vortrefflich ist und hier ganz meisterhaft geglaettet war. Ich
fuhr daher mit meinen Stiefeln in ein Paar solcher Schuhe, er tat
desgleichen, und so gingen wir ueber den glatten Boden. Der Gang,
welcher von oben beleuchtet war, fuehrte zu einer braunen getaefelten
Tuer. Vor derselben legte er die Filzschuhe ab, verlangte von mir, dass
ich dasselbe tue, und, nachdem wir uns auf dem hoelzernen Antritte der
Tuer der Filzschuhe entledigt hatten, oeffnete er dieselbe und fuehrte
mich in ein Zimmer. Dem Ansehen nach war es ein Speisezimmer; denn in
der Mitte desselben stand ein Tisch, an dessen Bauart man sah, dass er
vergroessert oder verkleinert werden koenne, je nachdem eine groessere oder
kleinere Anzahl von Personen um ihn sitzen sollte. Ausser dem Tische
befanden sich nur Stuehle in dem Zimmer und ein Schrein, in welchem die
Speisegeraetschaften enthalten sein konnten.
"Legt in diesem Zimmer", sagte der Mann, "euern Hut, euern Stock und
euer Raenzlein ab, ich werde euch dann in ein anderes Gemach fuehren, in
welchem ihr ausruhen koennt."
Als er dies gesagt und ich ihm Folge geleistet hatte, trat er zu einer
breiten Strohmatte und zu Fussbuersten, die sich am Ausgange des Zimmers
befanden, reinigte sich an beiden sehr sorgsam seine Fussbekleidung
und lud mich ein, dasselbe zu tun. Ich tat es, und da ich fertig war,
oeffnete er die Ausgangstuer, die ebenfalls braun und getaefelt war, und
fuehrte mich durch ein Vorgemach in ein Ausruhezimmer, welches an der
Seite des Vorgemaches lag.
"Dieses Vorgemach", sagte er, "ist der eigentliche Eingang in das
Speisezimmer, und man koemmt von der andern Tuer in dasselbe."
Das Ausruhezimmer war ein freundliches Gemach und schien recht eigens
zum Sitzen und Ruhehalten bestimmt. Es befasste nichts als lauter
Tische und Sitze. Auf den Tischen lagen aber nicht, wie es haeufig in
unsern Besuchzimmern vorkoemmt, Buecher oder Zeichnungen und dergleichen
Dinge, sondern die Tafeln derselben waren unbedeckt und waren
ausnehmend gut geglaettet und gereinigt. Sie waren von dunklem
Mahagoniholze, das in der Zeit noch mehr nachgedunkelt war. Ein
einziges Geraete war da, welches kein Tisch und kein Sitz war, ein
Gestelle mit mehreren Faechern, welches Buecher enthielt. An den Waenden
hingen Kupferstiche.
"Hier koennt ihr ausruhen, wenn ihr vom Gehen muede seid oder ueberhaupt
ruhen wollt", sagte der Mann, "ich werde gehen und sorgen, dass man
euch etwas zu essen bereitet. Ihr muesst wohl eine Weile allein bleiben.
Auf dem Gestelle liegen Buecher, wenn ihr etwa ein wenig in dieselben
blicken wollet."
Nach diesen Worten entfernte er sich.
Ich war in der Tat muede und setzte mich nieder.
Als ich sass, konnte ich den Grund einsehen, weshalb der Mann vor dem
Eintritte in dieses Zimmer so sehr seine Fussbekleidung gereinigt und
mir den Wunsch zu gleicher Reinigung ausgedrueckt hatte. Das Zimmer
enthielt nehmlich einen schoen getaefelten Fussboden, wie ich nie einen
gleichen gesehen hatte. Es war beinahe ein Teppich aus Holz. Ich
konnte das Ding nicht genug bewundern. Man hatte lauter Holzgattungen
in ihren natuerlichen Farben zusammengesetzt und sie in ein Ganzes von
Zeichnungen gebracht. Da ich von den Geraeten meines Vaters her an
solche Dinge gewohnt war und sie etwas zu beurteilen verstand, sah ich
ein, dass man alles nach einem in Farben ausgefuehrten Plane gemacht
haben musste, welcher Plan mir selber wie ein Meisterstueck erschien.
Ich dachte, da duerfe ich ja gar nicht aufstehen und auf der Sache
herum gehen, besonders wenn ich die Naegel in Anschlag brachte, mit
denen meine Gebirgsstiefel beschlagen waren. Auch hatte ich keine
Veranlassung zum Aufstehen, da mir die Ruhe nach einem ziemlich langen
Gange sehr angenehm war.
Da sass ich nun in dem weissen Hause, zu welchem ich hinauf gestiegen
war, um in ihm das Gewitter abzuwarten.
Es schien noch immer die Sonne auf das Haus, blickte durch die Fenster
dieses Zimmers schief herein und legte lichte Tafeln auf den schoenen
Fussboden desselben.
Als ich eine Weile gesessen war, bemaechtigte sich meiner eine seltsame
Empfindung, welche ich mir Anfangs nicht zu erklaeren vermochte. Es war
mir nehmlich, als sitze ich nicht in einem Zimmer, sondern im Freien,
und zwar in einem stillen Walde. Ich blickte gegen die Fenster, um mir
das Ding zu erklaeren; aber die Fenster erteilten die Erklaerung nicht:
ich sah durch sie ein Stueck Himmel, teils rein, teils etwas bewoelkt,
und unter dem Himmel sah ich ein Stueck Gartengruen von emporragenden
Baeumen, ein Anblick, den ich wohl schon sehr oft gehabt hatte. Ich
spuerte eine reine, freie Luft mich umgeben. Die Ursache davon war,
dass die Fenster des Zimmers in ihren oberen Teilen offen waren.
Diese oberen Teile konnten nicht nach Innen geoeffnet werden, wie das
gewoehnlich der Fall ist, sondern waren nur zu verschieben, und zwar
so, dass einmal Glas in dem Rahmen vorgeschoben werden konnte, ein
anderes Mal ein zarter Flor von weissgrauer Seide. Da ich in dem Zimmer
sass, war das Letztere der Fall. Die Luft konnte frei herein stroemen,
Fliegen und Staub waren aber ausgeschlossen.
Wenn nun gleich die reine Luft eine Mahnung des Freien gab, sah ich
doch hierin nicht voellige Erklaerung allein.
Ich bemerkte noch etwas anderes. In dem Zimmer, in welchem ich mich
befand, hoerte man nicht den geringsten Laut eines bewohnten Hauses,
den man doch sonst, es mag im Hause noch so ruhig sein, mehr oder
weniger in Zwischenraeumen vernimmt. Diese Art Abwesenheit haeuslichen
Geraeusches verbarg allerdings die Nachbarschaft bewohnter Raeume,
konnte aber eben so wenig als die freie Luft die Waldempfindung geben.
Endlich glaubte ich auf den Grund gekommen zu sein. Ich hoerte nehmlich
fast ununterbrochen, bald naeher, bald ferner, bald leiser, bald lauter
vermischten Vogelgesang. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf diese
Wahrnehmung und erkannte bald, dass der Gesang nicht bloss von Voegeln
herruehre, die in der Naehe menschlicher Wohnungen hausen, sondern auch
von solchen, deren Stimme und Zwitschern mir nur aus den Waeldern und
abgelegenen Bebuschungen bekannt war. Dieses wenig auffallende, mir
aus meinem Gebirgsaufenthalte bekannte und von mir in der Tat nicht
gleich beachtete Getoen mochte wohl die Hauptursache meiner Taeuschung
gewesen sein, obwohl die Stille des Raumes und die reine Luft auch
mitgewirkt haben konnten. Da ich nun genauer auf dieses gelegentliche
Vogelzwitschern achtete, fand ich wirklich, dass Toene sehr einsamer und
immer in tiefen Waeldern wohnender Voegel vorkamen. Es nahm sich dies
wunderlich in einem bewohnten und wohleingerichteten Zimmer aus.
Da ich aber nun den Grund meiner Empfindung aufgefunden hatte
oder aufgefunden zu haben glaubte, war auch ein grosser Teil ihrer
Dunkelheit und mithin Annehmlichkeit verschwunden.
Wie ich nun so fortwaehrend auf den Vogelgesang merkte, fiel mir
sogleich auch etwas anderes ein. Wenn ein Gewitter im Anzuge ist und
schwuele Luefte in dem Himmelsraume stocken, schweigen gewoehnlich die
Waldvoegel. Ich erinnerte mich, dass ich in solchen Augenblicken oft in
den schoensten, dichtesten, entlegensten Waeldern nicht den geringsten
Laut gehoert habe, etwa ein einmaliges oder zweimaliges Haemmern des
Spechtes ausgenommen oder den kurzen Schrei jenes Geiers, den die
Landleute Giessvogel nennen. Aber selbst er schweigt, wenn das Gewitter
in unmittelbarer Annaeherung ist. Nur bei den Menschen wohnende Voegel,
die das Gewitter fuerchten wie er, oder solche, die im weiten Freien
hausen und vielleicht dessen majestaetische Annaeherung bewundern,
zeigen sein Bevorstehen an. So habe ich Schwalben vor den dicken
Wolken eines heraufsteigenden Gewitters mit ihrem weissen Bauchgefieder
kreuzen gesehen und selbst schreien gehoert, und so habe ich Lerchen
singend gegen die dunkeln Gewitterwolken aufsteigen gesehen. Das
Singen der Waldvoegel erschien mir nun als ein schlimmes Zeichen fuer
meine Voraussagung eines Gewitters. Auch fiel mir auf, dass sich noch
immer keine Merkmale des Ausbruches zeigten, welchen ich nicht fuer so
ferne gehalten hatte, als ich die Landstrasse verliess. Die Sonne schien
noch immer auf das Haus, und ihre glaenzenden Lichttafeln lagen noch
immer auf dem schoenen Fussboden des Zimmers.
Mein Beherberger schien es darauf angelegt zu haben, mich lange allein
zu lassen, wahrscheinlich, um mir Raum zur Ruhe und Bequemlichkeit zu
geben; denn er kam nicht so bald zurueck, als ich nach seiner Aeusserung
erwartet hatte.
Als ich eine geraume Weile gesessen war und das Sitzen anfing, mir
nicht mehr jene Annehmlichkeit zu gewaehren wie Anfangs, stand ich
auf und ging auf den Fussspitzen, um den Boden zu schonen, zu dem
Buechergestelle, um die Buecher anzusehen. Es waren aber bloss beinahe
lauter Dichter. Ich fand Baende von Herder, Lessing, Goethe, Schiller,
Uebersetzungen Shakespeares von Schlegel und Tieck, einen griechischen
Odysseus, dann aber auch etwas aus Ritters Erdbeschreibung, aus
Johannes Muellers Geschichte der Menschheit und aus Alexander und
Wilhelm Humboldt. Ich tat die Dichter bei Seite und nahm Alexander
Humboldts Reise in die Aequinoctiallaender, die ich zwar schon kannte,
in der ich aber immer gerne las. Ich begab mich mit meinem Buche
wieder zu meinem Sitze zurueck.
Als ich nicht gar kurze Zeit gelesen hatte, trat mein Beherberger
herein.
Ich hatte, weil er so lange abwesend war, gedacht, er werde sich etwa
auch umgekleidet haben, weil er doch nun einmal einen Gast habe und
weil sein Anzug so gar unbedeutend war. Aber er kam in den nehmlichen
Kleidern zurueck, in welchen er vor mir an dem Gittertore gestanden
war.
Er entschuldigte sein Aussenbleiben nicht, sondern sagte, ich moechte,
wenn ich ausgeruht haette und es mir genehm waere, zu speisen, ihm in
das Speisezimmer folgen, es wuerde dort fuer mich aufgetragen werden.
Ich sagte, ausgeruht haette ich schon, aber ich sei nur gekommen, um
Unterstand zu bitten, nicht aber auch in anderer Weise, besonders in
Hinsicht von Speise und Trank, laestig zu fallen.
"Ihr fallt nicht laestig", antwortete der Mann, "ihr muesst etwas zu
essen bekommen, besonders da ihr so lange da bleiben muesst, bis sich
die Sache wegen des Gewitters entschieden hat. Da schon Mittag vorueber
ist, wir aber genau mit der Mittagstunde des Tages zu Mittag essen und
von da bis zu dem Abendessen nichts mehr aufgetragen wird, so muss fuer
euch, wenn ihr nicht bis Abends warten sollet, besonders aufgetragen
werden. Solltet ihr aber sollen zu Mittag gegessen haben und bis
Abends warten wollen, so fordert es doch die Ehre des Hauses, dass euch
etwas geboten werde, ihr moeget es dann annehmen oder nicht. Folgt mir
daher in das Speisezimmer."
Ich legte das Buch neben mich auf den Sitz und schickte mich an, zu
gehen.
Er aber nahm das Buch und legte es auf seinen Platz in dem
Buechergestelle.
"Verzeiht", sagte er, "es ist bei uns Sitte, dass die Buecher, die auf
dem Gestelle sind, damit jemand, der in dem Zimmer wartet oder sich
sonst aufhaelt, bei Gelegenheit und nach Wohlgefallen etwas lesen kann,
nach dem Gebrauche wieder auf das Gestelle gelegt werden, damit das
Zimmer die ihm zugehoerige Gestalt behalte."
Hierauf oeffnete er die Tuer und lud mich ein, in das mir bekannte
Speisezimmer voraus zu gehen.
Als wir in demselben angelangt waren, sah ich, dass in ausgezeichnet
schoenen weissen Linnen gedeckt sei, und zwar nur ein Gedecke, dass sich
eingemachte Fruechte, Wein, Wasser und Brot auf dem Tische befanden und
in einem Gefaesse verkleinertes Eis war, es in den Wein zu tun. Mein
Raenzlein und meinen Schwarzdornstock sah ich nicht mehr, mein Hut aber
lag noch auf seinem Platze.
Mein Begleiter tat aus einer der Taschen seines Kleides ein, wie ich
vermutete, silbernes Gloecklein hervor und laeutete. Sofort erschien
eine Magd und brachte ein gebratenes Huhn und schoenen rot
gesprenkelten Kopfsalat.
Mein Gastherr lud mich ein, mich zu setzen und zu essen.
Da es so freundlich geboten war, nahm ich es an. Obwohl ich wirklich
schon einmal gegessen hatte, so war das vor dem Mittag gewesen, und
ich war durch das Wandern wieder hungrig geworden. Ich genoss daher von
dem Aufgesetzten.
Mein Beherberger setzte sich zu mir, leistete mir Gesellschaft, ass und
trank aber nichts.
Da ich fertig war und die Essgeraete hingelegt hatte, bot er mir an,
wenn ich nicht zu muede sei, mich in den Garten zu fuehren.
Ich nahm es an.
Er laeutete wieder mit dem Gloecklein, um den Befehl zu geben, dass man
abraeume, und fuehrte mich nun nicht durch den Gang, durch welchen wir
herein gekommen waren, sondern durch einen mit gewoehnlichen Steinen
gepflasterten in den Garten. Er hatte jetzt ein kleines Haeubchen von
durchbrochener Arbeit auf seinen weissen Haaren, wie man sie gerne
Kindern aufsetzt, um ihre Locken gleichsam wie in einem Netze
einzufangen.
Als wir in das Freie kamen, sah ich, dass, waehrend ich ass, die Sonne
auf das Haus zu scheinen aufgehoert hatte, sie war von der Gewitterwand
ueberholt worden. Auf dem Garten sowie auf der Gegend lag der warme,
trockene Schatten, wie er bei solchen Gelegenheiten immer erscheint.
Aber die Gewitterwand hatte sich waehrend meines Aufenthaltes in dem
Hause wenig veraendert und gab nicht die Aussicht auf baldigen Ausbruch
des Regens.
Ein Umblick ueberzeugte mich sogleich, dass der Garten hinter dem Hause
sehr gross sei. Es war aber kein Garten, wie man sie gerne hinter
und neben den Landhaeusern der Staedter anlegt, nehmlich, dass man
unfruchtbare oder hoechstens Zierfruechte tragende Gebuesche und Baeume
pflegt und zwischen ihnen Rasen und Sandwege oder einige Blumenhuegel
oder Blumenkreise herrichtet, sondern es war ein Garten, der mich an
den meiner Eltern bei dem Vorstadthause erinnerte. Es war da eine
weitlaeufige Anlage von Obstbaeumen, die aber hinlaenglich Raum liessen,
dass fruchtbare oder auch nur zum Bluehen bestimmte Gestraeuche
dazwischen stehen konnten und dass Gemuese und Blumen vollstaendig zu
gedeihen vermochten. Die Blumen standen teils in eigenen Beeten, teils
liefen sie als Einfriedigung hin, teils befanden sie sich auf eigenen
Plaetzen, wo sie sich schoen darstellten. Mich empfingen von jeher
solche Gaerten mit dem Gefuehle der Haeuslichkeit und Nuetzlichkeit,
waehrend die anderen einerseits mit keiner Frucht auf das Haus denken
und andererseits wahrhaftig auch kein Wald sind. Was zur Rosenzeit
bluehen konnte, bluehte und duftete, und weil eben die schweren Wolken
am Himmel standen, so war aller Duft viel eindringender und staerker.
Dies deutete doch wieder auf ein Gewitter hin.
Nahe bei dem Hause befand sich ein Gewaechshaus. Es zeigte uns aber
gegen den Weg, auf dem wir gingen, nicht seine Laenge, sondern seine
Breite hin. Auch diese Breite, welche teilweise Gebuesche deckten, war
mit Rosen bekleidet und sah aus wie ein Rosenhaeuschen im Kleinen.
Wir gingen einen geraeumigen Gang, der mitten durch den Garten lief,
entlang. Er war Anfangs eben, zog sich aber dann sachte aufwaerts.
Auch im Garten waren die Rosen beinahe herrschend. Entweder stand hie
und da auf einem geeigneten Platze ein einzelnes Baeumchen oder es
waren Hecken nach gewissen Richtungen angelegt, oder es zeigten sich
Abteilungen, wo sie gute Verhaeltnisse zum Gedeihen finden und sich dem
Auge angenehm darstellen konnten. Eine Gruppe von sehr dunkeln, fast
violetten Rosen war mit einem eigenen zierlichen Gitter umgeben, um
sie auszuzeichnen oder zu schuetzen. Alle Blumen waren wie die vor
dem Hause besonders rein und klar entwickelt, sogar die verbluehenden
erschienen in ihren Blaettern noch kraftvoll und gesund.
Ich machte in Einsicht des letzten Umstandes eine Bemerkung.
"Habt ihr denn nie eine jener alten Frauen gesehen", sagte mein
Begleiter, "die in ihrer Jugend sehr schoen gewesen waren und sich
lange kraeftig erhalten haben? Sie gleichen diesen Rosen. Wenn sie
selbst schon unzaehlige kleine Falten in ihrem Angesichte haben, so
ist doch noch zwischen den Falten die Anmut herrschend und eine sehr
schoene, liebe Farbe."
Ich antwortete, dass ich das noch nie beobachtet haette, und wir gingen
weiter.
Es waren ausser den Rosen noch andere Blumen im Garten. Ganze Beete von
Aurikeln standen an schattigen Orten. Sie waren wohl laengst verblueht,
aber ihre starken gruenen Blaetter zeigten, dass sie in guter Pflege
waren. Hie und da stand eine Lilie an einer einsamen Stelle, und voll
entwickelte Nelken prangten in Toepfen auf einem eigenen Schragen, an
dem Vorrichtungen angebracht waren, die Blumen vor Sonne zu bewahren.
Sie waren noch nicht aufgeblueht, aber die Knospen waren weit
vorgerueckt und liessen treffliche Blumen ahnen. Es mochten nur die
auserwaehlten auf dem Schragen stehen; denn ich sah die Schule dieser
Pflanzen, als wir etwas weiter kamen, in langen, weithingehenden
Beeten angelegt. Sonst waren die gewoehnlichen Gartenblumen da, teils
in Beeten, teils auf kleinen, abgesonderten Plaetzen, teils als
Einfassungen. Besonders schien sich auch die Levkoje einer Vorliebe
zu erfreuen, denn sie stand in grosser Anzahl und Schoenheit sowie in
vielen Arten da. Ihr Duft ging wohltuend durch die Luefte. Selbst in
Toepfen sah ich diese Blume gepflegt und an zutraegliche Orte gestellt.
Was an Zwiebelgewaechsen, Hyazinthen, Tulpen und dergleichen vorhanden
gewesen sein mochte, konnte ich nicht ermessen, da die Zeit dieser
Blumen laengst vorueber war.
Auch die Zeit der Bluetengestraeuche war vorueber, und sie standen nur
mit ihren gruenen Blaettern am Wege oder an ihren Stellen.
Die Gemuese nahmen die weiten und groesseren Raeume ein. Zwischen ihnen
und an ihren Seiten liefen Anpflanzungen von Erdbeeren. Sie schienen
besonders gehegt, waren haeufig aufgebunden und hatten Blechtaefelchen
zwischen sich, auf denen die Namen standen.
Die Obstbaeume waren durch den ganzen Garten verteilt, wir gingen an
vielen vorueber. Auch an ihnen, besonders aber an den zahlreichen
Zwergbaeumen, sah ich weisse Taefelchen mit Namen.
An manchen Baeumen erblickte ich kleine Kaestchen von Holz, bald an dem
Stamme, bald in den Zweigen. In unserem Oberlande gibt man den Staren
gerne solche Behaelter, damit sie Ihr Nest in dieselben bauen. Die hier
befindlichen Behaeltnisse waren aber anderer Art. Ich wollte fragen,
aber in der Folge des Gespraeches vergass ich wieder darauf.
Da wir in dem Garten so fortgingen, hoerte ich besonders aus seinem
bebuschten Teile wieder die Vogelstimmen, die ich in dem Wartezimmer
gehoert hatte, nur hier deutlicher und heller.
Auch ein anderer Umstand fiel mir auf, da wir schon einen grossen Teil
des Gartens durchwandert hatten; ich bemerkte nehmlich gar keinen
Raupenfrass. Waehrend meines Ganges durch das Land hatte ich ihn aber
doch gesehen, obwohl er mir, da er nicht ausserordentlich war und
keinen Obstmisswachs befuerchten liess, nicht besonders aufgefallen war.
Bei der Frische der Belaubung dieses Gartens fiel er mir wieder ein.
Ich sah das Laub deshalb naeher an und glaubte zu bemerken, dass es
auch vollkommener sei als anderwaerts, das gruene Blatt war groesser und
dunkler, es war immer ganz, und die gruenen Kirschen und die kleinen
Aepfelchen und Birnchen sahen recht gesund daraus hervor. Ich
betrachtete, durch diese Tatsache aufmerksam gemacht, nun auch den
Kohl genauer, der nicht weit von unserm Wege stand. An ihm zeigte
keine kahle Rippe, dass die Raupe des Weisslings genagt habe. Die
Blaetter waren ganz und schoen. Ich nahm mir vor, diese Beobachtung
gegen meinen Begleiter gelegentlich zur Sprache zu bringen.
Wir waren mittlerweile bis an das Ende der Pflanzungen gelangt, und
es begann Rasengrund, der steiler anstieg, Anfangs mit Baeumen besetzt
war, weiter oben aber kahl fortlief.
Wir stiegen auf ihm empor.
Da wir auf eine ziemliche Hoehe gelangt waren und Baeume die Aussicht
nicht mehr hinderten, blieb ich ein wenig stehen, um den Himmel zu
betrachten. Mein Begleiter hielt ebenfalls an. Das Gewitter stand
nicht mehr gegen Sonnenuntergang allein, sondern jetzt ueberall. Wir
hoerten auch entfernten Donner, der sich oefter wiederholte. Wir hoerten
ihn bald gegen Sonnenuntergang, bald gegen Mittag, bald an Orten, die
wir nicht angeben konnten. Mein Mann musste seiner Sache sehr sicher
sein; denn ich sah, dass in dem Garten Arbeiter sehr eifrig an den
mehreren Ziehbrunnen zogen, um das Wasser in die durch den Garten
laufenden Rinnen zu leiten und aus diesen in die Wasserbehaelter.
Ich sah auch bereits Arbeiter gehen, ihre Giesskannen in den
Wasserbehaeltern fuellen und ihren Inhalt auf die Pflanzenbeete
ausstreuen. Ich war sehr begierig auf den Verlauf der Dinge, sagte
aber gar nichts, und mein Begleiter schwieg auch.
Wir gingen nach kurzem Stillstande auf dem Rasengrunde wieder weiter
aufwaerts, und zuletzt ziemlich steil.
Endlich hatten wir die hoechste Stelle erreicht und mit ihr auch das
Ende des Gartens. Jenseits senkte sich der Boden wieder sanft abwaerts.
Auf diesem Platze stand ein sehr grosser Kirschbaum, der groesste Baum
des Gartens, vielleicht der groesste Obstbaum der Gegend. Um den Stamm
des Baumes lief eine Holzbank, die vier Tischchen nach den vier
Weltgegenden vor sich hatte, dass man hier ausruhen, die Gegend besehen
oder lesen und schreiben konnte. Man sah an dieser Stelle fast nach
allen Richtungen des Himmels. Ich erinnerte mich nun ganz genau, dass
ich diesen Baum wohl frueher bei meinen Wanderungen von der Strasse
oder von anderen Stellen aus gesehen hatte. Er war wie ein dunkler,
ausgezeichneter Punkt erschienen, der die hoechste Stelle der
Gegend kroente. Man musste an heiteren Tagen von hier aus die ganze
Gebirgskette im Sueden sehen, jetzt aber war nichts davon zu erblicken;
denn alles floss in eine einzige Gewittermasse zusammen. Gegen
Mitternacht erschien ein freundlicher Hoehenzug, hinter welchem nach
meiner Schaetzung das Staedtchen Landegg liegen musste.
Wir setzten uns ein wenig auf das Baenklein. Es schien, dass man an
diesem Plaetzchen niemals vorueber gehen konnte, ohne sich zu setzen und
eine kleine Umschau zu halten; denn das Gras war um den Baum herum
abgetreten, dass der kahle Boden hervorsah, wie wenn ein Weg um den
Baum ginge. Man musste sich daher gerne an diesem Platze versammeln.
Als wir kaum ein Weilchen ausgeruht hatten, sah ich eine Gestalt aus
den nicht sehr entfernten Bueschen und Baeumen hervortreten und gegen
uns empor gehen. Da sie etwas naeher gekommen war, erkannte ich, dass
es ein Gemische von Knabe und Juengling war. Zuweilen haette man meinen
koennen, der Ankommende sei ganz ein Juengling, und zuweilen, er sei
noch ganz ein Knabe. Er trug ein blau- und weissgestreiftes Leinenzeug
als Bekleidung, um den Hals hatte er nichts und auf dem Haupte auch
nichts als eine dichte Menge brauner Locken.
Da er herzugekommen war, sagte er: "Ich sehe, dass du mit einem fremden
Manne beschaeftigt bist, ich werde dich also nicht stoeren und wieder in
den Garten hinab gehen."
"Tue das", sagte mein Begleiter.
Der Knabe machte eine schnelle und leichte Verbeugung gegen mich,
wendete sich um und ging in derselben Richtung wieder zurueck, in der
er gekommen war.
Wie blieben noch sitzen.
Am Himmel aenderte sich indessen wenig. Dieselbe Wolkendecke stand da,
und wir hoerten denselben Donner. Nur da die Decke dunkler geworden zu
sein schien, so wurde jetzt zuweilen auch ein Blitz sichtbar.
Nach einer Zeit sagte mein Begleiter. "Eure Reise hat wohl nicht einen
Zweck, der durch den Aufenthalt von einigen Stunden oder von einem
Tage oder von einigen Tagen gestoert wuerde."
"Es ist so, wie ihr gesagt habt", antwortete ich, "mein Zweck ist,
soweit meine Kraefte reichen, wissenschaftliche Bestrebungen zu
verfolgen und nebenbei, was ich auch nicht fuer unwichtig halte, das
Leben in der freien Natur zu geniessen."
"Dieses Letzte ist in der Tat auch nicht unwichtig", versetzte mein
Nachbar, "und da ihr euren Reisezweck bezeichnet habt, so werdet ihr
gewiss einwilligen, wenn ich euch einlade, heute nicht mehr weiter zu
reisen, sondern die Nacht in meinem Hause zuzubringen. Wuenschet ihr
dann am morgigen Tage und an mehreren darauf folgenden noch bei mir zu
verweilen, so steht es nur bei euch, so zu tun."
"Ich wollte, wenn das Gewitter auch lange angedauert haette, doch
heute noch nach Rohrberg gehen", sagte ich. "Da ihr aber auf eine so
freundliche Weise gegen einen unbekannten Reisenden verfahrt, so sage
ich gerne zu, die heutige Nacht in eurem Hause zuzubringen und hin
euch dafuer dankbar. Was morgen sein wird, darueber kann ich noch nicht
entscheiden, weil das Morgen noch nicht da ist."
"So haben wir also fuer die kommende Nacht abgeschlossen, wie ich
gleich gedacht habe", sagte mein Begleiter, "ihr werdet wohl bemerkt
haben, dass euer Raenzlein und euer Wanderstock nicht mehr in dem
Speisezimmer waren, als ihr zum Essen dahin kamet."
"Ich habe es wirklich bemerkt", antwortete ich.
"Ich habe beides in euer Zimmer bringen lassen", sagte er, "weil
ich schon vermutete, dass ihr diese Nacht in unserm Hause zubringen
wuerdet."
Die Beherbergung
Nach einer Weile sagte mein Gastfreund: "Da ihr nun meine
Nachtherberge angenommen habt, so koennten wir von diesem Baume auch
ein wenig in das Freie gehen, dass ihr die Gegend besser kennen
lernet. Wenn das Gewitter zum Ausbruche kommen sollte, so kennen wir
wohl beide die Anzeichen genug, dass wir rechtzeitig umkehren, um
ungefaehrdet das Haus zu erreichen."
"So kann es geschehen", sagte ich, und wir standen von dem Baenkchen
auf.
Einige Schritte hinter dem Kirschbaume war der Garten durch eine
starke Planke von der Umgebung getrennt. Als wir zu dieser Planke
gekommen waren, zog mein Begleiter einen Schluessel aus der Tasche,
oeffnete ein Pfoertchen, wir traten hinaus und er schloss hinter uns das
Pfoertchen wieder zu.
Hinter dem Garten fingen Felder an, auf denen die verschiedensten
Getreide standen. Die Getreide, welche sonst wohl bei dem geringsten
Luftzuge zu wanken beginnen mochten, standen ganz stille und
pfeilrecht empor, das feine Haar der Aehren, ueber welches unsere Augen
streiften, war gleichsam in einem unbeweglichen goldgruenen Schimmer.
Zwischen dem Getreide lief ein Fusspfad durch. Derselbe war breit und
ziemlich ausgetreten. Er ging den Huegel entlang, nicht steigend und
nicht sinkend, so dass er immer auf dem hoechsten Teile der Anhoehe
blieb. Auf diesem Pfade gingen wir dahin.
Zu beiden Seiten des Weges stand gluehroter Mohn in dem Getreide, und
auch er regte die leichten Blaetter nicht.
Es war ueberall ein Zirpen der Grillen; aber dieses war gleichsam eine
andere Stille und erhoehte die Erwartung, die aller Orten war. Durch
die ueber den ganzen Himmel liegende Wolkendecke ging zuweilen ein
tiefes Donnern, und ein blasser Blitz lueftete zeitweilig ihr Dunkel.
Mein Begleiter ging ruhig neben mir und strich manchmal sachte mit der
Hand an den gruenen Aehren des Getreides hin. Er hatte sein Netz von den
weissen Haaren abgenommen, hatte es in die Tasche gesteckt und trug
sein Haupt unbedeckt in der milden Luft,
Unser Weg fuehrte uns zu einer Stelle, auf welcher kein Getreide stand.
Es war ein ziemlich grosser Platz, der nur mit sehr kurzem Grase
bedeckt war. Auf diesem Platze befand sich wieder eine hoelzerne Bank
und eine mittelgrosse Esche.
"Ich habe diesen Fleck freigelassen, wie ich ihn von meinen Vorfahren
ueberkommen hatte", sagte mein Begleiter, "obwohl er, wenn man ihn
urbar machte und den Baum ausgruebe, in einer Reihe von Jahren eine
nicht unbedeutende Menge von Getreide gaebe. Die Arbeiter halten hier
ihre Mittagsruhe und verzehren hier ihr Mittagsmahl, wenn es ihnen auf
das Feld nachgebracht wird. Ich habe die Bank machen lassen, weil ich
auch gerne da sitze, waere es auch nur, um den Schnittern zuzuschauen
und die Feierlichkeit der Feldarbeiten zu betrachten. Alte
Gewohnheiten haben etwas Beruhigendes, sei es auch nur das des
Bestehenden und immer Gesehenen. Hier duerfte es aber mehr sein,
weshalb die Stelle unbebaut blieb und der Baum auf derselben steht.
Der Schatten dieser Esche ist wohl ein sparsamer, aber da er der
einzige dieser Gegend ist, wird er gesucht, und die Leute, obwohl sie
roh sind, achten gewiss auch auf die Aussicht, die man hier geniesst.
Setzt euch nur zu mir nieder und betrachtet das Wenige, was uns heute
der verschleierte Himmel goennt."
Wir setzten uns auf die Bank unter der Esche, so dass wir gegen Mittag
schauten. Ich sah den Garten wie einen gruenen Schoss schraeg unter mir
liegen.
An seinem Ende sah ich die weisse mitternaechtliche Mauer des Hauses und
ueber der weissen Mauer das freundliche rote Dach. Von dem Gewaechshause
war nur das Dach und der Schornstein ersichtlich.
Weiter hin gegen Mittag war das Land und das Gebirge kaum zu erkennen
wegen des blauen Wolkenschattens und des blauen Wolkenduftes. Gegen
Morgen stand der weisse Turm von Rohrberg und gegen Abend war Getreide
an Getreide, zuerst auf unserm Huegel, dann jenseits desselben auf
dem naechsten Huegel und so fort, so weit die Huegel sichtbar waren.
Dazwischen zeigten sich weisse Meierhoefe und andere einzelne Haeuser
oder Gruppen von Haeusern. Nach der Sitte des Landes gingen Zeilen von
Obstbaeumen zwischen den Getreidefeldern dahin, und in der Naehe von
Haeusern oder Doerfern standen diese Baeume dichter, gleichsam wie in
Waeldchen, beisammen. Ich fragte meinen Nachbar teils nach den Haeusern,
teils nach dein Besitzern der Felder.
"Die Felder von dem Kirschbaume gegen Sonnenuntergang hin bis zu der
ersten Zeile von Obstbaeumen sind unser", sagte mein Begleiter. "Die
wir von dem Kirschbaum bis hieher durchwandert haben, gehoeren auch
uns. Sie gehen noch bis zu jenen langen Gebaeuden, die ihr da unten
seht, welche unsere Wirtschaftsgebaeude sind. Gegen Mitternacht
erstrecken sie sich, wenn ihr umsehen wollt, bis zu jenen Wiesen mit
den Erlenbueschen. Die Wiesen gehoeren auch uns und machen dort die
Grenze unserer Besitzungen. Im Mittag gehoeren die Felder uns bis zur
Einfriedigung von Weissdorn, wo ihr die Strasse verlassen habt. Ihr
koennt also sehen, dass ein nicht ganz geringer Teil dieses Huegels von
unserm Eigentume bedeckt ist. Wir sind von diesem Eigentume umringt
wie von einem Freunde, der nie wankt und nicht die Treue bricht."
Mir fiel bei diesen Worten auf, dass er vom Eigentume immer die
Ausdruecke uns und unser gebrauchte. Ich dachte, er werde etwa eine
Gattin oder auch Kinder einbeziehen. Mir fiel der Knabe ein, den ich
im Heraufgehen gesehen hatte, vielleicht ist dieser ein Sohn von ihm.
"Der Rest des Huegels ist an drei Meierhoefe verteilt", schloss er seine
Rede, "welche unsere naechsten Nachbarn sind. Von den Niederungen
an, die um den Huegel liegen, und jenseits welcher das Land wieder
aufsteigt, beginnen unsere entfernteren Nachbarn."
"Es ist ein gesegnetes, ein von Gott begluecktes Land", sagte ich.
"Ihr habt recht gesprochen", erwiderte er, "Land und Halm ist eine
Wohltat Gottes. Es ist unglaublich, und der Mensch bedenkt es kaum,
welch ein unermesslicher Wert in diesen Graesern ist. Lasst sie einmal
von unserem Erdteile verschwinden, und wir verschmachten bei allem
unserem sonstigen Reichtume vor Hunger. Wer weiss, ob die heissen Laender
nicht so duenn bevoelkert sind und das Wissen und die Kunst nicht so
tragen wie die kaelteren, weil sie kein Getreide haben. Wie viel selbst
dieser kleine Huegel gibt, wuerdet ihr kaum glauben. Ich habe mir einmal
die Muehe genommen, die Flaeche dieses Huegels, soweit sie Getreideland
ist, zu messen, um auf der Grundlage der Ertraegnisse unserer
Felder und der Ertraegnisfaehigkeit der Felder der Nachbarn, die ich
untersuchte, eine Wahrscheinlichkeitsrechnung zu machen, welche
Getreidemenge im Durchschnitte jedes Jahr auf diesem Huegel waechst.
Ihr wuerdet die Zahlen nicht glauben, und auch ich habe sie mir vorher
nicht so gross vorgestellt. Wenn es euch genehm ist, werde ich euch die
Arbeit in unserem Hause zeigen. Ich dachte mir damals, das Getreide
gehoere auch zu jenen unscheinbaren, nachhaltigen Dingen dieses Lebens
wie die Luft. Wir reden von dem Getreide und von der Luft nicht
weiter, weil von beiden so viel vorhanden ist und uns beide ueberall
umgeben. Die ruhige Verbrauchung und Erzeugung zieht eine unermessliche
Kette durch die Menschheit in den Jahrhunderten und Jahrtausenden.
Ueberall, wo Voelker mit bestimmten geschichtlichen Zeichnungen
auftreten und vernuenftige Staatseinrichtungen haben, finden wir
sie schon zugleich mit dem Getreide, und wo der Hirte in lockeren
Gesellschaftsbanden, aber vereint mit seiner Herde lebt, da sind es
zwar nicht die Getreide, die ihn naehren, aber doch ihre geringeren
Verwandten, die Graeser, die sein ebenfalls geringeres Dasein erhalten.
- Aber verzeiht, dass ich da so von Graesern und Getreiden rede, es ist
natuerlich, da ich da mitten unter ihnen wohne und auf ihren Segen erst
in meinem Alter mehr achten lernte."
"Ich habe nichts zu verzeihen", erwiderte ich; "denn ich teile eure
Ansicht ueber das Getreide vollkommen, wenn ich auch ein Kind der
grossen Stadt bin. Ich habe diese Gewaechse viel beachtet, habe darueber
gelesen, freilich mehr von dem Standpunkte der Pflanzenkunde, und
habe, seit ich einen grossen Teil des Jahres in der freien Natur
zubringe, ihre Wichtigkeit immer mehr und mehr einsehen gelernt."
"Ihr wuerdet es erst recht", sagte er, "wenn ihr Besitztuemer haettet
oder auf euren Besitztuemern euch mit der Pflege dieser Pflanzen
besonders abgaebet."
"Meine Eltern sind in der Stadt", antwortete ich, "mein Vater treibt
die Kaufmannschaft, und ausser einem Garten besitzt weder er noch ich
einen liegenden Grund."
"Das ist von grosser Bedeutung", erwiderte er, "den Wert dieser
Pflanzen kann keiner vollstaendig ermessen, als der sie pflegt."
Wir schwiegen nun eine Weile.
Ich sah an seinen Wirtschaftsgebaeuden Leute beschaeftigt. Einige gingen
an den Toren ab und zu, in haeuslichen Arbeiten begriffen, andere
maehten in einer nahen Wiese Gras und ein Teil war bedacht, das im
Laufe des Tages getrocknete Heu in hochbeladenen Waegen durch die Tore
einzufahren. Ich konnte wegen der grossen Entfernung das Einzelne der
Arbeiten nicht unterscheiden, so wie ich die eigentliche Bauart und
die naehere Einrichtung der Gebaeude nicht wahrnehmen konnte.
"Was ihr von den Haeusern und den Besitzern der Felder gesagt habt, dass
ich sie euch nennen soll", fuhr er nach einer Weile fort, "so hat dies
seine Schwierigkeit, besonders heute. Man kann zwar von diesem Platze
aus die groesste Zahl der Nachbarn erblicken; aber heute, wo der Himmel
umschleiert ist, sehen wir nicht nur das Gebirge nicht, sondern es
entgeht uns auch mancher weisse Punkt des untern Landes, der Wohnungen
bezeichnet, von denen ich sprechen moechte. Anderen Teils sind euch die
Leute unbekannt. Ihr solltet eigentlich in der Gegend herumgewandert
sein, in ihr gelebt haben, dass sie zu eurem Geiste spraeche und ihr die
Bewohner verstuendet. Vielleicht kommt ihr wieder und bleibt laenger bei
uns, vielleicht verlaengert ihr euren jetzigen Aufenthalt. Indessen
will ich euch im Allgemeinen etwas sagen und von Besonderem
hinzufuegen, was euch ansprechen duerfte. Ich besuche auch meiner
Nachbarn willen gerne diesen Platz; denn ausserdem, dass hier auf der
Hoehe selbst an den schoensten Tagen immer ein kuehler Luftzug geht,
ausserdem dass ich hier unter meinen Arbeitern bin, sehe ich von hier
aus alle, die mich umgeben, es faellt mir manches von ihnen ein,
und ich ermesse, wie ich ihnen nuetzen kann oder wie ueberhaupt das
Allgemeine gefoerdert werden moege. Sie sind im Ganzen ungebildete, aber
nicht ungelehrige Leute, wenn man sie nach ihrer Art nimmt und nicht
vorschnell in eine andere zwingen will. Sie sind dann meist auch
gutartig. Ich habe von ihnen manches fuer mein Inneres gewonnen und
ihnen manchen aeusseren Vorteil verschafft. Sie ahmen nach, wenn sie
etwas durch laengere Erfahrung billigen. Man muss nur nicht ermueden. Oft
haben sie mich zuerst verlacht und endlich dann doch nachgeahmt. In
Vielem verlachen sie mich noch, und ich ertrage es. Der Weg da durch
meine Felder ist ein kuerzerer, und da geht Mancher vorbei, wenn ich
auf der Bank sitze, er bleibt stehen, er redet mit mir, ich erteile
ihm Rat, und ich lerne aus seinen Worten. Meine Felder sind bereits
ertragfaehiger gemacht worden als die ihrigen, das sehen sie, und das
ist bei ihnen der haltbarste Grund zu mancher Betrachtung. Nur die
Wiese, welche sich hinter unserem Ruecken befindet, tiefer als die
Felder liegt und von einem kleinen Bache bewaessert wird, habe ich
nicht so verbessern koennen, wie ich wollte; sie ist noch durch die
Erlengestraeuche und durch die Erlenstoecke verunstaltet, die sich
am Saume des Baechleins befinden und selbst hie und da Sumpfstellen
veranlassen; aber ich kann die Sache im Wesentlichen nicht abaendern,
weil ich die Erlengestraeuche und Erlenstoecke zu anderen Dingen
notwendig brauche."
Um meine Frage nach dem Einzelnen seiner Nachbarn zu unterbrechen, die
er, wie ich jetzt einsah, nicht beantworten konnte, wenigstens nicht,
wie sie gestellt war, fragte ich ihn, ob denn zu seinem Anwesen nicht
auch Waldgrund gehoere.
"Allerdings", antwortete er, "aber derselbe liegt nicht so nahe, als
es der Bequemlichkeit wegen wuenschenswert waere; aber er liegt auch
entfernt genug, dass die Schoenheit und Anmut dieses Getreidehuegels
nicht gestoert wird. Wenn ihr auf dem Wege nach Rohrberg fortgegangen
waeret, statt zu unserem Hause heraufzusteigen, so wuerdet ihr nach
einer halben Stunde Wanderns zu eurer Rechten dicht an der Strasse die
Ecke eines Buchenwaldes gefunden haben, um welche die Strasse herum
geht. Diese Ecke erhebt sich rasch, erweitert sich nach rueckwaerts,
wohin man von der Strasse nicht sehen kann, und gehoert einem Walde an,
der weit in das Land hinein geht. Man kann von hier aus ein grosses
Stueck sehen. Dort links von dem Felde, auf welchem die junge Gerste
steht."
"Ich kenne den Wald recht gut", sagte ich, "er schlingt sich um eine
Hoehe und beruehrt die Strasse nur mit einem Stuecke; aber wenn man ihn
betritt, lernt man seine Groesse kennen. Es ist der Alizwald. Er hat
maechtige Buchen und Ahorne, die sich unter die Tannen mischen. Die
Aliz geht von ihm in die Agger. An der Aliz stehen beiderseits hohe
Felsen mit seltenen Kraeutern, und von ihnen geht gegen Mittag ein
Streifen Landes mit den allerstaerksten Buchen talwaerts."
"Ihr kennt den Wald", sagte er.
"Ja", erwiderte ich, "ich bin schon in ihm gewesen. Ich habe dort die
groesste Doppelbuche gezeichnet, die ich je gesehen, ich habe Pflanzen
und Steine gesammelt und die Felsenlagen betrachtet."
"Jener Waldstreifen, der mit den starken Buchen bestanden ist, und
noch mehreres Land jenes Waldes gehoert zu diesem Anwesen", sagte mein
Beherberger. "Es ist weiter von da gegen Mittag auch ein Bergbuehel
unser, auf dem stellenweise die Birke sehr verkrueppelt vorkommt,
welche zum Brennen wenig taugt, aber Holz zu feinen Arbeiten gibt."
"Ich kenne den Buehel auch", sagte ich, "dort geht der Granit zu Ende,
aus dem der ganze mitternaechtliche Teil unseres Landes besteht, und
es beginnt gegen Mittag zu nach und nach der Kalk, der endlich in den
hoechsten Gebirgen die Landesgrenze an der Mittagseite macht."
"Ja, der Buehel ist der suedlichste Granitblock", sagte mein Begleiter,
"er uebersetzt sogar die Waesser. Wir koennen hier trotz des Duftes
der Wolken hie und da die Grenze sehen, in der sich der Granit
abschneidet."
"Dort ist die Klamspitze", sagte er, "die noch Granit hat, rechts der
Gaisbuehl, dann die Asser, der Losen und zuletzt die Grumhaut, die noch
zu sehen ist."
Ich stimmte in allem bei.
Der Abend kam indessen immer naeher und naeher, und der Nachmittag war
bedeutend vorgerueckt.
Das Gewitter an dem Himmel war mir aber endlich besonders merkwuerdig
geworden.
Ich hatte den Ausbruch desselben, als ich den Huegel zu dem weissen
Hause empor stieg, um eine Unterkunft zu suchen, in kurzer Zeit
erwartet; und nun waren Stunden vergangen und es war noch immer
nicht ausgebrochen. Ueber den ganzen Himmel stand es unbeweglich. Die
Wolkendecke war an manchen Stellen fast finster geworden und Blitze
zuckten aus diesen Stellen bald hoeher, bald tiefer hervor. Der Donner
folgte in ruhigem, schwerem Rollen auf diese Blitze; aber in der
Wolkendecke zeigte sich kein Zusammensammeln zu einem einzigen
Gewitterballen, und es war kein Anschicken zu einem Regen.
Ich sagte endlich zu meinem Nachbar, indem ich auf die Maenner
zeigte, welche weiter unten in der Niederung, in welcher die
Wirtschaftsgebaeude lagen, Gras machten: "Diese scheinen auch auf kein
Gewitter und auf kein gewoehnliches Nachregnen fuer den morgigen Tag
zu rechnen, weil sie jetzt Gras maehen, das ihnen in der Nacht ein
tuechtiger Regen durchnaessen oder morgen eine kraeftige Sonne zu Heu
trocknen kann."
"Diese wissen gar nichts von dem Wetter", sagte mein Begleiter, "und
sie maehen das Gras nur, weil ich es so angeordnet habe."
Das waren die einzigen Worte, die er ueber das Wetter gesprochen hatte.
Ich veranlasste ihn auch nicht zu mehreren.
Wir gingen von diesem Feldersitze, auf dem wir nun schon eine Weile
gesessen waren, nicht mehr weiter von dem Hause weg, sondern, nachdem
wir uns erhoben hatten, schlug mein Begleiter wieder den Rueckweg ein.
Wir gingen auf demselben Wege zurueck, auf dem wir gekommen waren.
Die Donner erschallten nun sogar lauter und verkuendeten sich bald an
dieser Stelle des Himmels, bald an jener.
Als wir wieder in den Garten eingetreten waren, als mein Begleiter das
Pfoertchen hinter sich geschlossen hatte, und als wir von dem grossen
Kirschbaume bereits abwaerts gingen, sagte er zu mir: "Erlaubt, dass ich
nach dem Knaben rufe und ihm etwas befehle."
Ich stimmte sogleich zu, und er rief gegen eine Stelle des Gebuesches:
"Gustav!"
Der Knabe, den ich im Heraufgehen gesehen hatte, kam fast an der
nehmlichen Stelle des Gartens zum Vorscheine, an welcher er frueher
herausgetreten war. Da er jetzt laenger vor uns stehen blieb, konnte
ich ihn genauer betrachten. Sein Angesicht erschien mir sehr rosig
und schoen, und besonders einnehmend zeigten sich die grossen schwarzen
Augen unter den braunen Locken, die ich schon frueher beobachtet hatte.
"Gustav", sagte mein Begleiter, "wenn du noch an deinem Tische oder
sonst irgendwo in dem Garten bleiben willst, so erinnere dich an das,
was ich dir ueber Gewitter gesagt habe. Da die Wolken ueber den ganzen
Himmel stehen, so weiss man nicht, wann ueberhaupt ein Blitz auf die
Erde niederfaehrt und an welcher Stelle er sie treffen wird. Darum
verweile unter keinem hoeheren Baume. Sonst kannst du hier bleiben,
wie du willst. Dieser Herr bleibt heute bei uns, und du wirst zur
Abendspeisestunde in dem Speisezimmer eintreffen."
"Ja", sagte der Knabe, verneigte sich und ging wieder auf einem
Sandwege in die Gestraeuche des Gartens zurueck.
"Dieser Knabe ist mein Pflegesohn", sagte mein Begleiter, "er ist
gewohnt, zu dieser Tageszeit einen Spaziergang mit mir zu machen,
darum kam er, da wir bei dem Kirschbaume sassen, von seinem
Arbeitstische, den er im Garten hat, zu uns empor, um mich zu suchen;
allein da er sah, dass ein Fremder da sei, ging er wieder an seine
Stelle zurueck."
Mir, der ich mich an den einfachen, folgerichtigen Ausdruck gewoehnt
hatte, fiel es jetzt abermals auf, dass mein Begleiter, der, wenn er
von seinen Feldern redete, fast immer den Ausdruck unser gebraucht
hatte, nun, da er von seinem Pflegesohne sprach, den Ausdruck mein
waehlte, da er doch, wenn er etwa seine Gattin einbezog, jetzt auch das
Wort unser gebrauchen sollte.
Als wir von dem Rasengrunde hinab gekommen waren und den bepflanzten
Garten betreten hatten, gingen wir in ihm auf einem anderen Wege
zurueck als auf dem wir herauf gegangen waren.
Auf diesem Wege sah ich nun, dass der Besitzer des Gartens auch
Weinreben in demselben zog, obwohl das Land der Pflege dieses
Gewaechses nicht ganz guenstig ist. Es waren eigene dunkle Mauern
aufgefuehrt, an denen die Reben mittelst Holzgittern empor geleitet
wurden. Durch andere Mauern wurden die Winde abgehalten. Gegen Mittag
allein waren die Stellen offen. So sammelte er die Hitze und gewaehrte
Schutz. Auch Pfirsiche zog er auf dieselbe Weise, und aus den Blaettern
derselben schloss ich auf sehr edle Gattungen.
Wir gingen hier an grossen Linden vorueber, und in ihrer Naehe erblickte
ich ein Bienenhaus.
Von dem Gewaechshause sah ich auf dem Rueckwege wohl die Laengenseite,
konnte aber nichts Naeheres erkennen, weil mein Begleiter den Weg zu
ihm nicht einschlug. Ich wollte ihn auch nicht eigens darum ersuchen:
ich vermutete, dass er mich zu seiner Familie fuehren wuerde.
Da wir an dem Hause angekommen waren, geleitete er mich bei dem
gemeinschaftlichen Eingange desselben hinein, fuehrte mich ueber eine
gewoehnliche Sandsteintreppe in das erste Stockwerk und ging dort mit
mir einen Gang entlang, in dem viele Tueren waren. Eine derselben
oeffnete er mit einem Schluessel, den er schon in seiner Tasche in
Bereitschaft hatte, und sagte: "Das ist euer Zimmer, solange ihr in
diesem Hause bleibt. Ihr koennt jetzt in dasselbe eintreten oder es
verlassen, wie es euch gefaellt. Nur muesset ihr um acht Uhr wieder da
sein, zu welcher Stunde ihr zum Abendessen werdet geholt werden. Ich
muss euch nun allein lassen. In dem Wartezimmer habt ihr heute in
Humboldts Reisen gelesen, ich habe das Buch in dieses Zimmer legen
lassen. Wuenschet ihr fuer jetzt oder fuer den Abend noch irgend ein
Buch, so nennt es, dass ich sehe, ob es in meiner Buechersammlung
enthalten ist."
Ich lehnte das Anerbieten ab und sagte, dass ich mit dem Vorhandenen
schon zufrieden sei, und wenn ich mich ausser Humboldt mit noch andern
Buchstaben beschaeftigen wolle, so habe ich in meinem Raenzchen schon
Vorrat, um teils etwas mit Bleifeder zu schreiben, teils frueher
Geschriebenes durchzulesen und zu verbessern, welche Beschaeftigung ich
auf meinen Wanderungen haeufig Abends vornehme.
Er verabschiedete sich nach diesen Worten, und ich ging zur Tuer
hinein.
Ich uebersah mit einem Blicke das Zimmer. Es war ein gewoehnliches
Fremdenzimmer, wie man es in jedem groesseren Hause auf dem Lande hat,
wo man zuweilen in die Lage koemmt, Herberge erteilen zu muessen. Die
Geraete waren weder neu, noch nach der damals herrschenden Art gemacht,
sondern aus verschiedenen Zeiten, aber nicht unangenehm ins Auge
fallend. Die Ueberzuege der Sessel und des Ruhebettes waren gepresstes
Leder, was man damals schon selten mehr fand. Eine gesellige Zugabe,
die man nicht haeufig in solchen Zimmern findet, war eine altertuemliche
Pendeluhr in vollem Gange. Mein Raenzlein und mein Stock lagen, wie der
Mann gesagt hatte, schon in diesem Zimmer.
Ich setzte mich nieder, nahm nach einer Weile mein Raenzlein, oeffnete
es und blaetterte in den Papieren, die ich daraus hervor genommen
hatte, und schrieb gelegentlich in denselben.
Da endlich die Daemmerung gekommen war, stand ich auf, ging gegen eines
der beiden offenstehenden Fenster, lehnte mich hinaus und sah herum.
Es war wieder Getreide, das ich vor mir auf dem sachte hinabgehenden
Huegel erblickte. Am Morgen dieses Tages, da ich von meiner
Nachtherberge aufgebrochen war, hatte ich auch Getreide rings um mich
gesehen; aber dasselbe war in einem lustigen Wogen begriffen gewesen,
waehrend dieses reglos und unbewegt war wie ein Heer von lockeren
Lanzen. Vor dem Hause war der Sandplatz, den ich bei meiner Ankunft
schon gesehen und betreten hatte. Meine Fenster gingen also auf der
Seite der Rosenwand heraus. Von dem Garten toente noch schwaches
Vogelgezwitscher herueber, und der Duft von den Tausenden der Rosen
stieg wie eine Opfergabe zu mir empor.
An dem Himmel, dessen Daemmerung heute viel frueher gekommen war, hatte
sich eine Veraenderung eingefunden. Die Wolkendecke war geteilt, die
Wolken standen in einzelnen Stuecken gleichsam wie Berge an dem Gewoelbe
herum, und einzelne reine Teile blickten zwischen ihnen heraus. Die
Blitze aber waren staerker und haeufiger, die Donner klangen heller und
kuerzer.
Als ich eine Weile bei dem Fenster hinaus gesehen hatte, hoerte ich ein
Pochen an meiner Tuer, eine Magd trat herein und meldete, dass man mich
zum Abendessen erwarte. Ich legte meine Papiere auf das Tischchen, das
neben meinem Bette stand, legte den Humboldt darauf und folgte der
Magd, nachdem ich die Tuer hinter mir gesperrt hatte. Sie fuehrte mich
in das Speisezimmer.
Bei dem Eintritte sah ich drei Personen: den alten Mann, der mit mir
den Spaziergang gemacht hatte, einen andern, ebenfalls aeltlichen Mann,
der durch nichts besonders auffiel als durch seine Kleidung, welche
einen Priester verriet, und den Pflegesohn des Hausbesitzers in seinem
blaugestreiften Linnengewande.
Der Herr des Hauses stellte mich dem Priester vor, indem er sagte:
"Das ist der hochwuerdige Pfarrer von Rohrberg, der ein Gewitter
fuerchtet und deshalb diese Nacht in unserm Hause zubringen wird", und
dann auf mich weisend fuegte er bei: "Das ist ein fremder Reisender,
der auch heute unser Dach mit uns teilen wird."
Nach diesen Worten und nach einem kurzen stummen Gebete setzten wir
uns zu dem Tische an unsere angewiesenen Plaetze. Das Abendessen war
sehr einfach. Es bestand aus Suppe, Braten und Wein, zu welchem, wie
zu dem an meinem Mittagsmahle, verkleinertes Eis gestellt wurde.
Dieselbe Magd, welche mir mein Mittagessen gebracht hatte, bediente
uns. Ein maennlicher Diener kam nicht in das Zimmer. Der Pfarrer und
mein Gastfreund sprachen oefter Dinge, die die Gegend betrafen, und ich
ward gelegentlich einbezogen, wenn es sich um Allgemeineres handelte.
Der Knabe sprach gar nicht.
Die Dunkelheit des Abends wurde endlich so stark, dass die Kerzen,
welche frueher mit der Daemmerung gekaempft hatten, nun vollkommen die
Herrschaft behaupteten, und die schwarzen Fenster nur zeitweise durch
die hereinleuchtenden Blitze erhellt wurden.
Da das Essen beendet war und wir uns zur Trennung anschickten, sagte
der Hauswirt, dass er den Pfarrer und mich ueber die naehere Treppe in
unser Zimmer fuehren wuerde. Wir nahmen jeder eine Wachskerze, die
uns angezuendet von der Magd gereicht wurde, waehrend dessen sich der
Knabe Gustav empfahl und durch die gewoehnliche Tuer entfernte. Der
Hauseigentuemer fuehrte uns bei der Tuer hinaus, bei der ich zuerst
herein gekommen war. Wir befanden uns draussen in dem schoenen
Marmorgange, von dem eine gleiche Marmortreppe emporfuehrte. Wir
durften die Filzschuhe nicht anziehen, weil jetzt ueber den Gang und
die Treppe ein Tuchstreifen lag, auf dem wir gingen. In der Mitte der
Treppe, wo sie einen Absatz machte, gleichsam einen erweiterten Platz
oder eine Stiegenhalle, stand eine Gestalt aus weissem Marmor auf einem
Gestelle. Durch ein paar Blitze, die eben jetzt fielen und das Haupt
und die Schultern der Marmorgestalt noch roeter beschienen, als es
unsere Kerzen konnten, ersah ich, dass der Platz und die Treppe von
oben herab durch eine Glasbedeckung ihre Beleuchtung empfangen mussten.
Als wir an das Ende der Treppe gelangt waren, wendete sich der
Hauswirt mit uns durch eine Tuer links, und wir befanden uns in jenem
Gange, in welchem mein Zimmer lag. Es war der Gang der Gastzimmer, wie
ich nun zu erkennen vermeinte. Unser Gastfreund bezeichnete eines als
das des Pfarrers und fuehrte mich zu dem meinigen.
Als wir in dasselbe getreten waren, fragte er mich, ob ich zu meiner
Bequemlichkeit noch etwas wuensche, besonders, ob mir Buecher aus seinem
Buecherzimmer genehm waeren.
Als ich sagte, dass ich keinen Wunsch habe und bis zum Schlafen schon
Beschaeftigung finden wuerde, antwortete er: "Ihr seid in eurem Gemache
und in eurem Rechte. Schlummert denn recht wohl."
"Ich wuensche euch auch eine gute Nacht", erwiderte ich, "und sage euch
Dank fuer die Muehe, die ihr heute mit mir gehabt habet."
"Es war keine Muehe", antwortete er, "denn sonst haette ich sie mir ja
ersparen koennen, wenn ich euch gar nicht zu Nacht geladen haette."
"So ist es", antwortete ich.
"Erlaubt", sagte er, indem er ein kleines Wachskerzchen hervorzog und
an meinem Lichte anzuendete.
Nachdem er dieses Geschaeft vollbracht hatte, verbeugte er sich, was
ich erwiderte, und ging auf den Gang hinaus.
Ich schloss hinter ihm die Tuer, legte meinen Rock ab und lueftete mein
Halstuch, weil, obgleich es schon spaet war, die ruhige Nacht noch
immer eine grosse Hitze und Schwuele in sich hegte. Ich ging einige
Male in dem Zimmer hin und her, trat dann an ein Fenster, lehnte mich
hinaus und betrachtete den Himmel. So viel die Dunkelheit und die
noch immer hell leuchtenden Blitze erkennen liessen, war die Gestalt
der Dinge dieselbe, wie sie am Abend vor dem Speisen gewesen war.
Wolkentruemmer standen an dem Himmel und, wie die Sterne zeigten, waren
zwischen ihnen reine Stellen. Zu Zeiten fuhr ein Blitz aus ihnen ueber
den Getreidehuegel und die Wipfel der unbewegten Baeume, und der Donner
rollte ihm nach.
Als ich eine Weile die freie Luft genossen hatte, schloss ich mein
Fenster, schloss auch das andere und begab mich zur Ruhe.
Nachdem ich noch eine Zeit lang, wie es meine Gewohnheit war, in
dem Bette gelesen und mitunter sogar mit Bleifeder etwas in meine
Schriften geschrieben hatte, loeschte ich das Licht aus und richtete
mich zum Schlafen.
Ehe der Schlummer voellig meine Sinne umfing, hoerte ich noch, wie sich
draussen ein Wind erhob und die Wipfel der Baeume zu starkem Rauschen
bewegte. Ich hatte aber nicht mehr genug Kraft, mich zu ermannen,
sondern entschlief gleich darauf voellig.
Ich schlief recht ruhig und fest.
Als ich erwachte, war mein Erstes, zu sehen, ob es geregnet habe. Ich
sprang aus dem Bette und riss die Fenster auf. Die Sonne war bereits
aufgegangen, der ganze Himmel war heiter, kein Lueftchen ruehrte sich,
aus dem Garten toente das Schmettern der Voegel, die Rosen dufteten und
die Erde zu meinen Fuessen war vollkommen trocken. Nur der Sand war
ein wenig gegen das Gruen des begrenzenden Rasens gefegt worden, und
ein Mann war beschaeftigt, ihn wieder zu ebnen und in ein gehoeriges
Gleichgewicht zu bringen.
Also hatte mein Gegner Recht gehabt, und ich war begierig, zu
erfahren, aus welchen Gruenden er seine Gewissheit, die er so sicher
gegen mich behauptet hatte, geschoepft und wie er diese Gruende entdeckt
und erforscht habe.
Um das recht bald zu erfahren und meine Abreise nicht so lange zu
verzoegern, beschloss ich, mich anzukleiden und meinen Gastherrn
ungesaeumt aufzusuchen.
Als ich mit meinem Anzuge fertig, war und mich in das Speisezimmer
hinab begeben hatte, fand ich dort eine Magd mit den Vorbereitungen zu
dem Fruehmahle beschaeftigt und fragte nach dem Herrn.
"Er ist in dem Garten auf der Fuetterungstenne", sagte sie.
"Und wo ist die Fuetterungstenne, wie du es nennst?" sprach ich.
"Gleich hinter dem Hause und nicht weit von den Glashaeusern",
erwiderte sie.
Ich ging hinaus und schlug die Richtung gegen das Gewaechshaus ein.
Vor demselben fand ich meinen Gastfreund auf einem Sandplatze. Es war
derselbe Platz, von dem aus ich schon gestern das Gewaechshaus mit
seiner schmalen Seite und dem kleinen Schornsteine gesehen hatte.
Diese Seite war mit Rosen bekleidet, dass das Haus wie ein zweites,
kleines Rosenhaeuschen hervor sah. Mein Gastfreund war in einer
seltsamen Beschaeftigung begriffen. Eine Unzahl Voegel befand sich vor
ihm auf dem Sande. Er hatte eine Art von laenglichem geflochtenem
Korbdeckel in der Hand und streuete aus demselben Futter unter die
Voegel. Er schien sich daran zu ergoetzen, wie sie pickten, sich
ueberkletterten, ueberstuerzten und kollerten, wie die gesaettigten davon
flogen und wieder neue herbei schwirrten. Ich erkannte es nun endlich,
dass ausser den gewoehnlichen Gartenvoegeln auch solche da waren, die mir
sonst nur von tiefen und weit abgelegenen Waeldern bekannt waren. Sie
erschienen gar nicht so scheu, als ich mit allem Rechte vermuten
musste. Sie trauten ihm vollkommen. Er stand wieder barhaeuptig da, so
dass es mir schien, dass er diese Sitte liebe, da er auch gestern auf
dem Spaziergange seine so leichte Kopfbedeckung eingesteckt hatte.
Seine Gestalt war vorgebeugt und die schlichten, aber vollen weissen
Haare hingen an seinen Schlaefen herab. Sein Anzug war auch heute
wieder sonderbar. Er hatte wie gestern eine Art Jacke an, die fast bis
auf die Knie hinab reichte. Sie war weisslich, hatte jedoch ueber die
Brust und den Ruecken hinab einen roetlichbraunen Streifen, der fast
einen halben Fuss breit war, als waere die Jacke aus zwei Stoffen
verfertigt worden, einem weissen und einem roten. Beide Stoffe aber
zeigten ein hohes Alter; denn das Weiss war gelblichbraun und das
Rot zu Purpurbraun geworden. Unter der Jacke sah eine unscheinbare
Fussbekleidung hervor, die mit Schnallenschuhen endete.
Ich blieb hinter seinem Ruecken in ziemlicher Entfernung stehen, um ihn
nicht zu stoeren und die Voegel nicht zu verscheuchen.
Als er aber seinen Korb geleert hatte und seine Gaeste fortgeflogen
waren, trat ich naeher. Er hatte sich eben umgewendet, um
zurueckzugehen, und da er mich erblickte, sagte er: "Seid ihr schon
ausgegangen? Ich hoffe, dass ihr gut geschlafen habt."
"Ja, ich habe sehr gut geschlafen", erwiderte ich, "ich habe noch den
Wind gehoert, der sich gestern Abends erhoben hat, was weiter geschehen
ist, weiss ich nicht; aber das weiss ich, dass heute die Erde trocken ist
und dass ihr Recht gehabt habet."
"Ich glaube, dass nicht ein Tropfen auf diese Gegend vom Himmel
gefallen ist", antwortete er.
"Wie das Aussehen der Erde zeigt, glaube ich es auch", erwiderte ich;
"aber nun muesst ihr mir auch wenigstens zum Teile sagen: woher ihr
dies so gewiss wissen konntet und wie ihr euch diese Kenntnis erworben
habt; denn das muesst ihr zugestehen, dass sehr viele Zeichen gegen euch
waren."
"Ich will euch etwas sagen", antwortete er, "die Darlegung der Sache,
die ihr da verlangt, duerfte etwas lang werden, da ich sie euch, der
sich mit Wissenschaften beschaeftigt, doch nicht oberflaechlich geben
kann: verspreche mir, den heutigen Tag und die Nacht noch bei uns
zuzubringen, da kann ich euch nicht nur dieses sagen, sondern noch
vieles Andere, ihr koennt Verschiedenes anschauen, und ihr koennt mir
von eurer Wissenschaft erzaehlen."
Dieses offen und freundlich gemachte Anerbieten konnte ich nicht
ausschlagen, auch erlaubte mir meine Zeit recht gut, nicht nur einen,
sondern mehrere Tage zu einer Nebenbeschaeftigung zu verwenden. Ich
gebrauchte daher die gewoehnliche Redeweise von Nichtlaestigfallenwollen
und sagte unter dieser Bedingung zu.
"Nun so geht mit mir zuerst zu einem Fruehmahle, das ich mit euch
teilen will", sagte er, "der Herr Pfarrer von Rohrberg hat uns schon
vor Tagesanbruch verlassen, um zu rechter Zeit in seiner Kirche zu
sein, und Gustav ist bereits zu seiner Arbeit gegangen."
Mit diesen Worten wendeten wir uns auf den Rueckweg zu dem Hause. Als
wir dort angekommen waren, gab er das, was ich Anfangs fuer einen
Korbdeckel gehalten hatte, was aber ein eigens geflochtenes, sehr
flaches und laengliches Fuetterungskoerbchen war, einer Magd, dass sie es
auf seinen Platz lege, und wir gingen in das Speisezimmer.
Waehrend des Fruehmahles sagte ich: "Ihr habt selbst davon gesprochen,
dass ich hier Verschiedenes anschauen koenne, waere es denn zu
unbescheiden, wenn ich baete, von dem Hause und dessen Umgebung Manches
naeher besehen zu duerfen. Es ist eine der lieblichsten Lagen, in der
dieses Anwesen liegt, und ich habe bereits so Vieles davon gesehen,
was meine Aufmerksamkeit aufregte, dass der Wunsch natuerlich ist, noch
Mehreres besehen zu duerfen."
"Wenn es euch Vergnuegen macht, unser Haus und einiges Zubehoer zu
besehen", antwortete er, "so kann das gleich nach dem Fruehmahle
geschehen, es wird nicht viele Zeit in Anspruch nehmen, da das Gebaeude
nicht so gross ist. Es wird sich dann auch das, was wir noch zu reden
haben, natuerlicher und verstaendlicher ergeben."
"Ja freilich", sagte ich, "macht es mir Vergnuegen."
Wir schritten also nach dem Fruehmahle zu diesem Geschaefte.
Er fuehrte mich ueber die Treppe, auf welcher die weisse Marmorgestalt
stand, hinauf. Heute fiel statt des roten zerstreuten Lichtes der
Kerzen und der Blitze von der vergangenen Nacht das stille weisse
Tageslicht auf sie herab und machte die Schultern und das Haupt in
sanftem Glanze sich erhellen. Nicht nur die Treppe war in diesem
Stiegenhause von Marmor, sondern auch die Bekleidung der Seitenwaende.
Oben schloss gewoelbtes Glas, das mit feinem Drahte ueberspannt war, die
Raeume. Als wir die Treppe erstiegen hatten, oeffnete mein Gastfreund
eine Tuer, die der gegenueber war, die zu dem Gange der Gastzimmer
fuehrte. Die Tuer ging in einen grossen Saal. Auf der Schwelle, an der
der Tuchstreifen, welcher ueber die Treppe empor lag, endete, standen
wieder Filzschuhe. Da wir jeder ein Paar derselben angezogen hatten,
gingen wir in den Saal. Er war eine Sammlung von Marmor. Der Fussboden
war aus dem farbigsten Marmor zusammengestellt, der in unseren
Gebirgen zu finden ist. Die Tafeln griffen so ineinander, dass eine
Fuge kaum zu erblicken war, der Marmor war sehr fein geschliffen und
geglaettet, und die Farben waren so zusammengestellt, dass der Fussboden
wie ein liebliches Bild zu betrachten war. Ueberdies glaenzte und
schimmerte er noch in dem Lichte, das bei den Fenstern hereinstroemte.
Die Seitenwaende waren von einfachen, sanften Farben. Ihr Sockel war
mattgruen, die Haupttafeln hatten den lichtesten, fast weissen Marmor,
den unsere Gebirge liefern, die Flachsaeulen waren schwach rot und die
Simse, womit die Waende an die Decke stiessen, waren wieder aus schwach
Gruenlich und Weiss zusammengestellt, durch welche ein Gelb wie schoene
Goldleisten lief. Die Decke war blassgrau und nicht von Marmor, nur
in der Mitte derselben zeigte sich eine Zusammenstellung von roten
Amoniten, und aus derselben ging die Metallstange nieder, welche in
vier Armen die vier dunkeln, fast schwarzen Marmorlampen trug, die
bestimmt waren, in der Nacht diesen Raum beleuchten zu koennen. In dem
Saale war kein Bild, kein Stuhl, kein Geraete, nur in den drei Waenden
war jedesmal eine Tuer aus schoenem, dunklem Holze eingelegt, und in der
vierten Wand befanden sich die drei Fenster, durch welche der Saal bei
Tag beleuchtet wurde. Zwei davon standen offen, und zu dem Glanze des
Marmors war der Saal auch mit Rosenduft erfuellt.
Ich drueckte mein Wohlgefallen ueber die Einrichtung eines solchen
Zimmers aus; den alten Mann, der mich begleitete, schien dieses
Vergnuegen zu erfreuen, er sprach aber nicht weiter darueber.
Aus diesem Saale fuehrte er mich durch eine der Tueren in eine Stube,
deren Fenster in den Garten gingen.
"Das ist gewissermassen mein Arbeitszimmer", sagte er, "es hat ausser am
fruehen Morgen nicht viel Sonne, ist daher im Sommer angenehm, ich lese
gerne hier oder schreibe oder beschaeftige mich sonst mit Dingen, die
Anteil einfloessen."
Ich dachte mit Lebhaftigkeit, ich koennte sagen mit einer Art Sehnsucht
auf meinen Vater, da ich diese Stube betreten hatte. In ihr war nichts
mehr von Marmor, sie war wie unsere gewoehnlichen Stuben; aber sie war
mit altertuemlichen Geraeten eingerichtet, wie sie mein Vater hatte und
liebte. Allein die Geraete erschienen mir so schoen, dass ich glaubte,
nie etwas ihnen Aehnliches gesehen zu haben. Ich unterrichtete meinen
Gastfreund von der Eigenschaft meines Vaters und erzaehlte ihm in
Kurzem von den Dingen, welche derselbe besass. Auch bat ich, die Sachen
naeher betrachten zu duerfen, um meinem Vater nach meiner Zurueckkunft
von ihnen erzaehlen und sie ihm, wenn auch nur notduerftig, beschreiben
zu koennen. Mein Begleiter willigte sehr gerne in mein Begehren. Es war
vor allem ein Schreibschrein, welcher meine Aufmerksamkeit erregte,
weil er nicht nur das groesste, sondern wahrscheinlich auch das schoenste
Stueck des Zimmers war. Vier Delphine, welche sich mit dem Unterteil
ihrer Haeupter auf die Erde stuetzten und die Leiber in gewundener
Stellung emporstreckten, trugen den Koerper des Schreines auf diesen
gewundenen Leibern. Ich glaubte Anfangs, die Delphine seien aus Metall
gearbeitet, mein Begleiter sagte mir aber, dass sie aus Lindenholz
geschnitten und nach mittelalterlicher Art zu dem gelblich gruenlichen
Metalle hergerichtet waren, dessen Verfertigung man jetzt nicht mehr
zuwege bringt. Der Koerper des Schreines hatte eine allseitig gerundete
Arbeit mit sechs Faechern. Ueber ihm befand sich das Mittelstueck, das in
einer guten Schwingung flach zurueckging und die Klappe enthielt, die
geoeffnet zum Schreiben diente. Von dem Mittelstuecke erhob sich der
Aufsatz mit zwoelf geschwungenen Faechern und einer Mitteltuer. An den
Kanten des Aufsatzes und zu beiden Seiten der Mitteltuer befanden sich
als Saeulen vergoldete Gestalten. Die beiden groessten zu den Seiten der
Tuer waren starke Maenner, die die Hauptsimse trugen. Ein Schildchen,
das sich auf ihrer Brust oeffnete, legte die Schluesseloeffnungen dar.
Die zwei Gestalten an den vorderen Seitenkanten waren Meerfraeulein,
die in Uebereinstimmung mit den Tragfischen jedes in zwei Fischenden
ausliefen. Die zwei letzten Gestalten an den hintern Seitenkanten
waren Maedchen in faltigen Gewaendern. Alle Leiber der Fische sowohl als
der Saeulen erschienen mir sehr natuerlich gemacht. Die Faecher hatten
vergoldete Knoepfe, an denen sie herausgezogen werden konnten. Auf
der achteckigen Flaeche dieser Knoepfe waren Brustbilder geharnischter
Maenner oder geputzter Frauenzimmer eingegraben. Die Holzbelegung auf
dem ganzen Schrein war durchaus eingelegte Arbeit. Ahornlaubwerk
in dunkeln Nussholzfeldern, umgeben von geschlungenen Baendern und
geflammtem Erlenholze.
Die Baender waren wie geknitterte Seide, was daher kam, dass sie aus
kleinem, feingestreiftem, vielfarbigem Rosenholz senkrecht auf die
Achse eingelegt waren. Die eingelegte Arbeit befand sich nicht bloss,
wie es haeufig bei derlei Geraeten der Fall ist, auf der Daransicht,
sondern auch auf den Seitenteilen und den Friesen der Saeulen.
Mein Begleiter stand neben mir, als ich diesem Geraete meine
Aufmerksamkeit widmete, und zeigte mir Manches und erklaerte mir auf
meine Bitte Dinge, die ich nicht verstand.
Auch eine andere Beobachtung machte ich, da ich mich in diesem Zimmer
befand, die meine Geistestaetigkeit in Anspruch nahm. Es kam mir
nehmlich vor, dass der Anzug meines Begleiters nicht mehr so seltsam
sei, als er mir gestern und als er mir heute erschienen war, da
ich ihn auf dem Fuetterungsplatze gesehen hatte. Bei diesen Geraeten
erschien er mir eher als zustimmend und hieher gehoerig, und ich begann
die Vermutung zu hegen, dass ich vielleicht noch diesen Anzug billigen
werde und dass der alte Mann in dieser Hinsicht verstaendiger sein
duerfte als ich.
Ausser dem Schreibschreine erregten noch zwei Tische meine
Aufmerksamkeit, die an Groesse gleich waren und auch sonst gleiche
Gestalt hatten, sich aber nur darin unterschieden, dass jeder auf
seiner Platte eine andere Gestaltung trug. Sie hatten nehmlich jeder
ein Schild auf der Platte, wie es Ritter und adeliche Geschlechter
fuehrten, nur waren die Schilde nicht gleich. Aber auf beiden Tischen
waren sie umgeben und verschlungen mit Laubwerk, Blumen- und
Pflanzenwerk, und nie habe ich die leinen Faeden der Halme, der
Pflanzenbaerte und der Getreideaehren zarter gesehen als hier, und doch
waren sie von Holz in Holz eingelegt. Die uebrige Geraetschaft waren
hochlehnige Sessel mit Schnitzwerk, Flechtwerk und eingelegter Arbeit,
zwei geschnitzte Sitzbaenke, die man im Mittelalter Gesiedel geheissen
hatte, geschnitzte Fahnen mit Bildern und endlich zwei Schirme von
gespanntem und gepresstem Leder, auf welchem Blumen, Fruechte, Tiere,
Knaben und Engel aus gemaltem Silber angebracht waren, das wie
farbiges Gold aussah. Der Fussboden des Zimmers war gleich den Geraeten
aus Flaechen alter eingelegter Arbeit zusammengestellt. Wir hatten
wahrscheinlich wegen der Schoenheit dieses Bodens bei dem Eintritte in
diese Stube die Filzschuhe an unsern Fuessen behalten.
Obwohl der alte Mann gesagt hatte, dass dieses Zimmer sein
Arbeitszimmer sei, so waren doch keine unmittelbaren Spuren von Arbeit
sichtbar. Alles schien in den Laden verschlossen oder auf seinen Platz
gestellt zu sein.
Auch hier war mein Begleiter, als ich meine Freude ueber dieses Zimmer
aussprach, nicht sehr wortreich, genau so wie in dem Marmorsaale;
aber gleichwohl glaubte ich das Vergnuegen ihm von seinem Angesicht
herablesen zu koennen.
Das naechste Zimmer war wieder ein altertuemliches. Es ging gleichfalls
auf den Garten. Sein Fussboden war wie in dem vorigen eingelegte
Arbeit, aber auf ihm standen drei Kleiderschreine und das Zimmer war
ein Kleiderzimmer. Die Schreine waren gross, altertuemlich eingelegt und
jeder hatte zwei Fluegeltueren. Sie erschienen mir zwar minder schoen
als das Schreibgerueste im vorigen Zimmer, aber doch auch von grosser
Schoenheit, besonders der mittlere, groesste, der eine vergoldete
Bekroenung trug und auf seinen Hohltueren ein sehr schoenes Schild-,
Laub- und Baenderwerk zeigte. Ausser den Schreinen waren nur noch Stuehle
da und ein Gestelle, welches dazu bestimmt schien, gelegentlich
Kleider darauf zu haengen. Die inneren Seiten der Zimmertueren waren
ebenfalls zu den Geraeten stimmend und bestanden aus Simswerk und
eingelegter Arbeit.
Als wir dieses Zimmer verliessen, legten wir die Filzschuhe ab.
Das naechste Zimmer, gleichfalls auf den Garten gehend, war das
Schlafgemach. Es enthielt Geraete neuer Art, aber doch nicht ganz in
der Gestaltung, wie ich sie in der Stadt zu sehen gewohnt war. Man
schien hier vor Allem auf Zweckmaessigkeit gesehen zu haben. Das Bett
stand mitten im Zimmer und war mit dichten Vorhaengen umgeben. Es war
sehr nieder und hatte nur ein Tischchen neben sich, auf dem Buecher
lagen, ein Leuchter und eine Glocke standen und sich Geraete befanden,
Licht zu machen. Sonst waren die Geraete eines Schlafzimmers da,
besonders solche, die zum Aus- und Ankleiden und zum Waschen
behilflich waren. Die Innenseiten der Tueren waren hier wieder zu den
Geraeten stimmend.
An das Schlafgemach stiess ein Zimmer mit wissenschaftlichen
Vorrichtungen, namentlich zu Naturwissenschaften. Ich sah Werkzeuge
der Naturlehre aus der neuesten Zeit, deren Verfertiger ich entweder
persoenlich aus der Stadt kannte oder deren Namen, wenn die Geraete aus
andern Laendern stammten, mir dennoch bekannt waren. Es befanden sich
Werkzeuge zu den vorzueglichsten Teilen der Naturlehre hier.
Auch waren Sammlungen von Naturkoerpern vorhanden, vorzueglich aus dem
Mineralreiche. Zwischen den Geraeten und an den Waenden war Raum, mit
den vorhandenen Vorrichtungen Versuche anstellen zu koennen. Das Zimmer
war gleichfalls noch immer ein Gartenzimmer.
Endlich gelangten wir in das Eckzimmer des Hauses, dessen Fenster
teils auf den Hauptkoerper des Gartens gingen, teils nach Nordwesten
sahen. Ich konnte aber die Bestimmung dieses Zimmers nicht erraten, so
seltsam kam es mir vor. An den Waenden standen Schreine aus geglaettetem
Eichenholze mit sehr vielen kleinen Faechern. An diesen Faechern waren
Aufschriften, wie man sie in Spezereiverkaufsbuden oder Apotheken
findet. Einige dieser Aufschriften verstand ich, sie waren Namen von
Saemereien oder Pflanzennamen. Die meisten aber verstand ich nicht.
Sonst war weder ein Stuhl noch ein anderes Geraete in dem Zimmer. Vor
den Fenstern waren wagrechte Brettchen befestigt, wie man sie hat,
um Blumentoepfe darauf zu stellen; aber ich sah keine Blumentoepfe
auf ihnen, und bei naeherer Betrachtung zeigte sich auch, dass sie zu
schwach seien, um Blumentoepfe tragen zu koennen. Auch waeren gewiss
solche auf ihnen gestanden, wenn sie dazu bestimmt gewesen waeren, da
ich in allen Zimmern, mit Ausnahme des Marmorsaales, an jedem nur
einiger Massen geeigneten Platze Blumen aufgestellt gesehen hatte.
Ich fragte meinen Begleiter nicht um den Zweck des Zimmers, und er
aeusserte sich auch nicht darueber.
Wir gelangten nun wieder in die Gemaecher, die an der Mittagseite des
Hauses lagen und ueber den Sandplatz auf die Felder hinaus sahen.
Das erste nach dem Eckzimmer war ein Buecherzimmer. Es war gross und
geraeumig und stand voll von Buechern. Die Schreine derselben waren
nicht so hoch, wie man sie gewoehnlich in Buecherzimmern sieht, sondern
nur so, dass man noch mit Leichtigkeit um die hoechsten Buecher langen
konnte. Sie waren auch so flach, dass nur eine Reihe Buecher stehen
konnte, keine die andere deckte und alle vorhandenen Buecher ihre
Ruecken zeigten. Von Geraeten befand sich in dem Zimmer gar nichts als
in der Mitte desselben ein langer Tisch, um Buecher darauf legen zu
koennen. In seiner Lade waren die Verzeichnisse der Sammlung. Wir
gingen bei dieser allgemeinen Beschauung des Hauses nicht naeher auf
den Inhalt der vorhandenen Buecher ein.
Neben dem Buecherzimmer war ein Lesegemach. Es war klein und hatte nur
ein Fenster, das zum Unterschiede aller anderen Fenster des Hauses mit
gruenseidenen Vorhaengen versehen war, waehrend die anderen grauseidne
Rollzuege besassen. An den Waenden standen mehrere Arten von Sitzen,
Tischen und Pulten, so dass fuer die groesste Bequemlichkeit der Leser
gesorgt war. In der Mitte stand, wie im Buecherzimmer, ein grosser Tisch
oder Schrein - denn er hatte mehrere Laden -, der dazu diente, dass man
Tafeln, Mappen, Landkarten und dergleichen auf ihm ausbreiten konnte.
In den Laden lagen Kupferstiche. Was mir in diesem Zimmer auffiel,
war, dass man nirgends Buecher oder etwas, das an den Zweck des Lesens
erinnerte, herumliegen sah.
Nach dem Lesegemache kam wieder ein groesseres Zimmer, dessen Waende mit
Bildern bedeckt waren. Die Bilder hatten lauter Goldrahmen, waren
ausschliesslich Oelgemaelde und reichten nicht hoeher, als dass man sie
noch mit Bequemlichkeit betrachten konnte. Sonst hingen sie aber
so dicht, dass man zwischen ihnen kein Stueckchen Wand zu erblicken
vermochte. Von Geraeten waren nur mehrere Stuehle und eine Staffelei da,
um Bilder nach Gelegenheit aufstellen und besser betrachten zu koennen.
Diese Einrichtung erinnerte mich an das Bilderzimmer meines Vaters.
Das Bilderzimmer fuehrte durch die dritte Tuer des Marmorsaales wieder
in denselben zurueck, und so hatten wir die Runde in diesen Gemaechern
vollendet.
"Das ist nun meine Wohnung", sagte mein Begleiter, "sie ist nicht gross
und von ausserordentlicher Bedeutung, aber sie ist sehr angenehm. In
dem anderen Fluegel des Hauses sind die Gastzimmer, welche beinahe alle
dem gleichen, in welchem ihr heute Nacht geschlafen habt. Auch ist
Gustavs Wohnung dort, die wir aber nicht besuchen koennen, weil wir
ihn sonst in seinem Lernen stoeren wuerden. Durch den Saal und ueber die
Treppe koennen wir nun wieder in das Freie gelangen."
Als wir den Saal durchschritten hatten, als wir ueber die Treppe
hinabgegangen und zu dem Ausgange des Hauses gekommen waren, legten
wir die Filzschuhe ab, und mein Begleiter sagte: "Ihr werdet euch
wundern, dass in meinem Hause Teile sind, in welchen man sich die
Unbequemlichkeit auflegen muss, solche Schuhe anzuziehen; aber es kann
mit Fug nicht anders sein, denn die Fussboeden sind zu empfindlich,
als dass man mit gewoehnlichen Schuhen auf ihnen gehen koennte, und die
Abteilungen, welche solche Fussboeden haben, sind ja auch eigentlich
nicht zum Bewohnen, sondern nur zum Besehen bestimmt, und endlich
gewinnt sogar das Besehen an Wert, wenn man es mit Beschwerlichkeit
erkaufen muss. Ich habe in diesen Zimmern gewoehnlich weiche Schuhe mit
Wollsohlen an. In mein Arbeitszimmer kann ich auch ohne allen Umweg
gelangen, da ich in dasselbe nicht durch den Saal gehen muss, wie wir
jetzt getan haben, sondern da von dem Erdgeschosse ein Gang in das
Zimmer hinauffuehrt, den ihr nicht gesehen haben werdet, weil seine
beiden Enden mit guten Tapetentueren geschlossen sind. Der Pfarrer von
Rohrberg leidet an der Gicht und vertraegt heisse Fuesse nicht, daher
belege ich fuer ihn, wenn er anwesend ist, die Treppe oder die Zimmer
mit einem Streifen von Wollstoff, wie ihr es gestern gesehen habt."
Ich antwortete, dass die Vorrichtung sehr zweckmaessig sei und dass sie
ueberall angewendet werden muss, wo kunstreiche oder sonst wertvolle
Fussboeden zu schonen sind.
Da wir nun im Garten waren, sagte ich, indem ich mich umwendete und
das Haus betrachtete: "Eure Wohnung ist nicht, wie ihr sagt, von
geringer Bedeutung. Sie wird, so viel ich aus der kurzen Besichtigung
entnehmen konnte, wenige ihres Gleichen haben. Auch hatte ich nicht
gedacht, dass das Haus, wenn ich es so von der Strasse aus sah, eine so
grosse Raeumlichkeit in sich haette."
"So muss ich euch nun auch noch etwas anderes zeigen", erwiderte er,
"folgt mir ein wenig durch jenes Gebuesch."
Er ging nach diesen Worten voran, ich folgte ihm. Er schlug einen Weg
gegen dichtes Gebuesch ein. Als wir dort angekommen waren, ging er auf
einem schmalen Pfade durch dessen Verschlingung fort. Endlich kamen
sogar hohe Baeume, unter denen der Weg dahin lief. Nach einer Weile tat
sich ein anmutiger Rasenplatz vor uns auf, der wieder ein langes, aus
einem Erdgeschosse bestehendes Gebaeude trug. Es hatte viele Fenster,
die gegen uns hersahen. Ich hatte es frueher weder von der Strasse aus
erblickt noch von den Stellen des Gartens, auf denen ich gewesen war.
Vermutlich waren die Baeume daran Schuld, die es umstanden.
Da wir uns naeherten, ging ein feiner Rauch aus seinem Schornsteine
empor, obwohl, da es Sommer war, keine Einheizzeit, und da es noch so
frueh am Vormittage war, keine Kochzeit die Ursache davon sein konnte.
Als wir naeher kamen, hoerte ich in dem Hause ein Schnarren und
Schleifen, als ob in ihm gesaegt und gehobelt wuerde. Da wir eingetreten
waren, sah ich in der Tat eine Schreinerwerkstaette vor mir, in welcher
taetig gearbeitet wurde. An den Fenstern, durch welche reichliches
Licht hereinfiel, standen die Schreinertische und an den uebrigen
Waenden, welche fensterlos waren, lehnten Teile der in Arbeit
begriffenen Gegenstaende. Hier fand ich wieder eine Aehnlichkeit mit
meinem Vater. So wie er sich einen jungen Mann abgerichtet hatte, der
ihm seine altertuemlichen Geraete nach seiner Angabe wieder herstellte,
so sah ich hier gleich eine ganze Werkstaette dieser Art; denn ich
erkannte aus den Teilen, die herumstanden, dass hier vorzueglich an der
Wiederherstellung altertuemlicher Geraetschaften gearbeitet werde. Ob
auch Neues in dem Hause verfertigt werde, konnte ich bei dem ersten
Anblicke nicht erkennen.
Von den Arbeitern hatte jeder einen Raum an den Fenstern fuer sich, der
von dem Raume seines Nachbars durch gezogene Schranken abgesondert
war. Er hatte seine Geraete und seine eben notwendigen Arbeitsstuecke
in diesem Raume bei sich, das Andere, was er gerade nicht brauchte,
hatte er an der Hinterwand des Hauses hinter sich, so dass eine
uebersichtliche Ordnung und Einheit bestand. Es waren vier Arbeiter. In
einem grossen Schreine, der einen Teil der einen Seitenwand einnahm,
befanden sich vorraetige Werkzeuge, welche fuer den Fall dienten, dass
irgend eines unversehens untauglich wuerde und zu seiner Herstellung
zu viele Zeit in Anspruch naehme. In einem andern Schreine an der
entgegengesetzten Seitenwand waren Flaeschchen und Buechschen, in denen
sich die Fluessigkeiten und andere Gegenstaende befanden, die zur
Erzeugung von Firnissen, Polituren oder dazu dienten, dem Holze eine
bestimmte Farbe oder das Ansehen von Alter zu geben. Abgesondert von
der Werkstube war ein Herd, auf welchem das zu Schreinerarbeiten
unentbehrliche Feuer brannte. Seine Staette war feuerfest, um die
Werkstube und ihren Inhalt nicht zu gefaehrden.
"Hier werden Dinge", sagte mein Begleiter, "welche lange vor uns, ja
oft mehrere Jahrhunderte vor unserer Zeit verfertigt worden und in
Verfall geraten sind, wieder hergestellt, wenigstens soweit es die
Zeit und die Umstaende nur immer erlauben. Es wohnt in den alten
Geraeten beinahe wie in den alten Bildern ein Reiz des Vergangenen
und Abgebluehten, der bei dem Menschen, wenn er in die hoeheren Jahre
koemmt, immer staerker wird. Darum sucht er das zu erhalten, was der
Vergangenheit angehoert, wie er ja auch eine Vergangenheit hat,
die nicht mehr recht zu der frischen Gegenwart der rings um ihn
Aufwachsenden passt. Darum haben wir hier eine Anstalt fuer Geraete
des Altertums gegruendet, die wir dem Untergange entreissen,
zusammenstellen, reinigen, glaetten und wieder in die Wohnlichkeit
einzufuehren suchen."
Es wurde, da ich mich in dem Schreinerhause befand, eben an der
Platte eines Tisches gearbeitet, die, wie mein Begleiter sagte,
aus dem sechzehnten Jahrhunderte stammte. Sie war in Hoelzern von
verschiedener, aber natuerlicher Farbe eingelegt. Bloss wo gruenes Laub
vorkam, war es von gruengebeiztem Holze. Von aussen war eine Verbraemung
von in einander geschlungenen und schneckenartig gewundenen Rollen,
Laubzweigen und Obst. Die innere Flaeche, welche von der Verbraemung
durch ein Baenderwerk von rotem Rosenholze abgeschnitten war, trug
auf einem Grunde von braunlich weissem Ahorne eine Sammlung von
Musikgeraeten. Sie waren freilich nicht in dem Verhaeltnisse ihrer
Groessen eingelegt. Die Geige war viel kleiner als die Mandoline, die
Trommel und der Dudelsack waren gleich gross und unter beiden zog sich
die Floete wie ein Weberbaum dahin. Aber im Einzelnen erschienen mir
die Sachen als sehr schoen, und die Mandoline war so rein und lieblich,
wie ich solche Dinge nicht schoener auf den alten Gemaelden meines
Vaters gesehen hatte. Einer der Arbeiter schnitt Stuecke aus Ahorn,
Buchs, Sandelholz, Ebenholz, tuerkisch Hasel und Rosenholz zurecht,
damit sie in ihrer kleineren Gestalt gehoerig austrocknen konnten.
Ein anderer loeste schadhafte Teile aus der Platte und ebnete die
Grundstellen, um die neuen Bestandteile zweckmaessig einsetzen zu
koennen. Der dritte schnitt und hobelte die Fuesse aus einem Ahornbalken
und der vierte war beschaeftigt, nach einer in Farben ausgefuehrten
Abbildung der Tischplatte, die er vor sich hatte, und aus einer Menge
von Hoelzern, die neben ihm lagen, diejenigen zu bestimmen, die den
auf der Zeichnung befindlichen Farben am meisten entspraechen. Mein
Begleiter sagte mir, dass das Gerueste und die Fuesse des Tisches
verlorengegangen seien und neu gemacht werden mussten.
Ich fragte, wie man das einrichte, dass das Neue zu dem Vorhandenen
passe.
Er antwortete: "Wir haben eine Zeichnung gemacht, die ungefaehr
darstellte, wie die Fuesse und das Gerueste ausgesehen haben moegen."
Auf meine neue Frage, wie man denn das wissen koenne, antwortete
er: "Diese Dinge haben so gut wie bedeutendere Gegenstaende ihre
Geschichte, und aus dieser Geschichte kann man das Aussehen und den
Bau derselben zusammen setzen. Im Verlaufe der Jahre haben sich die
Gestaltungen der Geraete immer neu abgeloeset, und wenn man auf diese
Abfolge sein Augenmerk richtet, so kann man aus einem vorhandenen
Ganzen auf verlorengegangene Teile schliessen und aus aufgefundenen
Teilen auf das Ganze gelangen. Wir haben mehrere Zeichnungen
entworfen, in deren jede immer die Tischplatte einbezogen war, und
haben uns auf diese Weise immer mehr der mutmasslichen Beschaffenheit
der Sache genaehert. Endlich sind wir bei einer Zeichnung geblieben,
die uns nicht zu widersprechend schien."
Auf meine Frage, ob er denn immer Arbeit fuer seine Anstalt habe,
antwortete er: "Sie ist nicht gleich so entstanden, wie ihr sie hier
sehet. Anfangs zeigte sich die Lust an alten und vorelterlichen
Dingen, und wie die Lust wuchs, sammelten sich nach und nach schon die
Gegenstaende an, die ihrer Wiederherstellung entgegen sahen. Zuerst
wurde die Ausbesserung bald auf diesem, bald auf jenem Wege versucht
und eingeleitet. Viele Irrwege sind betreten worden. Indessen wuchs
die Zahl der gesammelten Gegenstaende immer mehr und deutete schon
auf die kuenftige Anstalt hin. Als man in Erfahrung brachte, dass ich
altertuemliche Gegenstaende kaufe, brachte man mir solche oder zeigte
mir die Orte an, wo sie zu finden waeren. Auch vereinigten sich mit uns
hie und da Maenner, welche auf die Dinge des Altertums ihr Augenmerk
richteten, uns darueber schrieben und wohl auch Zeichnungen einsandten.
So erweiterte sich unser Kreis immer mehr.
Ungehoerige Ausbesserungen aus frueheren Zeiten gaben ebenfalls Stoff
zu erneuerter Arbeit, und da wir anfangs auch an verschiedenen Orten
arbeiten liessen und haeufig genoetigt waren, die Orte zu wechseln, ehe
wir uns hier niederliessen, so verschleppte sich manche Zeit und die
Arbeitsgegenstaende mehrten sich. Endlich gerieten wir auch auf den
Gedanken, neue Gegenstaende zu verfertigen. Wir gerieten auf ihn durch
die alten Dinge, die wir immer in den Haenden hatten. Diese neuen
Gegenstaende wurden aber nicht in der Gestalt gemacht, wie sie jetzt
gebraeuchlich sind, sondern wie wir sie fuer schoen hielten. Wir lernten
an dem Alten; aber wir ahmten es nicht nach, wie es noch zuweilen in
der Baukunst geschieht, in der man in einem Stile, zum Beispiele in
dem sogenannten gothischen, ganze Bauwerke nachbildet. Wir suchten
selbststaendige Gegenstaende fuer die jetzige Zeit zu verfertigen mit
Spuren des Lernens an vergangnen Zeiten. Haben ja selbst unsere
Vorfahrer aus ihren Vorfahrern geschoepft, diese wieder aus den ihrigen
und so fort, bis man auf unbedeutende und kindische Anfaenge stoesst.
Ueberall aber sind die eigentlichen Lehrmeister die Werke der Natur
gewesen."
"Sind solche neugemachte Gegenstaende in eurem Hause vorhanden?" fragte
ich.
"Nichts von Bedeutung", antwortete er, "einige sind an verschiedenen
Punkten der Gegend zerstreut, einige sind in einem anderen Orte als
in diesem Hause gesammelt. Wenn ihr Lust zu solchen Dingen habt oder
sie in Zukunft fassen solltet und euer Weg euch wieder einmal hieher
fuehrt, so wird es nicht schwer sein, euch an den Ort zu geleiten, wo
ihr mehrere unserer besten Gegenstaende sehen koennt."
"Es sind der Wege sehr verschiedene", erwiderte ich, "die die Menschen
gehen, und wer weiss es, ob der Weg, der mich wegen eines Gewitters zu
euch heraufgefuehrt hat, nicht ein sehr guter Weg gewesen ist und ob
ich ihn nicht noch einmal gehe."
"Ihr habt da ein sehr wahres Wort gesprochen", antwortete er, "die
Wege der Menschen sind sehr verschiedene. Ihr werdet dieses Wort erst
recht einsehen, wenn ihr aelter seid."
"Und habt ihr dieses Haus eigens zu dem Zwecke der Schreinerei
erbaut?" fragte ich weiter.
"Ja", antwortete er, "wir haben es eigens zu diesem Zwecke erbaut. Es
ist aber viel spaeter entstanden als das Wohnhaus. Da wir einmal so
weit waren, die Sachen zu Hause machen zu lassen, so war der Schritt
ein ganz leichter, uns eine eigene Werkstaette hiefuer einzurichten.
Der Bau dieses Hauses war aber bei weitem nicht das Schwerste, viel
schwerer war es, die Menschen zu finden. Ich hatte mehrere Schreiner
und musste sie entlassen. Ich lernte nach und nach selber, und da trat
mir der Starrsinn, der Eigenwille und das Herkommen entgegen. Ich nahm
endlich solche Leute, die nicht Schreiner waren und sich erst hier
unterrichten sollten. Aber auch diese hatten wie die Fruehern eine
Suende, welche in arbeitenden Staenden und auch wohl in andern sehr
haeufig ist, die Suende der Erfolggenuegsamkeit oder der Fahrlaessigkeit,
die stets sagt: >es ist so auch recht<, und die jede weitere Vorsicht
fuer unnoetig erachtet. Es ist diese Suende in den unbedeutendsten und
wichtigsten Dingen des Lebens vorhanden, und sie ist mir in meinen
frueheren Jahren oft vorgekommen. Ich glaube, dass sie die groessten Uebel
gestiftet hat. Manche Leben sind durch sie verloren gegangen, sehr
viele andere, wenn sie auch nicht verloren waren, sind durch sie
ungluecklich oder unfruchtbar geworden. Werke, die sonst entstanden
waeren, hat sie vereitelt und die Kunst und was mit derselben
zusammenhaengt waere mit ihr gar nicht moeglich. Nur ganz gute Menschen
in einem Fache haben sie gar nicht, und aus denen werden die Kuenstler,
Dichter, Gelehrten, Staatsmaenner und die grossen Feldherren. Aber ich
komme von meiner Sache ab. In unserer Schreinerei machte sie bloss, dass
wir zu nichts Wesentlichem gelangten. Endlich fand ich einen Mann,
der nicht gleich aus der Arbeit ging, wenn ich ihn bekaempfte; aber
innerlich mochte er recht oft erzuernt gewesen sein und ueber Eigensinn
geklagt haben. Nach Bemuehungen von beiden Seiten gelang es. Die Werke
gewannen Einfluss, in denen das Genaue und Zweckmaessige angestrebt war,
und sie wurden zur Richtschnur genommen. Die Einsicht in die Schoenheit
der Gestalten wuchs und das Leichte und Feine wurde dem Schweren
und Groben vorgezogen. Er las Gehilfen aus und erzog sie in seinem
Sinne. Die Begabten fuegten sich bald. Es wurde die Chemie und andere
Naturwissenschaften hergenommen, und im Lesen schoener Buecher wurde das
Innere des Gemuetes zu bilden versucht."
Er ging nach diesen Worten gegen den Mann, der mit dem Aussuchen der
Hoelzer nach dem vor ihm liegen den Plane der Tischplatte beschaeftigt
war, und sagte: "Wollt ihr nicht die Guete haben, uns einige
Zeichnungen zu zeigen, Eustach?"
Der junge Mann, an den diese Worte gerichtet waren, erhob sich von
seiner Arbeit und zeigte uns ein ruhiges, gefaelliges Wesen. Er legte
die gruene Tuchschuerze ab, welche er vorgebunden hatte, und ging aus
seiner Arbeitsstelle zu uns herueber. Es befand sich neben dieser
Stelle in der Wand eine Glastuer, hinter welcher gruene Seide in Falten
gespannt war. Diese Tuer oeffnete er und fuehrte uns in ein freundliches
Zimmer. Das Zimmer hatte einen kuenstlich eingelegten Fussboden und
enthielt mehrere breite, glatte Tische. Aus der Lade eines dieser
Tische nahm der Mann eine grosse Mappe mit Zeichnungen, oeffnete sie
und tat sie auf der Tischplatte auseinander. Ich sah, dass diese
Zeichnungen fuer mich zum Ansehen heraus genommen worden waren und
legte daher die Blaetter langsam um. Es waren lauter Zeichnungen
von Bauwerken, und zwar teils im Ganzen, teils von Bestandteilen
derselben. Sie waren sowohl, wie man sich ausdrueckt, im Perspective
ausgefuehrt, als auch in Aufrissen, in Laengen- und Querschnitten. Da
ich mich selber geraume Zeit mit Zeichnen beschaeftigt hatte, wenn auch
mit Zeichnen anderer Gegenstaende, so war ich bei diesen Blaettern schon
mehr an meiner Stelle als bei den alten Geraeten. Ich hatte immer bei
dem Zeichnen von Pflanzen und Steinen nach grosser Genauigkeit gestrebt
und hatte mich bemueht, durch den Schwarzstift die Wesenheit derselben
so auszudruecken, dass man sie nach Art und Gattung erkennen sollte.
Freilich waren die vor mir liegenden Zeichnungen die von Bauwerken.
Ich hatte Bauwerke nie gezeichnet, ich hatte sie eigentlich nie recht
betrachtet. Aber andererseits waren die Linien, die hier vorkamen, die
von grossen Koerpern, von geschichteten Stoffen und von ausgedehnten
Flaechen, wie sie bei mir auch an den Felsen und Bergen erschienen;
oder sie waren die leichten Wendungen von Zieraten, wie sie bei mir
die Pflanzen boten.
Endlich waren ja alle Bauwerke aus Naturdingen entstanden, welche die
Vorbilder gaben, etwa aus Felsenkuppen oder Felsenzacken oder selbst
aus Tannen, Fichten oder anderen Baeumen. Ich betrachtete daher die
Zeichnungen recht genau und sah sie um ihre Treue und Sachgemaessheit
an. Als ich sie schon alle durchgeblaettert hatte, legte ich sie wieder
um und schaute noch einmal jedes einzelne Blatt an.
Die Zeichnungen waren saemmtlich mit dem Schwarzstifte ausgefuehrt. Es
war Licht und Schatten angegeben und die Linienfuehrung war verstaerkt
oder gemaessigt, um nicht bloss die Koerperlichkeit der Dinge, sondern
auch das sogenannte Luftperspective darzustellen. In einigen Blaettern
waren Wasserfarben angewendet, entweder, um bloss einzelne Stellen zu
bezeichnen, die eine besonders starke oder eigentuemliche Farbe hatten,
wie etwa, wo das Gruen der Pflanzen sich auffallend von dem Gemaeuer,
aus dem es sprosste, abhob oder wo der Stoff durch Einfluss von Sonne
oder Wasser eine ungewoehnliche Farbe erhalten hatte, wie zum Beispiele
an gewissen Steinen, die durch Wasser braeunlich, ja beinahe rot
werden; oder es waren Farben angewendet, um dem Ganzen einen Ton der
Wirklichkeit und Zusammenstimmung zu geben; oder endlich es waren
einzelne sehr kleine Stellen mit Farben, gleichsam mit Farbdruckern,
wie man sich ausdrueckt, bezeichnet, um Flaechen oder Koerper oder ganze
Abteilungen im Raume zurueck zu draengen. Immer aber waren die Farben
so untergeordnet gehalten, dass die Zeichnungen nicht in Gemaelde
uebergingen, sondern Zeichnungen blieben, die durch die Farbe nur noch
mehr gehoben wurden. Ich kannte diese Verfahrungsweise sehr gut und
hatte sie selber oft angewendet.
Was den Wert der Zeichnungen anbelangt, so erschien mir derselbe ein
ziemlich bedeutender. Die Hand, von der sie verfertigt worden waren,
hielt ich fuer eine geuebte, was ich daraus schloss, dass in den vielen
Zeichnungen kein Fortschritt zu bemerken war, sondern dass dieser schon
in der Zeit vor den Zeichnungen lag und hier angewendet wurde. Die
Linien waren rein und sicher gezogen, das sogenannte Linearperspective
war, so weit meine Augen urteilen konnten - denn eine mathematische
Pruefung konnte ich nicht anlegen -, richtig, der Stoff des
Schwarzstiftes war gut beherrscht, und mit seinen geringen Mitteln war
Haushaltung getroffen, darum standen die Koerper klar da und loesten
sich von der Umgebung. Wo die Farbe eine Art Wirklichkeit angenommen
hatte, war sie mit Gegenstaendlichkeit und Mass hingesetzt, was, wie ich
aus Erfahrung wusste, so schwer zu finden ist, dass die Dinge als Dinge,
nicht als Faerbungen gelten. Dies ist besonders bei Gegenstaenden der
Fall, die minder entschiedene Farben haben, wie Steine, Gemaeuer und
dergleichen, waehrend Dinge von deutlichen Farben leichter zu behandeln
sind, wie Blumen, Schmetterlinge, selbst manche Voegel.
Eine besondere Tatsache aber fiel mir bei Betrachtung dieser
Zeichnungen auf. Bei den Bauverzierungen, welche von Gegenstaenden
der Natur genommen waren, von Pflanzen oder selbst von Tieren, kamen
bedeutende Fehler vor, ja es kamen sogar Unmoeglichkeiten vor, die kaum
ein Anfaenger macht, sobald er nur die Pflanze gut betrachtet. Bei den
ganz gleichen Verzierungen an andern Bauwerken in andern Zeichnungen
waren diese Fehler nicht da, sondern die Verzierungen waren in
Hinsicht ihrer Urbilder in der Natur mit Richtigkeit angegeben.
Ich hatte, da ich einmal zeichnete, oefter die Bilder meines Vaters
betrachtet und in ihnen, selbst in solchen, die er fuer sehr gut hielt,
aehnliche Fehler gefunden. Da die Bilder meines Vaters aus alter Zeit
waren, diese Zeichnungen aber auch alte Bauwerke darstellten, so
schloss ich, dass sie vielleicht Abrisse von wirklichen Bauten seien
und dass die Fehler in den Zieraten der Zeichnungen Fehler in den
wirklichen Zieraten der Bauarten seien, und dass die Zieraten, deren
Zeichnungen fehlerlos waren, auch an den Bauwerken keinen Fehler
gehabt haben.
Es gewannen durch diesen Umstand die Zeichnungen in meinen Augen noch
mehr, da er gerade ihre grosse Treue bewies.
Auch ein eigentuemlicher Gedanke kam mir bei der Betrachtung dieser
Zeichnungen in das Haupt. Ich hatte nie so viele Zeichnungen von
Bauwerken beisammen gesehen, so wie ich Bauwerke selber nicht zum
Gegenstande meiner Aufmerksamkeit gemacht hatte. Da ich nun alle diese
Laubwerke, diese Ranken, diese Zacken, diese Schwingungen, diese
Schnecken in grosser Abfolge sah, erschienen sie mir gewissermassen
wie Naturdinge, etwa wie eine Pflanzenwelt mit ihren zugehoerigen
Tieren. Ich dachte, man koennte sie eben so zu einem Gegenstande der
Betrachtung und der Forschung machen wie die wirklichen Pflanzen
und andere Hervorbringungen der Erde, wenn sie hier auch nur eine
steinerne Welt sind. Ich hatte das nie recht beachtet, wenn ich auch
hin und wieder an einer Kirche oder an einem anderen Gebaeude einen
steinernen Stengel oder eine Rose oder eine Distelspitze oder einen
Saeulenschaft oder die Vergitterung einer Tuer ansah. Ich nahm mir vor,
diese Gegenstaende nun genauer zu beobachten.
"Diese Zeichnungen sind lauter Abbildungen von wirklichen Bauwerken,
die in unserem Lande vorhanden sind", sagte mein Begleiter. "Wir haben
sie nach und nach zusammen gebracht. Kein einziges Bauwerk unseres
Landes, welches entweder im Ganzen schoen ist oder an dem Teile
schoen sind, fehlt. Es ist nehmlich auch hier im Lande wie ueberall
vorgekommen, dass man zu den Teilen alter Kirchen oder anderer Werke,
die nicht fertig geworden sind, neue Zubaue in ganz anderer Art
gemacht hat, so dass Bauwerke entstanden, die in verschiedenen Stilen
ausgefuehrt und teils schoen und teils haesslich sind. Die Landkirchen,
die auf verschiedenen Stellen in unserer Zeit entstanden sind, haben
wir nicht angenommen."
"Wer hat denn diese Zeichnungen verfertigt?" fragte ich.
"Der Zeichner steht vor euch", antwortete mein Begleiter, indem er auf
den jungen Mann wies.
Ich sah den Mann an, und es zeigte sich ein leichtes Erroeten in seinem
Angesichte.
"Der Meister hat nach und nach die Teile des Landes besucht", fuhr
mein Gastfreund fort, "und hat die Baugegenstaende gezeichnet, die ihm
gefielen. Diese Zeichnungen hat er in seinem Buche nach Hause gebracht
und sie dann auf einzelnen Blaettern im Reinen ausgefuehrt. Ausser den
Zeichnungen von Bauwerken haben wir auch die von inneren Ausstattungen
derselben. Seid so gefaellig und zeigt auch diese Mappe, Eustach."
Der junge Mann legte die Mappe, die wir eben betrachtet hatten,
zusammen und tat sie in ihre Lade. Dann nahm er aus einer anderen Lade
eine andere Mappe und legte sie mir mit den Worten vor: "Hier sind die
kirchlichen Gegenstaende."
Ich sah die Zeichnungen in der Mappe, die er mir geoeffnet hatte, an,
wie ich frueher die der Bauwerke angesehen hatte. Es waren Zeichnungen
von Altaeren, Chorstuehlen, Kanzeln, Sakramentshaeuschen, Taufsteinen,
Chorbruestungen, Sesseln, einzelnen Gestalten, gemalten Fenstern
und anderen Gegenstaenden, die in Kirchen vorkommen. Sie waren wie
die Zeichnungen der Baugegenstaende entweder ganz in Schwarzstift
ausgefuehrt oder teils in Schwarzstift, teils in Farben. Hatte ich mich
schon frueher in diese Gegenstaende vertieft, so geschah es jetzt noch
mehr. Sie waren noch mannigfaltiger und fuer die Augen anlockender als
die Bauwerke. Ich betrachtete jedes Blatt einzeln, und manches nahm
ich noch einmal vor, nachdem ich es schon hingelegt hatte. Als ich
mit dieser Mappe fertig war, legte mir der Meister eine neue vor und
sagte: "Hier sind die weltlichen Gegenstaende."
Die Mappe enthielt Zeichnungen von sehr verschiedenen Geraeten, die in
Wohnungen, Burgen, Kloestern und dergleichen vorkommen, sie enthielt
Abbildungen von Vertaeflungen, von ganzen Zimmerdecken, Fenster- und
Tuereinfassungen, ja von eingelegten Fussboeden. Bei den weltlichen
Geraeten war viel mehr mit Farben gearbeitet als bei den kirchlichen
und bei den Bauten; denn die Wohngeraete haben sehr oft die Farbe als
einen wesentlichen Gegenstand ihrer Erscheinung, besonders wenn sie
in verschiedenfarbigen Hoelzern eingelegt sind. Ich fand in dieser
Sammlung von Zeichnungen Abbildungen von Gegenstaenden, die ich in der
Wohnung meines Gastfreundes gesehen hatte. So war der Schreibschrein
und der grosse Kleiderschrein vorhanden. Auch der Tisch, an dem noch in
der Schreinerstube gearbeitet wurde, stand hier schon fertig vor uns
auf dem Papiere. Ich bemerkte hiebei, dass nur die Platte klar und
kraeftig ausgefuehrt war, das Gerueste und die Fuesse minder, gleichsam
schattenhaft behandelt wurden. Ich erkannte, dass man so das Neue, was
zu Geraeten hinzukommen musste, bezeichnen wollte. Mir gefiel diese Art
sehr gut.
"Die Kirchengeraete unseres Landes duerften in dieser Sammlung ziemlich
vollstaendig sein", sagte mein Gastfreund, "wenigstens wird nichts
Wesentliches fehlen. Bei den weltlichen kann man das weniger sagen,
da man nicht wissen kann, was noch hie und da in dem Lande zerstreut
ist."
Als ich diese Mappe auch angesehen hatte, sagte mein Begleiter: "Diese
Zeichnungen sind Nachbildungen von lauter wirklichen aus aelterer Zeit
auf uns gekommenen Gegenstaenden, wir haben aber auch Zeichnungen
selbststaendig entworfen, die Geraete oder andere kleinere Gegenstaende
darstellen. Zeigt uns auch diese, Meister."
Der junge Mann legte die Mappe auf den Tisch.
Sie war viel umfassender als jede der frueheren und enthielt nicht bloss
die vollstaendige Darstellung der ganzen Gegenstaende, sondern auch ihre
Quer- und Laengenschnitte und ihre Grundrisse. Es waren Abbildungen von
verschiedenen Geraeten, dann von Verkleidungen, Fussboeden, Zimmerdecken,
Nischen und endlich sogar von Baugegenstaenden, Treppenhaeusern und
Seitenkapellen. Man war mit grosser Zweifelsucht und Gewissenhaftigkeit
zu Werke gegangen; manche Zeichnung war vier-, ja fuenfmal vorhanden
und jedes Mal veraendert und verbessert. Die letzten waren stets mit
Farben angegeben und dies besonders deutlich, wenn die Gegenstaende in
Holz oder Marmor auszufuehren waren. Ich fragte, ob einige dieser Dinge
ausgefuehrt worden sind.
"Freilich", antwortete mein Begleiter, "wozu waeren denn so viele
Zeichnungen angefertigt worden? Alle Gegenstaende, die ihr oefter
gezeichnet sahet und deren letzte Zeichnung in Farben angegeben ist,
sind in Wirklichkeit ausgearbeitet worden. Diese Zeichnungen sind die
Plaene und Vorlagen zu den neuen Geraeten, auf deren Verfertigung, wie
ich frueher sagte, wir geraten sind. Wenn ihr einmal in den Ort, von
dem ich euch gesagt habe, dass er mehrere enthaelt, kommen solltet, so
wuerdet ihr dort nicht nur viele von denen, die hier gezeichnet sind,
sehen, sondern auch solche, die zusammen gehoeren und ein Ganzes
bilden."
"Wenn man diese Zeichnungen betrachtet", sagte ich, "und wenn man die
anderen betrachtet, welche ich frueher gesehen habe, so koemmt man auf
den Gedanken, dass die Bauwerke einer Zeit und die Geraete, welche
in diesen Bauwerken sein sollten, eine Einheit bilden, die nicht
zerrissen werden kann."
"Allerdings bilden sie eine", erwiderte er, "die Geraete sind ja die
Verwandten der Baukunst, etwa ihre Enkel oder Urenkel, und sind aus
ihr hervorgegangen. Dieses ist so wahr, dass ja auch unsere heutigen
Geraete zu unserer heutigen Baukunst gehoeren. Unsere Zimmer sind
fast wie hohle Wuerfel oder wie Kisten, und in solchen stehen die
geradlinigen und geradflaechigen Geraete gut. Es ist daher nicht ohne
Begruendung, wenn die viel schoeneren altertuemlichen Geraete in unseren
Wohnungen manchen Leuten einen unheimlichen Eindruck machen, sie
widersprechen der Wohnung; aber hierin haben die Leute Unrecht, wenn
sie die Geraete nicht schoen finden, die Wohnung ist es, und diese
sollte geaendert werden. Darum stehen in Schloessern und altertuemlichen
Bauten derlei Geraete noch am schoensten, weil sie da eine ihnen
aehnliche Umgebung finden. Wir haben aus diesem Verhaeltnisse Nutzen
gezogen und aus unseren Zeichnungen der Bauwerke viel fuer die
Zusammenstellung unserer Geraete gelernt, die wir eben nach ihnen
eingerichtet haben."
"Wenn man so viele dieser Dinge in so vielen Abbildungen vor sich
sieht, wie wir jetzt getan haben", sagte ich, "so kann man nicht
umhin, einen grossen Eindruck zu empfinden, den sie machen."
"Es haben sehr tiefsinnige Menschen vor uns gelebt", erwiderte er,
"man hat es nicht immer erkannt und faengt erst jetzt an, es wieder ein
wenig einzusehen. Ich weiss nicht, ob ich es Ruehrung oder Schwermut
nennen soll, was ich empfinde, wenn ich daran denke, dass unsere
Voreltern ihre groessten und umfassendsten Werke nicht vollendet haben.
Sie mussten auf eine solche Ewigkeit des Schoenheitsgefuehles gerechnet
haben, dass sie ueberzeugt waren, die Nachwelt werde an dem weiter
bauen, was sie angefangen haben. Ihre unfertigen Kirchen stehen wie
Fremdlinge in unserer Zeit. Wir haben sie nicht mehr empfunden oder
haben sie durch haessliche Aftergebilde verunstaltet. Ich moechte
jung sein, wenn eine Zeit koemmt, in welcher in unserem Vaterlande
das Gefuehl fuer diese Anfaenge so gross wird, dass es die Mittel
zusammenbringt, diese Anfaenge weiter zu fuehren. Die Mittel sind
vorhanden, nur werden sie auf etwas anderes angewendet, so wie man
diese Bauwerke nicht aus Mangel der Mittel unvollendet liess, sondern
aus anderen Gruenden."
Ich sagte nach diesen Worten, dass ich in dem beruehrten Punkte weniger
unterrichtet sei; aber in einem anderen Punkte koennte ich vielleicht
etwas sagen, nehmlich in Hinsicht der Zeichnungen. "Ich habe durch
laengere Zeit her Pflanzen, Steine, Tiere und andere Dinge gezeichnet,
habe mich sehr geuebt und duerfte daher etwa ein Urteil wagen koennen.
Diese Zeichnungen erscheinen mir in Reinheit der Linien, in
Richtigkeit des Perspectives, in kluger Hinstellung jedes Koerperteiles
und in passender Anwendung der Farben als ganz vortrefflich, und ich
fuehle mich gedrungen, dieses zu sagen."
Der Meister sagte zu diesem Lobe nichts, sondern er senkte den Blick
zu Boden, meinen Gastfreund aber schien mein Urteil zu freuen.
Er bedeutete den Meister, die Mappe zusammen zu binden und in die Lade
zu legen, was auch geschah.
Wir gingen von diesem Zimmer in die weiteren Raeume des
Schreinerhauses. Als wir ueber die Schwelle schritten, dachte ich,
dass ich von altertuemlichen Gegenstaenden trotz der Sammlungen meines
Vaters, von denen ich doch lebenslaenglich umgeben gewesen war,
eigentlich bisher nicht viel verstanden habe und erst lernen muesse.
Von dem Zimmer der Zeichnungen gingen wir in das Wohnzimmer des
Meisters, welches neben den gewoehnlichen Geraetstuecken ebenfalls
Zeichnungstische und Staffeleien enthielt. Es war ebenso freundlich
eingerichtet wie das Zimmer der Zeichnungen.
Auch die Zimmer der Gehilfen besuchten wir und betraten dann die
Nebenraeume. Es waren dies Raeume, die zu verschiedenen Gegenstaenden,
die eine solche Anstalt fordert, notwendig sind. Der vorzueglichste war
das Trockenhaus, welches hinter der Schreinerei angebracht war, aus
der man in die untere und obere Abteilung desselben gelangen konnte.
Es hatte den Zweck, dass in ihm alle Gattungen von Holz, die man hier
verarbeitete, jenen Zustand der Trockenheit erreichen konnten, der
in Geraeten notwendig ist, dass nicht spaeter wieder Beschaedigungen
eintreten. In dem unteren Raume wurden die groesseren Holzkoerper
aufbewahrt, in dem oberen die kleineren und feineren. Ich konnte
sehen, wie sehr es Ernst mit der Anlegung dieses Werkhauses war;
denn ich fand in dem Trockenhause nicht nur einen sehr grossen
Vorrat von Holz, sondern auch fast alle Gattungen der inlaendischen
und auslaendischen Hoelzer. Ich hatte hierin von der Zeit meiner
naturwissenschaftlichen Bestrebungen her einige Kenntnis. Ausserdem
war das Holz beinahe durchgaengig schon in die vorlaeufigen Gestalten
geschnitten, in die es verarbeitet werden sollte, damit es auf diese
Weise zu hinreichender Beruhigung austrocknen konnte. Mein Begleiter
zeigte mir die verschiedenen Behaeltnisse und erklaerte mir im
Allgemeinen ihren Inhalt.
In dem unteren Raume sah ich Laerchenholz zu sehr grossen seltsamen
Gestalten verbunden, gleichsam zu schlanken Geruesten, Rahmen und
dergleichen, und fragte, da ich mir die Sache nicht erklaeren konnte,
um ihre Bedeutung.
"In unserem Lande", antwortete mein Begleiter, "sind mehrere
geschnitzte Altaere. Sie sind alle aus Lindenholz verfertigt und einige
von bedeutender Schoenheit. Sie stammen aus sehr frueher Zeit, etwa
zwischen dem dreizehnten und fuenfzehnten Jahrhundert, und sind
Fluegelaltaere, welche mit geoeffneten Fluegeln die Gestalt einer
Monstranze haben. Sie sind zum Teile schon sehr beschaedigt und drohen,
in kuerzerer oder laengerer Zeit zu Grunde zu gehen. Da haben wir nun
einen auf meine Kosten wiederhergestellt und arbeiten jetzt an einem
zweiten. Die Holzgerueste, um die ihr fragtet, sind Grundlagen, auf
denen Verzierungen befestigt werden muessen. Die Verzierungen sind noch
ziemlich erhalten, ihre Grundlagen aber sind sehr morsch geworden,
weshalb wir neue anfertigen muessen, wozu ihr hier die Entwuerfe sehet."
"Hat man euch denn erlaubt, in einer Kirche einen Altar
umzugestalten?" fragte ich.
"Man hat es uns erst nach vielen Schwierigkeiten erlaubt", antwortete
er, "wir haben aber die Schwierigkeiten besiegt. Besonders kam uns das
Misstrauen in unsere Kenntnisse und Faehigkeiten entgegen, und hierin
hatte man Recht. Wohin kaeme man denn, wenn man an vorhandenen Werken
vorschnell Veraenderungen anbringen liesse? Es koennten ja da Dinge von
der groessten Wichtigkeit verunstaltet oder zerstoert werden. Wir mussten
angeben, was wir veraendern oder hinzufuegen wollten und wie die Sache
nach der Umarbeitung aussehen wuerde. Erst da wir dargelegt hatten, dass
wir an den bestehenden Zusammenstellungen nichts aendern wuerden, dass
keine Verzierung an einen andern Platz komme, dass kein Standbild an
seinem Angesichte, seinen Haenden oder den Faltungen seines Gewandes
umgestaltet werde, sondern dass wir nur das Vorhandene in seiner
jetzigen Gestalt erhalten wollen, damit es nicht weiter zerfallen
koenne, dass wir den Stoff, wo er gelitten hat, mit Stoff erfuellen
wollen, damit die Ganzheit desselben vorhanden sei, dass wir an Zutaten
nur die kleinsten Dinge anbringen wuerden, deren Gestalt vollkommen
durch die gleichartigen Stuecke bekannt waere und in gleichmaessiger
Vollkommenheit wie die alten verfertigt werden koennte, ferner als wir
eine Zeichnung in Farben angefertigt hatten, die darstellte, wie der
gereinigte und wieder hergestellte Altar aussehen wuerde, und endlich
als wir Schnitzereien von geringem Umfange, einzelne Standbilder und
dergleichen in unserem Sinne wieder hergestellt und zur Anschauung
gebracht hatten, liess man uns gewaehren. Von Hindernissen, die nicht
von der Obrigkeit ausgingen, von Verdaechtigungen und aehnlichen
Vorkommnissen rede ich nicht, sie sind auch wenig zu meiner Kenntnis
gekommen."
"Da habt ihr ein langwieriges und, wie ich glaube, wichtiges Werk
unternommen", sagte ich.
"Die Arbeit hat mehrere Jahre gedauert", erwiderte er, "und was die
Wichtigkeit anbelangt, so hat sich wohl niemand mehr den Zweifeln
hingegeben, ob wir die noetige Sachkenntnis besaessen, als wir selber.
Darum haben wir auch gar keine Veraenderung in der Wesenheit der Sache
vorgenommen. Selbst dort, wo es deutlich erwiesen war, dass Teile des
Altars in der Zeit in eine andere Gruppe gestellt worden waren, als
sie urspruenglich gewesen sein konnten, liessen wir das Vorgefundene
bestehen. Wir befreiten nur die Gebilde von Schmutz und Uebertuenchung,
befestigten das Zerblaetterte und Lediggewordene, ergaenzten das
Mangelnde, wo, wie ich gesagt habe, dessen Gestalt vollkommen bekannt
war, fuellten alles, was durch Holzwuermer zerstoert war, mit Holz aus,
beugten durch ein erprobtes Mittel den kuenftigen Zerstoerungen dieser
Tiere vor und ueberzogen endlich den ganzen Altar, da er fertig war,
mit einem sehr matten Firnisse. Es wird einmal eine Zeit kommen, in
welcher vom Staate aus vollkommen sachverstaendige Maenner in ein Amt
werden vereinigt werden, das die Wiederherstellung alter Kunstwerke
einleiten, ihre Aufstellung in dem urspruenglichen Sinne bewirken
und ihre Verunstaltung fuer kommende Zeiten verhindern wird; denn so
gut man uns gewaehren liess, die ja auch eine Verunstaltung haetten
hervorbringen koennen, so gut wird man in Zukunft auch andere gewaehren
lassen, die minder zweifelsuechtig sind oder im Eifer fuer das Schoene
nach ihrer Art verfahren und das Wesen des Ueberkommenen zerstoeren."
"Und glaubt ihr, dass ein Gesetz, welches verbietet, an dem Wesen
eines vorgefundenen Kunstwerkes etwas zu aendern, dem Verfalle und der
Zerstoerung desselben fuer alle Zeiten vorbeugen wuerde?" fragte ich.
"Das glaube ich nicht", erwiderte er; "denn es koennen Zeiten so
geringen Kunstsinnes kommen, dass sie das Gesetz selber aufheben; aber
auf eine laengere Dauer und auf eine bessere Weise waere doch durch ein
solches Gesetz gesorgt, als wenn gar keines waere. Den besten Schutz
fuer Kunstwerke der Vorzeit wuerde freilich eine fortschreitende und
nicht mehr erlahmende Kunstempfindung gewaehren. Aber alle Mittel,
auch in ihrer groessten Vollkommenheit angewendet, wuerden den endlichen
Untergang eines Kunstwerkes nicht aufhalten koennen; dies liegt in der
immerwaehrenden Taetigkeit und in dem Umwandlungstriebe der Menschen und
in der Vergaenglichkeit des Stoffes. Alles, was ist, wie gross und gut
es sei, besteht eine Zeit, erfuellt einen Zweck und geht vorueber. Und
so wird auch einmal ueber alle Kunstwerke, die jetzt noch sind, ein
ewiger Schleier der Vergessenheit liegen, wie er jetzt ueber denen
liegt, die vor ihnen waren."
"Ihr arbeitet an der Herstellung eines zweiten Altares", sagte ich,
"da ihr einen schon vollendet habt; wuerdet ihr auch noch andere
herstellen, da ihr sagt, dass es mehrere in dem Lande gibt?"
"Wenn ich die Mittel dazu haette, wuerde ich es tun", erwiderte er, "ich
wuerde sogar, wenn ich reich genug waere, angefangene mittelalterliche
Bauwerke vollenden lassen. Da steht in Gruenau hart an der Grenze
unseres Landes an der Stadtpfarrkirche ein Turm, welcher der schoenste
unseres Landes ist und der hoechste waere, wenn er vollendet waere;
aber er ist nur ungefaehr bis zu zwei Drittteilen seiner Hoehe fertig
geworden. Dieser altdeutsche Turm waere das Erste, welches ich
vollenden liesse. Wenn ihr wieder kommt, so fuehre ich euch in eine
Kirche, in welcher auf Landeskosten ein geschnitzter Fluegelaltar
wieder hergestellt worden ist, der zu den bedeutendsten Kunstwerken
gehoert, welche in dieser Art vorhanden sind."
Wir traten bei diesen Worten den Rueckweg aus dem Trockenhause in die
Arbeitstube an. Mein Begleiter sagte auf diesem Wege: "Da Eustach
jetzt vorzugsweise damit beschaeftigt ist, die im Laufe befindlichen
Werke auszufertigen, so hat er seinen Bruder, der herangewachsen ist,
unterrichtet, und dieser versieht jetzt hauptsaechlich das Geschaeft des
Zeichnens. Er ist eben daran, die Verzierungen, die in unserem Lande
an Bauwerken, Holzarbeiten oder sonstwo vorkommen und die wir in
unseren Blaettern von groesseren Werken noch nicht haben, zu zeichnen.
Wir erwarten ihn in kurzer Zeit auf einige Tage zurueck. An diesen
Dingen koennte auch die Gegenwart lernen, falls sie lernen will. Nicht
bloss aus dem Grossen, wenn wir das Grosse betrachteten, was unsere
Voreltern gemacht haben und was die kunstsinnigsten vorchristlichen
Voelker gemacht haben, koennten wir lernen, wieder in edlen Gebaeuden
wohnen oder von edlen Geraeten umringt sein, wenigstens wie die
Griechen in schoenen Tempeln beten; sondern wir koennten uns auch im
Kleinen vervollkommnen, die Ueberzuege unserer Zimmer koennten schoener
sein, die gewoehnlichen Geraete, Kruege, Schalen, Lampen, Leuchter, Aexte
wuerden schoener werden, selbst die Zeichnungen auf den Stoffen zu
Kleidern und endlich auch der Schmuck der Frauen in schoenen Steinen;
er wuerde die leichten Bildungen der Vergangenheit annehmen, statt dass
jetzt oft eine Barbarei von Steinen in einer Barbarei von Gold liegt.
Ihr werdet mir Recht geben, wenn ihr an die vielen Zeichnungen
von Kreuzen, Rosen, Sternen denkt, die ihr in unseren Blaettern
mittelalterlicher Bauwerke gesehen habt."
Ich bewunderte den Mann, der, da er so redete, in einem sonderbaren,
ja abgeschmackten Kleide neben mir ging.
"Wenigstens Achtung vor Leuten, die vor uns gelebt haben, koennte
man aus solchen Bestrebungen lernen", fuhr er fort, "statt dass wir
jetzt gewohnt sind, immer von unseren Fortschritten gegenueber der
Unwissenheit unserer Voreltern reden zu hoeren. Das grosse Preisen von
Dingen erinnert zu oft an Armut von Erfahrungen."
Wir waren bei diesen Worten wieder in die Werkstube gekommen und
verabschiedeten uns von dem Meister. Ich reichte ihm die Hand, die
er annahm, und schuettelte die seinige herzlich. Da wir aus dem Hause
getreten waren und ich umschaute, sah ich durch das Fenster, wie er
eben seine gruene Schuerze herab nahm und wieder umband. Auch hoerten wir
das Hobeln und Saegen wieder, das bei unserem Besuche des Werkhauses
ein wenig verstummt war.
Wir betraten den Gebueschpfad und kamen wieder in die Naehe des
Wohnhauses.
"Ihr habt nun meine ganze Behausung gesehen", sagte mein Gastfreund.
"Ich habe ja Kueche und Keller und Gesindestuben nicht gesehen",
erwiderte ich.
"Ihr sollt sie sehen, wenn ihr wollt", sagte er.
Ich nahm mein mehr im Scherze gesprochenes Wort nicht zurueck, und wir
gingen wieder in das Haus.
Ich sah hier eine grosse gewoelbte Kueche, eine grosse Speisekammer, drei
Stuben fuer Dienstleute, eine fuer eine Art Hausaufseher, dann die
Waschstube, den Backofen, den Keller und die Obstkammer. Wie ich
vermutet hatte, war dies alles reinlich und zweckmaessig eingerichtet.
Ich sah Maegde beschaeftigt, und wir trafen auch den Hausaufseher in
seinem Tagewerke begriffen. Das flache feine Koerbchen, aus welchem
mein Beherberger die Voegel gefuettert hatte, lehnte in einer eigenen
Mauernische neben der Tuer, welche sein bestimmter Platz zu sein
schien.
Wir gingen von diesen Raeumen in das Gewaechshaus. Es enthielt sehr
viele Pflanzen, meistens solche, welche zur Zeit gebraeuchlich waren.
Auf den Gestellen standen Camellien mit gut gepflegten gruenen
Blaettern, Rhododendren, darunter, wie mir die Aufschrift sagte, gelbe,
die ich nie gesehen hatte, Azaleen in sehr mannigfaltigen Arten und
besonders viele neuhollaendische Gewaechse. Von Rosen war die Teerose
in hervorragender Anzahl da, und ihre Blumen bluehten eben. An das
Gewaechshaus stiess ein kleines Glashaus mit Ananas. Auf dem Sandwege
vor beiden Haeusern standen Citronen- und Orangenbaeume in Kuebeln. Der
alte Gaertner hatte noch weissere Haare als sein Herr. Er war ebenfalls
ungewoehnlich gekleidet, nur konnte ich bei ihm das Ungewoehnliche nicht
finden. Das fiel mir auf, dass er viel reines Weiss an sich hatte,
welches im Vereine mit seiner weissen Schuerze mich eher an einen Koch
als an einen Gaertner erinnerte.
Dass die schmale Seite des Gewaechshauses von Aussen mit Rosen bekleidet
sei, wie die Suedseite des Wohnhauses, fiel mir wieder auf, aber es
beruehrte mich nicht unangenehm.
Die alte Gattin des Gaertners, die wir in der Wohnung desselben fanden,
war ebenso weiss gekleidet wie ihr Mann. An die Gaertnerswohnung stiessen
die Kammern der Gehilfen.
"Jetzt habt jetzt alles gesehen", sagte mein Gastfreund, da wir aus
diesen Kammern traten, "ausser den Gastzimmern, die ich euch zeigen
werde, wenn ihr es verlangt, und der Wohnung meines Ziehsohnes, die
wir aber jetzt nicht betreten koennen, weil wir ihn in seinem Lernen
stoeren wuerden."
"Wir wollen das auf eine spaetere Stunde lassen, in der ich euch daran
erinnern werde", sagte ich, "jetzt habe ich aber ein anderes Anliegen
an eure Guete, das mir naeher am Herzen ist."
"Und dieses naehere Anliegen?" fragte er.
"Dass ihr mir endlich sagt", antwortete ich, "wie ihr zu einer so
entschiedenen Gewissheit in Hinsicht des Wetters gekommen seid."
"Der Wunsch ist ein sehr gerechter", entgegnete er, "und um so
gerechter, als eure Meinung ueber das Gewitter der Grund gewesen ist,
weshalb ihr zu unserem Hause herauf gegangen seid, und als unser
Streit ueber das Gewitter der Grund gewesen ist, dass ihr laenger da
geblieben seid. Gehen wir aber gegen das Bienenhaus, und setzen wir
uns auf eine Bank unter eine Linde. Ich werde euch auf dem Wege und
auf der Bank meine Sache erzaehlen."
Wir schlugen einen breiten Sandpfad ein, der Anfangs von groesseren
Obstbaeumen und spaeter von hohen, schattenden Linden begrenzt war.
Zwischen den Staemmen standen Ruhebaenke, auf dem Sande liefen pickende
Voegel und in den Zweigen wurde heute wieder das Singen vollbracht,
welches ich gestern schon wahrgenommen hatte.
"Ihr habt die Sammlung von Werkzeugen der Naturlehre in meiner Wohnung
gesehen", fing mein Begleiter an, als wir auf dem Sandwege dahin
gingen, "sie erklaeren schon einen Teil unserer Sache."
"Ich habe sie gesehen", antwortete ich, "besonders habe ich das
Barometer, Thermometer sowie einen Luftblau- und Feuchtigkeitsmesser
bemerkt; aber diese Dinge habe ich auch, und sie haben eher, da ich
sie vor meiner Wanderung beobachtete, auf einen Niederschlag als auf
sein Gegenteil gedeutet."
"Das Barometer ist gefallen", erwiderte er, "und wies auf geringeren
Luftdruck hin, mit welchem sehr oft der Eintritt von Regen verbunden
ist."
"Wohl", sagte ich.
"Der Zeiger des Feuchtigkeitsmessers", fuhr er fort, "rueckte mehr
gegen den Punkt der groessten Feuchtigkeit."
"Ja, so ist es gewesen", antwortete ich.
"Aber der Electricitaetsmesser", sagte er, "verkuendigte wenig
Luftelectricitaet, dass also eine Entladung derselben, womit in unseren
Gegenden gerne Regen verbunden ist, nicht erwartet werden konnte."
"Ich habe wohl auch die nehmliche Beobachtung gemacht", entgegnete
ich, "aber die electrische Spannung steht nicht so sehr im
Zusammenhange mit Wetterveraenderungen und ist meistens nur ihre Folge.
Zudem hat sich gestern gegen Abend Electricitaet genug entwickelt, und
alle Anzeichen, von denen ihr redet, verkuendeten einen Niederschlag."
"Ja, sie verkuendeten ihn und er ist erfolgt", sagte mein Begleiter;
"denn es bildeten sich aus den unsichtbaren Wasserduensten sichtbare
Wolken, die ja wohl sehr fein zerteiltes Wasser sind. Da ist der
Niederschlag. Auf die geringe electrische Spannung legte ich kein
Gewicht; ich wusste, dass, wenn einmal Wolken entstaenden, sich auch
hinlaengliche Electricitaet einstellen wuerde. Die Anzeichen, von denen
wir geredet haben, beziehen sich aber nur auf den kleinen Raum, in dem
man sich eben befindet, man muss auch einen weiteren betrachten, die
Blaeue der Luft und die Gestaltung der Wolken."
"Die Luft hatte schon gestern Vormittags die tiefe und finstere
Blaeue", erwiderte ich, "welche dem Regen vorangeht, und die
Wolkenbildung begann bereits am Mittage und schritt sehr rasch
vorwaerts."
"Bis hieher habt ihr Recht", sagte mein Begleiter, "und die Natur hat
euch auch Recht gegeben, indem sie eine ungewoehnliche Menge von Wolken
erzeugte. Aber es gibt auch noch andere Merkmale als die wir bisher
besprochen haben, welche euch entgangen sind.
Ihr werdet wissen, dass Anzeichen bestehen, welche nur einer gewissen
Gegend eigen sind und von den Eingeborenen verstanden werden, denen
sie von Geschlecht zu Geschlecht ueberliefert worden sind. Oft vermag
die Wissenschaft recht wohl den Grund der langen Erfahrung anzugeben.
Ihr wisst, dass in Gegenden ein kleines Woelklein, an einer bestimmten
Stelle des Himmels, der sonst rein ist, erscheinend und dort schweben
bleibend, ein sicherer Gewitteranzeiger fuer diese Gegend ist, dass ein
trueberer Ton an einer gewissen Stelle des Himmels, ein Windstoss aus
einer gewissen Gegend her Vorboten eines Landregens sind und dass der
Regen immer koemmt. Solche Anzeichen hat auch diese Gegend, und es sind
gestern keine eingetreten, die auf Regen wiesen."
"Merkmale, die nur dieser Gegend angehoeren", erwiderte ich, "konnte
ich nicht beobachten; aber ich glaube, dass diese Merkmale allein euch
doch nicht bestimmen konnten, einen so entscheidenden Ausspruch zu
tun, wie ihr getan habt."
"Sie bestimmten mich auch nicht", antwortete er, "ich hatte auch noch
andere Gruende."
"Nun?"
"Alle die Vorzeichen, von denen wir bisher geredet haben, sind sehr
grobe", sagte er, "und werden meistens von uns nur mittelst raeumlicher
Veraenderungen erkannt, die, wenn sie nicht eine gewisse Groesse
erreichen, von uns gar nicht mehr beobachtet werden koennen. Der
Schauplatz, auf welchem sich die Witterungsverhaeltnisse gestalten, ist
sehr gross; dort, wohin wir nicht sehen und woher die Wirkungen auf
unsere wissenschaftlichen Werkzeuge nicht reichen koennen, moegen
vielleicht Ursachen und Gegenanzeigen sein, die, wenn sie uns bekannt
waeren, unsere Vorhersage in ihr Gegenteil umstimmen wuerden. Die
Anzeichen koennen daher auch taeuschen. Es sind aber noch viel feinere
Vorrichtungen vorhanden, deren Beschaffenheit uns ein Geheimnis ist,
die von Ursachen, die wir sonst gar nicht mehr messen koennen, noch
betroffen werden und deren Wirkung eine ganz gewisse ist."
"Und diese Werkzeuge?"
"Sind die Nerven."
"Also empfindet ihr durch eure Nerven, wenn Regen kommen wird?"
"Durch meine Nerven empfinde ich das nicht", antwortete er. "Der
Mensch stoert leider durch zu starke Einwirkungen, die er auf die
Nerven macht, das feine Leben derselben, und sie sprechen zu ihm nicht
mehr so deutlich, als sie sonst wohl koennten. Auch hat ihm die Natur
etwas viel Hoeheres zum Ersatze gegeben, den Verstand und die Vernunft,
wodurch er sich zu helfen und sich seine Stellung zu geben vermag. Ich
meine die Nerven der Tiere."
"Es wird wohl wahr sein, was ihr sagt", antwortete ich. "Die Tiere
haengen mit der tiefer stehenden Natur noch viel unmittelbarer zusammen
als wir. Es wird nur darauf ankommen, dass diese Beziehungen ergruendet
werden und dafuer ein Ausdruck gefunden wird, besonders, was das
kommende Wetter betrifft."
"Ich habe diesen Zusammenhang nicht ergruendet", entgegnete er,
"noch weniger den Ausdruck dafuer gefunden; beides duerfte in dieser
Allgemeinheit wohl sehr schwer sein; aber ich habe zufaellig einige
Beobachtungen gemacht, habe sie dann absichtlich wiederholt und daraus
Erfahrungen gesammelt und Ergebnisse zusammen gestellt, die eine
Voraussage mit fast voelliger Gewissheit moeglich machen. Viele Tiere
sind von Regen und Sonnenschein so abhaengig, ja bei einigen handelt es
sich geradezu um das Leben selber, je nachdem Sonne oder Regen ist,
dass ihnen Gott notwendig hat Werkzeuge geben muessen, diese Dinge
vorhinein empfinden zu koennen. Diese Empfindung als Empfindung kann
aber der Mensch nicht erkennen, er kann sie nicht betrachten, weil
sie sich den Sinnen entzieht; allein die Tiere machen in Folge dieser
Vorempfindung Anstalten fuer ihre Zukunft, und diese Anstalten kann der
Mensch betrachten und daraus Schluesse ziehen. Es gibt einige, die ihre
Nahrung finden, wenn es feucht ist, andere verlieren sie in diesem
Falle. Manche muessen ihren Leib vor Regen bergen, manche ihre
Brut in Sicherheit bringen. Viele muessen ihre fuer den Augenblick
aufgeschlagene Wohnung verlassen oder eine andere Arbeit suchen.
Da nun die Vorempfindung gewiss sein muss, wenn die daraus folgende
Handlung zur Sicherung fuehren soll, da die Nerven schon beruehrt
werden, wenn noch alle menschlichen wissenschaftlichen Werkzeuge
schweigen, so kann eine Voraussage ueber das Wetter, die auf eine
genaue Betrachtung der Handlungen der Tiere gegruendet ist, mehr Anhalt
gewaehren als die aus allen wissenschaftlichen Werkzeugen zusammen
genommen."
"Ihr eroeffnet da eine neue Richtung."
"Die Menschen haben darin schon Vieles erfahren. Die besten
Wetterkenner sind die Insekten und ueberhaupt die kleinen Tiere. Sie
sind aber viel schwerer zu beobachten, da sie, wenn man dies tun will,
nicht leicht zu finden sind und da man ihre Handlungen auch nicht
immer leicht versteht. Aber von kleineren Tieren haengen oft groessere
ab, deren Speise jene sind, und die Handlungen kleinerer Tiere haben
Handlungen groesserer zur Folge, welche der Mensch leichter ueberblickt.
Freilich steht da ein Schluss in der Mitte, der die Gefahr zu irren
groesser macht, als sie bei der unmittelbaren Betrachtung und der
gleichsam redenden Tatsache ist. Warum, damit ich ein Beispiel
anfuehre, steigt der Laubfrosch tiefer, wenn Regen folgen soll, warum
fliegt die Schwalbe niedriger und springt der Fisch aus dem Wasser?
Die Gefahr, zu irren, wird wohl bei oftmaliger Wiederholung der
Beobachtung und bei sorglicher Vergleichung geringer; aber das
Sicherste bleiben immer die Herden der kleinen Tiere. Das habt ihr
gewiss schon gehoert, dass die Spinnen Wetterverkuendiger sind und dass die
Ameisen den Regen vorhersagen. Man muss das Leben dieser kleinen Dinge
betrachten, ihre haeuslichen Einrichtungen anschauen, oft zu ihnen
kommen, sehen, wie sie ihre Zeit hinbringen, erforschen, welche
Grenzen ihre Gebiete haben, welche die Bedingungen ihres Glueckes sind
und wie sie denselben nachkommen. Darum wissen Jaeger, Holzhauer und
Menschen, welche einsam sind und zur Betrachtung dieses abgesonderten
Lebens aufgefordert werden, das Meiste von diesen Dingen und wie aus
dem Benehmen von Tieren das Wetter vorherzusagen ist. Es gehoert aber
wie zu allem auch Liebe dazu."
"Hier ist der Sitz", unterbrach er sich, "von welchem ich frueher
gesprochen habe. Hier ist die schoenste Linde meines Gartens, ich habe
einen bessern Ruheplatz unter ihr anbringen lassen und gehe selten
vorueber, ohne mich eine Weile nieder zu setzen, um mich an dem Summen
in ihren Aesten zu ergoetzen. Wollen wir uns setzen?"
Ich willigte ein, wir setzten uns, das Summen war wirklich ueber unsern
Haeuptern zu hoeren, und ich fragte, "Habt ihr nun diese Beobachtungen
an den Tieren, wie ihr sagtet, gemacht?"
"Auf Beobachtungen bin ich eigentlich nicht ausgegangen", antwortete
er; "aber da ich lange in diesem Hause und in diesem Garten gelebt
habe, hat sich Manches zusammengefunden; aus dem Zusammengefundenen
haben sich Schluesse gebaut, und ich bin durch diese Schluesse umgekehrt
wieder zu Betrachtungen veranlasst worden. Viele Menschen, welche
gewohnt sind, sich und ihre Bestrebungen als den Mittelpunkt der Welt
zu betrachten, halten diese Dinge fuer klein; aber bei Gott ist es
nicht so; das ist nicht gross, an dem wir vielmal unsern Massstab
umlegen koennen, und das ist nicht klein, wofuer wir keinen Massstab
mehr haben. Das sehen wir daraus, weil er alles mit gleicher Sorgfalt
behandelt. Oft habe ich gedacht, dass die Erforschung des Menschen und
seines Treibens, ja sogar seiner Geschichte, nur ein anderer Zweig der
Naturwissenschaft sei, wenn er auch fuer uns Menschen wichtiger ist,
als er fuer Tiere waere. Ich habe zu einer Zeit Gelegenheit gehabt, in
diesem Zweige Manches zu erfahren und mir Einiges zu merken. Doch ich
will zu meinem Gegenstande zurueckkehren. Von dem, was die kleinen
Tiere tun, wenn Regen oder Sonnenschein kommen soll, oder wie ich
ueberhaupt aus ihren Handlungen Schluesse ziehe, kann ich jetzt nicht
reden, weil es zu umstaendlich sein wuerde, obwohl es merkwuerdig ist;
aber das kann ich sagen, dass nach meinen bisherigen Erfahrungen
gestern keines der Tierchen in meinem Garten ein Zeichen von Regen
gegeben hat.
Wir moegen von den Bienen anfangen, welche in diesen Zweigen summen,
und bis zu den Ameisen gelangen, die ihre Puppen an der Planke meines
Gartens in die Sonne legen, oder zu dem Springkaefer, der sich seine
Speise trocknet. Weil mich nun diese Tiere, wenn ich zu ihnen kam, nie
getaeuscht haben, so folgerte ich, dass die Wasserbildung, welche unsere
groeberen wissenschaftlichen Werkzeuge voraussagten, nicht ueber die
Entstehung von Wolken hinausgehen wuerde, da es sonst die Tiere gewusst
haetten. Was aber mit den Wolken geschehen wuerde, erkannte ich nicht
genau, ich schloss nur, dass durch die Abkuehlung, die ihr Schatten
erzeugen muesste, und durch die Luftstroemungen, denen sie selber ihr
Dasein verdankten, ein Wind entstehen koennte, der in der Nacht den
Himmel wieder rein fegen wuerde."
"Und so geschah es auch", sagte ich.
"Ich konnte es um so sicherer voraussehen", erwiderte er, "weil es
an unserem Himmel und in unserem Garten oft schon so gewesen ist wie
gestern und stets so geworden ist wie heute in der Nacht."
"Das ist ein weites Feld, von dem ihr da redet", sagte ich, "und da
steht der menschlichen Erkenntnis ein nicht unwichtiger Gegenstand
gegenueber. Er beweist wieder, dass jedes Wissen Auslaeufe hat, die man
oft nicht ahnt, und wie man die kleinsten Dinge nicht vernachlaessigen
soll, wenn man auch noch nicht weiss, wie sie mit den groesseren
zusammenhaengen. So kamen wohl auch die groessten Maenner zu den Werken,
die wir bewundern, und so kann mit Hereinbeziehung dessen, von dem ihr
redet, die Witterungskunde einer grossen Erweiterung faehig sein."
"Diesen Glauben hege ich auch", erwiderte er. "Euch Juengeren wird es
in den Naturwissenschaften ueberhaupt leichter, als es den Aelteren
geworden ist. Man schlaegt jetzt mehr die Wege des Beobachtens
und der Versuche ein, statt dass man frueher mehr den Vermutungen,
Lehrmeinungen, ja Einbildungen hingegeben war. Diese Wege wurden lange
nicht klar, obgleich sie Einzelne wohl zu allen Zeiten gegangen sind.
Je mehr Boden man auf die neue Weise gewinnt, desto mehr Stoff hat man
als Hilfe zu fernern Erringungen.
Man wendet sich jetzt auch mit Ernst der Pflege der einzelnen Zweige
zu, statt wie frueher immer auf das Allgemeine zu gehen; und es
wird daher auch eine Zeit kommen, in der man dem Gegenstande eine
Aufmerksamkeit schenken wird, von dem wir jetzt gesprochen haben. Wenn
die Fruchtbarkeit, wie sie durch Jahrzehnte in der Naturwissenschaft
gewesen ist, durch Jahrhunderte anhaelt, so koennen wir gar nicht ahnen,
wie weit es kommen wird. Nur das eine wissen wir jetzt, dass das noch
unbebaute Feld unendlich groesser ist als das bebaute."
"Ich habe gestern einige Arbeiter bemerkt", sagte ich, "welche, obwohl
der Himmel voll Wolken war, doch Wasser pumpten, ihre Giesskannen
fuellten und die Gewaechse begossen. Haben diese vielleicht auch
gewusst, dass kein Regen kommen werde, oder haben sie bloss eure Befehle
vollzogen, wie die Maeher, die an dem Meierhofe Gras abmaehten?"
"Das Letztere ist der Fall", erwiderte er. "Diese Arbeiter glauben
jedes Mal, dass ich mich irre, wenn der aeussere Anschein gegen mich ist,
wie oft sie auch durch den Erfolg belehrt worden sein moegen. Und so
werden sie gewiss auch gestern geglaubt haben, dass Regen komme. Sie
begossen die Gewaechse, weil ich es angeordnet habe und weil es bei
uns eingefuehrt ist, dass der, welcher wiederholt den Anordnungen nicht
nachkoemmt, des Dienstes entlassen wird. Es sind aber endlich auch noch
andere Dinge ausser den Tieren, welche das Wetter vorhersagen, nehmlich
die Pflanzen."
"Von den Pflanzen wusste ich es schon, und zwar besser, als von den
Tieren", erwiderte ich.
"In meinem Garten und in meinem Gewaechshause sind Pflanzen", sagte er,
"welche einen auffallenden Zusammenhang mit dem Luftkreise zeigen,
besonders gegen das Nahen der Sonne, wenn sie lange in Wolken gewesen
war. Aus dem Geruche der Blumen kann man dem kommenden Regen entgegen
sehen, ja sogar aus dem Grase riecht man ihn beinahe. Mir kommen diese
Dinge so zufaellig in den Garten und in das Haus; ihr aber werdet sie
weit besser und weit gruendlicher kennen lernen, wenn ihr die Wege der
neuen Wissenschaftlichkeit wandelt und die Hilfsmittel benuetzt, die es
jetzt gibt, besonders die Rechnung. Wenn ihr namentlich eine einzelne
Richtung einschlage, so werdet ihr in derselben ungewoehnlich grosse
Fortschritte machen."
"Woher schliesst ihr denn das?" fragte ich.
"Aus eurem Aussehen", erwiderte er, "und schon aus der sehr bestimmten
Aussage, die ihr gestern in Hinsicht des Wetters gemacht habt."
"Diese Aussage war aber falsch", antwortete ich, "und aus ihr haettet
ihr gerade das Gegenteil schliessen koennen."
"Nein, das nicht", sagte er, "eure Aeusserung zeigte, weil sie so
bestimmt war, dass ihr den Gegenstand genau beobachtet habt, und weil
sie so warm war, dass ihr ihn mit Liebe und mit Eifer umfasst; dass
eure Meinung dessohngeachtet irrig war, kam nur daher, weil ihr einen
Umstand, der auf sie Einfluss hatte, nicht kanntet und ihn auch nicht
leicht kennen konntet; sonst wuerdet ihr anders geurteilt haben."
"Ja, ihr redet wahr, ich wuerde anders geurteilt haben", antwortete
ich, "und ich werde nicht wieder so voreilig urteilen."
"Ihr habt gestern gesagt, dass ihr euch mit Naturdingen beschaeftiget",
fuhr er fort, "darf ich wohl fragen, ob ihr eine bestimmte Richtung
gewaehlt habt und welche."
Ich war durch die Frage ein wenig in Verwirrung gebracht und
antwortete: "Ich bin doch im Grunde nur ein gewoehnlicher Fussreisender.
Ich besitze gerade so viel Vermoegen, um unabhaengig leben zu koennen,
und gehe in der Welt herum, um sie anzusehen. Ich habe wohl vor Kurzem
alle Wissenschaften angefangen; aber davon bin ich zurueckgekommen und
habe mir nur hauptsaechlich die einzelne Wissenschaft der Erdbildung
zur Aufgabe gemacht. Um die Werke, welche ich hierin lese, zu
ergaenzen, suche ich auf den Reisen, die ich in verschiedene
Landesteile mache, zu beobachten, schreibe meine Erfahrungen auf und
verfertige Zeichnungen. Da die Werke vorzueglich von Gebirgen handeln,
so suche ich auch vorzueglich die Gebirge auf. Sie enthalten sonst auch
Vieles, das mir lieb ist."
"Diese Wissenschaft ist eine sehr weite", entgegnete mein Gastfreund,
"wenn sie in der Bedeutung der Erdgeschichte genommen wird. Sie
schliesst manche Wissenschaften ein und setzt manche voraus. Die Berge
sind wohl jetzt, wo diese Wissenschaft noch jung ist und wo man ihre
ersten und greifbarsten Zuege sammelt, von der groessten Bedeutung; aber
es wird auch die Ebene an die Reihe kommen, und ihre einfache und
schwerer zu entziffernde Frage wird gewiss nicht von geringerer
Wichtigkeit sein."
"Sie wird gewiss wichtig sein", antwortete ich. "Ich habe die Ebene und
ihre Sprache, die sie damals zu mir sprach, schon geliebt, ehe ich
meine jetzige Aufgabe betrieb und ehe ich die Gebirge kannte."
"Ich glaube", entgegnete mein Begleiter, "dass in der gegenwaertigen
Zeit der Standpunkt der Wissenschaft, von welcher wir sprechen, der
des Sammelns ist. Entfernte Zeiten werden aus dem Stoffe etwas bauen,
das wir noch nicht kennen. Das Sammeln geht der Wissenschaft immer
voraus; das ist nicht merkwuerdig; denn das Sammeln muss ja vor der
Wissenschaft sein; aber das ist merkwuerdig, dass der Drang des Sammelns
in die Geister koemmt, wenn eine Wissenschaft erscheinen soll, wenn sie
auch noch nicht wissen, was diese Wissenschaft enthalten wird. Es geht
gleichsam der Reiz der Ahnung in die Herzen, wozu etwas da sein koenne
und wozu es Gott bestellt haben moege. Aber selbst ohne diesen Reiz
hat das Sammeln etwas sehr Einnehmendes. Ich habe meine Marmore alle
selber in den Gebirgen gesammelt und habe ihren Bruch aus den Felsen,
ihr Absaegen, ihr Schleifen und ihre Einfuegungen geleitet. Die Arbeit
hat mir manche Freude gebracht, und ich glaube, dass mir nur darum
diese Steine so lieb sind, weil ich sie selber gesucht habe."
"Habt ihr alle Arten unsers Gebirges?" fragte ich.
"Ich habe nicht alle", antwortete er, "ich haette sie vielleicht
nach und nach erhalten koennen, wenn ich meine Besuche stetig haette
fortsetzen koennen. Aber seit ich alt werde, wird es mir immer
schwieriger. Wenn ich jetzt zu seltnen Zeiten einmal an den Rand des
Simmeises hinaufkomme, empfinde ich, dass es nicht mehr ist wie in der
Jugend, wo man keine Grenze kennt als das Ende des Tages oder die bare
Unmoeglichkeit. Weil ich nun nicht mehr so grosse Strecken durchreisen
kann, um etwa Marmor, der mir noch fehlt, in Bloecken aufzusuchen,
so wird die Ausbeute immer geringer; sie wird auch aus dem Grunde
geringer, weil ich bereits so viel habe und die Stellen also seltener
sind, wo ich ein noch Fehlendes finde. Da ich allen Marmor selber
gesammelt habe, so kann ich wohl auch kein Stueck an meinem Hause
anbringen, das mir von fremder Hand kaeme."
"Ihr habt also wahrscheinlich das Haus selber gebaut oder es sehr
umgestaltet?" fragte ich.
"Ich habe es selber gebaut", antwortete er. "Das Wohnhaus, welches zu
den umliegenden Gruenden gehoert, war frueher der Meierhof, an dem ihr
gestern, da wir auf dem Baenkchen der Felderrast sassen, Leute Gras
maehen gesehen habt. Ich habe ihn von dem frueheren Besitzer sammt allen
Laendereien, die dazu gehoeren, gekauft, habe das Haus auf dem Huegel
gebaut und habe den Meierhof zum Wirtschaftsgebaeude bestimmt."
"Aber den Garten koennt ihr doch unmoeglich neu angelegt haben?"
"Das ist eine eigene Entstehungsgeschichte", erwiderte er. "Ich muss
sagen: ich habe ihn neu angelegt, und ich muss sagen: ich habe ihn
nicht neu angelegt.
Ich habe mir mein Wohnhaus fuer den Rest meiner Tage auf einen Platz
gebaut, der mir entsprechend schien. Der Meierhof stand in dem Tale,
wie meistens die Gebaeude dieser Art, damit sie das fette Gras, das man
haeufig in den Wirtschaften braucht, um das Gehoefte herum haben; ich
wollte aber mit meiner Wohnung auf die Anhoehe. Da sie nun fertig war,
sollte der Garten, der an dem Meierhofe stand und nur mit vereinzelten
Baeumen oder mit Gruppen von ihnen zu mir langte, heraufgezogen werden.
Die Linde, unter welcher wir jetzt sitzen, sowie ihre Kameraden, die
um sie herum stehen oder einen Gartenweg bilden, stehen da, wo sie
gestanden sind. Der grosse alte Kirschbaum auf der Anhoehe stand mitten
im Getreide. Ich zog die Anhoehe zu meinem Garten, legte einen Weg zu
dem Kirschbaume hinauf an und baute um ihn ein Baenklein herum. Und
so ging es mit vielen andern Baeumen. Manche, und darunter sehr
bedeutende, dass man es nicht glauben sollte, haben wir uebersetzt. Wir
haben sie im Winter mit einem grossen Erdballen ausgegraben, sie mit
Anwendung von Seilen umgelegt, hierher gefuehrt und mit Hilfe von
Hebeln und Balken in die vorgerichteten, gut zubereiteten Gruben
gesenkt. Waren die Zweige und Aeste gehoerig gekuerzt, so schlugen sie im
Fruehlinge desto kraeftiger an, gleichsam als waeren die Baeume zu neuem
Leben erwacht. Die Gestraeuche und das Zwergobst ist alles neu gesetzt
worden. In kuerzerer Zeit, als man glauben sollte, hatten wir die
Freude, zu sehen, dass der Garten so zusammengewachsen erschien, als
waere er nie an einem andern Platze gewesen. In der Naehe des Meierhofes
habe ich manchen Rest von Baeumen faellen lassen, wenn er dem
Getreidebau hinderlich war; denn ich legte dort Felder an, wo ich die
Baeume genommen hatte, um an Boden auf jener Seite zu gewinnen, was ich
auf dieser durch Anlegung des Gartens verloren hatte."
"Ihr habt da einen reizenden Sitz", bemerkte ich.
"Nicht der Sitz allein, das ganze Land ist reizend", erwiderte er,
"und es ist gut da wohnen, wenn man von den Menschen koemmt, wo sie ein
wenig zu dicht an einander sind, und wenn man fuer die Kraefte seines
Wesens Taetigkeit mitbringt. Zuweilen muss man auch einen Blick in sich
selbst tun. Doch soll man nicht stetig mit sich allein auch in dem
schoensten Lande sein; man muss zu Zeiten wieder zu seiner Gesellschaft
zurueckkehren, waere es auch nur, um sich an manche glaenzende
Menschentruemmer, die aus unsrer Jugend noch uebrig sind, zu erquicken,
oder an manchem festen Turm von einem Menschen empor zu schauen, der
sich gerettet hat. Nach solchen Zeiten geht das Landleben wieder wie
lindes Oel in das geoeffnete Gemuet. Man muss aber weit von der Stadt weg
und von ihr unberuehrt sein. In der Stadt kommen die Veraenderungen,
welche die Kuenste und die Gewerbe bewirkt haben, zur Erscheinung:
auf dem Lande die, welche naheliegendes Beduerfnis oder Einwirken der
Naturgegenstaende auf einander hervorgebracht haben. Beide vertragen
sich nicht, und hat man das Erste hinter sich, so erscheint das Zweite
fast wie ein Bleibendes, und dann ruht vor dem Sinne ein schoenes
Bestehendes und zeigt sich dem Nachdenken ein schoenes Vergangenes, das
sich in menschlichen Wandlungen und in Wandlungen von Naturdingen in
eine Unendlichkeit zurueckzieht."
Ich antwortete nichts auf diese Rede, und wir schwiegen eine Weile.
Endlich sagte er wieder: "Ihr bleibt noch heute nachmittag und in der
Nacht bei uns?"
"Nach dem, wie ich hier aufgenommen worden bin", antwortete ich, "ist
es ein angenehmes Gefuehl, noch den Tag und die Nacht hier zubringen zu
duerfen."
"So ist es gut", erwiderte er, "ihr muesst aber auch erlauben, dass ich
euch einen Teil des Vormittags allein lasse, weil die Stunde naht, in
der ich zu Gustav gehen und ihm in seinem Lernen beistehen muss."
"Tut euch nur keinen Zwang an", entgegnete ich.
"So werde ich euch verlassen", antwortete er, "geht indessen ein wenig
in dem Garten herum, oder seht das Feld an, oder besucht das Haus."
"Ich wuensche fuer den Augenblick noch eine Weile unter diesem Baume
sitzen bleiben zu duerfen", erwiderte ich.
"Tut, wie es euch gefaellt", antwortete er, "nur erinnert euch, dass
ich gestern gesagt habe, dass in diesem Hause um zwoelf Uhr zu Mittag
gegessen wird."
"Ich erinnere mich", sagte ich, "und werde keine Unordnung machen."
Eine kleine Weile nach diesen Worten stand er auf, strich sich mit
seiner Hand die Tierchen und sonstigen Koerperchen, die von dem Baume
auf ihn herabgefallen waren, aus den Haaren, empfahl sich und ging in
der Richtung gegen das Haus zu.
Der Abschied
Ich sass noch eine geraume Zeit unter dem Baume und legte mir zurecht,
was ich gesehen und vernommen. Die Bienen summten in dem Baume, und
die Voegel sangen in dem Garten. Das Haus, in welches der alte Mann
gegangen war, blickte mit einzelnen Teilen, sei es von der weissen
Wand, sei es von dem Ziegeldache durch das Gruen der Baeume herueber,
und zu meiner Rechten ging jenseits der Gebuesche, in der Gegend, in
welcher ich das Schreinerhaus vermutete, ein duenner Rauch in die
Luft empor. Das Singen der Voegel und das Summen der Bienen war mir
beinahe eine Stille, da ich durch meine Gebirgswanderungen an solche
andauernde Laute gewohnt war. Die Stille wurde unterbrochen durch
einzelne Laute, welche von den Arbeitern im Garten herruehrten,
entweder dass man das Quieken einer Pumpe hoerte, mit der man Wasser
pumpte, und mittelst Rinnen in eine Tonne leitete, um es abends zum
Begiessen zu verwenden, oder dass eine menschliche Rede ferner oder
naeher erscholl, die einen Befehl oder eine Auskunft enthielt. Die
verschiedenen Flecke des Himmels, welche durch das Gruen der Baeume
hereinsahen, waren ganz blau und zeigten, wie sehr mein Gastfreund mit
seiner Voraussage des schoenen Wetters Recht gehabt hatte.
Ich riss mich endlich aus meinen Gedanken und ging in dem Garten empor.
Ich ging zu dem grossen Kirschbaume. Ich suchte das Freie, weil ich in
dem Garten wegen der beschraenkten Aussicht doch nicht einen genauen
Ueberblick in Hinsicht der Witterungsverhaeltnisse machen konnte. Hier
oben stand der Himmel als eine grosse, ausgedehnte Glocke ueber mir,
und in der ganzen Glocke war kein einziges Woelklein. Das Hochgebirge,
welches wir gestern nicht hatten sehen koennen, stand heute in seiner
ganzen Klarheit an der Laenge des suedlichen Himmels dahin. Vor ihm
waren die Vorlande mit manchen weissen Punkten von Kirchen und Doerfern,
naeher zu mir zeigte sich mancher Turm von einer Ortschaft, die ich
kannte, und unter meinen Fuessen ruhten der Garten und das Haus,
in welchem ich gestern so freundlich aufgenommen worden war. Die
Getreide, welche nicht weit von mir hinter der Planke des Gartens
standen, und die gestern ganz ruhig gewesen waren, befanden sich heute
in einem zwar schwachen, aber froehlichen Wogen. Ich musste denken, dass
das Wetter nicht nur jetzt so schoen sei, sondern dass es noch lange so
schoen bleiben werde.
Von dem grossen Kirschbaume ging ich wieder in den Garten zurueck und
betrachtete verschiedene Gegenstaende.
Ich ging auch noch einmal in das Gewaechshaus. Ich konnte nun manches
genauer ansehen, als es mir frueher moeglich gewesen war, da ich mit
meinem Begleiter das Haus gleichsam nur durchschritten hatte. Der
weisse Gaertner gesellte sich zu mir, erlaeuterte mir manches, gab mir
ueber Verschiedenes Auskunft und beantwortete bereitwillig alle meine
Fragen, wie weit seine Kenntnisse und seine Uebersicht es zuliessen.
Als ich das Gebaeude verlassen wollte, sagte er mir, er wolle mir noch
etwas zeigen, was der Herr mir zu zeigen vergessen habe. Er fuehrte
mich auf einen Platz, der mit Sand bedeckt war, der von allen Seiten
der Sonne zugaenglich und doch durch Baeume und Gebuesche, die ihn in
einer gewissen Entfernung umgaben, vor heftigen Winden geschuetzt war.
Mitten auf dem Platze stand ein kleines glaesernes Haus, welches zum
Teile in der Erde steckte. Dieser Umstand und dann der, dass es von
Baeumen umringt war, machten, dass ich es frueher nicht wahrgenommen
hatte. Als wir naeher kamen, sah ich, dass es ganz von Glas sei und nur
so viel Gerippe habe, als sich zur Festigkeit der Tafeln notwendig
zeige. Es war auch mit einem starken eisernen Gitter, wahrscheinlich
des Hagels wegen, umspannt. Als wir die einigen Stufen von der Flaeche
des Gartens in das Innere hinabgestiegen waren, sah ich, dass sich
Pflanzen in dem Hause befanden, und zwar nur eine einzige Gattung,
nehmlich lauter Cactus. Mehr als hundert Arten standen in Tausenden
von kleinen Toepfen da. Die niederen und runden standen frei, die
langen, welche Luftwurzeln treiben, hatten Waende von Baumrinden
neben sich, die mit Erde eingerieben waren, damit die Pflanzen die
Luftwurzeln in sie schlagen konnten. Alle Glastafeln ueber unseren
Haeuptern waren geoeffnet, dass die freie Luft den ganzen Raum
durchdringen konnte und doch die Wirkung der Sonnenstrahlen nicht
beirrt war. Die Toepfe standen in Reihen auf hoelzernen Gestellen,
die Gestelle aber waren wieder unterbrochen, so dass man in allen
Richtungen herum gehen und alles betrachten konnte. Der Gaertner fuehrte
mich herum und zeigte mir die Abteilungen und Unterabteilungen, in
welchen die Gewaechse beisammenstanden.
Ich sagte, dass ich mich freue, dass mein Gastfreund auf die Familie
dieser Pflanzen eine solche Sorgfalt wende, da sie gewiss besonders und
merkwuerdig waeren.
"Wenn man sie laenger betrachtet und laenger mit ihnen umgeht, werden
sie immer merkwuerdiger", antwortete mein Nachbar. "Die Stellung
ihrer Bildungen ist so mannigfaltig, die Stacheln koennen zu einer
wahren Zierde und zu einer Bewaffnung dienen, und die Blueten sind
verwunderlich wie Maerchen. In einem Monate wuerdet ihr sehr schoene
sehen, jetzt sind sie noch zu wenig entwickelt."
Ich sagte ihm, dass ich schon Blueten gesehen habe, nicht bloss solche,
die, wie schoen sie seien, doch ueberall wachsen, sondern auch andere,
die selten sind, und solche, die mit der Schoenheit den lieblichen Duft
vereinen. Ich sagte ihm, dass ich in frueheren Zeiten Pflanzenkunde
getrieben habe, zwar nicht in Bezug auf Gartenpflege, sondern zu
meiner Belehrung und Erheiterung, und dass die Cactus nicht das Letzte
gewesen waeren, dem ich eine Aufmerksamkeit geschenkt habe.
"Wenn der Herr alte Sachen sammelt", sagte er, "so waere es wohl auch
recht, wenn er dies auch mit alten Pflanzen taete. Im Inghofe ist in
dem Gewaechshause ein Cereus, der staerker als ein Mannesarm sammt
seiner Bekleidung ist. Er geht an der Wand empor, biegt sich um
und waechst an der Decke des Hauses hin, an welcher er mit Baendern
befestigt ist. Der untere Teil ist schon Holz geworden, dass man Namen
eingeschnitten hat. Ich glaube, es ist ein Cereus peruvianus. Sie
schaetzen ihn nicht so hoch, und der Herr sollte den Cereus kaufen,
wenn man auch wegen seiner Laenge drei Waegen aneinander binden muesste,
um ihn herueber bringen zu koennen. Er ist gewiss schon zweihundert Jahre
alt."
Ich antwortete auf diese Rede nicht, um ihm seine Zeitrechnung in
Hinsicht der Cactuspflege in Europa nicht zu stoeren.
Ich dankte ihm, da ich endlich alles gesehen hatte, fuer seine Muehe und
verliess das kleine Haus. Er verabschiedete sieh sehr freundlich und
mit vielen Verbeugungen.
Ich ging nun zu dem Eingangsgitter, durch welches mein Gastfreund mich
gestern hereingelassen hatte, weil ich auch ausserhalb des Gartens ein
wenig herumsehen wollte. Ein Arbeiter, welcher in der Naehe beschaeftigt
war, oeffnete mir die Tuer, weil ich die Einrichtung des Schlosses nicht
kannte, und ich trat in das Freie. Ich ging auf der Seite des Huegels,
auf welcher ich gestern heraufgekommen war, in mehreren Richtungen
herum. Wenn ich auch die Gegend des Landes, in der ich mich befand, im
Allgemeinen sehr wohl kannte, so hatte ich mich doch nie so lange in
ihr aufgehalten, um in das Einzelne eindringen zu koennen. Ich sah
jetzt, dass es ein sehr fruchtbarer, schoener Teil sei, der mich
aufgenommen hatte, dass sich anmutige Stellen zwischen die Kruemmungen
der Huegel hineinziehen und dass ein dichtes Bewohntsein der Gegend
etwas sehr Heiteres erteile. Der Tag wurde nach und nach immer waermer,
ohne heiss zu sein, und es war jene Stille, die zur Zeit der Rosenbluete
weit mehr als zu einer anderen auf den Feldern ist. In dieser Zeit
sind alle Feldgewaechse gruen, sie sind im Wachsen begriffen, und wenn
nicht viele Wiesen in der Gegend sind, auf welchen zu jener Zeit die
Heuernte vorkoemmt, so haben die Leute keine Arbeit auf den Feldern und
lassen sie allein unter der befruchtenden Sonne.
Die Stille war wie in dem Hochgebirge; aber sie war nicht so einsam,
weil man ueberall von der Geselligkeit der Naehrpflanzen umgeben war.
Der Klang einer fernen Dorfglocke und meine Uhr, die ich herauszog,
erinnerte mich daran, dass es Mittag sei.
Ich ging dem Hause zu, das Gitter wurde mir auf einen Zug an der
Glockenstange geoeffnet, und ich ging in das Speisezimmer. Dort fand
ich meinen Gastfreund und Gustav, und wir setzten uns zu Tische. Wir
drei waren allein bei dem Mahle.
Waehrend des Essens sagte mein Gastfreund: "Ihr werdet euch wundern,
dass wir so allein unsere Speisen verzehren. Es ist in der Tat sehr zu
bedauern, dass die alte Sitte abgekommen ist, dass der Herr des Hauses
zugleich mit den Seinigen und seinem Gesinde beim Mahle sitzt. Die
Dienstleute gehoeren auf diese Weise zu der Familie, sie dienen oft
lebenslang in demselben Hause, der Herr lebt mit ihnen ein angenehmes
gemeinschaftliches Leben, und weil alles, was im Staate und in der
Menschlichkeit gut ist, von der Familie koemmt, so werden sie nicht
bloss gute Dienstleute, die den Dienst lieben, sondern leicht auch
gute Menschen, die in einfacher Froemmigkeit an dem Hause wie an einer
unverrueckbaren Kirche haengen und denen der Herr ein zuverlaessiger
Freund ist. Seit sie aber von ihm getrennt sind, fuer die Arbeit
bezahlt werden und abgesondert ihre Nahrung erhalten, gehoeren sie
nicht zu ihm, nicht zu seinem Kinde, haben andere Zwecke, widerstreben
ihm, verlassen ihn leicht und fallen, da sie familienlos und ohne
Bildung sind, leicht dem Laster anheim. Die Kluft zwischen den
sogenannten Gebildeten und Ungebildeten wird immer groesser; wenn noch
erst auch der Landmann seine Speisen in seinem abgesonderten Stuebchen
verzehrt, wird dort eine unnatuerliche Unterscheidung, wo eine
natuerliche nicht vorhanden gewesen waere."
"Ich habe", fuhr er nach einer Weile fort, "diese Sitte in unserem
hiesigen Hause einfuehren wollen; allein die Leute waren auf eine
andere Weise herangewachsen, waren in sich selber hineingewachsen,
konnten sich an ein Fremdes nicht anschliessen und haetten nur die
Freiheit ihres Wesens verloren. Es ist kein Zweifel, dass sie sich
nach und nach in das Verhaeltnis wuerden eingelebt haben, besonders die
Juengeren, bei denen die Erziehung noch wirkt; allein ich bin so alt,
dass das Unternehmen weit ueber den Rest meiner Jahre hinausgeht.
Ich befreite daher meine Dienstleute von dem Zwange, und juengere
Nachfolger moegen den Versuch wieder erneuern, wenn sie meine Meinung
teilen."
Mir fiel bei dieser Rede mein Elternhaus ein, in welchem es wohltuend
ist, dass wenigstens die Handlungsdiener meines Vaters mit uns an dem
Mittagstische essen.
Die Zeit nach dem Mittagsessen ward dazu bestimmt, den Meierhof zu
besuchen, und Gustav durfte uns begleiten.
Wir gingen nicht den Weg, der an dem grossen Kirschbaume vorueber
und auf der Hoehe der Felder dahin fuehrt. Dieser Weg, sagte mein
Gastfreund, sei mir schon bekannt; sondern wir gingen in der Naehe der
Bienenhuette durch ein Pfoertchen in das Freie und gingen auf einem
Pfade ueber den sanften Abhang hinab, der noch mit hohen Obstbaeumen,
die die besseren Arten des Landes trugen und von dem Meierhofgarten
uebrig geblieben waren, bedeckt war. Die Wiesen, ueber die wir
wandelten, waren so gut, wie ich sie selten angetroffen habe.
Da wir zu dem Gebaeude gekommen waren, sah ich, dass es ein weitlaeufiges
Viereck war wie die groesseren Landhoefe der Gegend, dass man aber hie und
da daran gebessert und dass man es durch Zubauten erweitert hatte. Der
Hofraum war an den Gebaeuden herum mit breiten Steinen gepflastert, der
uebrige Teil desselben war mit grobem Quarzsande bedeckt, der oefter
umgearbeitet wurde. Die Gebaeude, welche diesen Raum umgaben,
enthielten die Staelle, Scheunen, Wagengewoelbe und Wohnungen. Das
Vorratshaus stand weiter entfernt in dem Garten. Wir besahen die
Tiere, welche eben zu Hause waren, von den Pferden und Rindern
angefangen bis zu den Schweinen und dem Federvieh hinunter. Fuer die
Rinder war hinter dem Hause ein schoener Platz eingefangen, auf welchem
sie in freie Luft gelassen werden konnten. Es stroemte frisches Wasser
in einer tiefen Steinrinne durch den Platz, von welchem sie trinken
konnten. Ich hatte diese Einrichtung nie gesehen, und sie gefiel mir
sehr.
Ein aehnlicher Platz war fuer das Federvieh eingefangen, und nicht weit
davon war ein Anger, auf welchem sich die Fuellen tummeln konnten. Wir
besuchten auch die Wohnungen der Leute. Hier fielen mir die grossen,
schoenen Steinrahmen auf, die an den Fenstern gesetzt waren, auch
konnte man leicht die bedeutende Vergroesserung der Fenster sehen. In
der Wagenhalle waren nicht bloss die Waegen und anderen Fahrzeuge,
sondern auch die uebrigen Landwirtschaftsgeraete in Vorrate
vorhanden. Die Duengerstaette, welche auch hier wie in den meisten
Wirtschaftshaeusern unseres Landes in dem Hofe gewesen war, ist auf
einen Platz hinter dem Hause verwiesen worden, den ringsum hohe
Gebuesche umfingen.
"Es ist hier noch Vieles im Entstehen und Werden begriffen", sagte
mein Gastfreund, "aber es geht langsam vorwaerts. Man muss die
Vorurteile der Leute schonen, die unter anderen Umgebungen
herangewachsen und sie gewohnt sind, damit sie nicht durch das Neue
beirrt werden und ihre Liebe zur Arbeit verlieren. Wir muessen uns
beruhigen, dass schon so Vieles geschehen ist, und auf das Weitere
hoffen."
Die Leute, welche dieses Haus bewohnten, waren damit beschaeftigt, das
Heu, welches gestern gemaeht worden war, einzubringen oder, wo es not
tat, vollkommen zu trocknen. Mein Gastfreund redete mit Manchem und
fragte um Verschiedenes, das sich auf die taeglichen Geschaefte bezog.
Als wir von der entgegengesetzten Seite des Hauses fortgingen, sahen
wir auch den Garten, in welchem die Gemuese und andere Dinge fuer den
Gebrauch des Hofes gezogen wurden.
Auf dem Rueckwege schlugen wir eine andere Richtung ein, als auf
der wir gekommen waren. Hatten wir auf unserem Herwege den grossen
Kirschbaum noerdlich gelassen, so liessen wir ihn jetzt suedlich, so dass
es schien, dass wir den ganzen Garten des Hauses umgehen wuerden. Wir
stiegen gegen jene Wiese hinan, von der mir mein Gastfreund gestern
gesagt hatte, dass sie die noerdliche Grenze seines Besitztums sei und
dass er sie nicht nach seinem Willen habe verbessern koennen. Der Weg
fuehrte sachte aufwaerts, und in der Tiefe der Wiese kam uns in vielen
Windungen ein Baechlein, das mit Schilf und Gestrippe eingefasst war,
entgegen. Als wir eine Strecke gegangen waren, sagte mein Begleiter:
"Das ist die Wiese, die ich euch gestern von dem Huegel herab gezeigt
habe und von der ich gesagt habe, dass bis dahin unser Eigentum gehe
und dass ich sie nicht habe einrichten koennen, wie ich gewollt haette.
Ihr seht, dass die Stellen an dem Bache versumpft sind und saures Gras
tragen. Dem waere leicht abzuhelfen und das mildeste Gras zu erzielen,
wenn man dem Bache einen geraden Lauf gaebe, dass er schneller abfloesse,
die Waende hie und da mit Steinen ausmauerte und die Niederungen
mit trockener Erde anfuellte. Ich kann euch jetzt den Grund zeigen,
weshalb dieses nicht geschieht. Ihr seht an beiden Seiten des Baches
Erlenschoesslinge wachsen. Wenn ihr naeher herzutretet, so werdet ihr
sehen, dass diese Schoesslinge aus dicken Bloecken, gleichsam aus Knollen
und Hoeckern von Holz hervorwachsen, welches Holz teils ueber der Erde
ist, teils in dem feuchten Boden derselben steckt."
Wir waren bei diesen Worten zu dem Bache hinzugegangen, und ich sah,
dass es so war.
"Diese ungestalteten Anhaeufungen von Holz", fuhr er fort, "aus denen
die duennen Ruten oder krueppelhafte Aeste hervorragen, bilden sich hier
in sumpfigem Boden, sie entstehen aber auch im Sande oder in Steinen
und sind ein Aftererzeugnis des sonst recht schoen emporwachsenden
Erlenbaumes. In dem vielteiligen Streben des Holzes, eine Menge
Ruten oder zwietraechtige Aeste anzusetzen und sich selber dabei zu
vergroessern, entsteht ein solches Verwinden und Drehen der Fasern und
Rinden, dass, wenn man einen solchen Block auseinandersaegt und die
Saegeflaeche glaettet, sich die schoenste Gestaltung von Farbe und
Zeichnung in Ringen, Flammen und allerlei Schlangenzuegen darstellt,
so dass diese Gattung Erlenholz sehr gesucht fuer Schreinerarbeiten und
sehr kostbar ist. Als ich das Anwesen hier gekauft, die Wiese besehen
und die Erlenbloecke entdeckt hatte, liess ich einen ausgraben,
auseinandersaegen und untersuchte ihn dann. Da fand ich, der ich damals
im Erkennen des Holzes schon mehrere Uebung hatte, dass diese Bloecke zu
den schoensten gehoeren, die bestehen, und dass die feurige Farbe und der
weiche, seidenartige Glanz des Holzes, auf welche Dinge man besonders
das Augenmerk richtet, kaum ihresgleichen haben duerften. Ich liess
mehrere Bloecke ausgraben und Blaetter aus ihnen schneiden. Ihr werdet
die Verwendung derselben in unserer Nachbarschaft sehen, wenn ihr uns
wieder besuchen wollt und uns Zeit gebt, euch dorthin zu fuehren, wo
sie sind. Die uebrigen Bloecke liess ich in dem Boden als einen Schatz,
der da bleiben und sich vermehren sollte. Nur wenn einer derselben
nicht mehr zu treiben, sondern vielmehr abzusterben beginnt, wird er
herausgenommen und wird zu Blaettern geschnitten, welche ich dann zu
kuenftigen Arbeiten aufbewahre oder verkaufe. An seiner Stelle bildet
sich dann leicht ein anderer. Zu dem Entschlusse, diesen Anwuchs zu
pflegen, kam ich, nachdem ich einerseits vorher nach und nach die
Gegend um unser Haus immer naeher kennen gelernt, alle Talmulden und
Bachrinnen erforscht und nirgends auch nur annaehernd so brauchbares
Erlenholz gefunden hatte, und nachdem anderseits auch das, was mir auf
mein Verlangen aus mehreren Orten eingesendet worden war, sich dem
unseren als nicht gleichkommend gezeigt hatte. Ich liess oberhalb
des Erlenwuchses einen Wasserbau auffuehren, um die Pflanzung
vor Ueberschwemmung und Ueberkiesung zu sichern und das zu sehr
anschwellende Wasser in ein anderes Rinnsal zu leiten.
Meine Nachbarn sahen das Zweckdienliche der Sache ein, und zwei
derselben legten sogar in oeden Gruenden, die nicht zu entwaessern waren,
solche Erlenpflanzungen an. Mit welchem Erfolge dies geschah, laesst
sich noch nicht ermitteln, da die Pflanzen noch zu jung sind."
Wir betrachteten die Reihen dieser Gewaechse und gingen dann weiter.
Wir gingen die Wiese entlang, streiften an einem Gehoelze hin,
ueberschritten den Wasserbau, von dem mein Gastfreund gesprochen hatte,
und begannen nicht nur den Garten, sondern den ganzen Getreidehuegel,
auf dem das Haus steht, zu umgehen.
Da die Sonne immer waermer, wenn auch nicht gar heiss schien, wunderte
ich mich, dass keiner von meinen zwei Begleitern eine Bedeckung auf dem
Haupte trug. Sie waren ohne einer solchen von dem Hause fortgegangen.
Der alte Mann breitete dem Glanz der Sonne die Fuelle seiner weissen
Haare unter, und der Zoegling trug auf seinem Scheitel die dichten,
glaenzenden braunen Locken. Ich wusste nicht, kamen mir die beiden ohne
Kopfbedeckung sonderbar vor oder ich neben ihnen mit meinem Reisehute
auf dem Haupte. Der Juengling hatte wenigstens den Vorteil, dass ihm die
Sonne die Wangen noch mehr roetete und noch schoener faerbte, als sie
sonst waren.
Ich betrachtete ihn ueberhaupt gerne. Sein leichter Gang war ein
heiterer Fruehlingstag gegen den zwar auch noch kraeftigen, aber
bestimmten und abgemessenen Schritt seines Begleiters, seine schlanke
Gestalt war der froehliche Anfang, die seines Erziehers das Hinneigen
zum Ende. Was sein Benehmen anbelangt, so war er zurueckgezogen und
bescheiden und mischte sich nicht in die Gespraeche, ausser wenn er
gefragt wurde. Ich wendete mich haeufig an ihn und fragte ihn um
verschiedene Dinge, besonders um solche, die die Gegend umher betrafen
und deren Kenntnis ich bei ihm voraussetzen musste. Er antwortete
sicher und mit einer gewissen Ehrerbietung gegen mich, obwohl ich ihm
an Jahren nicht so ferne stand als sein Erzieher. Er ging meistens,
auch wenn der Weg breit genug gewesen waere, hinter uns.
Als wir den Huegel vollends umgangen hatten und an mehreren laendlichen
Wohnungen vorbeigekommen waren, stiegen wir auf der nehmlichen Seite
und auf dem nehmlichen Wege gegen das Haus empor, auf welchem ich
gestern gegen dasselbe hinangekommen war. Da wir es erreicht hatten,
traten uns die Rosen entgegen, wie sie mir gestern entgegengetreten
waren. Ich nahm von diesem Anblicke Gelegenheit, meinen Gastfreund der
Rosen wegen zu fragen, da ich ueberhaupt gesonnen war, dieser Blumen
willen einmal eine Frage zu tun. Ich bat ihn, ob wir denn zu besserer
Betrachtung nicht naeher auf den grossen Sandplatz treten wollten. Wir
taten es und standen vor der ganzen Wand von Blumen, die den unteren
Teil des weissen Hauses deckte.
Ich sagte, er muesse ein besonderer Freund dieser Blumen sein, da er so
viele Arten hege, und da die Pflanzen hier in einer Vollkommenheit zu
sehen seien wie sonst nirgends.
"Ich liebe diese Blume allerdings sehr", antwortete er, "halte sie
auch fuer die schoenste und weiss wirklich nicht mehr, welche von diesen
beiden Empfindungen aus der andern hervorgegangen ist."
"Ich waere auch geneigt", sagte ich, "die Rose fuer die schoenste Blume
zu halten. Die Camellia steht ihr nahe, dieselbe ist zart, klar und
rein, oft ist sie voll von Pracht; aber sie hat immer fuer uns etwas
Fremdes, sie steht immer mit einem gewissen vornehmen Anstande da: das
Weiche, ich moechte den Ausdruck gebrauchen, das Suesse der Rose hat sie
nicht. Wir wollen von dem Geruche gar nicht einmal reden; denn der
gehoert nicht hieher."
"Nein", sagte er, "der gehoert nicht hieher, wenn wir von der Schoenheit
sprechen; aber gehen wir ueber die Schoenheit hinaus und sprechen wir
von dem Geruche, so duerfte keiner sein, der dem Rosengeruche an
Lieblichkeit gleichkommt."
"Darueber koennte nach einzelner Vorliebe gestritten werden", antwortete
ich, "aber gewiss wird die Rose weit mehr Freunde als Gegner haben. Sie
wird sowohl jetzt geehrt, als sie in der Vergangenheit geehrt wurde.
Ihr Bild ist zu Vergleichen das gebraeuchlichste, mit ihrer Farbe wird
die Jugend und Schoenheit geschmueckt, man umringt Wohnungen mit ihr,
ihr Geruch wird fuer ein Kleinod gehalten und als etwas Koestliches
versendet, und es hat Voelker gegeben, die die Rosenpflege besonders
schaetzten, wie ja die waffenkundigen Roemer sich mit Rosen kraenzten.
Besonders liebenswert ist sie, wenn sie so zur Anschauung gebracht
wird wie hier, wenn sie durch eigentuemliche Mannigfaltigkeit und
Zusammenstellung erhoeht und ihr gleichsam geschmeichelt wird. Erstens
ist hier eine wahre Gewalt von Rosen, dann sind sie an der grossen
weissen Flaeche des Hauses verteilt, von der sie sich abheben; vor ihnen
ist die weisse Flaeche des Sandes, und diese wird wieder durch das gruene
Rasenband und die Hecke, wie durch ein gruenes Samtband und eine gruene
Verzierung, von dem Getreidefelde getrennt."
"Ich habe auf diesen Umstand nicht eigens gedacht", sagte er, "als ich
sie pflanzte, obwohl ich darauf sah, dass sie sich auch so schoen als
moeglich darstellten."
"Aber ich begreife nicht, wie sie hier so gut gedeihen koennen",
entgegnete ich. "Sie haben hier eigentlich die unguenstigsten
Bedingungen. Da ist das hoelzerne Gitter, an das sie mit Zwang gebunden
sind, die weisse Wand, an der sich die brennenden Sonnenstrahlen
fangen, das Ueberdach, welches dem Regen, Taue und dem Einwirken des
Himmelsgewoelbes hinderlich ist, und endlich haelt das Haus ja selber
den freien Luftzug ab."
"Wir haben dieses Gedeihen nur nach und nach hervorrufen koennen",
antwortete er, "und es sind viele Fehlgriffe getan worden. Wir lernten
aber und griffen die Sache dann der Ordnung nach an. Es wurde die
Erde, welche die Rosen vorzueglich lieben, teils von anderen Orten
verschrieben, teils nach Angabe von Buechern, die ich hiezu anschaffte,
im Garten bereitet.
Ich bin wohl nicht ganz unerfahren hieher gekommen, ich hatte auch
vorher schon Rosen gezogen und habe hier meine Erfahrungen angewendet.
Als die Erde bereit war, wurde ein tiefer, breiter Graben vor dem
Hause gemacht und mit der Erde gefuellt. Hierauf wurde das hoelzerne
Gitter, welches reichlich mit Oelfarbe bestrichen war, dass es von
Wasser nicht in Faeulnis gesetzt werden konnte, aufgerichtet, und eines
Fruehlings wurden die Rosenpflanzen, die ich entweder selbst gezogen
oder von Blumenzuechtern eingesendet erhalten hatte, in die lockere
Erde gesetzt. Da sie wuchsen, wurden sie angebunden, im Laufe der
Jahre versetzt, verwechselt, beschnitten und dergleichen, bis sich die
Wand allgemach erfuellte. In dem Garten sind die Vorratsbeete angelegt
worden, gleichsam die Schule, in welcher die gezogen werden, die
einmal hieher kommen sollen. Wir haben gegen die Sonne eine Rolle
Leinwand unter dem Dache anbringen lassen, die durch einige leichte
Zuege mit Schnueren in ein Dach ueber die Rosen verwandelt werden kann,
das nur gedaempfte Strahlen durchlaesst. So werden die Pflanzen vor der
zu heissen Sommersonne und die Blumen vor derjenigen Sonne geschuetzt,
die ihnen schaden koennte. Die heutige ist ihnen nicht zu heiss, ihr
seht, dass sie sie froehlich aushalten. Was ihr von Tau und Regen sagt,
so steht das Gitter nicht so nahe an dem Hause, dass die Einfluesse des
freien Himmels ganz abgehalten werden. Tau sammelt sich auf den Rosen
und selbst Regen traeufelt auf sie herunter. Damit wir aber doch
nachhelfen und zu jener Zeit Wasser geben koennen, wo es der Himmel
versagt, haben wir eine hohle Walze unter der Dachrinne, die mit
aeusserst feinen Loechern versehen ist und aus Tonnen, die unter dem
Dache stehen, mit Wasser gefuellt werden kann. Durch einen leichten
Druck werden die Loecher geoeffnet, und das Wasser faellt wie Tau auf die
Rosen nieder. Es ist wirklich ein angenehmer Anblick, zu sehen, wie
in Zeiten hoher Not das Wasser von Blaettern und Zweigen rieselt und
dieselben sich daran erfrischen. Und damit es endlich nicht an Luft
gebricht, wie ihr fuerchtet, gibt es ein leichtes Mittel. Zuerst ist
auf diesem Huegel ein schwacher Luftzug ohnehin immer vorhanden und
streicht an der Wand des Hauses. Sollten aber die Blumen an ganz
stillen Tagen doch einer Luft beduerfen, so werden alle Fenster des
Erdgeschosses geoeffnet, und zwar sowohl an dieser Wand als auch an der
entgegengesetzten. Da nun die entgegengesetzte Seite die noerdliche ist
und dort die Luft durch den Schatten abgekuehlt wird, so stroemt sie bei
jenen Fenstern herein und bei denen der Rosen heraus. Ihr koennt da an
den windstillsten Tagen ein sanftes Faecheln der Blaetter sehen."
"Das sind bedeutende Anstalten", erwiderte ich, "und beweisen eure
Liebe zu diesen Blumen; aber aus ihnen allein erklaert sich doch noch
nicht die besondere Vollkommenheit dieser Gewaechse, die ich nirgends
gesehen habe, so dass keine unvollkommene Blume, kein duerrer Zweig,
kein unregelmaessiges Blatt vorkommt."
"Zum Teile erklaert sich die Tatsache doch wohl aus diesen Anstalten",
sagte er. "Luft, Sonne und Regen sind durch die suedliche Lage des
Standortes und die Vorrichtungen so weit verbessert, als sie hier
verbessert werden koennen. Noch mehr ist an der Erde getan worden.
Da wir nicht wissen, welches denn der letzte Grund des Gedeihens
lebendiger Wesen ueberhaupt ist, so schloss ich, dass den Rosen am
meisten gut tun muesse, was von Rosen koemmt. Wir liessen daher seit
jeher alle Rosenabfaelle sammeln, besonders die Blaetter und selbst die
Zweige der wilden Rosen, welche sich in der ganzen Gegend befinden.
Diese Abfaelle werden zu Huegeln in einem abgelegenen Teile unseres
Gartens zusammengetan, den Einfluessen von Luft und Regen ausgesetzt,
und so bereitet sich die Rosenerde. Wenn in einem Huegel sich keine
Spur mehr von Pflanzentum zeigt und nichts als milde Erde vor die
Augen tritt, so wird diese den Rosen gegeben. Die Pflanzen, welche
neu gesetzt werden, erhalten in ihrem Graben gleich so viel Erde, dass
sie auf mehrere Jahre versorgt sind. Aeltere Rosen, welche von ihrem
Standboden laengere Zeit gezehrt haben, werden mit einer Erneuerung
beteilt. Entweder wird die Erde oberhalb ihrer Wurzeln weggetan und
ihnen neue gegeben, oder sie werden ganz ausgehoben und ihr Standpunkt
durchaus mit frischer Erde erfuellt. Es ist auffaellig sichtbar, wie
sich Blatt und Blume an dieser Gabe erfreuen. Aber trotz der Erde und
der Luft und der Sonne und der Feuchtigkeit wuerdet ihr die Rosen hier
nicht so schoen sehen, als ihr sie seht, wenn nicht noch andre Sorgfalt
angewendet wuerde; denn immer entstehen manche Uebel aus Ursachen, die
wir nicht ergruenden koennen oder die, wenn sie auch ergruendet sind,
wir nicht zu vereiteln vermoegen. Endlich trifft ja die Gewaechse wie
alles Lebende der natuerliche Tod. Kranke Pflanzen werden nun bei uns
sogleich ausgehoben, in den Garten, gleichsam in das Rosenhospital
getan und durch andere aus der Schule ersetzt. Abgestorbene Baeumchen
kommen hier nicht leicht vor, weil sie schon in der Zeit des
Absterbens weggetan werden. Toetet aber eine Ursache eines schnell,
so wird es ohne Verzug entfernt. Eben so werden Teile, die erkranken
oder zu Grunde gehen, von dem Gitter getrennt. Die beste Zeit ist der
Fruehling, wo die Zweige bloss liegen. Da werden Winkelleitern, die uns
den Zugang zu allen Teilen gestatten, angelegt, und es wird das ganze
Gitter untersucht.
Man reinigt die Rinde, pflegt sie, verbindet ihre Wunden, knuepft die
Zweige an und schneidet das Untaugliche weg. Aber auch im Sommer
entfernen wir gleich jedes fehlerhafte Blatt und jede unvollstaendige
Blume. Es haben nach und nach alle im Hause eine Neigung zu den Rosen
bekommen, sehen gerne nach und zeigen es sogleich an, wenn sich etwas
Unrechtes bemerken laesst. Auch in der Umgegend hat man Wohlgefallen an
diesen Blumen gefunden, man setzt sie in Gaerten und pflegt sie, ich
schenke den Leuten die Pflanzen aus meinen Vermehrungsbeeten und
unterrichte sie in der Behandlung. Zwei Wegestunden von hier ist ein
Bauer, der wie ich eine ganze Wand seines Hauses mit Rosen bepflanzt
hat."
"Je mehr es mir wichtig erscheint, wie ihr mit euren Rosen umgeht",
antwortete ich, "und fuer je wichtiger ihr sie selbst betrachtet, desto
mehr muss ich doch die Frage tun, warum ihr denn gerade vorzugsweise an
dieser Wand eures Hauses die Rosen zieht, wo ihr Standort doch nicht
so erspriesslich ist, und wo man solche Anstalten machen muss, um ihr
voelliges Gedeihen zu sichern. Es ist zwar sehr schoen, wie sie sich
hier ausbreiten und darstellen; aber sollte man sie denn im Garten
nicht auch in Stellungen und Gruppen bringen koennen, die eben so schoen
oder schoener waeren als diese hier, und noch den Vorteil haetten, dass
ihre Pflege viel leichter waere?"
"Ich habe die Rosen an die Wand des Hauses gesetzt", erwiderte er,
"weil sich eine Jugenderinnerung an diese Blume knuepft und mir die
Art, sie so zu ziehen, lieb macht. Ich glaube, dass mir einzig darum
die Rose so schoen erscheint und dass ich darum die grosse Muehe fuer diese
Art ihrer Pflege verwende."
"Ihr habt nichts von Ungeziefer gesagt", entgegnete ich. "Nun weiss ich
aber aus Erfahrung, dass kaum eine Pflanzengattung, etwa die Pappel
ausgenommen, so gerne von Ungeziefer heimgesucht wird als die Rose,
die in verschiedenen Arten und Geschlechtern von demselben bewohnt und
entstellt wird. Hier sehe ich von dieser Plage gar nichts, als waere
sie nicht vorhanden oder als wuerde die Rose von ihr durch irgendein
kuenstliches Mittel befreit. Ihr werdet doch nicht so wie jedes kranke
Blatt auch jeden Blattwickler, jede Spinne, jede Blattlaus abnehmen
lassen?
Dieses bringt mich sogar noch auf einen weiteren Umstand, ueber den ich
mir eine Frage an euch zu tun vorgenommen habe, welche ich gewiss noch
vor meiner Abreise bei einer schicklichen Gelegenheit getan haette,
welche ich mir aber jetzt erlaube, da ihr mit solcher Guete und
Bereitwilligkeit mir die Einsicht in die Dinge dieses Landsitzes
gestattet habt. Bei meiner Wanderung durch das flache Land hatte ich
mehrfach Gelegenheit zu bemerken, dass Obstbaeume haeufig kahle Aeste
haben oder dass ueberhaupt das Laub zerstoert oder verunstaltet war, was
von Raupenfrass herruehrte. Mir fiel die Sache nicht weiter auf, da ich
sie von Jugend an zu sehen gewohnt war und da sie sich nicht in einem
ungewoehnlichen Grade zeigte; aber das fiel mir auf, dass so wie an
diesen Rosen auch in eurem ganzen Garten nichts von dem Uebel zu sehen
ist, kein duerres Reis, kein kahles Zweiglein, kein Stengel eines
abgefressenen Blattes, ja nicht einmal ein verletztes Blatt des
Kohles, dem doch sonst der Weissling so gerne Schaden tut. Im
Angesichte dieses Wohlbefindens kamen mir die Zerstoerungen wieder zu
Sinne, die ich in dem Lande gesehen hatte, und ich beschloss, in dieser
Hinsicht eine Frage an euch zu tun, ob ihr denn da eigentuemliche
Vorkehrungen habt; denn das Ablesen der Raupen und Insekten hat sich
ja ueberall als unzulaenglich gezeigt."
"Wir wuerden allerdings durch Ablesen des Ungeziefers weder unsere
Rosen noch die Baeume und Gestraeuche im Garten vor Verunglimpfung
frei halten koennen", antwortete er. "Wir haben nun in der Tat andere
Einrichtungen dagegen. Ich muss euch sagen, dass es mich freut, dass ihr
in meinem Garten die Abwesenheit des Raupenfrasses bemerkt habt, und
ich werde euch recht gerne darueber Aufklaerung geben, und besonders
darum, dass es sich auch ausbreiten koenne. Die Beantwortung eurer
Frage kann aber am besten in dem Garten geschehen, weil ich euch zur
Bekraeftigung gleich manche Vorrichtungen zeigen und die Beweise dartun
kann. Wenn es euch genehm ist, so gehen wir in den Garten, in welchem
auch eine kleine Ruhe auf irgend einem Baenkchen nach dem Gange von dem
Meierhofe herauf nicht unangenehm sein wird."
"Einen Augenblick lasst mich noch diese Rosen betrachten", sagte ich.
"Tut nach eurem Gefallen", antwortete er.
Ich trat zuerst naeher an das Gitter, um Einzelnes zu betrachten. Ich
sah nun wirklich die reinliche Erde, in welcher die Staemmchen standen
und die nicht von einem einzigen Graeschen bewachsen war. Ich sah das
gutbestrichene Holzgitter, an welchem die Baeumchen angebunden und an
welchem ihre Zweige ausgebreitet waren, dass sich keine leere Stelle an
der Wand des Hauses zeigte. An jedem Staemmchen hing der Name der Blume
auf Papier geschrieben und in einer glaesernen Huelse hernieder. Diese
glaesernen Huelsen waren gegen den Regen geschuetzt, indem sie oben
geschlossen, unten umgestuelpt und mit einer kleinen Abflussrinne
versehen waren. Nach dieser Betrachtung in der Naehe trat ich wieder
zurueck und besah noch einmal die ganze Wand der Blumen durch mehrere
Augenblicke. Nachdem ich dieses getan hatte, sagte ich, dass wir jetzt
in den Garten gehen koennten.
Wir naeherten uns dem Torgitter, der alte Mann tat einen Druck wie
gestern, da er mich eingelassen hatte, das Tor oeffnete sich und wir
gingen in den Garten.
Dort naeherten wir uns einer Bank, die in angenehmem nachmittaegigem
Schatten stand. Als wir uns auf ihr niedergesetzt hatten, sagte mein
Gastfreund: "Unsere Mittel, die Baeume, Gestraeuche und kleineren
Pflanzen vor Kahlheit zu bewahren, sind so einfach und in der Natur
gegruendet, dass es eine Schande waere, sie aufzuzaehlen, wenn es
andererseits nicht auch wahr waere, dass sie nicht ueberall angewendet
werden, besonders das letzte. Was nun das Kahlwerden von Baeumen und
Aesten anlangt, so entsteht es nicht immer durch Raupen, sondern oft
auch auf andern Wegen nach und nach. Gegen ein endliches Sterben und
also Entlaubtwerden des ganzen Baumes gibt es so wenig ein Mittel als
gegen den Tod des Menschen; aber so weit darf man es bei einem Baume
im Garten nicht kommen lassen, dass er tot in demselben dasteht,
sondern wenn man ihm durch Zurueckschneiden seiner Aeste oefter
Verjuengungskraefte gegeben hat; wenn aber nach und nach dieses Mittel
anfaengt, seine Wirkung nicht mehr zu bewaehren, so tut man dem Baume
und dem Garten eine Wohltat, wenn man beide trennt. Ein solcher Baum
steht also in einem nur einiger Massen gut besorgten Garten oder auf
anderem Grunde gar nicht. Damit aber auch nicht Teile eines Baumes
kahl dastehen, haben wir mehrere Mittel. Sie bestehen aber darin, dem
Baume zu geben, was ihm not tut, und ihm zu nehmen, was ihm schadet.
Darum gilt als Oberstes, dass man nie einen Baum an eine Stelle setze,
auf der er nicht leben kann. Auf Stellen, die Baeumen ueberhaupt das
Leben versagen, setzt wohl kein vernuenftiger Mensch einen. Aber
es gibt auch Stellen, die nur darum nicht taugen, weil sie nicht
bearbeitet sind, oder weil ihnen etwas mangelt, was einem bestimmten
Gewaechse notwendig ist. Um nun die Stelle gut zu bearbeiten, haben
wir, ehe wir einen Baum setzten, eine so tiefe Grube gegraben und mit
gelockerter Erde gefuellt, dass der Baum bedeutend alt werden konnte,
ehe er genoetigt war, seine Wurzeln in unbearbeiteten Boden zu treiben.
Selbst alte Staemme, die ich hier gefunden hatte und deren Zustand mir
nicht gefiel, habe ich durch Herausnehmen, Lockern ihres Standortes
und Wiedereinsetzen zu vortrefflichem Gedeihen gebracht. Aber ehe wir
die Grube gegraben haben, ehe wir den Baum in dieselbe gesetzt haben,
haben wir auch durch Erfahrung oder Buecher herauszubringen gesucht,
was ihm auch nebst der Erde noch not tue und welchen Platz er haben
muesse. Fuer welchen Baum ein geeigneter Platz im Garten nicht ist, der
soll auch im Garten gar nicht sein. Welche Baeume viele Luft brauchen,
setzten wir in die Luft, die das Licht lieben, in das Licht, die
den Schatten, in den Schatten. In den Schutz der groesseren oder
windwiderstandsfaehigeren setzten wir diejenigen, welche des Schutzes
bedurften. Die Frost und Reif scheuen, stehen an Waenden oder warmen
Orten. Und auf diese Weise gedeihen nun alle durch ihre Lebenskraft
und natuerliche Nahrung. Im Fruehlinge wird jeder Stamm und seine
staerkeren Aeste durch eine Buerste und gutes Seifenwasser gewaschen und
gereinigt. Durch die Buerste werden die fremden Stoffe, die dem Baume
schaden koennten, entfernt, und das Waschen ist ein nuetzliches Bad fuer
die Rinde, die wie die Haut der Tiere von dem hoechsten Belange fuer das
Leben ist, und endlich werden die Staemme dadurch auch schoen. Unsere
Baeume haben kein Moos, die Rinde ist klar und bei den Kirschbaeumen
fast so fein wie graue Seide."
Ich hatte wohl gesehen, dass alle Baeume eine sehr gesunde Rinde haben;
aber ich hatte dieses mit ihren schoenen Blaettern und mit ihrem guten
Gedeihen ueberhaupt als eine notwendige Folge in Zusammenhang gebracht.
"Wenn nun trotz aller Vorsichten doch einzelne Teile der Baeume durch
Winde, Kaelte oder dergleichen kahl werden", fuhr mein Gastfreund
fort, "so werden dieselben bei dem Beschneiden der Baeume im Fruehlinge
entfernt. Der Schnitt wird mit gutem Kitte verstrichen, dass keine
Naesse in das Holz dringen und in dem noch gesunden Teile eine
Krankheit erzeugen kann. Und so wuerde in einem Garten nie eine
Kahlheit zu erblicken sein, wenn nicht aeussere Feinde kaemen, die eine
solche zu bewirken trachteten. Derlei Feinde sind Hagel, Wolkenbrueche
und aehnliche Naturerscheinungen, gegen die es keine Mittel gibt. Sie
schaden aber auch nicht so sehr. In unseren Gegenden sind sie selten,
und ihre Wirkungen koennen auch leicht durch schnelles Beseitigen des
Zerstoerten, durch Nachwuchs und Nachpflanzungen unbemerkbar gemacht
werden. Aber gefaehrlichere Gegner sind die Insekten, diese koennen die
Guete eines Gartens zerstoeren, koennen seine Schoenheit entstellen und
ihm in manchen Jahren einen wahrhaft traurigen Anblick geben. Dies ist
der Umstand, von dem ich sagte, dass ich seiner zuletzt Erwaehnung tun
werde. Ihr seht, dass unser Garten von der Insektenplage, die ihr,
wie ihr sagt, auf eurer Wanderung an anderen Baeumen bemerkt habt, in
diesem Jahre frei ist."
"Ich habe Aepfelbaeume an warmen und stillen Orten fast ganz entlaubt
gesehen", antwortete ich. "Es sind mir mehrere Faelle dieser Art
vorgekommen. Aber dass einzelne Aeste entlaubt waren, dass das Laub von
ganzen Baeumen entstellt war, habe ich oft gesehen. Allein ich habe
es fuer kein grosses Uebel gehalten, und habe auf kein schlechtes Jahr
geschlossen, weil ich wusste, dass diese Zerstoerungen immer vorkommen
und dass ihr Schaden, wenn sie nicht im Uebermasse auftreten, nicht
erheblich ist. Ich betrachtete die Erscheinung als ein Ding, das so
sein muss."
"Daran moechtet ihr Unrecht getan haben", sagte mein Gastfreund, "einen
Schaden bringt diese Erscheinung immer, und wenn man ihn nach ganzen
Laenderstrichen berechnete, so koennte er ein sehr betraechtlicher sein,
zu dem noch der andere koemmt, dass man den entlaubten Baum anschauen
muss. Auch ist das Ding keine Erscheinung, die so sein muss. Es gibt ein
Mittel dagegen, und zwar ein Mittel, das ausser seiner Wirksamkeit auch
noch sehr schoen ist und also zum Nutzen einen Genuss beschert, durch
den uns die Natur gleichsam zu seiner Anwendung leiten will. Aber
dennoch, wie ich frueher sagte, wird dieses Mittel unter allen am
wenigsten gebraucht, ja man beeifert sich sogar an vielen Orten, es zu
zerstoeren. Ihr solltet das Mittel schon wahrgenommen haben."
Ich sah ihn fragend an.
"Habt ihr nicht etwas in unserem Garten gehoert, das euch besonders
auffallend war?" fragte er.
"Den Vogelsang", sagte ich ploetzlich.
"Ihr habt richtig bemerkt", erwiderte er. "Die Voegel sind in diesem
Garten unser Mittel gegen Raupen und schaedliches Ungeziefer. Diese
sind es, welche die Baeume, Gestraeuche, die kleinen Pflanzen und
natuerlich auch die Rosen weit besser reinigen, als es Menschenhaende
oder was immer fuer Mittel zu bewerkstelligen im Stande waeren. Seit
diese angenehmen Arbeiter uns Hilfe leisten, hat sich in unserm
Garten so wie im heurigen Jahre auch sonst nie mehr ein Raupenfrass
eingefunden, der nur im Geringsten bemerkbar gewesen waere."
"Aber Voegel sind ja an allen Orten", entgegnete ich. "Sollten sie in
eurem Garten mehr sein, um ihn mehr schuetzen zu koennen?"
"Sie sind auch mehr in unserem Garten", erwiderte er, "weit mehr als
an jeder Stelle dieses Landes und vielleicht auch anderer Laender."
"Und wie ist denn diese Mehrheit hieher gebracht worden?" fragte ich.
"Es ist so, wie ich frueher von den Baeumen gesagt habe, man muss ihnen
die Bedingungen ihres Gedeihens geben, wenn man sie an einem Orte
haben will; nur dass man die Tiere nicht erst an den Ort setzen muss
wie die Baeume, sie kommen selber, besonders die Voegel, denen das
Uebersiedeln so leicht ist."
"Und welche sind denn die Bedingungen ihres Gedeihens?" fragte ich.
"Hauptsaechlich Schutz und Nahrung", erwiderte er.
"Wie kann man denn einen Vogel schuetzen?" fragte ich.
"Ihn kann man nicht schuetzen", sagte mein Gastfreund, "er schuetzt
sich selber; aber die Gelegenheit zum Schutze kann man ihm geben. Die
Singvoegel, welche sich nicht mit Waffen verteidigen koennen, suchen
gegen Feinde und Wetter Hoehlungen in Baeumen, Felsen, Mauern oder
dergleichen auf, die so enge sind, dass ihnen ihr meistens groesserer
Feind in dieselben nicht folgen kann, und so tief, dass er auch nicht
mit einem Schnabel oder einer Tatze bis auf den Grund zu langen vermag
- einige, wie die Spechte, machen sich selber die Hoehlungen in die
Baeume -, oder sie gehen in solche Dickichte, dass Raubvoegel, Wiesel und
aehnliche Verfolger nicht durchzudringen vermoegen. Hiebei ist es ihnen
noch mehr um den Schutz ihrer Jungen, die sie in solchen Orten haben,
als um ihren eigenen zu tun. Erst, wenn so gesicherte Stellen nicht zu
finden sind und die Zeit draengt, begnuegt sich der Singvogel zum Wohnen
und Brueten mit schlechteren Plaetzen. Hat eine Gegend haeufige solche
Zufluchtsorte, so darf man sicher schliessen, dass sie auch, wenn die
andern Bedingungen nicht fehlen, viele Voegel hat. Denkt nur an ein
altes loecheriges Turmdach, wie ist es von Dohlen und Mauerschwalben
umschwaermt. Will man Voegel in eine Gegend ziehen, so muss man solche
Zufluchtsorte schaffen, und zwar so gut als moeglich. Wir koennen,
wie ihr seht, nicht Felsen und Baumstaemme aushoehlen, aber aus Holz
gemachte Hoehlungen koennen wir ueberall auf die Baeume aufhaengen. Und
dies tun wir auch. Wir machen diese Hoehlungen tief genug, richten das
Schlupfloch von der Wetterseite weg meistens gegen Mittag und machen
es gerade so weit, dass der Vogel, fuer den es bestimmt ist, ein und aus
kann.
Ihr muesst ja derlei in den Baeumen unseres Gartens gesehen haben?"
"Ich habe sie gesehen", erwiderte ich, "habe dunkel vermutet, wozu sie
dienen koennten, habe aber die Vorstellung in Folge anderer Eindruecke
wieder aus dem Haupte verloren."
"Wenn wir etwa noch einmal ein wenig in dem Garten herumgehn", sagte
mein Gastfreund, "so werden wir mehrere solche Vogelbehaelter sehen.
Den Heckennistern bauen wir ein so dichtes Geflechte von Dornzweigen
und Dornaesten in unsere Buesche, dass man meinen sollte, es koenne kaum
eine Hummel ein- und ausschluepfen; aber der Vogel findet doch einen
Eingang und baut sich sein Nest. Solcher Nester koennt ihr mehrere
sehen, wenn ihr wollt. Sie haben das Angenehme, dass man diese
Federfamilien in ihrem Haushalte sieht, was bei den Hoehlennistern
nicht angeht. Auf diese Weise schuetzen wir die kleineren Voegel, die
wir in unserem Garten brauchen. Die grossen, welche sich mit Schnabel,
Krallen und Fluegeln verteidigen koennen, sind bei uns eher Feinde als
Freunde und werden nicht geduldet."
"Ausser dem Schutze", fuhr er nach einer Weile fort, "brauchen
die Voegel auch Nahrung. Sie meiden die nahrungsarmen Orte und
unterscheiden sich hierdurch von den Menschen, welche zuweilen grosse
Strecken weit gerade dahin wandern, wo sie ihren Unterhalt nicht
finden. Die Voegel, die fuer unseren Garten passen, ernaehren sich
meistens von Gewuermen und Insekten; aber wenn an einem Platze, der zum
Nisten geeignet ist, die Zahl der Voegel so gross wird, dass sie ihre
Nahrung nicht mehr finden, so wandert ein Teil aus und sucht den
Unterhalt des Lebens anderswo. Will man daher an einem Orte eine so
grosse Zahl von Voegeln zurueckhalten, dass man vollkommen sicher ist,
dass sie auch in den ungezieferreichsten Jahren hinlaenglich sind,
um Schaden zu verhueten, so muss man ihnen ausser ihrer von der Natur
gegebenen Nahrung auch kuenstliche mit den eigenen Haenden spenden. Tut
man das, so kann man so viele Voegel an einem Platze erziehen, als man
will. Es koemmt nur darauf an, dass man, um seinen Zweck nicht aus den
Augen zu verlieren, nur so viel Almosen gibt, als notwendig ist,
einen Nahrungsmangel zu verhindern. Es ist wohl in dieser Hinsicht im
allgemeinen nicht zu befuerchten, dass in der kuenstlichen Nahrung ein
Uebermass eintrete, da den Tieren ohnehin die Insekten am liebsten sind.
Nur wenn diese Nahrung gar zu reizend fuer sie gemacht wuerde, koennte
ein solches Uebermass erfolgen, was leicht an der Vermehrung des
Ungeziefers erkannt werden wuerde. Einige Erfahrung laesst einen schon
den rechten Weg einhalten. Im Winter, in welchem einige Arten
dableiben, und in Zeiten, wo ihre natuerliche Kost ganz mangelt, muss
man sie vollstaendig ernaehren, um sie an den Platz zu fesseln. Durch
unsere Anstalten sind Voegel, die im Fruehlinge nach Plaetzen suchten,
wo sie sich anbauen koennten, in unserem Garten geblieben, sie sind,
da sie die Bequemlichkeit sahen und Nahrung wussten, im naechsten
Jahre wieder gekommen oder, wenn sie Wintervoegel waren, gar nicht
fortgegangen. Weil aber auch die Jungen ein Heimatsgefuehl haben und
gerne an Stellen bleiben, wo sie zuerst die Welt erblickten, so
erkoren sich auch diese den Garten zu ihrem kuenftigen Aufenthaltsorte.
Zu den vorhandenen kamen von Zeit zu Zeit auch neue Einwanderer, und
so vermehrt sich die Zahl der Voegel in dem Garten und sogar in der
naechsten Umgebung von Jahr zu Jahr. Selbst solche Voegel, die sonst
nicht gewoehnlich in Gaerten sind, sondern mehr in Waeldern und
abgelegenen Gebueschen, sind gelegentlich gekommen, und da es ihnen
gefiel, dageblieben, wenn ihnen auch manche Dinge, die sonst der Wald
und die Einsamkeit gewaehren, hier abgehen mochten. Zur Nahrung rechnen
wir auch Licht, Luft und Waerme. Diese Dinge geben wir nach Bedarf
dadurch, dass wir die Bauplaetze zu den Nestern an den verschiedensten
Stellen des Gartens anbringen, damit sich die Paare die waermeren oder
kuehleren, luftigeren oder sonnigeren aussuchen koennen. Fuer welche
keine taugliche Stelle moeglich ist, die sind nicht hier. Es sind das
nur solche Voegel, fuer welche die hiesigen Landstriche ueberhaupt nicht
passen, und diese Voegel sind dann auch fuer unsere Landstriche nicht
noetig. Zu den geeigneten Zeiten besuchen uns auch Wanderer und
Durchzuegler, die auf der Jahresreise begriffen sind.
Sie haetten eigentlich keinen Anspruch auf eine Gabe, allein da sie
sich unter die Einwohner mischen, so essen sie auch an ihrer Schuessel
und gehen dann weiter."
"Auf welche Weise gebt ihr denn den Tieren die noetige Nahrung?" fragte
ich.
"Dazu haben wir verschiedene Einrichtungen", sagte er. "Manche von den
Voegeln haben bei ihrem Speisen festen Boden unter den Fuessen, wie die
Spechte, die an den Baeumen hacken, und solche, die ihre Nahrung auf
der platten Erde suchen; andere, besonders die Waldvoegel, lieben das
Schwanken der Zweige, wenn sie essen, da sie ihr Mahl in eben diesen
Zweigen suchen. Fuer die ersten streut man das Futter auf was immer fuer
Plaetze, sie wissen dieselben schon zu finden. Den anderen gibt man
Gitter, die an Schnueren haengen, und in denen, in kleine Troege gefuellt
oder auf Stifte gesteckt, die Speise ist. Sie fliegen herzu und
wiegen sich essend in dem Gitter. Die Voegel werden auch nach und nach
zutraulich, nehmen es endlich nicht mehr so genau mit dem Tische, und
es tummeln sich Festfuessler und Schaukler auf der Fuetterungstenne, die
neben dem Gewaechshause ist, wo ihr mich heute morgen gesehen habt."
"Ich habe das von heute morgen mehr fuer zufaellig als absichtlich
gehalten", sagte ich.
"Ich tue es gerne, wenn ich anwesend bin", erwiderte er, "obwohl es
auch andere tun koennen. Fuer die ganz schuechternen, wie meistens die
neuen Ankoemmlinge und die ganz und gar eingefleischten Waldvoegel sind,
haben wir abgelegene Plaetze, an die wir ihnen die Nahrung tun. Fuer die
vertraulicheren und umgaenglicheren bin ich sogar auf eine sehr bequeme
und annehmliche Verfahrungsweise gekommen. Ich habe in dem Hause ein
Zimmer, vor dessen Fenster Brettchen befestigt sind, auf welche ich
das Futter gebe. Die Federgaeste kommen schon herzu und speisen vor
meinen Augen. Ich habe dann auch das Zimmer gleich zur Speisekammer
eingerichtet und bewahre dort in Kaesten, deren kleine Faecher mit
Aufschriften versehen sind, dasjenige Futter, das entweder in
Saemereien besteht oder dem schnellen Verderben nicht ausgesetzt ist."
"Das ist das Eckzimmer", sagte ich, "das ich nicht begriff, und dessen
Brettchen ich fuer Blumenbrettchen ansah und doch fuer solche nicht
zweckmaessig fand."
"Warum habt ihr denn nicht gefragt?" erwiderte er.
"Ich nahm es mir vor und habe wieder darauf vergessen", antwortete
ich.
"Da die meisten Saenger von lebendigen Tierchen leben", setzte er seine
Erzaehlung fort, "so ist es nicht ganz leicht, die Nahrung fuer alle
zu bereiten. Da aber doch ein grosser Teil nebst dem Ungeziefer
auch Saemereien nicht verschmaeht, so sind in der Speisekammer alle
Saemereien, welche auf unseren Fluren und in unseren Waeldern reifen und
werden, wenn sie ausgehen oder veralten, durch frische ersetzt. Fuer
solche, welche die Koerner nicht lieben, wird der Abgang durch Teile
unseres Mahles, zartes Fleisch, Obst, Eierstueckchen, Gemuese und
dergleichen, ersetzt, was unter die Koerner gemischt wird. Die
Kohlmeise erhaelt sehr gerne, wenn sie taetig ist, und besonders,
wenn sie um ihre Jungen sich gut annimmt, ein Stueckchen Speck zur
Belohnung, den sie ausserordentlich liebt. Auch Zucker wird zuweilen
gestreut. Fuer den Trank ist im Garten reichlich gesorgt. In jede
Wassertonne geht schief ein befestigter Holzsteg, an welchem sie zu
dem Wasser hinabklettern koennen. In den Gebueschen sind Steinnaepfe, in
die Wasser gegossen wird, und in dem Dickichte an der Abendseite des
Gartens ist ein kleines Quellchen, das wir mit steinernen Raendern
eingefasst haben."
"Da habt ihr ja Arbeit und Sorge in Fuelle mit diesen Gartenbewohnern".
sagte ich.
"Es uebt sich leicht ein", antwortete er, "und der Lohn dafuer ist sehr
gross. Es ist kaum glaublich, zu welchen Erfahrungen man gelangt, wenn
man durch mehrere Jahre diese gefiederten Tiere hegt und gelegentlich
die Augen auf ihre Geschaeftigkeit richtet. Alle Mittel, welche die
Menschen ersonnen haben, um die Gewaechse vor Ungeziefer zu bewahren,
so trefflich sie auch sein moegen, so fleissig sie auch angewendet
werden, reichen nicht aus, wie es ja in der Lage der Sache gegruendet
ist. Wie viele Haende von Menschen muessten taetig sein, um die
unzaehlbaren Stellen, an deren sich Ungeziefer erzeugt, zu entdecken
und die Mittel auf sie anzuwenden. Ja, die ganz gereinigten Stellen
geben auf die Dauer keine Sicherheit und muessen stets von neuem
untersucht worden. In den verschiedensten Zeiten und unbeachtet
entwickeln sich die Insekten auf Stengeln, Blaettern, Blueten, unter der
Rinde und breiten sich unversehens und schnell aus. Wie koennte man da
die Keime entdecken und vor ihrer Entwicklung vernichten? Oft sind die
schaedlichen Tierchen so klein, dass wir sie mit unseren Augen kaum zu
entdecken vermoegen, oft sind sie an Orten, die uns schwer zugaenglich
sind, zum Beispiele in den aeussersten Spitzen der feinsten Zweige der
Baeume. Oft ist der Schaden in groesster Schnelligkeit entstanden, wenn
man auch glaubt, dass man seine Augen an allen Stellen des Gartens
gehabt, dass man keine unbeachtet gelassen und dass man seine Leute
zur genauesten Untersuchung angeeifert hat. Zu dieser Arbeit ist von
Gott das Vogelgeschlecht bestimmt worden und insbesondere das der
kleinen und singenden, und zu dieser Arbeit reicht auch nur das
Vogelgeschlecht vollkommen aus. Alle Eigenschaften der Insekten,
von denen ich gesprochen habe, ihre Menge, ihre Kleinheit, ihre
Verborgenheit und endlich ihre schnelle und ploetzliche Entwicklung
schuetzen sie gegen die Voegel nicht. Sprechen wir von der Menge. Alle
Singvoegel, wenn sie auch spaeter Saemereien fressen, naehren doch ihre
Jungen von Raupen, Insekten, Wuermern, und da diese Jungen so schnell
wachsen und so zu sagen unaufhoerlich essen, so bringt ein einziges
Paar in einem einzigen Tage eine erkleckliche Menge von solchen
Tierchen in das Nest, was erst hundert Paare in zehn, vierzehn,
zwanzig Tagen! So lange brauchen ungefaehr die Jungen zum Flueggewerden.
Und alle Stellen, wie zahlreich sie auch sein koennen, werden von den
geschaeftigen Eltern durchsucht. Sprechen wir von der Kleinheit der
Tierchen. Sie oder ihre Larven und Eier moegen noch so klein sein, von
den scharfen, spaehenden Augen eines Vogels werden sie entdeckt. Ja
manche Voegel, wie das Goldhaehnchen, der Zaunkoenig, duerfen ihren Jungen
nur die kleinsten Nahrungsstueckchen bringen, weil dieselben, wenn sie
dem Ei entschluepft sind, selber kaum so gross wie eine Fliege oder
eine kleine Spinne sind. Gehen wir endlich auf die Abgelegenheit und
Unerreichbarkeit der Aufenthaltsorte der Insekten ueber, so sind sie
dadurch nicht vor dem Schnabel der Voegel geschuetzt, wenn sie fuer
ihre Jungen oder sich Nahrung brauchen. Was waere einem Vogel leicht
unzugaenglich? In die hoechsten Zweige schwingt er sich empor, an der
Rinde haelt er sich und bohrt in sie, durch die dichtesten Hecken
dringt er, auf der Erde laeuft er, und selbst unter Bloecke und
Steingeroelle dringt er. Ja, einmal sah ich einen Buntspecht im Winter,
da die Aeste zu Stein gefroren schienen, auf einen solchen mit Gewalt
loshaemmeren und sich aus dessen Innern die Nahrung holen. Die Spechte
zeigen auf diese Weise - ich sage es hier nebenbei - auch die Aeste
an, die morsch und vom Gewuerme ergriffen sind, und daher weggeschafft
werden muessen.
Was zuletzt den unvorhergesehenen und ploetzlichen Raupenfrass anlangt,
den der Mensch zu spaet entdeckt, so kann er sich nicht einstellen, da
die Voegel ueberall nachsehen und bei Zeiten abhelfen."
"Wie sehr diese Tiere fuer das Ungeziefer geschaffen sind", sagte er
nach einer Weile, "zeigt sich aus der Beobachtung, dass sie die Arbeit
unter sich teilen. Die Blaumeise und die Tannenmeise entdeckt die Brut
der Ringelraupe und anderer Raupengattungen an den aeussersten Spitzen
der Zweige, wo sie unter der Rinde verborgen ist, indem sie, sich
an die Zweige haengend, dieselben absucht, die Kohlmeise durchsucht
fleissig das Innere der Baumkrone, die Spechtmeise klettert Stamm auf
Stamm ab und holt die versteckten Eier hervor, der Finke, der gerne in
den Nadelbaeumen nistet, weshalb auch solche Baeume in dem Garten sind,
geht gleichwohl gerne von ihnen herab und laeuft den Gaengen der Kaefer
und der gleichen nach, und ihn unterstuetzen oder uebertreffen vielmehr
die Ammerlinge, die Grasmuecken, die Rotkehlchen, die auf der Erde
unter Kohlpflanzen und in Hecken ihre Nahrung suchen und finden. Sie
beirren sich wechselseitig nicht und lassen in ihrer unglaublichen
Taetigkeit nicht nach, ja sie scheinen sich eher darin einander
anzueifern. Ich habe nicht eigens Beobachtungen angestellt; aber wenn
man mehrere Jahre unter den Tieren lebt, so gibt sich die Betrachtung
von selber."
"Auch einen eigentuemlichen Gedanken", fuhr er fort, "hat das Walten
dieser Tiere in mir erweckt oder vielmehr bestaerkt; denn ich hatte
ihn schon laengst. Allen Tatsachen, die wichtig sind, hat Gott
ausser unserem Bewusstsein ihres Wertes auch noch einen Reiz fuer uns
beigesellt, der sie annehmlich in unser Wesen gehen laesst.
Diesen Tierchen nun, die so nuetzlich sind, hat er, ich moechte sagen,
die goldene Stimme mitgegeben, gegen die der verhaertetste Mensch nicht
verhaertet genug ist. Ich habe in unserem Garten mehr Vergnuegen gehabt
als manchmal in Saelen, in denen die kunstreichste Musik aufgefuehrt
wurde, die selten zu hoeren ist. Zwar singt ein Vogel in einem Kaefige
auch; denn der Vogel ist leichtsinnig, er erschrickt zwar heftig, er
fuerchtet sich; aber bald ist der Schrecken und die Furcht vergessen,
er huepft auf einen Halt fuer seine Fuesse und traellert dort das Lied, das
er gelernt hat und das er immer wiederholt. Wenn er jung und sogar
auch alt gefangen wird, vergisst er sich und sein Leid, wird ein Hin-
und Widerhuepfer in kleinem Raume, da er sonst einen grossen brauchte,
und singt seine Weise; aber dieser Gesang ist ein Gesang der
Gewohnheit, nicht der Lust. Wir haben an unserm Garten einen
ungeheueren Kaefig ohne Draht, Stangen und Vogeltuerchen, in welchem der
Vogel vor ausserordentlicher Freude, der er sich so leicht hingibt,
singt, in welchem wir das Zusammentoenen vieler Stimmen hoeren koennen,
das in einem Zimmer beisammen nur ein Geschrei waere, und in welchem
wir endlich die haeusliche Wirtschaft der Voegel und ihre Gebaerden
sehen koennen, die so verschieden sind und oft dem tiefsten Ernste ein
Laecheln abgewinnen koennen. Man hat uns in diesem Hegen von Voegeln in
einem Garten nicht nachgeahmt. Die Leute sind nicht verhaertet gegen
die Schoenheit des Vogels und gegen seinen Gesang, ja diese beiden
Eigenschaften sind das Unglueck des Vogels. Sie wollen dieselben
geniessen, sie wollen sie recht nahe geniessen, und da sie keinen Kaefig
mit unsichtbaren Draehten und Stangen machen koennen wie wir, in dem sie
das eigentliche Wesen des Vogels wahrnehmen koennten, so machen sie
einen mit sichtbaren, in welchem der Vogel eingesperrt ist und
seinem zu fruehen Tode entgegen singt. Sie sind auf diese Weise nicht
unfuehlsam fuer die Stimme des Vogels, aber sie sind unfuehlsam fuer
sein Leiden. Dazu kommt noch, dass es der Schwaeche und Eitelkeit des
Menschen, besonders der Kinder, angenehm ist, eines Vogels, der durch
seine Schwingen und seine Schnelligkeit gleichsam aus dem Bereiche
menschlicher Kraft gezogen ist, Herr zu werden und ihn durch Witz und
Geschicklichkeit in seine Gewalt zu bringen. Darum ist seit alten
Zeiten der Vogelfang ein Vergnuegen gewesen, besonders fuer junge Leute;
aber wir muessen sagen, dass es ein sehr rohes Vergnuegen ist, das man
eigentlich verachten sollte. Freilich ist es noch schlechter und
muss ohne weiteres verabscheut werden, wenn man Singvoegel nicht des
Gesanges wegen faengt, sondern sie faengt und toetet, um sie zu essen.
Die unschuldigsten und mitunter schoensten Tiere, die durch ihren
einschmeichelnden Gesang und ihr liebliches Benehmen ohnehin unser
Vergnuegen sind, die uns nichts anders tun als lauter Wohltaten, werden
wie Verbrecher verfolgt, werden meistens, wenn sie ihrem Triebe
der Geselligkeit folgen, erschossen, oder, wenn sie ihren nagenden
Hunger stillen wollen, erhaengt. Und dies geschieht nicht, um ein
unabweisliches Beduerfnis zu erfuellen, sondern einer Lust und Laune
willen. Es waere unglaublich, wenn man nicht wuesste, dass es aus Mangel
an Nachdenken oder aus Gewohnheit so geschieht. Aber das zeigt eben,
wie weit wir noch von wahrer Gesittung entfernt sind. Darum haben
weise Menschen bei wilden Voelkern und bei solchen, die ihre Gierde
nicht zu zaehmen wussten oder einen hoeheren Gebrauch von ihren Kraeften
noch nicht machen konnten, den Aberglauben aufgeregt, um einen Vogel
seiner Schoenheit oder Nuetzlichkeit willen zu retten. So ist die
Schwalbe ein heiliger Vogel geworden, der dem Hause Segen bringt,
das er besucht, und den zu toeten Suende ist. Und selten duerfte es ein
Vogel mehr verdienen als die Schwalbe, die so wunderschoen ist und so
unberechenbaren Nutzen bringt. So ist der Storch unter goettlichen
Schutz gestellt, und den Staren haengen wir hoelzerne Haeuser in unsere
Baeume. Ich hoffe, dass, wenn unseren Nachbarn die Augen ueber den Erfolg
und den Nutzen des Hegens von Singvoegeln aufgehen, sie vielleicht auch
dazu schreiten werden, uns nachzuahmen; denn fuer Erfolg und Nutzen
sind sie am empfaenglichsten. Ich glaube aber auch, dass unsere
Obrigkeiten das Ding nicht gering achten sollten, dass ein strenges
Gesetz gegen das Fangen und Toeten der Singvoegel zu geben waere und
dass das Gesetz auch mit Umsicht und Strenge aufrecht erhalten werden
sollte. Dann wuerde dem menschlichen Geschlechte ein heiligendes
Vergnuegen aufbewahrt bleiben, wir wuerden durch die Laender wie durch
schoene Gaerten gehen, und die wirklichen Gaerten wuerden erquickend
dastehen, in keinem Jahre leiden und in besonders ungluecklichen nicht
den Anblick der gaenzlichen Kahlheit und der traurigen Veroedung zeigen.
Wollt ihr nicht auch ein wenig unsere gefiederten Freunde ansehen?"
"Sehr gerne", sagte ich.
Wir standen von dem Sitze auf und gingen mehr in die Tiefe den Gartens
zurueck.
Das vielstimmige Vogelgezwitscher durch den Garten und das helle
Singen in unserer Naehe, welches mir gestern nachmittags da ich es in
das Zimmer hinein gehoert hatte, seltsam gewesen war, erschien mir nun
sehr lieblich, ja ehrwuerdig, und wenn ich einen Vogel durch einen Baum
huschen sah oder ueber einen Sandweg laufen, so erfuellte es mich mit
einer Gattung Freude. Mein Begleiter fuehrte mich zu einer Hecke, wies
mit dem Finger hinein und sagte: "Seht!"
Ich antwortete, dass ich nichts saehe.
"Schaut nur genauer", sagte er, indem er mit dem Finger neuerdings die
Richtung wies.
Ich sah nun unter einem aeusserst dichten Dornengeflechte, welches
in die Hecke gemacht worden war, ein Nest. In dem Neste sass ein
Rotkehlchen, wenigstens dem Ruecken nach zu urteilen. Es flog nicht
auf, sondern wendete nur ein wenig den Kopf gegen uns und sah mit
den schwarzen, glaenzenden Augen unerschrocken und vertraulich zu uns
herauf.
"Dieses Rotkehlchen sitzt auf seinen Eiern", sagte mein Begleiter,
"es ist eine Spaetehe, wie sie oefter vorkommen. Ich besuche es schon
mehrere Tage und lege ihm die Larve des Mehlkaefers in die Naehe. Das
weiss der Schelm, darum fraegt er mich schon darnach und fuerchtet den
Fremden nicht, der bei mir ist."
In der Tat, das Tierchen blieb ruhig in seinem Neste und liess sich
durch unser Reden und durch unsere Augen nicht beirren.
"Man muss eigentlich ehrlich gegen sie sein", sagte mein Gastfreund;
"aber ich habe keine Larve in der Hand, darum bitte ich dich, Gustav,
gehe in das Haus und hole mir eine."
Der Juengling wendete sich schnell um und eilte in das Haus.
Indessen fuehrte mich mein Begleiter eine Strecke vorwaerts und zeigte
mir neuerdings in einer Hecke unter Dornen ein Nest, in welchem eine
Ammer sass.
"Diese sitzt auf ihren Jungen, die noch kaum die ersten Haerchen haben,
und erwaermt sie", sagte mein Begleiter. "Sie kann nicht viel von ihnen
weg, darum bringt den meisten Teil der Nahrung der Vater herbei. Nach
einigen Tagen aber werden sie schon so stark, dass sie der Mutter
ueberall hervor sehen, wenn sie sich auch zeitweilig auf sie setzt."
Auch die Ammer flog bei unserer Annaeherung nicht auf, sondern sah uns
ruhig an.
So zeigte mir mein Begleiter noch ein paar Nester, in denen Junge
waren, die, wenn sie sich allein befanden, auf das Geraeusch unserer
Annaeherung die gelben Schnaebel aufsperrten und Nahrung erwarteten. In
zwei anderen waren Muetter, die bei unserem Herannahen nicht aufflogen.
Da wir im Vorbeigehen noch eins trafen, bei welchem die Eltern aetzten,
liessen sich diese nicht von ihrem Geschaefte abhalten, flogen herzu und
naehrten in unserer Gegenwart die Kinder.
"Ich habe euch jetzt Nester gezeigt, die noch bevoelkert sind", sagte
mein Gastfreund, "die meisten sind schon leer, die Jugend flattert
bereits in dem Garten herum und uebt sich zur Herbstreise. Die Nester
sind zahlreicher als man vermutet, wir besuchen nur die, die uns bei
der Hand sind."
Indessen war Gustav mit der verlangten Larve gekommen und gab sie dem
alten Manne in die Hand. Dieser ging zu der Hecke, in welcher das Nest
des Rotkehlchens war, und legte die Larve auf den Weg daneben. Kaum
hatte er sich entfernt und war zu uns getreten, die wir in der Naehe
standen, so schluepfte das Rotkehlchen unter den untersten Aesten der
Hecke heraus, rannte zu der Larve, nahm sie und lief wieder in die
Hecke zurueck.
Ich weiss nicht, welche tiefe Ruehrung mich bei diesem Vorfalle ueberkam.
Mein Gastfreund erschien mir wie ein weiser Mann, der sich zu einem
niedreren Geschoepfe herablaesst.
Auch der Juengling Gustav war sehr heiter und zeigte Freude, wenn er
in die Buesche blickte, in denen eine Wohnung war. Es war mir dies ein
Beweis, dass das Zerstoeren der Vogelnester durch Wegnahme der Eier
oder der Jungen und das Fangen der Voegel ueberhaupt den Kindern nicht
angeboren ist, sondern dass dieser Zerstoerungstrieb, wenn er da ist,
von Eltern oder Erziehern hervorgerufen und in diese Bahn geleitet
wurde, und dass er durch eine bessere Erziehung sein Gegenteil wird.
Wir schritten weiter. In einer kleinen Fichte, die am Rande des
Gartens stand, zeigten sie mir noch eine Finkenwohnung, die an dem
Stamme in das Geflechte teils hervorgewachsener, teils kuenstlich
eingefugter Aeste und Zweige gebaut war. An anderen Baeumen sahen wir
auch in die aufgehaengten Behaelter Voegel aus- und einschluepfen. Mein
Begleiter sagte, dass, wenn ich nur laenger hier waere, mir selbst die
Sitten der Voegel verstaendlicher werden wuerden.
Ich erwiderte, dass ich schon Mehreres aus meinen Reisen im Gebirge und
aus meinen frueheren Beschaeftigungen in den Naturwissenschaften kenne.
"Das ist doch immer weniger", sagte mein Gastfreund, "als was man
durch das lebendige Beisammenleben inne wird."
Es wurden einige Behaelter, die mit aus Ruten geflochtenen Seilen an
Baeumen befestigt waren und von denen man wusste, dass sie nicht mehr
bewohnt seien, herabgenommen und auseinander gelegt, damit ich ihre
Einrichtung saehe. Es war nur eine einfache Hoehlung, die aus zwei
halbhohlen Stuecken bestand, die man mittelst Ringen, die enger zu
schrauben waren, aneinanderpressen konnte.
"Kein Singvogel", sagte mein Begleiter, "geht in ein fertiges Nest,
es mag nun dasselbe in einer frueheren Zeit von ihm selber oder einem
anderen Vogel gebaut worden sein, sondern er verfertigt sich sein
Nest in jedem Fruehlinge neu. Deshalb haben wir die Behaelter aus zwei
Teilen machen lassen, dass wir sie leicht auseinander nehmen und die
veralteten Nester heraustun koennen. Auch zum Reinigen der Behaelter ist
diese Einrichtung sehr tauglich; denn wenn sie unbewohnt sind, nimmt
allerlei Ungeziefer seine Zuflucht zu diesen Hoehlungen, und der Vogel
scheut Unrat und verdorbene Luft und wuerde eine unreine Hoehlung nicht
besuchen. Im letzten Teile des Winters, wenn der Fruehling schon in
Aussicht steht, werden alle diese Behaelter herabgenommen, auf das
Sorgfaeltigste gescheuert und in Stand gesetzt. Im Winter sind sie
darum auf den Baeumen, weil doch mancher Vogel, der nicht abreist,
Schutz in ihnen sucht. Die alten Nester werden zerfasert und gegen
den Fruehling ihre Bestandteile mit neuen vermehrt in dem Garten
ausgestreut, damit die Familien Stoff fuer ihre Haeuser finden."
Ich sah im Voruebergehen auch die Kletterstaebchen in den Wassertonnen,
und im Gebuesche fanden wir das kleine rieselnde Waesserlein.
Als wir uns auf dem Rueckwege zum Hause befanden, sagte mein Begleiter:
"Ich habe noch eine Art Gaeste, die ich fuettere, nicht dass sie mir
nuetzen, sondern dass sie mir nicht schaden. Gleich in der ersten Zeit
meines Hierseins, da ich eine sogenannte Baumschule anlegte, nehmlich
ein Gaertchen, in welchem die zur Veredlung tauglichen Staemmchen
gezogen wurden, habe ich die Bemerkung gemacht, dass mir im Winter
die Rinde an Staemmchen abgefressen wurde, und gerade die beste und
zarteste Rinde an den besten Staemmchen. Die Uebeltaeter wiesen sich
teils durch ihre Spuren im Schnee, teils, weil sie auch auf frischer
Tat ertappt wurden, als Hasen aus. Das Verjagen half nicht, weil sie
wieder kamen und doch nicht Tag und Nacht jemand in der Baumschule
Wache stehen konnte. Da dachte ich: die armen Diebe fressen die Rinde
nur, weil sie nichts Besseres haben, haetten sie es, so liessen sie die
Rinde stehen. Ich sammelte nun alle Abfaelle von Kohl und aehnlichen
Pflanzen, die im Garten und auf den Feldern uebrig blieben, bewahrte
sie im Keller auf und legte sie bei Frost und hohem Schnee teilweise
auf die Felder ausserhalb des Gartens. Meine Absicht wurde belohnt:
die Hasen frassen von den Dingen und liessen unsere Baumschule in
Ruhe. Endlich wurde die Zahl der Gaeste immer mehr, da sie die
wohleingerichtete Tafel entdeckten; aber weil sie mit dem
Schlechtesten, selbst mit den dicken Struenken des Kohles, zufrieden
waren und ich mir solche von unseren Feldern und von Nachbarn leicht
erwerben konnte, so fragte ich nichts darnach und fuetterte. Ich
sah ihnen oft aus dem Dachfenster mit dem Fernrohre zu. Es ist
possierlich, wenn sie von der Ferne herzulaufen, dem bequem
daliegenden Frasse misstrauen, Maennchen machen, huepfen, dann aber sich
doch nicht helfen koennen, herzustuerzen und von dem Zeuge hastig
fressen, das sie im Sommer nicht anschauen wuerden. Manche Leute legten
Schlingen, da sie wussten, dass hier Hasen zusammenkamen. Aber da wir
sehr sorgfaeltig nachspuerten und die Schlingen wegnehmen liessen, da
ich auch verbot, ueber unsere Felder zu gehen, und die Betroffenen
zur Verantwortung zog, verlor sich die Sache wieder. Auch den Voegeln
legten Buben in unserer Naehe Schlingen; aber das half sehr wenig, da
die Voegel in unserem Garten sehr gute Kost hatten und nach der fremden
Lockspeise nicht ausgingen. Die Beute an Voegeln war daher nie gross,
und mit einiger Aufsicht und Wachsamkeit, die wir in den ersten Jahren
einleiteten, geschah es, dass dieser Unfug auch bald wieder aufhoerte."
Der alte Mann lud mich ein, in das Haus zu gehen und die
Fuetterungskammer anzusehen.
Auf dem Wege dahin sagte er: "Unter die Feinde der Saenger gehoeren auch
die Katzen, Hunde, Iltisse, Wiesel, Raubvoegel. Gegen letzte schuetzen
die Dornen und die Nestbehaelter, und Hunde und Katzen werden in unserm
Hause so erzogen, dass sie nicht in den Garten gehen, oder sie werden
ganz von dem Hause entfernt."
Wir waren indessen in das Haus gekommen und gingen in das Eckzimmer,
in welchem ich die vielen Faecher gesehen hatte. Mein Begleiter zeigte
mir die Vorraete, indem er die Faecher herauszog und mir die Saemereien
wies. Die Speisen, welche eben nicht in Saemereien bestehen, wie Eier,
Brot, Speck, werden beim Bedarfe aus der Speisekammer des Hauses
genommen.
"Meine Nachbaren aeusserten schon", sagte mein Begleiter, "dass ausser der
Muehe, die das Erhalten der Singvoegel macht, auch die Kosten zu ihrer
Ernaehrung in keinem Verhaeltnisse zu ihrem Nutzen stehen. Aber das ist
unrichtig. Die Muehe ist ein Vergnuegen, das wird der, welcher einmal
anfaengt, bald inne werden; so wie der Blumenfreund keine Muehe, sondern
nur Pflege kennt, welche zudem bei den Blumen viel mehr Taetigkeit in
Anspruch nimmt als das Ziehen der Gesangvoegel im Freien; die Kosten
aber sind in der Tat nicht ganz unbedeutend; allein wenn ich die
edlen Fruechte eines einzigen Pflaumenbaumes, welchen mir die Raupen
der Voegel wegen nicht abgefressen haben, verkaufe, so deckt der
Kaufschilling die Nahrungskosten der Saenger ganz und gar. Freilich ist
der Nutzen desto groesser, je edler das Obst ist, welches in dem Garten
gezogen wird, und dazu, dass sie edles Obst in dieser Gegend ziehen,
sind sie schwer zu bewegen, weil sie meinen, es gehe nicht. Wir muessen
ihnen aber zeigen, dass es geht, indem wir ihnen die Fruechte weisen und
zu kosten geben, und wir muessen ihnen zeigen, dass es nuetzt, indem wir
ihnen Briefe unserer Handelsfreunde weisen, die uns das Obst abgekauft
haben. Von den Staemmchen, die in unserer Obstschule wachsen, geben wir
ihnen ab und unterrichten sie, wie und auf welchen Platz sie gesetzt
werden sollen."
"Wenn wieder einmal ein Jahr kommen sollte wie das, welches wir vor
fuenf Jahren hatten", fuhr er fort, "es war ein schlimmes Jahr, heiss
mit wenig Regen und ungeheurem Raupenfrass. Die Baeume in Rohrberg, in
Regau, in Landegg und Pludern standen wie Fegebesen in die Hoehe, und
die grauen Fahnen der Raupennester hingen von den entwuerdigten Aesten
herab. Unser Garten war unverletzt und dunkelgruen, sogar jedes Blatt
hatte seine natuerliche Raenderung und Ausspitzung. Wenn noch einmal
ein solches Jahr kaeme, was Gott verhuete, so wuerden sie wieder ein
Stueckchen Erfahrung machen, das sie das erste Mal nicht gemacht
haben."
Ich sah unterdessen die Saemereien und die Anstalten an, fragte manches
und liess mir manches erklaeren.
Wir verliessen hierauf das Zimmer, und da wir auf dem Gange waren und
gegen Gustavs Zimmer gingen, sagte er: "Dass auch unnuetze Glieder
herbeikommen, Muessiggaenger, Stoerefriede, das begreift sich. Ein grosser
Haendelmacher ist der Sperling. Er geht in fremde Wohnungen, balgt
sich mit Freund und Feind, ist zudringlich zu unsern Saemereien und
Kirschen. Wenn die Gesellschaft nicht gross ist, lasse ich sie gelten
und streue ihnen sogar Getreide. Sollten sie hier aber doch zu viel
werden, so hilft die Windbuechse, und sie werden in den Meierhof
hinabgescheucht. Als einen boesen Feind zeigte sich der Rotschwanz.
Er flog zu dem Bienenhause und schnappte die Tierchen weg. Da half
nichts, als ihn ohne Gnade mit der Windbuechse zu toeten. Wir liessen
beinahe in Ordnung Wache halten und die Verfolgung fortsetzen, bis
dieses Geschlecht ausblieb. Sie waren so klug, zu wissen, wo Gefahr
ist, und gingen in die Scheunen, in die Holzhuette des Meierhofes und
die Ziegelhuette, wo die grossen Wespennester unter dem Dache sind. Wir
lassen auch darum im Meierhofe und anderen entfernteren Orten die
grauen Kugeln solcher Nester, die sich unter den Latten und Sparren
der Daecher oder Dachvorspruenge ansiedeln, nicht zerstoeren, damit sie
diese Voegel hinziehen."
Waehrend dieses Gespraeches waren wir in dem Gange der Gastzimmer zu der
Tuer gekommen, die in Gustavs Wohnung fuehrte. Mein Gastfreund fragte,
ob ich diese Wohnung nicht jetzt besehen wollte, und wir traten ein,
Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern, einem Arbeitszimmer und einem
Schlafzimmer. Beide waren, wie es bei solchen Zimmern selten der Fall
ist, sehr in Ordnung. Sonst war ihr Geraete sehr einfach. Buecherkaesten,
Schreib- und Zeichnungsgeraete, ein Tisch, Schreine fuer die Kleider,
Stuehle und das Bett. Der Juengling stand fast erroetend da, da ein
Fremder in seiner Wohnung war. Wir entfernten uns bald, und der
Bewohner machte uns die leichte, feine Verbeugung, die ich gestern
schon an ihm bemerkt hatte, weil er uns nicht mehr begleiten, sondern
in den Zimmern zurueckbleiben wollte, in welchen er noch Arbeit zu
verrichten hatte.
"Ihr koennt nun auch die Gastzimmer besuchen", sagte mein Begleiter,
"dann habt ihr alle Raeume unseres Hauses gesehen."
Ich willigte ein. Er nahm ein kleines silbernes Gloecklein aus seiner
Tasche und laeutete.
Es erschien in kurzem eine Magd, von welcher er die Schluessel der
Zimmer verlangte. Sie holte dieselben und brachte sie an einem Ringe,
von welchem einzelne los zu loesen waren. Jeder trug die Zahl seines
Zimmers auf sich eingegraben. Nachdem mein Beberberger die Magd
verabschiedet hatte, schloss er mir die einzelnen Zimmer auf. Sie waren
einander vollkommen gleich. Sie waren gleich gross, jedes hatte zwei
Fenster, und jedes hatte aehnliche Geraete wie das meine.
"Ihr seht", sagte er, "dass wir in unserem Hause nicht so ungesellig
sind und bei dessen Anlegung schon auf Gaeste gerechnet haben. Es
koennen im aeussersten Notfalle noch mehr untergebracht werden als die
Zimmer anzeigen, wenn wir zwei in ein Gemach tun und noch andere
Zimmer, namentlich die im Erdgeschosse, in Anspruch nehmen. Es ist
aber in der Zeit, seit welcher dieses Haus besteht, der Notfall noch
nicht eingetreten."
Als wir an die oestliche Seite des Hauses gekommen waren, an die Seite,
die seiner Wohnung gerade entgegengesetzt lag, oeffnete er eine Tuer,
und wir traten nicht in ein Zimmer wie bisher, sondern in drei, welche
sehr schoen eingerichtet waren und zu lieblichem Wohnen einluden. Das
erste war ein Zimmer fuer einen Diener oder eigentlich eine Dienerin;
denn es sah ganz aus wie das Zimmer, in welchem die Maedchen meiner
Mutter wohnten. Es standen grosse Kleiderkaesten da, mit gruenem Zitz
verhaengte Betten, und es lagen Dinge herum wie in dem Maedchenzimmer
meiner Mutter. Die zwei anderen Gemaecher zeigten zwar nicht solche
Dinge, im Gegenteile, sie waren in der musterhaftesten Ordnung; aber
sie wiesen doch eine solche Gestalt, dass man schliessen musste, dass sie
zu Wohnungen fuer Frauen bestimmt sind. Die Geraete des ersten waren
von Mahagoniholz, die des zweiten von Cedern. Ueberall standen
weichgepolsterte Sitze und schoene Tische herum. Auf dem Fussboden lagen
weiche Teppiche, die Pfeiler hatten hohe Spiegel, ausserdem stand in
jedem Zimmer noch ein beweglicher Ankleidespiegel, an den Fenstern
waren Arbeitstischchen, und in der Ecke jedes Zimmers stand, von
weissen Vorhaengen dicht und undurchdringlich umgeben, ein Bett. Jedes
Gemach hatte ein Blumentischchen, und an den Waenden hingen einige
Gemaelde.
Als ich diese Zimmer eine Weile betrachtet hatte, oeffnete mein
Begleiter im dritten Zimmer mittelst eines Drueckers eine Tapetentuer,
die sich den Blicken nicht gezeigt hatte, und fuehrte mich noch in ein
viertes, kleines Zimmer mit einem einzigen Fenster. Das Zimmerchen war
sehr schoen. Es war ganz in sanft rosenfarbener Seide ausgeschlagen,
welche Zeichnungen in derselben, nur etwas dunkleren Farbe hatte. An
dieser schwach rosenroten Seide lief eine Polsterbank von lichtgrauer
Seide hin, die mit mattgruenen Baendern geraendert war. Sessel von
gleicher Art standen herum. Die Seide, grau in Grau gezeichnet, hob
sich licht und lieblich von dem Rot der Waende ab, es machte fast einen
Eindruck, wie wenn weisse Rosen neben roten sind. Die gruenen Streifen
erinnerten an das gruene Laubblatt der Rosen. In einer der hinteren
Ecken des Zimmers war ein Kamin von ebenfalls grauer, nur dunklerer
Farbe mit gruenen Streifen in den Simsen und sehr schmalen Goldleisten.
Vor der Polsterbank und den Sesseln stand ein Tisch, dessen Platte
grauer Marmor von derselben Farbe wie der Kamin war. Die Fuesse des
Tisches und der Sessel so wie die Fassungen an der Polsterbank und den
anderen Dingen waren von dem schoenen veilchenblauen Amarantholze; aber
so leicht gearbeitet, dass dieses Holz nirgends herrschte. An dem mit
grauen Seidenvorhaengen gesaeumten Fenster, welches zwischen gruenen
Baumwoelbungen auf die Landschaft und das Gebirge hinaussah, stand ein
Tischchen von demselben Holze und ein reichgepolsterter Sessel und
Schemel, wie wenn hier der Platz fuer eine Frau zum Ruhen waere. An
den Waenden hingen nur vier kleine, an Groesse und Rahmen vollkommen
gleiche Oelgemaelde. Der Fussboden war mit einem feinen gruenen Teppiche
ueberspannt, dessen einfache Farbe sich nur ein wenig von dem Gruen der
Baender abhob. Es war gleichsam der Rasenteppich, ueber dem die Farben
der Rosen schwebten. Die Schuerzange und die anderen Geraete an dem
Kamine hatten vergoldete Griffe, auf dem Tische stand ein goldenes
Gloecklein.
Kein Merkmal in dem Gemache zeigte an, dass es bewohnt sei. Kein Geraete
war verrueckt, an dem Teppiche zeigte sich keine Falte und an den
Fenstervorhaengen keine Verknitterung.
Als ich eine Zeit diese Dinge mit Staunen betrachtet hatte, oeffnete
mein Begleiter wieder die Tapetentuer, die man auch im Innern dieses
Zimmers nicht sehen konnte, und fuehrte mich hinaus. Er hatte in dem
Rosenzimmerchen nicht ein Wort gesprochen, und ich auch nicht. Als
wir durch die anderen Zimmer gegangen waren und er sie hinter uns
zugeschlossen hatte, sagte er mir ebenfalls ueber den Zweck dieser
Wohnung nichts, und ich konnte natuerlich nicht darum fragen.
Als wir auf den Gang hinausgekommen waren, sagte er: "Nun habt ihr
mein ganzes Haus gesehen; wenn ihr wieder einmal in der Zukunft
vorueberkommt oder euch gar in der Ferne desselben erinnert, so koennt
ihr euch gleich vorstellen, wie es im Inneren aussieht."
Bei diesen Worten nestelte er den Ring mit den Schluesseln in irgend
eine Tasche seines seltsamen Obergewandes.
"Es ist ein Bild", erwiderte ich auf seine Rede, "das sich mir tief
eingepraegt hat und das ich nicht so bald vergessen werde."
"Ich habe mir das beinahe gedacht", antwortete er.
Da wir in die Naehe meines Zimmers gekommen waren, verabschiedete er
sich, indem er sagte, dass er nun einen grossen Teil meiner Zeit in
Anspruch genommen habe und dass er, um mich nicht noch mehr einzuengen,
mir nichts weiter davon entziehen wolle.
Ich dankte ihm fuer seine Gefaelligkeit und Freundlichkeit, mit welcher
er mir einen Teil des Tages gewidmet und mir seine Haeuslichkeit
gezeigt habe, und wir trennten uns. Ich nahm den Schluessel aus meiner
Tasche und oeffnete mein Zimmer, um einzutreten; ihn aber hoerte ich die
Treppe hinabgehen.
Ich blieb nun bis gegen Abend in meinem Gastgemache, teils weil ich
ermuedet war und wirklich einige Ruhe noetig hatte, teils weil ich
meinem Gastfreunde nicht weiter laestig sein wollte.
Am Abende ging ich wieder ein wenig auf die Felder ausserhalb des
Gartens hinaus und kam erst zur Speisestunde zurueck. Ich hatte bei
dieser Gelegenheit gelernt, mir selber das Gitter zu oeffnen und zu
schliessen.
Es war kein Gast da, und beim Abendessen wie beim Mittagessen waren
nur mein Gastfreund, Gustav und ich. Die Gespraeche waren ueber
verschiedene gleichgueltige Dinge, wir trennten uns bald, ich verfuegte
mich auf mein Zimmer, las noch, schrieb, entkleidete mich endlich,
loeschte das Licht und begab mich zur Ruhe.
Der naechste Morgen war wieder herrlich und heiter. Ich oeffnete
die Fenster, liess Duft und Luft hereinstroemen, kleidete mich an,
erfrischte mich mit reichlichem Wasser zum Waschen, und ehe die Sonne
nur einen einzigen Tautropfen hatte aufsaugen koennen, stand ich
schon mit meinem Raenzlein auf dem Ruecken und mit meinem Hute und dem
Schwarzdornstocke in der Hand im Speisezimmer. Der alte Mann und
Gustav warteten meiner bereits.
Nachdem das Fruehmahl verzehrt worden war, wobei ich trotz der
Forderung mein Raenzlein nicht abgelegt hatte, dankte ich noch einmal
fuer die grosse Freundlichkeit und Offenheit, mit welcher ich hier
aufgenommen worden war, verabschiedete mich und begab mich auf meinen
Weg.
Der alte Mann und Gustav begleiteten mich bis zum Gittertore des
Gartens. Der Alte oeffnete, um mich hinauszulassen, so wie er
vorgestern geoeffnet hatte, um mir den Eingang zu gestatten. Beide
gingen mit mir durch das geoeffnete Tor hinaus. Als wir auf dem
Sandplatze vor dem Hause, angeweht von dem Dufte der Rosen, standen,
sagte mein Beherberger: "Nun lebt wohl und geht gluecklich eures Weges.
Wir kehren durch unser Gitter wieder in unseren Landaufenthalt und zu
unseren Beschaeftigungen zurueck. Wenn ihr in einer anderen Zeit wieder
in die Naehe kommt und es euch gefaellt, uns zu besuchen, so werdet ihr
mit Freundlichkeit aufgenommen werden. Wenn ihr aber gar, ohne dass
euch euer Weg hier vorueberfuehrt, freiwillig zu uns kommt, um uns zu
besuchen, so wird es uns besonders freuen. Es ist keine Redensart,
wenn ich sage, dass es uns freuen wuerde, ich gebrauche diese
Redensarten nicht, sondern es ist wirklich so. Wenn ihr das einmal
wollt, so lebt in diesem Hause, so lange es euch zusagt, und lebt so
ungebunden als ihr wollt, so wie auch wir so ungebunden leben werden
als wir wollen. Wenn ihr uns die Zeit vorher etwa durch einen Boten
wissen machen koenntet, waere es gut, weil wir, wenn auch nicht oft,
doch manchmal abwesend sind."
"Ich glaube, dass ihr mich freundlich aufnehmen werdet, wenn ich wieder
komme", antwortete ich, "weil ihr es sagt und euer Wesen mir so
erscheint, dass ihr nicht eine unwahre Hoeflichkeit aussprechen wuerdet.
Ich begreife zwar den Grund nicht, weshalb ihr mich einladet, aber da
ihr es tut, nehme ich es mit vieler Freude an und sage euch, dass ich
im naechsten Sommer, wenn mich auch mein gewoehnlicher Weg nicht hieher
fuehrt, freiwillig in diese Gegend und in dieses Haus kommen werde, um
eine kleine Zeit da zu bleiben."
"Tut es, und ihr werdet sehen, dass ihr nicht unwillkommen seid", sagte
er, "wenn ihr auch die Zeit ausdehnt."
"Ich werde vielleicht das Letztere tun", antwortete ich, "und so lebet
wohl."
"Lebt wohl."
Bei diesen Worten reichte er mir die Hand und drueckte sie.
Ich reichte meine Hand, da er sie losgelassen hatte, auch an den
Knaben Gustav, welcher sie annahm, aber nichts sprach, sondern mich
bloss mit seinen Augen freundlich ansah.
Hierauf schieden wir, indem sie durch das Gitter zurueckgingen, ich
aber den Hut auf dem Haupte den Weg hinabwandelte, den ich vor zwei
Tagen heraufgegangen war.
Ich fragte mich nun, bei wem ich denn diesen Tag und die zwei Naechte
zugebracht habe. Er hat um meinen Namen nicht gefragt und hat mir den
seinigen nicht genannt. Ich konnte mir auf meine Frage keine Antwort
geben.
Und so ging ich denn nun weiter. Die gruenen Aehren gaben jetzt in der
Morgensonne feurige Strahlen, waehrend sie bei meinem Heraufgehen im
Schatten des herandrohenden Gewitters gestanden waren.
Ich sah mich noch einmal um, da ich zwischen den Feldern hinabging,
und sah das weisse Haus im Sonnenscheine stehen, wie ich es schon oefter
hatte stehen gesehen, ich konnte noch den Rosenschimmer unterscheiden
und glaubte, noch das Singen der zahlreichen Voegel im Garten vernehmen
zu koennen.
Hierauf wendete ich mich wieder um und ging abwaerts, bis ich zu der
Hecke und der Einfriedigung der Felder kam, bei der ich vorgestern
von der Strasse abgebogen hatte. Ich konnte mich nicht enthalten, noch
einmal umzusehen. Das Haus stand jetzt nur mehr weiss da, wie ich es
oefter bei meinen Wanderungen gesehen hatte.
Ich ging nun auf der Landstrasse in meiner Richtung vorwaerts.
Den ersten Mann, welcher mir begegnete, fragte ich, wem das weisse Haus
auf dem Huegel gehoere und wie es hiesse.
"Es ist der Aspermeier, dem es gehoert", antwortete der Mann, "ihr seid
ja gestern selber in dem Asperhofe gewesen und seid mit dem Aspermeier
herumgegangen."
"Aber der Besitzer jenes Hauses ist doch unmoeglich ein Meier?" fragte
ich; denn mir war wohlbekannt, dass man in der Gegend jeden groesseren
Bauern einen Meier nannte.
"Er ist anfangs nicht der Aspermeier gewesen", antwortete der Mann,
"aber er hat von dem alten Aspermeier den Asperhof gekauft, und das
Haus hat er gebaut, welches in dem Garten steht und zu dem Asperhof
gehoert, und jetzt ist er der Aspermeier; denn der alte ist laengst
gestorben."
"Hat er denn nicht auch einen andern Namen?" fragte ich.
"Nein, wir heissen ihn den Aspermeier", antwortete er.
Ich sah, dass der Mann nichts Weiteres von meinem Gastfreunde wisse und
sich nicht um denselben gekuemmert habe, ich gab daher bei ihm jedes
weitere Forschen auf.
Es begegneten mir noch mehrere Menschen, von denen ich dieselbe
Antwort erhielt. Alle kehrten das Verhaeltnis um und sagten, das Haus
im Garten gehoere zu dem Asperhofe. Ich beschloss daher, vorlaeufig jedes
Forschen zu unterlassen, bis ich zu einem Menschen gekommen sein
wuerde, von dem ich berechtigt war, eine bessere Auskunft zu erwarten.
Da mir aber der Name Aspermeier und Asperhof nicht gefiel, nannte
ich das Haus, in welchem ein solcher Rosendienst getrieben wurde, in
meinem Haupte vorlaeufig dass Rosenhaus.
Es begegnete mir aber niemand, den ich noch einmal haette fragen
koennen.
Ich liess, da ich so meines Weges weiter wandelte, die Dinge des
letzten Tages in mir voruebergehen. Mich freute es, dass ich in dem
Hause eine so grosse Reinlichkeit und Ordnung getroffen hatte, wie
ich sie bisher nur in dem Hause meiner Eltern gesehen hatte. Ich
wiederholte, was der alte Mann mir gezeigt und gesagt hatte, und es
fiel mir ein, wie ich mich viel besser haette benehmen koennen, wie ich
auf manche Reden bessere Antworten geben und ueberhaupt viel bessere
Dinge haette sagen koennen.
In diesen Betrachtungen wurde ich unterbrochen. Als ich ungefaehr
eine Stunde auf dem Wege gewandert war, kam ich an die Ecke des
Buchenwaldes, von dem wir vorgestern abends gesprochen hatten, der zu
den Besitzungen meines Gastfreundes gehoert und in welchem ich einmal
eine Gabelbuche gezeichnet hatte. Der Weg geht an dem Walde etwas
steiler hinan und biegt um die Ecke desselben herum. Da ich bis zu
der Biegung gelangt war, kam mir ein Wagen entgegen, welcher mit
eingelegtem Radschuhe langsam die Strasse herabfuhr. Er mochte darum
langsamer als gewoehnlich fahren, weil sich diejenigen, welche in ihm
sassen, Vorsicht zum Gesetze gemacht haben konnten. Es sassen nehmlich
in dem offenen und des schoenen Wetters willen ganz zurueckgelegten
Wagen zwei Frauengestalten, eine aeltere und eine juengere. Beide hatten
Schleier, welche von den Hueten ueber die Schultern niedergingen. Die
aeltere hatte den Schleier ueber das Angesicht gezogen, welches aber
doch, da der Schleier weiss war, ein wenig gesehen werden konnte. Die
juengere hatte den Schleier zu beiden Seiten des Angesichts zurueckgetan
und zeigte dieses Angesicht der Luft. Ich sah sie beide an und
zog endlich zu einer hoeflichen Begruessung meinen Hut. Sie dankten
freundlich, und der Wagen fuhr vorueber. Ich dachte mir, da der Wagen
immer tiefer ueber den Berg hinabging, ob denn nicht eigentlich das
menschliche Angesicht der schoenste Gegenstand zum Zeichnen waere.
Ich sah dem Wagen noch nach, bis er durch die Biegung des Weges
unsichtbar geworden war. Dann ging ich an dem Waldrande vorwaerts und
aufwaerts.
Nach drei Stunden kam ich auf einen Huegel, von welchem ich in die
Gegend zuruecksehen konnte, aus der ich gekommen war. Ich sah mit
meinem Fernrohre, das ich aus dem Raenzlein genommen hatte, deutlich
den weissen Punkt des Hauses, in welchem ich die letzten zwei Naechte
zugebracht hatte, und hinter dem Hause sah ich die duftigen Berge. Wie
war nun der Punkt so klein in der grossen Welt.
Ich kam bald in den Ort, in welchem ich, da ich bisher nirgends
angehalten hatte, mein Mittagsmahl einzunehmen gesonnen war, obwohl
die Sonne bis zum Scheitel noch einen kleinen Bogen zurueckzulegen
hatte.
Ich fragte in dem Orte wieder um den Besitzer des weissen Hauses und
beschrieb dasselbe und seine Lage, so gut ich konnte. Man nannte mir
einen Mann, der einmal in hohen Staatsaemtern gestanden war; man nannte
mir aber zwei Namen, den Freiherrn von Risach und einen Herrn Morgan.
Ich war nun wieder ungewiss wie vorher.
Am andern Tage morgens kam ich in den Gebirgszug, welcher das Ziel
meiner Wanderung war und in welchen ich von dem anderen Gebirgszuge
durch einen Teil des flachen Landes ueberzusiedeln beschlossen hatte.
Am Mittage kam ich in dem Gasthofe an, den ich mir zur Wohnung
ausgewaehlt hatte. Mein Koffer war bereits da, und man sagte mir,
dass man mich frueher erwartet habe. Ich erzaehlte die Ursache meiner
verspaeteten Ankunft, richtete mich in dem Zimmer, das ich mir
bestellt hatte, ein und begab mich an die Geschaefte, welche in diesem
Gebirgsteile zu betreiben ich mir vorgesetzt hatte.
Der Besuch
Ich blieb ziemlich lange in meinem neuen Aufenthaltsorte. Es
entwickelte sich aus den Arbeiten ein Weiteres und Neues und hielt
mich fest. Ich drang spaeter noch tiefer in das Gebirgstal ein
und begann Dinge, die ich mir fuer diesen Sommer gar nicht einmal
vorgenommen hatte.
Im spaeten Herbste kehrte ich zu den Meinigen zurueck. Es erging mir auf
dieser Reise, wie es mir auf jeder Heimreise ergangen war. Als ich das
Gebirge verliess, waren die Bergahornblaetter und die der Birken und
Eschen nicht nur schon laengst abgefallen, sondern sie hatten auch
bereits ihre schoene gelbe Farbe verloren und waren schmutzig schwarz
geworden, was nicht mehr auf die Kinder der Zweige erinnerte, die sie
im Sommer gewesen waren, sondern auf die befruchtende Erde, die sie
im Winter fuer den neuen Nachwuchs werden sollten; die Bewohner der
Bergtaeler und der Halden, die wohl gelegentlich in jeder Jahreszeit
Feuer machen, unterhielten es schon den ganzen Tag in ihrem Ofen,
um sich zu waermen, und an heiteren Morgen glaenzte der Reif auf den
Bergwiesen und hatte bereits das Gruen der Farrenkraeuter in ein duerres
Rostbraun verwandelt: da ich aber in die Ebene gelangt war und die
Berge mir am Rande derselben nur mehr wie ein blauer Saum erschienen,
und da ich endlich gar auf dem breiten Strome zu unserer Hauptstadt
hinabfuhr, umfaechelten mich so weiche und warme Luefte, dass ich meinte,
ich haette die Berge zu frueh verlassen. Es war aber nur der Unterschied
der Himmelsbeschaffenheit in dem Gebirge und in den entfernten
Niederungen. Als ich das Schiff verlassen hatte und an den Toren
meiner Heimatstadt angekommen war, trugen die Akazien noch ihr Laub,
warmer Sonnenschein legte sich auf die Umfassungsmauern und auf die
Haeuser, und schoengekleidete Menschen lustwandelten in den Stunden
des Nachmittages. Die liebliche roetliche und dunkelblaue Farbe
der Weintrauben, die man an dem Tore und auf dem Platze innerhalb
desselben feil bot, brachte mir manchen freundlichen und froehlichen
Herbsttag meiner Kindheit in Erinnerung.
Ich ging die gerade Gasse entlang, ich bog in ein paar Nebenstrassen
und stand endlich vor dem wohlbekannten Vorstadthause mit dem Garten.
Da ich die Treppe hinangegangen war, da ich die Mutter und die
Schwester gefunden hatte, war die erste Frage nach Gesundheit und
Wohlbefinden aller Angehoerigen. Es war alles im besten Stande, die
Mutter hatte auch meine Zimmer ordnen lassen, alles war abgestaubt,
gereinigt und an seinem Platze, als haette man mich gerade an diesem
Tage erwartet.
Nach einem kurzen Gespraeche mit der Mutter und der Schwester kleidete
ich mich, ohne meinen Koffer zu erwarten, von meinen zurueckgelassenen
Kleidern auf staedtische Weise an, um in die Stadt zu gehen und den
Vater zu begruessen, der noch auf seiner Handelsstube war. Das Gewimmel
der Leute in den Gassen, das Herumgehen geputzter Menschen in den
Baumgaengen des gruenen Platzes zwischen der Stadt und den Vorstaedten,
das Fahren der Waegen und ihr Rollen auf den mit Steinwuerfeln
gepflasterten Strassen und endlich, als ich in die Stadt kam, die
schoenen Warenauslagen und das Ansehnliche der Gebaeude befremdeten und
beengten mich beinahe als ein Gegensatz zu meinem Landaufenthalte;
aber ich fand mich nach und nach wieder hinein, und es stellte sich
als das Langgewohnte und Allbekannte wieder dar. Ich ging nicht zu
meinen Freunden, an deren Wohnung ich vorueberkam, ich ging nicht in
die Buchhandlung, in der ich manche Stunde des Abends zuzubringen
gewohnt war und die an meinem Wege lag, sondern ich eilte zu meinem
Vater. Ich fand ihn an dem Schreibtische und gruesste ihn ehrerbietig
und wurde auch von ihm auf das Herzlichste empfangen. Nach kurzer
Unterredung ueber Wohlbefinden und andere allgemeine Dinge sagte er,
dass ich nach Hause gehen moechte, er habe noch Einiges zu tun, werde
aber bald nachkommen, um mit der Mutter, der Schwester und mir den
Abend zuzubringen.
Ich ging wieder gerades Weges nach Hause. Dort machte ich einen Gang
durch den Garten, sprach einige liebkosende Worte zu dem Hofhunde, der
mich mit Heulen und Freudenspruengen begruesste, und brachte dann noch
eine Weile bei der Mutter und der Schwester zu. Hierauf ging ich in
alle Zimmer unserer Wohnung, besonders in die mit den alten Geraeten,
den Buechern und Bildern. Sie kamen mir beinahe unscheinbar vor.
Nach einiger Zeit kam auch der Vater. Es war heute in dem Stuebchen, in
welchem die alten Waffen hingen und um welches der Epheu rankte, zum
Abendessen aufgedeckt worden. Man hatte sogar bis gegen Abend die
Fenster offen lassen koennen. Da waehrend meines Ganges in die Stadt
mein Koffer und meine Kisten von dem Schiffe gekommen waren, konnte
ich die Geschenke, welche ich von der Reise mitgebracht hatte, in das
Stuebchen schaffen lassen: fuer die Mutter einige seltsame Toepfe und
Geschirre, fuer den Vater ein Amonshorn von besonderer Groesse und
Schoenheit, andere Marmorstuecke und eine Uhr aus dem siebenzehnten
Jahrhunderte, und fuer die Schwester das gewoehnliche Edelweiss,
getrockneten Enzian, ein seidenes Bauertuechlein und silberne
Brustkettlein, wie man sie in einigen Teilen des Gebirges traegt. Auch
was man mir als Geschenke vorbereitet hatte, kam in das Stueblein:
von der Mutter und Schwester verfertigte Arbeiten, darunter eine
Reisetasche von besonderer Schoenheit, dann saemtliche Arten guter
Bleifedern, nach den Abstufungen der Haerte in einem Fache geordnet,
besonders treffliche Federkiele, glattes Papier, und von dem Vater ein
Gebirgsatlas, dessen ich schon einige Male Erwaehnung getan und den
er fuer mich gekauft hatte. Nachdem alles mit Freuden gegeben und
empfangen worden war, setzte man sich zu dem Tische, an dem wir
heute Abend nur allein waren, wie es nach und nach bei jeder meiner
Zurueckkuenfte nach einer laengeren Abwesenheit der Gebrauch geworden
war. Es wurden die Speisen aufgetragen, von denen die Mutter
vermutete, dass sie mir die liebsten sein koennten. Die Vertraulichkeit
und die Liebe ohne Falsch, wie man sie in jeder wohlgeordneten Familie
findet, tat mir nach der laengeren Vereinsamung ausserordentlich wohl.
Als die ersten Besprechungen ueber alles, was zunaechst die Angehoerigen
betraf und was man in der juengsten Zeit erlebt hatte, vorueber waren,
als man mir den ganzen Gang des Hauswesens waehrend meiner Abwesenheit
auseinandergesetzt hatte, musste ich auch von meiner Reise erzaehlen.
Ich erklaerte ihren Zweck und sagte, wo ich gewesen sei und was ich
getan habe, ihn zu erreichen. Ich erwaehnte auch des alten Mannes und
erzaehlte, wie ich zu ihm gekommen sei, wie gut ich von ihm aufgenommen
worden sei und was ich dort gesehen habe. Ich sprach die Vermutung
aus, dass er, seiner Sprache nach zu urteilen, aus unserer Stadt sein
koennte. Mein Vater ging seine Erinnerungen durch, konnte aber auf
keinen Mann kommen, der dem von mir beschriebenen aehnlich waere. Die
Stadt ist gross, meinte er, es koennten da viele Leute gelebt haben,
ohne dass er sie haette kennen lernen koennen. Die Schwester meinte,
vielleicht haette ich ihn auch der Umgebung zufolge, in welcher ich ihn
gefunden habe, schon in einem anderen und besonderen Lichte gesehen
und in solchem dargestellt, woraus er schwerer zu erkennen sei. Ich
entgegnete, dass ich gar nichts gesagt habe, als was ich gesehen haette
und was so deutlich sei, dass ich es, wenn ich mit Farben besser
umzugehen wuesste, sogar malen koennte. Man meinte, die Zeit werde die
Sache wohl aufklaeren, da er mich auf einen zweiten Besuch eingeladen
habe und ich gewiss nicht anstehen werde, denselben abzustatten. Dass
ich ihn nicht geradezu um seinen Namen gefragt habe, billigten alle
meine Angehoerigen, da er weit mehr getan, nehmlich mich aufgenommen
und beherbergt habe, ohne um meinen Namen oder um meine Herkunft zu
forschen.
Der Vater erkundigte sich im Laufe des Gespraeches genauer nach manchen
Gegenstaenden in dem Hause des alten Mannes, deren ich Erwaehnung getan
hatte, besonders fragte er nach den Marmoren, nach den alten Geraeten,
nach den Schnitzarbeiten, nach den Bildsaeulen, nach den Gemaelden und
den Buechern.
Die Marmore konnte ich ihm fast ganz genau beschreiben, die alten
Geraete beinahe auch. Der Vater geriet ueber die Beschreibung in
Bewunderung und sagte, es wuerde fuer ihn eine grosse Freude sein, einmal
solche Dinge mit eigenen Augen sehen zu koennen. Ueber Schnitzarbeiten
konnte ich schon weniger sagen, ueber die Buecher auch nicht viel, und
das wenigste, beinahe gar nichts, ueber Bildsaeulen und Gemaelde. Der
Vater drang auch nicht darauf und verweilte nicht lange bei diesen
letzteren Gegenstaenden - die Mutter meinte, es waere recht schoen, wenn
er sich einmal aufmachte, eine Reise in das Oberland unternaehme und
die Sachen bei dem alten Manne selber ansaehe. Er sitze jetzt immer
wieder zu viel in seiner Schreibstube, er gehe in letzter Zeit auch
alle Nachmittage dahin und bleibe oft bis in die Nacht dort. Eine
Reise wuerde sein Leben recht erfrischen, und der alte Mann, der
den Sohn so freundlich aufgenommen habe, wuerde ihn gewiss herzlich
empfangen und ihm als einem Kenner seine Sammlungen noch viel lieber
zeigen als einem andern. Wer weiss, ob er nicht gar auf dieser Reise
das eine oder andere Stueck fuer seine Altertumszimmer erwerben koennte.
Wenn er immer warte, bis die dringendsten Geschaefte vorueber waeren
und bis er sich mehr auf die juengeren Leute in seiner Arbeitsstube
verlassen koenne, so werde er gar nie reisen; denn die Geschaefte seien
immer dringend, und sein Misstrauen in die Kraefte der juengeren Leute
wachse immer mehr, je aelter er werde und je mehr er selber alle Sachen
allein verrichten wolle.
Der Vater antwortete, er werde nicht nur schon einmal reisen,
sondern sogar eines Tages sich in den Ruhestand setzen und keine
Handelsgeschaefte weiter vornehmen.
Die Mutter erwiderte, dass dies sehr gut sein und dass ihr dieser Tag
wie ein zweiter Brauttag erscheinen werde.
Ich musste dem Vater nun auch die einzelnen Holzgattungen angeben, aus
denen die verschiedenen Geraete in dem Rosenhause eingelegt seien,
aus denen die Fussboeden bestanden, und endlich aus welchen geschnitzt
wuerde. Ich tat es so ziemlich gut, denn ich hatte bei der Betrachtung
dieser Dinge an meinen Vater gedacht und hatte, mir mehr gemerkt, als
sonst der Fall gewesen sein wuerde. Ich musste ihm auch beschreiben, in
welcher Ordnung diese Hoelzer zusammengestellt seien, welche Gestalten
sie bildeten und ob in der Zusammenstellung der Linien und Farben
ein schoener Reiz liege. Ebenso musste ich ihm auch noch mehr von den
Marmorarten erzaehlen, die in dem Gange und in dem Saale waeren, und
musste darstellen, wie sie verbunden waeren, welche Gattungen an
einander grenzten und wie sie sich dadurch abhoeben. Ich nahm haeufig
ein Stueck Papier und die Bleifeder zur Hand, um zu versinnlichen,
was ich gesehen haette. Er tat auch weitere Fragen, und durch ihre
zweckmaessige Aufeinanderfolge konnte ich mehr beantworten, als ich mir
gemerkt zu haben glaubte.
Als es schon spaet geworden war, mahnte die Mutter zur Ruhe, wir
trennten uns von dem Waffenhaeuschen und begaben uns zu Bette.
Am anderen Tage begann ich meine Wohnung fuer den Winter einzurichten.
Ich packte nach und nach die Sachen, welche ich von meiner Reise
mitgebracht hatte, aus, stellte sie nach gewohnter Art und Weise auf
und suchte sie in die vorhandenen einzureihen. Diese Beschaeftigung
nahm mehrere Tage in Anspruch.
Am ersten Sonntage nach meiner Ankunft war ein Bewillkommungsmahl.
Alle Leute von dem Handelsgeschaefte meines Vaters waren besonders
eingeladen worden, und es wurden bessere Speisen und besserer Wein
auf den Tisch gesetzt. Auch die zwei alten Leute, die in dem dunkeln
Stadthause unsere Wohnungsnachbarn gewesen waren, sind zu diesem Mahle
geladen worden, weil sie mich sehr lieb hatten und weil die Frau
gesagt hatte, dass aus mir einmal grosse Dinge worden wuerden. Diese
Mahle waren schon seit ein paar Jahren Sitte, und die alten Leute
waren jedesmal Gaeste dabei.
Als ich mit dem Hauptsaechlichsten in der Anordnung meiner Zimmer
fertig war, besuchte ich auch meine Freunde in der Stadt und brachte
wieder manche Abenddaemmerung in der Buchhandlung zu, welche mir ein
lieber Aufenthalt geworden war. Wenn ich durch die Gassen der Stadt
ging, war es mir, als haette ich das, was ich von dem alten Manne
wusste, in einem Maerchenbuche gelesen; wenn ich aber wieder nach Hause
kam und in die Zimmer mit den altertuemlichen Gegenstaenden und mit
den Bildern ging, so war er wieder wirklich und passte hieher als
Vergleichsgegenstand.
Die Spuren, welche mit einer Ankunft nach einer laengeren Reise in
einer Wohnung immer unzertrennlich verbunden sind, namentlich wenn man
von dieser Reise viele Gegenstaende mitgebracht hat, welche geordnet
werden muessen, waren endlich aus meinem Zimmer gewichen, meine Buecher
standen und lagen zum Gebrauche bereit, und meine Werkzeuge und
Zeichnungsgeraetschaften waren in der Ordnung, wie ich sie fuer den
Winter bedurfte. Dieser Winter war aber auch schon ziemlich nahe. Die
letzten schoenen Spaetherbsttage, die unserer Stadt so gerne zu Teil
werden, waren vorueber, und die neblige, nasse und kalte Zeit hatte
sich eingestellt.
In unserem Hause war waehrend meiner Abwesenheit eine Veraenderung
eingetreten. Meine Schwester Klotilde, welche bisher immer ein Kind
gewesen war, war in diesem Sommer ploetzlich ein erwachsenes Maedchen
geworden. Ich selber hatte mich bei meiner Rueckkehr sehr darueber
verwundert, und sie kam mir beinahe ein wenig fremd vor.
Diese Veraenderung brachte fuer den kommenden Winter auch eine
Veraenderung in unser Haus. Unser Leben war fuer die Hauptstadt eines
grossen Reiches bisher ein sehr einfaches und beinah laendliches
gewesen. Der Kreis der Familien, mit denen wir verkehrten, hatte keine
grosse Ausdehnung gehabt, und auch da hatten sich die Zusammenkuenfte
mehr auf gelegentliche Besuche oder auf Spiele der Kinder im Garten
beschraenkt. Jetzt wurde es anders. Zu Klotilden kamen Freundinnen,
mit deren Eltern wir in Verbindung gewesen waren, diese hatten wieder
Verwandte und Bekannte, mit denen wir nach und nach in Beziehungen
gerieten. Es kamen Leute zu uns, es wurde Musik gemacht, vorgelesen,
wir kamen auch zu anderen Leuten, wo man sich ebenfalls mit Musik und
aehnlichen Dingen unterhielt. Diese Verhaeltnisse uebten aber auf unser
Haus keinen so wesentlichen Einfluss aus, dass sie dasselbe umgestaltet
haetten. Ich lernte ausser den Freunden, die ich schon hatte und an
deren Art und Weise ich gewoehnt war, noch neue kennen. Sie hatten
meistens ganz andere Bestrebungen als ich und schienen mir in den
meisten Dingen ueberlegen zu sein. Sie hielten mich auch fuer besonders,
und zwar zuerst darum, weil die Art der Erziehung in unserem Hause
eine andere gewesen war als in anderen Haeusern, und dann, weil ich
mich mit anderen Dingen beschaeftigte als auf die sie ihre Wuensche
und Begierden richteten. Ich vermutete, dass sie mich wegen meiner
Sonderlichkeit geringer achteten als sich unter einander selbst.
Sie erwiesen meiner Schwester grosse Aufmerksamkeiten und suchten ihr
zu gefallen. Die jungen Leute, welche in unser Haus kommen durften,
waren nur lauter solche, deren Eltern zu uns eingeladen waren, die wir
auch besuchten und an deren Sitten sich kein Bedenken erhob. Meine
Schwester wusste nicht, dass ihr die Maenner gefallen sollten, und sie
achtete nicht darauf. Ich aber kam in jenen Tagen, wenn mir einfiel,
dass meine Schwester einmal einen Gatten haben werde, immer auf den
nehmlichen Gedanken, dass dies kein anderer Mann sein koenne als der so
waere wie der Vater.
Auch mich zogen diese jungen Maenner und andere, die nicht eben der
Schwester willen in das Haus kamen, oefter in ihre Gespraeche; sie
erzaehlten mir von ihren Ansichten, Bestrebungen, Unterhaltungen und
manche vertrauten mir Dinge, welche sie in ihrem geheimen Inneren
dachten. So sagte mir einmal einer namens Preborn, welcher der Sohn
eines alten Mannes war, der ein hohes Amt am Hofe bekleidete und oefter
in unser Haus kam, die junge Tarona sei die groesste Schoenheit der
Stadt, sie habe einen Wuchs, wie ihn niemand von der halben Million
der Einwohner der Stadt habe, wie ihn nie irgend jemand gehabt habe,
und wie ihn keine Kuenstler alter und neuer Zeit darstellen koennten.
Augen habe sie, welche Kiesel in Wachs verwandeln und Diamanten
schmelzen koennten. Er liebe sie mit solcher Heftigkeit, dass er manche
Nacht ohne Schlaf auf seinem Lager liege oder in seiner Stube herum
wandle. Sie lebe nicht hier, komme aber oefter in die Stadt, er werde
sie mir zeigen, und ich muesse ihm als Freund in seiner Lage beistehen.
Ich dachte, dass vieles in diesen Worten nicht Ernst sein koenne. Wenn
er das Maedchen so sehr liebe, so haette er es mir oder einem andern gar
nicht sagen sollen, auch wenn wir Freunde gewesen waeren. Freunde waren
wir aber nicht, wenn man das Wort in der eigentlichen Bedeutung nimmt,
wir waren es nur, wie man es in der Stadt mit einer Redeweise von
Leuten nennt, die einander sehr bekannt sind und mit einander oefter
umgehen. Und endlich konnte er ja keinen Beistand von mir erwarten,
der ich in der Art mit Menschen umzugehen nicht sehr bewandert war und
in dieser Hinsicht weit unter ihm selber stand.
Ich besuchte zuweilen auch den einen oder den anderen dieser jungen
Leute ausser der Zeit, in der wir in Begleitung unserer Eltern
zusammenkamen, und da war ebenfalls oefter von Maedchen die Rede. Sie
sagten, wie sie diese oder jene lieben, sich vergeblich nach ihr
sehnen oder von ihr Zeichen der Gegenneigung erhalten haetten. Ich
dachte, das sollten sie nicht sagen; und wenn sie eine mutwillige
Bemerkung ueber die Gestalt oder das Benehmen eines Maedchens
ausdrueckten, so erroetete ich, und es war mir, als waere meine Schwester
beleidigt worden.
Ich ging nun oefter in die Stadt und betrachtete aufmerksamer den alten
Bau unseres Erzdomes. Seit ich die Zeichnungen von Bauwerken in dem
Rosenhause so genau und in solcher Menge angesehen hatte, waren mir
die Bauwerke nicht mehr so fremd wie frueher. Ich sah sie gerne an, ob
sie irgend etwas Aehnliches mit den Gegenstaenden haetten, die ich in den
Zeichnungen gesehen hatte. Auf meiner Reise von dem Rosenhause in das
Gebirgstal, in welchem ich mich spaeter aufgehalten hatte, und von
diesem Gebirgstale bis zu dem Schiffe, das mich zur Heimreise
aufnehmen sollte, war mir nichts besonders Betrachtenswertes
vorgekommen. Nur einige Wegsaeulen sehr alter Art erinnerten an die
reinen und anspruchlosen Gestalten, wie ich sie bei dem Meister auf
dem reinen Papier mit reinen Linien gesehen hatte. Aber in der Nische
der einen Wegsaeule war statt des Standbildes, das einst darinnen
gewesen war und auf welches der Sockel noch hinwies, ein neues Gemaelde
mit bunten Farben getan worden, in der anderen fehlte jede Gestalt.
Auf meiner Stromesfahrt kam ich wohl an Kirchen und Burgen vorueber,
die der Beachtung wert sein mochten, aber mein Zweck fuehrte mich in
dem Schiffe weiter. An dem Erzdome sah ich beinahe alle Gestalten von
Verzierungen, Simsen, Boegen, Saeulen und groesseren Teilwerken, wie ich
sie auf dem Papier im Rosenhause gesehen hatte. Es ergoetzte mich, in
meiner Erinnerung diese Gestalten mit den gesehenen zu vergleichen und
sie gegenseitig abzuschaetzen.
Auch in Beziehung der Edelsteine fiel mir das ein, was der alte Mann
in dem Rosenhause ueber die Fassung derselben gesagt hatte. Es gab
Gelegenheit genug, gefasste Edelsteine zu sehen. In unzaehligen
Schaufenstern der Stadt liegen Schmuckwerke zur Ansicht und zur
Verlockung zum Kaufe aus. Ich betrachtete sie ueberall, wo sie mir auf
meinem Wege aufstiessen, und ich musste denken, dass der alte Mann recht
habe. Wenn ich mir die Zeichnungen von Kreuzen, Rosen, Sternen,
Nischen und dergleichen Dingen an mittelalterlichen Baugegenstaenden,
wie ich sie im Rosenhause gesehen hatte, vergegenwaertigte, so waren
sie viel leichter, zarter und, ich moechte den Ausdruck gebrauchen,
inniger als diese Sachen hier, und waren doch nur Teile von Bauwerken,
waehrend diese Schmuck sein sollten. Mir kam wirklich vor, dass sie, wie
er gesagt hatte, unbeholfen in Gold und unbeholfen in den Edelsteinen
seien. Nur bei einigen Vorkaufsorten, die als die vorzueglichsten
galten, fand ich eine Ausnahme. Ich sah, dass dort die Fassungen sehr
einfach waren, ja dass man, wenn die Edelsteine einmal eine groessere
Gestalt und einen hoeheren Wert annahmen, schier gar keine Fassung
mehr machte, sondern nur so viel von Gold oder kleinen Diamanten
anwendete, als unumgaenglich noetig schien, die Dinge nehmen und an dem
menschlichen Koerper befestigen zu koennen. Mir schien dieses schon
besser, weil hier die Edelsteine allein den Wert und die Schoenheit
darstellen sollten. Ich dachte aber in meinem Herzen, dass die
Edelsteine, wie schoen sie auch seien, doch nur Stoffe waeren, und dass
es viel vorzueglicher sein muesste, wenn man sie, ohne dass ihre Schoenheit
einen Eintrag erhielte, doch auch mit einer Gestalt umgaebe, welche
ausser der Lieblichkeit des Stoffes auch den Geist des Menschen sehen
liesse, der hier taetig war und an dem man Freude haben koennte. Ich nahm
mir vor, wenn ich wieder zu meinem alten Gastfreunde kaeme, mit ihm
ueber die Sache zu reden. Ich sah, dass ich in dem Rosenhause etwas
Erspriessliches gelernt hatte.
Ich wurde bei jener Gelegenheit zufaellig mit dem Sohne eines
Schmuckhaendlers bekannt, welcher als der vorzueglichste in der Stadt
galt. Er zeigte mir oefter die wertvolleren Gegenstaende, die sie in dem
Verkaufsgewoelbe hatten, die aber nie in einem Schaufenster lagen, er
erklaerte mir dieselben und machte mich auf die Merkmale aufmerksam, an
denen man die Schoenheit der Edelsteine erkennen koenne. Ich getraute
mir nie, meine Ansichten ueber die Fassung derselben darzulegen. Er
versprach mir, mich naeher in die Kenntnis der Edelsteine einfuehren,
und ich nahm es recht gerne an.
Weil ich durch meine Gebirgswanderungen an viele Bewegung gewoehnt war,
so ging ich alle Tage entweder durch Teile der Stadt herum, oder ich
machte einen Weg in den Umgebungen derselben. Das Zutraegliche der
starken Gebirgsluft ersetzte nur hier die Herbstluft, die immer rauher
wurde, und ich ging ihr sehr gerne entgegen, wenn sie mit Nebeln
gefuellt oder hart von den Bergen her wehte, die gegen Westen die
Umgebungen unserer Stadt saeumten.
Ich fing auch in jener Zeit an, das Theater zuweilen zu besuchen.
Der Vater hatte, so lange wir Kinder waren, nie erlaubt, dass wir
ein Schauspiel zu sehen bekaemen. Er sagte, es wuerde dadurch die
Einbildungskraft der Kinder ueberreizt und ueberstuerzt, sie behingen
sich mit allerlei willkuerlichen Gefuehlen und gerieten dann in
Begierden oder gar Leidenschaften. Da wir mehr herangewachsen waren,
was bei mir schon seit laengerer Zeit, bei der Schwester aber kaum
seit einem Jahre der Fall war, durften wir zu seltenen Zeiten das
Hoftheater besuchen. Der Vater waehlte zu diesen Besuchen jene Stuecke
aus, von denen er glaubte, dass sie uns angemessen waeren und unser
Wesen foerderten. In die Oper oder gar in das Ballet durften wir
nie gehen, eben so wenig durften wir ein Vorstadttheater besuchen.
Wir sahen auch die Auffuehrung eines Schauspiels nie anders als in
Gesellschaft unserer Eltern. Seit ich selbststaendig gestellt war,
hatte ich auch die Freiheit, nach eigener Wahl die Schauspielhaeuser
zu besuchen. Da ich mich aber mit wissenschaftlichen Arbeiten
beschaeftigte, hatte ich nach dieser Richtung hin keinen maechtigen Zug.
Aus Gewohnheit ging ich manchmal in eines von den nehmlichen Stuecken,
die ich schon mit den Eltern gesehen hatte. In diesem Herbste wurde es
anders. Ich waehlte zuweilen selber ein Stueck aus, dessen Auffuehrung im
Hoftheater ich sehen wollte.
Es lebte damals an der Hofbuehne ein Kuenstler, von dem der Ruf sagte,
dass er in der Darstellung des Koenigs Lear von Shakespeare das Hoechste
leiste, was ein Mensch in diesem Kunstzweige zu leisten im Stande
sei. Die Hofbuehne stand auch in dem Rufe der Musteranstalt fuer ganz
Deutschland. Es wurde daher behauptet, dass es in deutscher Sprache auf
keiner deutschen Buehne etwas gaebe, was jener Darstellung gleich kaeme,
und ein grosser Kenner von Schauspieldarstellungen sagte in seinem
Buche ueber diese Dinge von dem Darsteller des Koenigs Lear auf unserer
Hofbuehne, dass es unmoeglich waere, dass er diese Handlung so darstellen
koennte, wie er sie darstellte, wenn nicht ein Strahl jenes wunderbaren
Lichtes in ihm lebte, wodurch dieses Meisterwerk erschaffen und mit
unuebertrefflicher Weisheit ausgestattet worden ist.
Ich beschloss daher, da ich diese Umstaende erfahren hatte, der naechsten
Vorstellung des Koenig Lear auf unserer Hofbuehne beizuwohnen.
Eines Tages war in den Zeitungen, die taeglich zu dem Fruehmahle
des Vaters kamen, fuer die Hofbuehne die Auffuehrung des Koenig Lear
angekuendigt und als Darsteller des Lear der Mann genannt, von dem ich
gesprochen habe und der jetzt schon dem Greisenalter entgegen geht.
Die Jahreszeit war bereits in den Winter hinein vorgerueckt. Ich
richtete meine Geschaefte so ein, dass ich in der Abendzeit den Weg
zu dem Hoftheater einschlagen konnte. Da ich gerne das Treiben der
Stadt ansehen wollte, wie ich auf meinen Reisen die Dinge im Gebirge
untersuchte, ging ich frueher fort, um langsam den Weg zwischen der
Vorstadt und der Stadt zurueck zu legen. Ich hatte einen einfachen
Anzug angelegt, wie ich ihn gerne auf Spaziergaengen hatte, und eine
Kappe genommen, die ich bei meinen Reisen trug. Es fiel ein feiner
Regen nieder, obwohl es in der unteren Luft ziemlich kalt war. Der
Regen war mir nicht unangenehm, sondern eher willkommen, wenn er mir
auch auf meinen Anzug fiel, an dem nicht viel zu verderben war. Ich
schritt seinem Rieseln mit Gemessenheit entgegen. Der Weg zwischen den
Baeumen auf dem freien Raume vor der Stadt war durch das Eis, welches
sich bildete, gleichsam mit Glas ueberzogen, und die Leute, welche vor
und neben mir gingen, glitten haeufig aus. Ich war an schwierige Wege
gewoehnt und ging auf der Mitte der Eisbahn ohne Beschwerde fort.
Die Zweige der Baeume glaenzten in der Nachbarschaft der brennenden
Laternen, sonst war es ueberall finstere Nacht, und der ganze Raum und
die Mauern der Stadt waren in ihrer Dunkelheit verborgen. Als ich von
dem Gehwege in die Fahrstrasse einbog, rasselten viele Waegen an mir
vorueber, und die Pferde zerstampften und die Raeder zerschnitten die
sich bildende Eisdecke. Die meisten von ihnen, wenn auch nicht alle,
fuhren in das Theater. Mir kam es beinahe sonderbar vor, dass sie und
ich selber in diesem unfreundlichen Wetter einem Raume zustrebten, in
welchem eine erlogene Geschichte vorgespiegelt wird. So kam ich in die
erleuchtete Ueberwoelbung, in der die Waegen hielten, ich wendete mich
von ihr in den Eingang, kaufte meine Karte, steckte meine Kappe in die
Tasche meines Ueberrocks, gab diesen in das Kleiderzimmer und trat in
den hellen ebenerdigen Raum des Darstellungssaales. - Ich hatte von
meinem Vater die Gewohnheit angenommen, nie von oben herab oder
von grosser Entfernung die Darstellung eines Schauspieles zu sehen,
weil man den Menschen, welche die Handlung darstellen, in ihrer
gewoehnlichen Stellung nicht auf die obere Flaeche ihres Kopfes oder
ihrer Schultern sehen soll und weil man ihre Mienen und Geberden
soll betrachten koennen. Ich blieb daher ungefaehr am Ende des ersten
Drittteiles der Laenge des Raumes stehen und wartete, bis sich der Saal
fuellen wuerde und die Glocke zum Beginne des Stueckes toente.
Sowohl die gewoehnlichen Sitze als auch die Logen fuellten sich sehr
stark mit geputzten Leuten, wie es Sitte war, und wahrscheinlich von
dem Rufe des Stueckes und des Schauspielers angezogen stroemte heute
eine weit groessere und gemischtere Menge, wie man bei dem ersten Blicke
erkennen konnte, in diese Raeume. Maenner, die neben mir standen,
sprachen dieses aus, und in der Tat war in der Versammlung manche
Gestalt zu sehen, die von den entferntesten Teilen der Vorstaedte
gekommen sein musste. Die meisten, da endlich gleichsam Haupt an Haupt
war, blickten neugierig nach dem Vorhange der Buehne.
Es war damals nicht meine Gewohnheit, und ist es jetzt auch noch
nicht, in ueberfuellten Raeumen die Menge der Menschen, die Kleider, den
Putz, die Lichter, die Angesichter und dergleichen zu betrachten.
Ich stand also ruhig, bis die Musik begann und endete, bis sich der
Vorhang hob und das Stueck den Anfang nahm.
Der Koenig trat ein und war, wie er spaeter von sich sagte, jeder Zoll
ein Koenig. Aber er war auch ein uebereilender und bedaurungswuerdiger
Tor. Regan, Goneril und Cordelia redeten, wie sie nach ihrem Gemuete
reden mussten, auch Kent redete so, wie er nicht anders konnte. Der
Koenig empfing die Reden, wie er nach seinem heftigen, leichtsinnigen
und doch liebenswuerdigen Gemuete ebenfalls musste. Er verbannte die
einfache Cordelia, die ihre Antwort nicht schmuecken konnte, der er
desto heftiger zuernte, da sie frueher sein Liebling gewesen war, und
gab sein Reich den beiden anderen Toechtern, Regan und Goneril, die
ihm auf seine Frage, wer ihn am meisten liebe, mit uebertriebenen
Ausdruecken schmeichelten und ihm dadurch, wenn er der Betrachtung
faehig gewesen waere, schon die Unechtheit ihrer Liebe dartaten, was
auch die edle Cordelia mit solchem Abscheu erfuellte, dass sie auf die
Frage, wie _sie_ den Vater liebe, weniger zu antworten wusste, als sie
vielleicht zu einer anderen Zeit, wo das Herz sich freiwillig oeffnete,
gesagt haette. Gegen Kent, der Cordelia verteidigen wollte, wuetete er
und verbannte ihn ebenfalls, und so sieht man bei dieser heftigen und
kindischen Gemuetsart des Koenigs ueblen Dingen entgegen.
Ich kannte dieses Schauspiel nicht und war bald von dem Gange der
Handlung eingenommen.
Der Koenig wohnt nun mit seinen hundert Rittern im ersten Monate bei
der einen Tochter, um im zweiten dann bei der anderen zu sein und
so abwechselnd fortzufahren, wie es bedungen war. Die Folgen dieser
schwachen Massregel zeigten sich auch im Lande. In dem hohen Hause
Glosters empoert sich ein unehelicher Sohn gegen den Vater und den
rechtmaessigen Bruder und ruft unnatuerliche Dinge in die Welt, da auch
in des Koenigs Hause unnatuerliche und unzweckmaessige Dinge geschahen. In
dem Hofhalte der Tochter und in der in diesen Hofhalt eingepflanzten
zweiten Hofhaltung des Koenigs und seiner hundert Ritter entstehen
Anstaende und Widrigkeiten, und die Entgegnungen der Tochter gegen das
Tun des Koenigs und seines Gefolges sind sehr begreiflich, aber fast
unheimlich. Beinahe herzzerreissend ist nun die treuherzige, fast bloede
Zuversicht des Koenigs, womit er die eine Tochter, die mit schnoeden
Worten seinen Handlungen entgegen getreten war, verlaesst, um zu der
anderen, sanfteren zu gehen, die ihn mit noch haerterem Urteile
abweist. Sein Diener ist hier in den Stock geschlagen, er selber
findet keine Aufnahme, weil man nicht vorbereitet ist, weil man die
andere Schwester erwartet, die man aufnehmen muss, man raet dem Koenig,
zu der verlassenen Tochter zurueckzukehren und sich ihren Massregeln zu
fuegen. Bei dem Koenige war vorher blindes Vertrauen in die Toechter,
Uebereilung im Urteile gegen Cordelia, Leichtsinn in Vergebung der
Wuerden: jetzt entsteht Reue, Scham, Wut und Raserei. Er will nicht
zu der Tochter zurueckkehren, eher geht er in den Sturm und in das
Ungewitter auf die Haide hinaus, die gegen ihn wueten duerfen, denen er
ja nichts geschenkt hat. Er tritt in die Wueste bei Nacht, Sturm und
Ungewitter, der Greis gibt die weissen Haare den Winden preis, da
er auf der Haide vorschreitet, von niemandem begleitet als von dem
Narren, er wirft den Mantel in die Luft, und da er sich in Ausdruecken
erschoepft hat, weiss er nichts mehr als die Worte - Lear! Lear! Lear!
aber in diesem einzigen Worte liegt seine ganze vergangene Geschichte
und liegen seine ganzen gegenwaertigen Gefuehle. Er wirft sich spaeter
dem Narren an die Brust und ruft mit Angst: Narr, Narr! ich werde
rasend - ich moechte nicht rasend werden - nur nicht toll! Da er die
drei letzten Worte milder sagte, gleichsam bittend, so flossen mir
die Traenen ueber die Wangen herab, ich vergass die Menschen herum und
glaubte die Handlung als eben geschehend. Ich stand und sah unverwandt
auf die Buehne. Der Koenig wird nun wirklich toll, er kraenzt sich in den
Tagen nach jener Sturmnacht mit Blumen, schwaermt auf den Huegeln und
Haiden und haelt mit Bettlern einen hohen Gerichtshof. Es ist indessen
schon Botschaft an seine Tochter Cordelia getan worden, dass Regan
und Goneril den Vater schnoed behandeln. Diese war mit Heeresmacht
gekommen, um ihn zu retten. Man hatte ihn auf der Haide gefunden, und
er liegt nun im Zelte Cordelias und schlaeft. Waehrend der letzten Zeit
ist er in sich zusammengesunken, er ist, waehrend wir ihn so vor uns
sahen, immer aelter, ja gleichsam kleiner geworden. Er hatte lange
geschlafen, der Arzt glaubt, dass der Zustand der Geisteszerruettung nur
in der uebermannenden Heftigkeit der Gefuehle gelegen war und dass sich
sein Geist durch die lange Ruhe und den erquickenden Schlaf wieder
stimmen werde. Der Koenig erwacht endlich, blickt die Frau an, hat
nicht den Mut, die vor ihm stehende Cordelia als solche zu erkennen,
und sagt im Misstrauen auf seinen Geist mit Verschaemtheit, er halte
diese fremde Frau fuer sein Kind Cordelia. Da man ihn sanft von der
Wahrheit seiner Vorstellung ueberzeugt, gleitet er ohne Worte von dem
Bette herab und bittet knieend und haendefaltend sein eigenes Kind
stumm um Vergebung. Mein Herz war in dem Augenblicke gleichsam
zermalmt, ich wusste mich vor Schmerz kaum mehr zu fassen. Das hatte
ich nicht geahnt, von einem Schauspiele war schon laengst keine Rede
mehr, das war die wirklichste Wirklichkeit vor mir. Der guenstige
Ausgang, welchen man den Auffuehrungen dieses Stueckes in jener Zeit
gab, um die fuerchterlichen Gefuehle, die diese Begebenheit erregt, zu
mildern, tat auf mich keine Wirkung mehr, mein Herz sagte, dass das
nicht moeglich sei, und ich wusste beinahe nicht mehr, was vor mir und
um mich vorging. Als ich mich ein wenig erholt hatte, tat ich fast
scheu einen Blick auf meine Umgebung, gleichsam um mich zu ueberzeugen,
ob man mich beobachtet habe. Ich sah, dass alle Angesichter auf die
Buehne blickten und dass sie in starker Erregung gleichsam auf den
Schauplatz hingeheftet seien. Nur in einer ebenerdigen Loge sehr nahe
bei mir sass ein Maedchen, welches nicht auf die Darstellung merkte,
sie war schneebleich, und die Ihrigen waren um sie beschaeftigt. Sie
kam mir unbeschreiblich schoen vor. Das Angesicht war von Traenen
uebergossen, und ich richtete meinen Blick unverwandt auf sie. Da die
bei ihr Anwesenden sich um und vor sie stellten, gleichsam um sie vor
der Betrachtung zu decken, empfand ich mein Unrecht und wendete die
Augen weg.
Das Stueck war indessen aus geworden, und um mich entstand die Unruhe,
die immer mit dem Fortgehen aus einem Schauspielhause verbunden ist.
Ich nahm mein Taschentuch heraus, wischte mir die Stirne und die Augen
ab und richtete mich zum Fortgehen. Ich ging in das Kleiderzimmer,
holte mir meinen Ueberrock und zog ihn an. Als ich in den Vorsaal kam,
war dort ein sehr starres Gedraenge, und da er mehrere Ausgaenge hatte,
wogten die Menschen vielfach hin und her. Ich gab mich einem groesseren
Zuge hin, der langsam bei dem Hauptausgange ausmuendete. Ploetzlich war
es mir, als ob sich meinen Blicken, die auf den Ausgang gerichtet
waren, ganz nahe etwas zur Betrachtung aufdraengte. Ich zog sie zurueck,
und in der Tat hatte ich zwei grosse, schoene Augen den meinigen
gegenueber, und das Angesicht des Maedchens aus der ebenerdigen Loge war
ganz nahe an dem meinigen. Ich blickte sie fest an, und es war mir,
als ob sie mich freundlich ansaehe und mir lieblich zulaechelte. Aber in
dem Augenblicke war sie vorueber. Sie war mit einem Menschenstrome aus
dem Logengange gekommen, dieser Strom hatte unseren Zug gekreuzt und
strebte bei einem Seitenausgange hinaus. Ich sah sie nur noch von
rueckwaerts und sah, dass sie in einen schwarzseidenen Mantel gehuellt
war. Ich war endlich auch bei dem Hauptausgange hinaus, kommen. Dort
zog ich erst meine Kappe aus der Tasche des Ueberrockes, setzte sie auf
und blieb noch einen Augenblick stehen und sah den abfahrenden Waegen
nach, die ihre roten Laternenlichter in die truebe Nacht hinaustrugen.
Es regnete noch viel dichter als bei meinem Hereingehen. Ich schlug
den Weg nach Hause ein. Ich gelangte aus den fahrenden Waegen,
ich gelangte aus dem groesseren Strome der Menschen und bog in den
vereinsamteren Weg ein, der im Freien durch die Reihen der Baeume der
Vorstadt zufuehrte. Ich schritt neben den duesteren Laternen vorbei, kam
wieder in die Gassen der Vorstadt, durchging sie und war endlich in
dem Hause meiner Eltern.
Es war beinahe Mitternacht geworden. Die Mutter, welche es sich bei
solchen Gelegenheiten nicht nehmen laesst, besonders auf die Gesundheit
der Ihrigen bedacht zu sein, war noch angekleidet und wartete meiner
im Speisezimmer. Die Magd, welche mir die Wohnung geoeffnet hatte,
sagte mir dieses und wies mich dahin. Die Mutter hatte noch ein
Abendessen fuer mich in Bereitschaft und wollte, dass ich es einnehme.
Ich sagte ihr aber, dass ich noch zu sehr mit dem Schauspiele
beschaeftigt sei und nichts essen koenne. Sie wurde besorgt und sprach
von Arznei. Ich erwiderte ihr, dass ich sehr wohl sei und dass mir gar
nichts als Ruhe not tue.
"Nun, wenn dir Ruhe not tut, so ruhe", sagte sie, "ich will dich nicht
zwingen, ich habe es gut gemeint."
"Gut gemeint wie immer, teure Mutter", antwortete ich, "darum danke
ich auch."
Ich ergriff ihre Hand und kuesste sie. Wir wuenschten uns gegenseitig
eine gute Nacht, nahmen Lichter und begaben uns auf unsere Zimmer.
Ich entkleidete mich, legte mich auf mein Bett, loeschte die Lichter
aus und liess mein heftiges Herz nach und nach in Ruhe kommen. Es war
schon beinahe gegen Morgen, als ich einschlief.
Das erste, was ich am andern Tage tat, war, dass ich den Vater um die
Werke Shakespeares aus seiner Buechersammlung bat und sie, da ich sie
hatte, in meinem Zimmer zur Lesung fuer diesen Winter zurecht legte.
Ich uebte mich wieder im Englischen, damit ich sie nicht in einer
Uebersetzung lesen muesse.
Als ich im vergangenen Sommer von meinem alten Gastfreunde Abschied
genommen hatte und an dem Saume seines Waldes auf der Landstrasse dahin
ging, waren mir zwei in einem Wagen fahrende Frauen begegnet. Damals
hatte ich gedacht, dass das menschliche Angesicht der beste Gegenstand
fuer das Zeichnen sein duerfte. Dieser Gedanke fiel mir wieder ein, und
ich suchte mir Kenntnisse ueber das menschliche Antlitz zu verschaffen.
Ich ging in die kaiserliche Bildersammlung und betrachtete dort alle
schoenen Maedchenkoepfe, welche ich abgemalt fand. Ich ging oefter hin und
betrachtete die Koepfe. Aber auch von lebenden Maedchen, mit denen ich
zusammentraf, sah ich die Angesichter an, ja ich ging an trockenen
Wintertagen auf oeffentliche Spaziergaenge und sah die Angesichter der
Maedchen an, die ich traf. Aber unter allen Koepfen, sowohl den gemalten
als auch den wirklichen, war kein einziger, der ein Angesicht
gehabt haette, welches sich an Schoenheit nur entfernt mit dem haette
vergleichen koennen, welches ich an dem Maedchen in der Loge gesehen
hatte. Dieses eine wusste ich, obwohl ich mir das Angesicht eigentlich
gar nicht mehr vorstellen konnte und obwohl ich es, wenn ich es
wieder gesehen haette, nicht erkannt haette. Ich hatte es in einer
Ausnahmsstellung gesehen, und im ruhigen Leben musste es gewiss ganz
anders sein.
Mein Vater hatte ein Bild, auf welchem ein lesendes Kind gemalt war.
Es hatte eine so einfache Miene, nichts war in derselben als die
Aufmerksamkeit des Lesens, man sah auch nur die eine Seite des
Angesichtes, und doch war alles so hold. Ich versuchte das Angesicht
zu zeichnen; allein ich vermochte durchaus nicht die einfachen Zuege,
von denen noch dazu das Auge nicht zu sehen war, sondern durch das Lid
beschattet wurde, auch nur entfernt mit Linien wieder zu geben. Ich
durfte mir das Bild herabnehmen, ich durfte ihm eine Stellung geben,
wie ich wollte, um die Nachahmung zu versuchen; sie gelang nicht,
wenn ich auch alle meine Fertigkeit, die ich im Zeichnen anderer
Gegenstaende bereits hatte, darauf anwendete.
Der Vater sagte mir endlich, dass die Wirkung dieses Bildes vorzueglich
in der Zartheit der Farbe liege, und dass es daher nicht moeglich sei,
dieselbe in schwarzen Linien nachzuahmen. Er machte mich ueberhaupt,
da er meine Bestrebungen sah, mehr mit den Eigenschaften der Farben
bekannt, und ich suchte mich auch in diesen Dingen zu unterrichten und
zu ueben.
Sonderbar war es, dass ich nie auf den Gedanken kam, meine Schwester
zu betrachten, ob ihre Zuege zum Nachzeichnen geeignet waeren, oder den
Wunsch hegte, ihr Angesicht zu zeichnen, obgleich es in meinen Augen
nach dem des Maedchens in der Loge das schoenste auf der Welt war. Ich
hatte nie den Mut dazu. Oft kam mir auch jetzt noch der Gedanke, so
schoen und rein wie Klotilde koenne doch nichts mehr auf der Erde sein;
aber da fielen mir die Zuege des weinenden Maedchens ein, das die
Ihrigen zu beruhigen gestrebt hatten und von dem ich mir einbildete,
dass es mich im Vorsaale des Theaters freundlich angeblickt habe, und
ich musste sie vorziehen. Ich konnte sie mir zwar nicht vorstellen;
aber es schwebte mir ein unbestimmtes, dunkles Bild von Schoenheit vor
der Seele. Die Freundinnen meiner Schwester oder andere Maedchen, mit
denen ich gelegentlich zusammen kam, hatten manche liebe, angenehme
Eigenschaften in ihrem Angesichte, ich betrachtete sie und dachte mir,
wie dieses oder jenes zu zeichnen waere; aber ich mochte sie ebenfalls
nie ersuchen, und so kam ich nicht dazu, ein lebendes, vor mir
befindliches Angesicht zu zeichnen. Ich wiederholte also die Zuege in
der Erinnerung oder zeichnete nach Gemaelden. Man machte mich endlich
auch darauf aufmerksam, dass ich immer Maedchenkoepfe entwerfe. Ich war
beschaemt und begann spaeter Maenner, Greise, Frauen, ja auch andere
Teile des Koerpers zu zeichnen, so weit ich sie in Vorlagen oder
Gipsabguessen bekommen konnte.
Trotz dieser Bestrebungen, welchen nach dem Grundsatze unseres Hauses
kein Hindernis in den Weg gelegt wurde, vernachlaessigte ich meine
Hauptbeschaeftigung doch nicht. Es tat mir sehr wohl, zu Hause unter
meinen Sammlungen herum zu gehen, ich dachte oft an die Worte des
alten Mannes in dem Rosenhause, und im Gegensatze zu den Festen,
zu denen ich geladen war, oder selbst zu Spaziergaengen und
Geschaeftsbesuchen war mir meine Wohnung wie eine holde,
bedeutungsvolle Einsamkeit, die mir noch lieber wurde, weil ihre
Fenster auf Gaerten und wenig geraeuschvolle Gegenden hinausgingen.
Die Heiterkeiten wurden in der Stadt immer groesser, je naeher der Winter
seinem Ende zuging, und ich hatte in dieser Hinsicht und oft auch in
anderer mehr Ursache und Pflicht, zu dieser oder jener Familie einen
Gang zu tun.
Bei einer solchen Gelegenheit ereignete sich mit mir ein Vorfall, der
mich nach dem Beiwohnen bei der Auffuehrung des Lear in jenem Winter am
meisten beschaeftigte.
Wir waren seit Jahren mit einer Familie sehr befreundet, welche in
der Hofburg wohnte. Es war die Wittwe und Tochter eines beruehmten
Mannes, der einmal in grossem Ansehen gestanden war. Da der Vater ein
bedeutendes Hofamt bekleidet hatte, wurde die Tochter nach seinem
Tode auch ein Hoffraeulein, weshalb sie mit der Mutter in der Burg
wohnte. Von den Soehnen war einer in der Armee, der andere bei einer
Gesandtschaft. Wenn das Fraeulein nicht eben im Dienste war, wurde
zuweilen abends ein kleiner Kreis zur Mutter geladen, in welchem etwas
vorgelesen, gesprochen oder Musik gemacht wurde. Da die Mutter etwas
aelter wurde, spielte man sogar zuweilen Karten. Wir waren oefter an
solchen Abenden bei dieser Familie. In jenem Winter hatte ich ein
Buch, welches mir von der Mutter des Hoffraeuleins war geliehen worden,
laenger behalten, als es eigentlich die Hoeflichkeit erlaubte. Deshalb
ging ich eines Mittags hin, um das Buch persoenlich zu ueberbringen und
mich zu entschuldigen. Als ich von dem aeusseren Burgplatze durch das
hohe Gewoelbe des Gehweges in den inneren gekommen war, fuhren eben
aus dem Hofe zu meiner Rechten mehrere Waegen heraus, die meinen Weg
kreuzten und mich zwangen, eine Weile stehen zu bleiben. Es standen
noch mehrere Menschen neben mir, und ich fragte, was diese Waegen
bedeuteten.
"Es sind Glueckwuensche, welche dem Kaiser nach seiner Wiedergenesung
von grossen Herren abgestattet worden sind und welche er eben
angenommen hatte", sagte ein Mann neben mir.
Der letzte der Waegen war mit zwei Rappen bespannt, und in ihm sass ein
einzelner Mann. Er hatte den Hut neben sich liegen und trug die weissen
Haare frei in der winterlichen Luft. Der Ueberrock war ein wenig offen,
und unter ihm waren Ordenssterne sichtbar. Als der Wagen bei mir
vorueberfuhr, sah ich deutlich, dass mein alter Gastfreund, der mich in
dem Rosenhause so wohlwollend aufgenommen hatte, in demselben sitze.
Er fuhr schnell vorbei, wie es bei Waegen dieser Art Sitte ist, und
schlug die Richtung nach der Stadt ein. Er fuhr bei dem Tore aus der
Burg, an welchem die zwei Riesen als Simstraeger angebracht sind. Ich
wollte jemand von meinen Nachbaren fragen, wer der Mann sei; aber da
von den Waegen, welche die Fussgaenger aufgehalten hatten, der seinige
der letzte gewesen und der Weg sodann frei war, so waren alle
Nachbaren bereits ihrer Wege gegangen, und diejenigen, welche jetzt
neben mir waren, hatten die Waegen nicht in der Naehe gesehen.
Ich ging daher ueber den Hof und stieg, ueber die sogenannte
Reichskanzleitreppe empor.
Ich traf die alte Frau allein, uebergab ihr das Buch und sagte meine
Entschuldigungen.
Im Verlaufe des Gespraeches erwaehnte ich des Mannes, den ich in dem
Wagen gesehen hatte und fragte, ob sie nicht wisse, wer er sei. Sie
wusste von gar nichts.
"Ich habe nicht bei den Fenstern hinabgeschaut", sagte sie, "es geht
Vieles auf dem grossen Hofe vor, ich achte nicht darauf. Ich habe gar
nicht gewusst, dass bei dem Kaiser eine Vorfahrt gewesen ist, er war
vorgestern noch nicht ganz gesund. Da mein Mann noch lebte, haben wir
immer die Aussicht auf den grossen Platz der Hofburg gehabt, und wie
bedeutende Dinge da auch vorgehen, so wiederholen sich doch immer die
nehmlichen, wenn man viele Jahre zuschaut; und endlich schaut man gar
nicht mehr zu und hat herinnen ein Buch oder sein Strickzeug, wenn
draussen in das Gewehr gerufen wird, oder Reiter zu hoeren sind, oder
Wagen rollen."
"Wer ist denn von denen, die in der Aufwartung bei dem Kaiser
wegfuhren, in dem letzten Wagen gesessen, Henriette?" fragte sie ihre
eben eintretende Tochter, das Hoffraeulein.
"Das ist der alte Risach gewesen", antwortete diese, "er ist eigens
hereingekommen, um sich Seiner Majestaet vorzustellen und seine Freude
ueber dessen Wiedergenesung auszudruecken."
Ich hatte in meiner Jugend oefter den Namen Risach nennen gehoert,
allein ich hatte damals so wenig darauf geachtet, was ein Mann, dessen
Namen ich hoerte, tue, dass ich jetzt gar nicht wusste, wer dieser Risach
sei, Ich fragte daher mit jener Ruecksicht, die man bei solchen Fragen
immer beobachtet, und erfuhr, dass der Freiherr von Risach zwar nicht
die hoechsten Staatswuerden bekleidet habe, dass er aber in der wichtigen
und schmerzlichen Zeit des nunmehr auch alternden Kaisers in den
belangreichsten Dingen taetig gewesen sei, dass er mit den Maennern,
welche die Angelegenheiten Europas leiteten, an der Schlichtung
dieser Angelegenheiten gearbeitet habe, dass er von fremden Herrschern
geschaetzt worden sei, dass man gemeint habe, er werde einmal an die
Spitze gelangen, dass er aber dann ausgetreten sei. Er lebe meistens
auf dem Lande, komme aber oefter herein und besuche diesen oder jenen
seiner Freunde. Der Kaiser achte ihn sehr, und es duerfte noch jetzt
vorkommen, dass hie und da nach seinem Rate gefragt werde. Er soll
reich geheiratet, aber seine Frau wieder verloren haben. Ueberhaupt
wisse man diese Verhaeltnisse nicht genau.
Alles dieses hatte mir das Hoffraeulein gesagt.
"Siehst du, meine liebe Henriette", sprach die alte Frau, "wie sich
die Dinge in der Welt veraendern. Du weisst es noch nicht, weil du noch
jung bist und weil du nichts erfahren hast. Das Niedrige wird hoch,
das Hohe wird niedrig, Eines wird so, das Andere wird anders, und ein
Drittes bleibt bestehen. Dieser Risach ist sehr oft in unser Haus
gekommen. Da uns der Vater noch zuweilen in dem alten Doktorwagen, den
er hatte, und der dunkelgruen und schwarz angestrichen war, spazieren
fahren liess, ist er nicht einmal, sondern oft auf dem Kutschbocke
gesessen, oder er ist gar, wenn wir im Freien fuhren und uns die Leute
nicht sehen konnten, hinten aufgestanden wie ein Leibdiener, denn der
Wagen des Vaters hat ein Dienerbrett gehabt. Wir waren kaum anders
als Kinder, er war ein junger Student, der wenig Bekanntschaft hatte,
dessen Herkunft man nicht wusste und um den man auch nicht fragte. Wenn
wir in dem Garten auf dem Landhause waren, sprang er mit den Bruedern
auf den hoelzernen Esel, oder sie jagten die Runde in das Wasser oder
setzten unsere Schaukel in Bewegung. Er brachte deinen Vater zu meinen
Bruedern als Kameraden in das Haus. Man wusste damals kaum, wer schoener
gewesen sei, Risach oder dein Vater. Aber nach einer Zeit wurde Risach
weniger gesehen, ich weiss nicht warum, es vergingen manche Jahre, und
ich trat mit deinem Vater in den heiligen Stand der Ehe. Die Brueder
waren als Staatsdiener zerstreut, die Eltern waren endlich tot, von
Risach wurde oft gesprochen, aber wir kamen wenig zusammen. Der Vater
begann seine Taetigkeit hauptsaechlich erst dann, als Risach schon
ausgetreten war. Da sitze ich jetzt nun wieder, aber in einem anderen
Teile der Burg, dein Vater hat die Erde verlassen muessen, du bist
nicht einmal mehr ein Kind, dienst deiner hohen, guetigen Herrin, und
da von Risach die Rede war, meinte ich, es seien kaum einige Jahre
vergangen, seit er die Schaukel in unserem Garten bewegt hat."
Ich fragte, ob nicht Risach eine Besitzung im Oberlande habe.
Man sagte mir, dass er dort eine habe.
Ich wollte nicht weiter fragen, um nicht die ganze Darlegung meiner
Einkehr in diesem Sommer machen zu muessen.
Als ich aber nach Hause gekommen war, erzaehlte ich die heutige
Begegnung meinen Angehoerigen bei dem Mittagessen. Der Vater kannte den
Freiherrn von Risach sehr gut. Er war in frueherer Zeit mehrere Male
mit ihm zusammengekommen, hatte ihn aber jetzt schon lange nicht
gesehen. Als Anhaltspunkte, dass mein Beherberger in dem Rosenhause der
Freiherr von Risach gewesen sei, dienten, dass ich ihn, wenn mich nicht
in der Schnelligkeit des Fahrens eine Aehnlichkeit getaeuscht hat,
selber gesehen habe, dass er im Oberlande eine Besitzung hat, dass er
wohlhabend sei, was mein Beherberger sein muesse, und dass er hohe
Geistesgaben besitze, die mein Beherberger auch zu haben scheine.
Man beschloss, in dieser Sache nicht weiter zu forschen, da mein
Beherberger mir seinen Namen nicht freiwillig genannt habe, und die
Dinge so zu belassen, wie sie seien.
Ausser diesen zwei Begebenheiten, die wenigstens fuer mich von Bedeutung
waren, ereignete sich nichts in jenem Winter, was meine Aufmerksamkeit
besonders in Anspruch genommen haette. Ich war viel beschaeftigt, musste
oft Stunden der Nacht zu Hilfe nehmen, und so ging mir der Winter weit
schneller vorueber, als es in frueheren Jahren der Fall gewesen war. Im
allgemeinen aber befriedigten mich besonders die Hilfsmittel, die eine
grosse Stadt zur Ausbildung gibt und die man sonst nicht leicht findet.
Als die Tage schon laenger wurden, als die eigentliche Stadtlust schon
aufgehoert hatte und die stillen Wochen der Fastenzeit liefen, fragte
ich eines Tages Preborn, weshalb er mir denn die Graefin Tarona nicht
gezeigt habe, die er so liebe, die so schoen sein soll, und zu deren
Gewinnung er meinen Beistand angerufen habe.
"Erstens ist sie keine Graefin", antwortete er mir, "ich weiss nicht
genau ihren Stand, ihr Vater ist tot, und sie lebt in der Gesellschaft
einer reichen Mutter; aber das weiss ich, dass sie nicht von Adel ist,
was mir sehr zusagt, da ich es auch nicht bin - und zweitens ist sie
und ihre Mutter in diesem Winter nicht in die Stadt gekommen. Das
ist die Ursache, dass ich sie dir nicht zeigen konnte und dass du
Gelegenheit fandest, einen Spott gegen mich zu richten. Du musst sie
aber vorerst sehen. Alle, denen heuer Schoenheiten gesagt worden sind,
alle, die man geruehmt hat, alle, die geblendet haben, sind nichts, ja
sie sind noch weniger als nichts gegen sie."
Ich antwortete ihm, dass ich nicht spotten, sondern die Sache einfach
habe sagen wollen.
Wie sich der Fruehling immer mehr naeherte, ruestete ich mich zu meiner
Reise. Ich wollte heuer frueher reisen, weil ich mir vorgenommen hatte,
ehe ich in die Berge ginge, einen Besuch in dem Rosenhause zu machen.
Mit jedem Jahre wurden meine Zuruestungen weitlaeufiger, weil ich
in jedem Jahre mehr Erfahrungen hatte und meine Entwuerfe weiter
hinaus gingen. Heuer hatte ich auch beschlossen, umfassendere
Zeichnungswerkzeuge und sogar Farben mitzunehmen. Wie es mit jeder
Gewohnheit ist, war es auch bei mir. Wenn ich mich in jedem Herbste
nach der Haeuslichkeit zurueck sehnte, war es mir in jedem Fruehlinge wie
einem Zugvogel, der in jene Gegenden zurueckkehren muss, die er in dem
Herbste verlassen hatte.
Als sich im Maerz in der Stadt schon recht liebliche Tage einstellten,
welche die Menschen in das Freie und auf die Waelle lockten, war ich
mit meinen Vorbereitungen fertig, und nachdem ich von den Meinigen den
gewoehnlichen herzlichen Abschied genommen hatte, reisete ich eines
Morgens ab.
Mir war damals, so wie jetzt noch, jedes Fortfahren von den
Angehoerigen in der Nacht sowie das Antreten irgend einer Reise in der
Nacht sehr zuwider. Die Post ging aber damals in das Oberland erst
abends ab, darum fuhr ich lieber in einem Mietwagen. Die Landhaeuser
ausser der Stadt, welche reichen Bewohnern derselben gehoerten, waren
noch im Winterschlafe. Sie waren teilweise in ihren Umhuellungen mit
Stroh oder mit Brettern befangen, was einen grossen Gegensatz zu dem
heiteren Himmel und zu den Lerchen machte, welche schon ueberall
sangen. Ich fuhr nur durch die Ebene. Da ich in den Bereich der Huegel
gelangte, verliess ich den Wagen und setzte meinen Weg nach meiner
gewoehnlichen Art in kurzen Fussreisen fort.
Ich betrachtete wieder ueberall die Bauwerke, wo sie mir als
betrachtenswert aufstiessen. Ich habe einmal irgendwo gelesen, dass der
Mensch leichter und klarer zur Kenntnis und zur Liebe der Gegenstaende
gelangt, wenn er Zeichnungen und Gemaelde von ihnen sieht, als wenn er
sie selber betrachtet, weil ihm die Beschraenktheit der Zeichnung alles
kleiner und vereinzelter zusammen fasst, was er in der Wirklichkeit
gross und mit Genossen vereint erblickt. Bei mir schien sich dieser
Ausspruch zu bestaetigen. Seit ich die Bauzeichnungen in dem Rosenhause
gesehen hatte, fasste ich Bauwerke leichter auf, beurteilte sie
leichter, und ich begriff nicht, warum ich frueher auf sie nicht so
aufmerksam gewesen war.
Im Oberlande war es noch viel rauher, als ich es in der Stadt
verlassen hatte. Als ich eines Morgens an der Ecke des Buchenwaldes
meines Gastfreundes ankam, in welchem der Alizbach in die Agger faellt,
war noch manches Waesserchen mit einer Eisrinde bedeckt. Da ich das
Rosenhaus erblickte, machte es einen ganz anderen Eindruck als damals,
da ich es als weisse Stelle in dem gesaettigten und dunkeln Gruen der
Felder und Baeume unter einem schwuelen und heissen Himmel gesehen
hatte. Die Felder hatten noch, mit Ausnahme der gruenen Streifen der
Wintersaat, die braunen Schollen der nackten Erde, die Baeume hatten
noch kein Knoespchen, und das Weiss des Hauses sah zu mir herueber, als
saehe ich es auf einem schwach veilchenblauen Grunde.
Ich ging auf der Strasse in der Naehe von Rohrberg vorueber und kam
endlich zu der Stelle, wo der Feldweg von ihr ueber den Huegel zu dem
Rosenhause hinauffuehrt. Ich ging zwischen den Zaeunen und nackten
Hecken dahin, ich ging auf der Hoehe zwischen den Feldern und stand
dann vor dem Gitter des Hauses. Wie anders war es jetzt. Die Baeume
ragten mit dem schwarzen oder braunlichen Gezweige nackt in die
dunkelblaue Luft. Das einzige Gruen waren die Gartengitter. Ueber die
Rosenbaeumchen an dem Hause war eine schoengearbeitete Decke von Stroh
herabgelassen. Ich zog den Glockengriff, ein Mann erschien, der mich
kannte und einliess, und ich wurde zu dem Herrn gefuehrt, der sich eben
in dem Garten befand.
Ich traf ihn in einer Kleidung wie im Sommer, nur dass sie von waermerem
Stoffe gemacht war. Die weissen Haare hatte er wieder wie gewoehnlich
unbedeckt.
Er schien mir wieder so sehr ein Ganzes mit seiner Umgebung, wie er es
mir im vorigen Sommer geschienen hatte.
Man war damit beschaeftigt, die Staemme der Obstbaeume mit Wasser und
Seife zu reinigen. Auch sah ich, wie hie und da Arbeiter auf Leitern
neben den Baeumen waren, um die abgestorbenen und ueberfluessigen Aeste
abzuschneiden. Als ich im vorigen Sommer fort gegangen war, hatte
mein Gastfreund gesagt, dass ich meine Wiederkunft vorher durch eine
Botschaft anzeigen moege, damit ich ihn zu Hause treffe. Er hatte
aber wahrscheinlich nicht bedacht, dass dieses Schwierigkeiten habe,
indem ich in der Regel selber nicht wissen kann, wie sich durch
Witterungsverhaeltnisse oder andere Umstaende meine Vorhaben zu aendern
gezwungen sein duerften. Ich habe ihm also eine Botschaft nicht
geschickt und ihn auf meine Gefahr hin ueberrascht. Er aber nahm mich
so freundlich auf, da er mich auf sich zuschreiten sah, wie er mich
bei dem vorigjaehrigen Aufenthalte in seinem Hause freundlich behandelt
hat.
Ich sagte, er moege es sich selber zuschreiben, dass ich ihn schon so
frueh im Jahre in seinem Hause ueberfalle; er habe mich so wohlwollend
eingeladen, und ich habe mir es nicht versagen koennen, hieher zu
kommen, ehe die Taeler und die Fusswege in dem Gebirge so frei waeren,
dass ich meine Beschaeftigungen in ihnen anfangen koennte.
"Wir haben eine ganze Reihe von Gastzimmern, wie ihr wisst", sagte er,
"wir sehen Gaeste sehr gerne, und ihr seid gewiss kein unlieber unter
ihnen, wie ich euch schon im vergangenen Sommer gesagt habe."
Er wollte mich in das Haus geleiten, ich sagte aber, dass ich heute
erst drei Stunden gegangen sei, dass meine Kraefte sich noch in sehr
gutem Zustande befaenden und dass er erlauben moege, dass ich hier bei ihm
in dem Garten bleibe. Ich bitte ihn nur um das einzige, dass er mein
Raenzlein und meinen Stock in mein Zimmer tragen lasse.
Er nahm das silberne Gloecklein, das er bei sich trug, aus der Tasche
und laeutete. Der Klang war selbst im Freien sehr durchdringend, und
es erschien auf ihn eine Magd aus dem Hause, welcher er auftrug, mein
Raenzlein, das ich mittlerweile abgenommen hatte, und meinen Stock, den
ich ihr darreichte, in mein Zimmer zu tragen. Er gab ihr noch ferner
einige Weisungen, was in dem Zimmer zu geschehen habe.
Ich fragte nach Gustav, ich fragte nach dem Zeichner in dem
Schreinerhause, und ich fragte sogar nach dem weissen alten Gaertner
und seiner Frau. Gustav sei gesund, erhielt ich zur Antwort, er
vervollkommne sich an Geist und Koerper. Er sei eben in seiner
Arbeitsstube beschaeftigt, er werde sich gewiss sehr freuen, mich zu
sehen. Der Zeichner lebe fort wie frueher und sei sehr eifrig, und
was die Gaertnersleute anbelange, so veraendern sich diese schon seit
mehreren Jahren gar nicht mehr und seien heuer wie ich sie im vorigen
Sommer gesehen habe. Ich fragte endlich auch noch nach dem Gesinde,
den Gartenarbeitern und den Meierhofleuten. Sie seien alle ganz
wohl, wurde geantwortet, es sei seit meinem vorjaehrigen Besuche kein
Krankheitsfall vorgekommen, und es habe auch keines der Leute eine
gruendliche Ursache zur Unzufriedenheit gegeben.
Nach mehreren gleichgueltigen Gespraechen namentlich ueber die
Beschaffenheit der Wege, auf denen ich hieher gekommen war, und ueber
das Vorruecken der Wintersaaten auf den Feldern wendete er sich wieder
mehr der Arbeit, die vor ihm geschah, zu, und auch ich richtete meine
Aufmerksamkeit auf dieselbe. Ich hatte mir einmal, da er mir erzaehlte,
dass er die Baumstaemme waschen lasse, die Sache sehr umstaendlich
gedacht. Ich sah aber jetzt, dass sie mittelst Doppelleitern und
Brettern sehr einfach vor sich gehe. Mit den langstieligen Buersten
konnte man in die hoechsten Zweige emporfahren, und da die Leute
von der Zweckmaessigkeit der Massregel fest ueberzeugt waren und emsig
arbeiteten, so schritt das Werk mit einer von mir nicht geahnten
Schnelligkeit vor. In der Tat, wenn man einen gewaschenen und
gebuersteten Stamm ansah, wie er rein und glatt in der Luft stand,
waehrend sein Nachbar noch rauh und schmutzig war, so meinte man, dass
dem einen sehr wohl sein muesse und dass der andere verdrossen aussehe.
Mir fiel die stolze Aeusserung ein, die mein Gastfreund im vergangenen
Sommer zu mir getan hatte, dass ich mir den Stamm jenes Kirschbaumes
ansehen solle, ob seine Rinde nicht aussaehe wie feine graue Seide. Sie
war wirklich wie Seide und musste es gerade immer mehr werden, da sie
in jedem Jahre aufs Neue gepflegt wurde.
Als wir nach einer Weile weiter in den Garten zurueckgingen, sah ich
auch noch andere Arbeiten. Die Hecken wurden gebunden und geordnet,
das Dornenreisig zu den Nestern der Voegel unter ihnen hergerichtet,
die Wege von den Schaeden des Winters ausgebessert, unter den
Zwergbaeumen, die schon beschnitten waren, die Erde gelockert und
bei den schwaecheren, welche Staebe hatten, nachgesehen, ob diese
festhielten und nicht etwa in der Erde abgefault waeren. Es wurden
losgegangene Baender wieder geknuepft, im Gemuesegarten umgegraben,
Fenster an Winterbeeten gelueftet oder zugedeckt, die Pumpen
ausgebessert, mancher Nagel eingeschlagen und endlich hie und da ein
Behaeltnis fuer die Voegel gereinigt und befestigt.
Ich verabschiedete mich von meinem Gastfreunde, da er sehr mit der
Leitung der Arbeiten beschaeftigt war, und ging allein in dem Garten
herum, in Teilen, in die ich wollte. Die Voegel waren schon zahlreich
da, sie schluepften durch die laublosen Zweige der Baeume, und es begann
schon hie und da ein Laut oder ein Zwitschern. Besonders lieblich und
hell schallte der Gesang der aufsteigenden Lerchen von den den Garten
umgebenden Feldern herein. Die Vorrichtungen zur Ernaehrung und
Traenkung der Voegel waren wegen der Blattlosigkeit der Baeume und
Gestraeuche mehr sichtbar, auch schaute ich mehr nach ihnen aus als bei
meiner ersten Ankunft, da ich jetzt bereits von ihnen wusste. Ich sah
mehrere zum Aufstecken von Kernen dienende Gitter, von denen mir mein
Gastfreund erzaehlt hatte.
Ich betrachtete auch die Zweige. Die Knospen der Blaetter und der
Blueten waren schon sehr geschwollen und harrten der Zeit, in welcher
sie aufbrechen wuerden.
Ich stieg bis zu dem grossen Kirschbaume empor und sah ueber den Garten,
ueber das Haus und auf die Berge. Eine ganz heitere dunkelblaue Luft
war ueber alles ausgegossen. Dieser schoene Tag, deren es in der
fruehen Jahreszeit noch ziemlich wenige gibt, war es auch, der meinen
Gastfreund bewog, so viele Arbeiten in dem Garten zu veranlassen.
Unter der heiteren Luft lag die Erde noch in bedeutender Oede.
Ich wollte auch zu der Felderrast hinueber gehen; allein der Weg,
der am Morgen gefroren gewesen sein mochte, war jetzt weich und
tief durchfeuchtet, dass das Gehen auf ihm sehr unangenehm und
verunreinigend gewesen waere. Ich sah die dunkeln Wintersaaten und die
nackten Schollen der neben ihnen liegenden Felder eine Weile an und
ging dann wieder hinab.
Ich ging zu den Gaertnerleuten. Mir kam es nicht vor, wie mein
Gastfreund gesagt hatte, dass sie sich nicht veraendert haetten. Der Mann
schien mir noch weisser geworden zu sein. Seine Haare unterschieden
sich nicht mehr von der Leinwand. Die Frau aber war unveraendert. Sie
musste von einer sehr reinlichkeitliebenden Familie stammen, weil sie
das Haeuschen so nett hielt und den alten Mann so fleckenlos und knapp
heraus kleidete. Er machte mir ganz genau wieder den nehmlichen
Eindruck wie im vergangenen Jahre, als ob er einer ganz anderen
Beschaeftigung angehoerte.
Da ich von dem Gewaechshause gegen die Fuetterungstenne ging, begegnete
mir Gustav. Er lief mit einem Rufe auf mich zu und gruesste mich.
Der Knabe hatte sich in kurzer Zeit sehr geaendert. Er stand sehr schoen
neben mir da, und gegen die rauhe Art der Natur, die noch kein Laub,
kein Gras, keinen Stengel, keine Blume getrieben hatte, sondern der
Jahreszeit gemaess nur die braunen Schollen, die braunen Staemme und die
nackten Zweige zeigte, war er noch schoener; wie ich oft beim Zeichnen
bemerkt hatte, dass zum Beispiele Augen der Tiere in struppigen Koepfen
noch glaenzender erschienen und dass feine Kinderangesichtchen, wenn sie
von Pelzwerk umgeben sind, noch feiner aussehen. Ein sanftes Rot war
auf seinen Wangen, braune Haarfuelle um die Stirne, und die grossen
schwarzen Augen waren wie bei einem Maedchen. Es war, obwohl er sehr
heiter war, fast etwas Trauerndes in ihnen.
Wir gingen dem Platze zu, auf welchem sein Ziehvater beschaeftigt war.
Ich erzaehlte ihm auf dem Wege von meinen Angehoerigen; von meiner
Mutter, von meinem Vater und von meiner lieblichen Schwester. Auch
erzaehlte ich ihm von der Stadt, wie man dort lebe, was sie fuer
Vergnuegungen biete, was sie fuer Unannehmlichkeiten habe und wie ich in
ihr meine Zeit hinbringe.
Er sagte mir, dass er jetzt schon in die Naturlehre eingerueckt sei, dass
ihm der Vater Versuche zeige und dass ihn die Sache sehr freue.
Wir blieben eine Weile bei dem Ziehvater. Gustav zeigte mir allerlei
und machte mich bald auf diese, bald auf jene Veraenderung aufmerksam,
welche sich seit meiner frueheren Anwesenheit ergeben habe.
Der Mittag vereinigte uns in dem Hause.
Da ich so, da die Speisen erschienen, meinem alten Gastfreunde
gegenueber sass, fiel mir ploetzlich auf, was der Mann fuer schoene Zaehne
habe. Sehr dicht, weiss, klein und mit einem feinen Schmelze ueberzogen
sassen sie in dem Munde, und kein einziger fehlte. Seine Wangen hatten
durch den vielen Aufenthalt in der freien Luft ein gutes und gesundes
Rot, nur seine Haare schienen mir wie bei dem Gaertner noch weisser
geworden zu sein.
Nach dem Essen begab ich mich ein wenig in mein Zimmer. Es war
sehr freundlich hergerichtet worden, und in dem Ofen brannte ein
erwaermendes Feuer.
Nachmittags gingen wir in das Schreinerhaus. Eustach begruesste mich aus
seiner Stelle tretend sehr heiter, und ich erwiderte seinen Gruss auf
das herzlichste. Auch die andern Arbeiter gaben zu erkennen, dass sie
mich noch kannten. Ich besah zuerst die Dinge nur fluechtig und im
allgemeinen. Der schoene Tisch war sehr weit vorgerueckt; aber er war
noch lange nicht fertig. Es waren wieder ein paar neue Erwerbungen
gemacht worden. Man zeigte sie mir und machte mich darauf aufmerksam,
was aus ihnen werden koenne. Auch Plane zu selbststaendigen Arbeiten
waren wieder gemacht worden, und man legte mir in kurzem die
Grundansichten auseinander. Ich bat Eustach, dass er erlaube, dass ich
ihn waehrend meiner Anwesenheit ein paar Male besuche. Er gestand es
sehr gerne zu.
Nach diesem Besuche machten wir trotz der sehr schlechten Wege einen
weiten Spaziergang. Da ich davon sprach, dass ich schon die Voegel in
dem Garten bemerkt habe, sagte mein Gastfreund: "Wenn ihr laenger bei
uns waeret, so wuerdet ihr jetzt eine ganze Lebensgeschichte dieser
Tiere erfahren. Die Zurueckgebliebenen fangen schon an, sich zu
erheitern, die fortgezogen sind, treffen bereits allmaehlich ein und
werden mit Geschrei empfangen. Sie draengen sich sehr an die Tafel und
sputen sich, bis die in der Fremde erfahrnen Nahrungssorgen verwunden
sind; denn dort werden sie schwerlich einen Brotvater finden, der
ihnen gibt. Von da an werden sie immer inniger und singen taeglich
schoener. Dann wird ein Gekose in den Zweigen, und sie jagen sich.
Hieran schliesst sich die Haeuslichkeit. Sie sorgen fuer die Zukunft und
schleppen sich mit naerrischen Lappen zu dem Nesterbau. Ich lasse ihnen
dann allerlei Faeden zupfen, sie nehmen sie aber nicht immer, sondern
ich sehe manchmal einen, wie er an einem kotigen Halme zerrt. Nun
koemmt die Zeit der Arbeit wie bei uns in den Maennerjahren. Da werden
die leichtsinnigen Voegel ernsthaft, sie sind rastlos beschaeftigt,
ihre Nachkommen zu fuettern, sie zu erziehen und zu unterrichten, dass
sie zu etwas Tuechtigem tauglich werden, namentlich zu der grossen
bevorstehenden Reise. Gegen den Herbst koemmt wieder eine freiere Zeit.
Da haben sie gleichsam einen Nachsommer und spielen eine Weile, ehe
sie fort gehen."
Als wir von dem Spaziergange zurueckgekehrt waren und es Abend wurde,
versammelten wir uns an dem Kamine des Speisezimmers, in welchem ein
lustiges Feuer brannte. Auch Eustach wurde herueber geholt, und der
weisse Gaertner musste kommen und sagen, welche Fortschritte die Pflanzen
in den Winterbeeten und in den Gewaechshaeusern gemacht hatten. Die
Haushaelterin Katharina setzte hie und da ein warmes Getraenke auf ein
Tischchen.
Am andern Tage morgens ging ich zu meinem Gastfreunde in das
Fuetterungszimmer, um zuzusehen. Er suchte sich alle Gattungen Nahrung
aus den Faechern zurecht, oeffnete dann die Fenster und tat das Futter
auf die Brettchen. Er blieb an dem Fenster stehen und ich bei ihm.
Trotzdem kamen die Voegel in Boegen oder geraden Linien herbei geflogen.
Ihn fuerchteten sie nicht, weil sie ihn als den Naehrvater kannten,
und mich nicht, weil ich bei ihm stand. Sie draengten sich, pickten,
zwitscherten und balgten sich sogar mitunter.
"Ich gebe im spaeteren Fruehlinge und Sommer den Weibchen sehr gerne
noch eine leckere Draufgabe", sagte er, "weil manches Mal eine
bedraengte Mutter unter ihnen sein kann. Die so hastig und zugleich so
erschreckt fressen, sind Fremde. Sie wuerden um keinen Preis zu einem
Menschen herzu gehen, wenn sie nicht der bitterste Hunger noetigte. Ich
habe in harten Wintern schon die seltensten Voegel auf diesen Brettern
gesehen."
Als alles vorueber war und sich keine Gaeste mehr einfanden, schloss er
die Fenster.
Ich stieg von da auf den Dachboden des Hauses empor, weil er gesagt
hatte, dass jetzt auch den Hasen ausserhalb des Gartens Futter gestreut
wuerde und dass man sie von da sehen koennte. Sie haben noch nichts als
die karge Wintersaat und Nadelreiser, weshalb man noch nachhelfen
muesse. Da die Magd die Blaetter ausgestreut und sich entfernt hatte,
kamen schon Hasen herzu. Ich schraubte ein Fernrohr an einen Balken,
und es war laecherlich anzusehen, worauf mich Gustav aufmerksam machte,
wenn ein riesiger Hase in dem Fernrohre sass, mit schreckhaften Augen
auf das verdaechtige Mahl sah und schnell die Lippen bewegte, als fraesse
er schon. Da ich auch dies gesehen hatte, stieg ich wieder herunter
und ging mit Gustav in das Zimmer, in welchem die Geraete zur
Naturlehre standen.
Es sollte nun erst das Fruehmahl eingenommen werden. Dasselbe wurde
zur Winterszeit immer in dem Zimmer der naturwissenschaftlichen
Geraetschaften genommen, weil man, da man einen Teil des Vormittages
in seinen Zimmern zubrachte, nicht eigens dazu in das Speisezimmer
hinabsteigen wollte und weil in derselben Zeit in den andern
Wohngemaechern des alten Mannes, im Arbeitszimmer und Schlafzimmer,
eben aufgeraeumt und gelueftet wurde.
Mein Gastfreund erwartete mich und Gustav schon, denn er war nicht mit
uns auf den Dachboden hinauf gestiegen. Das Gemach war sanft erwaermt,
und in der Naehe des Ofens stand ein Tisch, der gedeckt und mit
allen Geraeten versehen war, ein angenehmes Fruehmahl zu bereiten. Er
stand auf einem freien Raume, um den herum sich die Werkzeuge der
Wissenschaft befanden.
Da wir nach dem Fruehmahle nun so sassen, da eine anmutige Waerme das
Zimmer erfuellte, da von dem Widerscheine der ganz schief die Fenster
treffenden Morgensonne das Messing, das Glas und das Holz der
verschiedenartigen Werkzeuge erglaenzte, sagte ich zu meinem alten
Gastfreunde: "Es ist seltsam, da ich von eurer Besitzung in die Stadt
und ihre Bestrebungen kam, lag mir euer Wesen hier wie ein Maerchen in
der Erinnerung, und nun, da ich hier bin und das Ruhige vor mir sehe,
ist mir dieses Wesen wieder wirklich und das Stadtleben ein Maerchen.
Grosses ist mir klein, Kleines ist mir gross."
"Es gehoert wohl Beides und Alles zu dem Ganzen, dass sich das Leben
erfuelle und begluecke", antwortete er. "Weil die Menschen nur ein
Einziges wollen und preisen, weil sie, um sich zu saettigen, sich in
das Einseitige stuerzen, machen sie sich ungluecklich. Wenn wir nur in
uns selber in Ordnung waeren, dann wuerden wir viel mehr Freude an den
Dingen dieser Erde haben. Aber wenn ein Uebermass von Wuenschen und
Begehrungen in uns ist, so hoeren wir nur diese immer an und vermoegen
nicht die Unschuld der Dinge ausser uns zu fassen. Leider heissen wir
sie wichtig, wenn sie Gegenstaende unserer Leidenschaften sind, und
unwichtig, wenn sie zu diesen in keinen Beziehungen stehen, waehrend es
doch oft umgekehrt sein kann."
Ich verstand dieses Wort damals noch nicht so ganz genau, ich war noch
zu jung und hoerte selber oft nur mein eigenes Innere reden, nicht die
Dinge um mich.
Gegen Mittag kam derjenige meiner Koffer, den ich in das Rosenhaus
bestellt hatte. Ich packte ihn aus und zeigte Gustav, der mich
besuchte, manche Buecher, Zeichnungen und andere Dinge, die er
enthielt, und richtete mich in meinem Zimmer haeuslich ein.
So gingen nun mehrere Tage dahin.
In diesem Hause war jeder unabhaengig und konnte seinem Ziele
zustreben. Nur durch die gemeinsame Hausordnung war man gewissermassen
zu einem Bande verbunden. Selbst Gustav erschien voellig frei. Das
Gesetz, welches seine Arbeiten regelte, war nur einmal gegeben, es
war sehr einfach, der Juengling hatte es zu dem seinigen gemacht, er
hatte es dazu machen muessen, weil er verstaendig war, und so lebte er
darnach.
Gustav bat mich sehr, ich moechte einmal seinem Unterrichte in der
Naturlehre beiwohnen. Ich sagte es meinem Gastfreunde, und dieser
hatte nichts dawider. So war ich dann nicht einmal, sondern mehrere
Male bei diesem Unterrichte zugegen. Mein alter Gastfreund sass in
einem Lehnsessel und erzaehlte. Er beschrieb eine Erscheinung, er
machte die Erscheinung recht deutlich, zeigte sie, wenn es moeglich
war, mit den Vorrichtungen seiner Sammlung oder, wo dies nicht
moeglich war, suchte er sie durch Zeichnung oder Versinnbildlichung
darzustellen. Dann erzaehlte er, auf welchem Wege die Menschen zur
Kenntnis dieser Erscheinung gekommen waren. Wenn er dieses vollendet
hatte, tat er das gleiche mit einer zweiten, verwandten Erscheinung.
Und wenn er nun einen Kreis von zusammengehoerigen Erscheinungen, der
ihm hinlaenglich schien, ausgefuehrt hatte, dann hob er dasjenige,
was allen Erscheinungen gleichartig ist, hervor und stellte die
Grunderscheinung oder das Gesetz dar.
Bei diesem Unterrichte, wurde nicht ein gewisses Buch zu Grunde
gelegt, sondern Gustav schrieb spaeter das, was ihm erzaehlt worden war,
aus dem Gedaechtnisse auf, der alte Mann besserte es dann in seiner
Gegenwart aus, und so erhielt der Knabe nicht nur ein Handbuch der
Naturwissenschaft, sondern lernte den Stoff selber schon durch das
Aufschreiben und Ausbessern. Was sich Gustav angeeignet hatte, wurde
zu Zeiten gleichsam in freundlichen Gespraechen durchgenommen. Die
Sprache des Unterrichtes war stets so einfach und klar, dass ich
meinte, ein Kind muesse diese Dinge verstehen koennen. Mir fiel es
jetzt erst recht auf, wie ungehoerig manche Lehrer in der Stadt in
dieser Wissenschaft verfahren, welche sie gewissermassen in eine
wissenschaftliche Necksprache kleiden, die ein Schueler nicht versteht
und mit welcher sie die Mathematik so in eins verflechten, dass beide
beides nicht sind und ein Ganzes auch nicht darstellen. Ich sah, dass
Gustav auch die Rechnung auf die Naturlehre anwandte, aber wo er es
tat, erkannte ich, dass er es stets mit Sachkenntnis und Klarheit tat,
und dass er immer die Rechnung nicht als Hauptsache, sondern hier
als Dienerin der Natur betrachtete. Ich urteilte aus meinen eigenen
frueheren Arbeiten, dass er auch in diesem Fache einen gruendlichen
Unterricht erhalten haben musste. Ich fragte ihn einmal darnach und
erfuhr, dass auch hierin sein Ziehvater sein Lehrer gewesen sei.
Ich besuchte spaeter auch den Unterricht in der Laenderkunde. Hier fiel
mir auf, dass gezeichnete Karten gebraucht wurden, welche alle den
nehmlichen Massstab hatten, so dass Russland in einer ausserordentlich
grossen, die Schweiz in einer sehr kleinen Karte dargestellt war.
Mir leuchtete der Zweck dieser Massregel ein, damit nehmlich
bei der lebhaften jugendlichen Einbildungskraft ein Bild der
Groessenverhaeltnisse dauernd eingepraegt werde. Ich erinnerte mich bei
dieser Gelegenheit einer Wette, die wir Kinder um eine Kleinigkeit
ueber die Frage abgeschlossen hatten, ob Philadelphia nicht beinahe so
suedlich wie Rom liege, was die meisten mit Lachen verneinten. Eine
herbeigebrachte Karte zeigte, dass es suedlicher als Neapel liege.
Allgemein sagten damals auch die grossen Leute, die zugegen waren,
dass bei Kindern dieser Irrtum, durch die Raumverhaeltnisse, in denen
unsere gewoehnlichen Karten gezeichnet seien, veranlasst werden musste.
Die Karten, welche Gustav gebrauchte, waren von dem Zeichner im
Schreinerhause nach Karten unserer sogenannten Atlasse verfertigt
worden.
Ich fragte meinen Gastfreund, ob Gustav auch Geschichte lerne, worauf
er erwiderte: "Man nimmt sehr haeufig mit jungen Schuelern gleich
zur Erdbeschreibung auch Geschichte vor; ich glaube aber, dass man
hierin Unrecht tut. Wenn man in der Erdbeschreibung nicht bloss die
geschichtliche Einteilung der Erde und Laender vor Augen hat, was ich
auch fuer einen Fehler halte, sondern wenn man auf die bleibenden
Gestaltungen der Erde sieht, auf denen sich eben durch ihren Einfluss
verschiedenartige Voelker gebildet haben, so ist die Erde ein
Naturgegenstand und Erdbeschreibung zum grossen Teile ein Bestandteil
der Naturwissenschaft. Die Naturwissenschaften sind uns aber viel
greifbarer als die Wissenschaften der Menschen, wenn ich ja Natur und
Menschen gegenueber stellen soll, weil man die Gegenstaende der Natur
ausser sich hinstellen und betrachten kann, die Gegenstaende der
Menschheit aber uns durch uns selber verhuellt sind.
Man sollte meinen, dass das Gegenteil statthaben solle, dass man sich
selber besser als Fremdes kennen solle, viele glauben es auch; aber
es ist nicht so. Tatsachen der Menschheit, ja Tatsachen unseres
eigenen Innern werden uns, wie ich schon einmal gesagt habe, durch
Leidenschaft und Eigensucht verborgen gehalten oder mindestens
getruebt. Glaubt nicht der groesste Teil, dass der Mensch die Krone der
Schoepfung, dass er besser als Alles, selbst das Unerforschte sei? Und
meinen die, welche aus ihrem Ich nicht heraus zu schreiten vermoegen,
nicht, dass das All nur der Schauplatz dieses Ichs sei, selbst die
unzaehligen Welten des ewigen Raumes dazu gerechnet? Und dennoch duerfte
es ganz anders sein. Ich glaube daher, dass Gustav erst nach Erlernung
der Naturwissenschaften zu den Wissenschaften des Menschen uebergehen
soll und dass er da ungefaehr die Reihe beobachten soll: Koerperlehre,
Seelenlehre, Denklehre, Sittenlehre, Rechtslehre, Geschichte. Hierauf
mag er etwas von den Buechern der sogenannten Weltweisheit lesen, dann
aber muss er in das Leben selber hinaus kommen."
Zum Unterrichte fuer Gustav waren gewisse Stunden festgesetzt, welche
der alte Mann nie versaeumte, andere Stunden waren fuer die Selbstarbeit
bestimmt, welche Gustav wieder gewissenhaft hielt. Die uebrige Zeit war
zu freier Beschaeftigung ueberlassen.
In solchen Zeiten waren wir manches Mal in dem Lesezimmer. Mein
Gastfreund kam auch oefter und gelegentlich auch Eustach oder der eine
und der andere Arbeiter. Fuer Gustav waren nach der Wahl seines Lehrers
die Buecher, die er lesen durfte, bestimmt. Er benutzte sie fleissig,
ich sah aber nie, dass er nach einem anderen langte. Eustach und die
anderen Leute hatten freie Auswahl, und natuerlich ich auch. Da ich
das erste Mal in diesem Hause war, hatte ich es getadelt, dass das
Buecherzimmer von dem Lesezimmer abgesondert sei, es erschien mir
dieses als ein Umweg und eine Weitschweifigkeit. Da ich aber jetzt
laenger bei meinem Gastfreunde war, erkannte ich meine Meinung als
einen Irrtum. Dadurch, dass in dem Buecherzimmer nichts geschah, als
dass dort nur die Buecher waren, wurde es gewissermassen eingeweiht; die
Buecher bekamen eine Wichtigkeit und Wuerde, das Zimmer ist ihr Tempel,
und in einem Tempel wird nicht gearbeitet. Diese Einrichtung ist auch
eine Huldigung fuer den Geist, der so mannigfaltig in diesen gedruckten
und beschriebenen Papieren und Pergamentblaettern enthalten ist. In dem
Lesezimmer aber wird dann der wirkliche und der freundliche Gebrauch
dieses Geistes vermittelt, und seine Erhabenheit wird in unser
unmittelbares und irdisches Beduerfnis gezogen. Das Zimmer ist auch
recht lieblich zum Lesen. Da scheint die freundliche Sonne herein,
da sind die gruenen Vorhaenge, da sind die einladenden Sitze und
Vorrichtungen zum Lesen und Schreiben. Selbst dass man jedes Buch nach
dem zeitlichen Gebrauche wieder in das Buecherzimmer an seinem Platz
tragen muss, erschien mir jetzt gut; es vermittelt den Geist der
Ordnung und Reinheit und ist gerade bei Buechern wie der Koerper
der Wissenschaft das System. Wenn ich mich jetzt an Buecherzimmer
erinnerte, die ich schon sah, in welchen Leitern, Tische, Sessel,
Baenke waren, auf denen allen etwas lag, seien es Buecher, Papiere,
Schreibzeuge oder gar Geraete zum Abfegen, so erschienen mir solche
Buechersaele wie Kirchen, in denen man mit Troedel wirtschaftet.
Ich ging auch oefter zu Eustach in das Schreinerhaus. An einem der
ersten sehr heiteren Tage nahm ich alle Zeichnungen mit seiner
Erlaubnis heraus und sah sie noch einmal mit grosser Musse und
Genauigkeit an. Ich konnte es fast kaum glauben, wie sehr mich meine
Zeichnungsuebungen waehrend des vergangenen Winters gefoerdert hatten.
Ich verstand jetzt Vieles, was ich da vorfand, besser als im Sommer,
und es gefielen mir die meisten Dinge auch mehr. Ich teilte ihm
manches von meinen Zeichnungen mit, namentlich von Zeichnungen von
Pflanzen, deren ich dieses Mal eine groessere Anzahl in meinem Koffer
mitgebracht hatte.
Bei meiner ersten Anwesenheit hatte ich in dem Raenzchen nur einige
Schriften, ein Fernrohr und andere Sachen getragen, die in ein so
kleines Behaeltnis gehen, Zeichnungen aber nicht. Er hatte eine
Freude an diesen Dingen; aber sonderbar war es anzusehen, wie er die
Pflanzenzeichnungen nicht als Pflanzenfreund und Kenner anblickte,
sondern als Baumeister, der ihre Gestalt verwenden kann. Er versuchte
spaeter selber auch Zeichnungen nach lebenden Pflanzen; aber hier trat
der Unterschied von einem Pflanzenfreunde noch mehr hervor: die Bilder
wurden ihm allgemach durch unmerkliche Zusaetze aus Gewaechsen schoene
Verzierungen. Er suchte sich auch in der Regel solche Vorbilder aus,
die zu seinem Berufe in naeherer Beziehung standen oder in eine solche
gebracht werden konnten. In Bezug auf die anderen Dinge, die in dem
Schreinerhause gearbeitet wurden, zeigte er mir Alles und erklaerte mir
Manches, wenn ich nach Erklaerung verlangte. Auch hierin glaubte ich
seit dem vorigen Sommer Fortschritte gemacht zu haben, namentlich da
ich die Gegenstaende, die mein Vater besass, wohl genau betrachtet und
mir eingepraegt hatte, um ihre Bilder hieher uebertragen und mit dem,
was sich hier befand, vergleichen zu koennen.
Die Gestalten gingen jetzt leichter in mein Wesen ein, mir gefiel
Vieles mehr als im vorigen Sommer, und ich wurde auf Manches
aufmerksam, was ich damals nicht beachtet hatte. Wir sassen zuweilen in
dem freundlichen Zimmer Eustachs, wenn die Vormittagssonne durch die
geschlossenen Vorhaenge sanft hereinblickte, und redeten von allerlei
Dingen.
An Nachmittagen, besonders wenn truebes Wetter war und die Geschaefte im
Freien nicht eine grosse Ausdehnung hatten, versammelte man sich in dem
Arbeitszimmer meines Gastfreundes. Dieses Zimmer war an Nachmittagen,
wo es sehr zusammengeraeumt und wo mehr Musse war, der Vereinigungspunkt
der kleinen Gesellschaft, wenn sie sich ueberhaupt vereinigte. Mein
alter Gastfreund hatte sich dieses Gemach sehr wohnlich, wenn auch
fuer Einsamkeit geeignet, herrichten lassen, wie er ueberhaupt, wenn er
nicht eigens Menschen um sich versammelte, die Einsamkeit liebte. Er
hatte neben seinem Sessel einen Glockenzug, der durch den Fussboden in
die Gesindezimmer hinab ging, um schnell einen Diener rufen zu koennen.
In dem Schlafzimmer war etwas Aehnliches. Dort befanden sich ausser
dem gewoehnlichen Glockenzuge an den Seitenbrettern des Bettes zwei
Platten, die durch das leiseste Auflegen einer Hand eine laut und
lange toenende Glocke in Bewegung setzten, damit man, wenn dem alten
Manne etwas zustiesse, schnell zu Hilfe eilen koennte. Zwei Diener
hatten immer die Schluessel zu seinen Gemaechern, um auch in der Nacht
von aussen aufsperren zu koennen. Diese Vorrichtungen waren eine
Erfindung Eustachs, weil der alte Mann jede Einschraenkung durch
Dienerschaft, ja die Naehe derselben nicht wollte, um nicht gestoert zu
werden. Er liess auch nicht zu, dass Gustav in einem Zimmer neben ihm
schlafe, um sich nicht an ihn zu gewoehnen und ihn dann zu vermissen,
da der Juengling doch einmal fort muesse. Wenn man in dem Arbeitszimmer
meines Gastfreundes versammelt war, besprach man gewoehnlich
Angelegenheiten des Besitztums, Veraenderungen, die notwendig sind,
Arbeiten, die man vornehmen muesse, und Gegenstaende der Kunst. Hieher
wurden die Plaene und Entwuerfe von Dingen gebracht, die man entweder in
Holz ausfuehren wollte oder die Anlagen in dem Garten oder Umaenderungen
an Gebaeuden betrafen. Es war gut, diese Entwuerfe gerade in dieses
Zimmer zu bringen, weil sie da eine sehr schoene und ausgezeichnete
Umgebung antrafen, und sich daher jeder Fehler und jede
Unzulaenglichkeit, wenn derlei in dem Entwurfe waren, sogleich
aufzeigte und verbessert werden konnte. An dem Tage, wo mehrere
Menschen in das Arbeitszimmer des alten Mannes kamen, war immer ein
Teppich ueber den auserlesenen Fussboden desselben gebreitet, damit er
keine Beschaedigung erleide.
Wenn trockene Wege waren, gingen wir oefter in den Meierhof. Dort
wurden die Arbeiten, welche der erste Fruehling bringt, ruestig
betrieben. Das Ganze war seit meiner vorjaehrigen Anwesenheit in
Ordnung und Fuelle sehr vorgeschritten. Man musste bis spaet in den
Herbst hinein und selbst im Winter, soweit es tunlich war, fleissig
gearbeitet haben. Im Innern des Hofes war nicht mehr bloss die schoene
Pflasterung an den Gebaeuden herum und der reinliche Sand ueber den
ganzen Hofraum, sondern es war in der Mitte desselben ein kleiner
Springquell, der mit drei Strahlen in ein Becken fiel und eine
Blumenanlage um sich hatte.
Auf das alles sahen die hellen Fenster des Hofes ringsum heraus. So
sah dieser Teil des Gebaeudes, obwohl zwei Seiten des Hofes Staelle und
Scheunen waren, wie ein Edelsitz aus. Ich fragte meinen Gastfreund,
ob er neues Mauerwerk habe auffuehren lassen, da ich den Meierhof viel
vollkommener sehe als im vergangenen Jahre, und da er auch schoener
sei, als sie hier im Lande gebaut wuerden.
"Ich habe keine Mauern auffuehren lassen", antwortete er, "nur die
letzten aeusseren Verschoenerungen habe ich angebracht, und die Fenster
habe ich vergroessert, der Grund war schon da. Die Meierhoefe und
groesseren Bauerhoefe unserer Gegend sind nicht so haesslich gebaut, als
ihr meint. Nur sind sie stets bis auf ein gewisses Mass fertig, weiter
nicht; die letzte Vollendung, gleichsam die Feile, fehlt, weil sie in
dem Herzen der Bewohner fehlt. Ich habe bloss dieses Letzte gegeben.
Wenn man mehrere Beispiele aufstellte, so wuerden sich im Lande die
Ansichten ueber das notwendige Aussehen und die Wohnbarkeit der Haeuser
aendern. Dieses Haus soll so ein Beispiel sein."
Die Wege um den Hof und dessen Wiesen und Felder waren auch nicht mehr
so, wie sie groesstenteils in dem vorigen Sommer gewesen waren. Sie
waren fest, mit weissem Quarze belegt und scharf und wohl abgegrenzt.
An schoenen Mittagen, die bereits auch immer waermer wurden, sass ich
gerne auf dem Baenkchen, das um den grossen Kirschbaum lief, und sah auf
die unbelaubten Baeume, auf die frisch geeggten Felder, auf die gruenen
Tafeln der Wintersaat, die schon sprossenden Wiesen und durch den
Duft, der in dem ersten Fruehlinge gerne aus Gruenden quillt, auf die
Hochgebirge, die mit dem Glanze des noch in ungeheurer Menge auf
ihnen liegenden Schnees spielten. Gustav schloss sich an mich viel an,
wahrscheinlich weil ich unter allen Bewohnern des Hauses ihm an Alter
am naechsten war. Er sass deshalb gerne bei mir auf dem Baenkchen. Wir
gingen manches Mal auf die Felderrast hinueber, und er zeigte mir einen
Strauch, auf dem bald Blueten hervor kommen wuerden, oder eine sonnige
Stelle, auf der das erste Gruen erschien, oder Steine, um die schon
verfruehte Tierchen spielten.
Eines Tages entdeckte ich in den Schreinen der Natursammlung eine
Zusammenstellung aller inlaendischen Hoelzer. Sie waren in lauter
Wuerfeln aufgestellt, von denen zwei Flaechen quer gegen die Fasern,
die uebrigen vier nach den Fasern geschnitten waren. Von diesen vier
Flaechen war eine rauh, die zweite glatt, die dritte poliert und die
vierte hatte die Rinde. Im Innern der Wuerfel, welche hohl waren und
geoeffnet werden konnten, befanden sich die getrockneten Blueten, die
Fruchtteile, die Blaetter und andere merkwuerdige Zugehoere der Pflanze,
zum Beispiel gar die Moose, die auf gewissen Orten gewoehnlich wachsen.
Eustach sagte mir, der alte Herr - so nannten alle Bewohner des Hauses
meinen Gastfreund, nur Gustav nannte ihn Ziehvater - habe diese
Sammlung angelegt und die Anordnung so ausgedacht. Sie soll nach dem
Willen des alten Herrn noch einmal gemacht und der Gewerbschule zum
Geschenke gegeben werden.
Seine seltsame Kleidung und seine Gewohnheit, immer barhaeuptig zu
gehen, welch beides mir Anfangs sehr aufgefallen war, beirrte mich
endlich gar nicht mehr, ja es stimmte eigentlich zu der Umgebung
sowohl seiner Zimmer als der um ihn herum wohnenden Bevoelkerung, von
der er sich nicht als etwas Vornehmes abhob, der er vielmehr gleich
war und von der er sich doch wieder als etwas Selbststaendiges
unterschied. Mir fiel im Gegenteile ein, dass manches nicht
geschmackvoll sei, was wir so heissen, am wenigstens der Stadtrock und
der Stadthut der Maenner.
In die Zimmer, welche nach Frauenart eingerichtet waren, wurde
ich einmal auf meine Bitte gefuehrt. Sie gefielen mir wieder sehr,
besonders das letzte, kleine, welchem ich jetzt den Namen "die Rose"
gab. Man konnte in ihm sitzen, sinnen und durch das liebliche Fenster
auf die Landschaft blicken. Dass ich nicht um den Gebrauch dieser
Zimmer fragte, begreift sich.
Ich erzaehlte meinem Gastfreunde oft von meinem Vater, von der Mutter
und von der Schwester. Ich erzaehlte ihm von allen unsern haeuslichen
Verhaeltnissen und beschrieb ihm mehrfach, so genau ich es konnte, die
Dinge, die mein Vater in seinen Zimmern hatte und auf welche er einen
Wert legte. Meinen Namen nannte ich hiebei nicht, und er fragte auch
nicht darnach.
Ebenso wusste ich, obwohl ich nun laenger in seinem Hause gewesen war,
noch immer seinen Namen nicht. Zufaellig ist er nicht genannt worden,
und da er ihn nicht selber sagte, so wollte ich aus Grundsatz
niemanden darum fragen. Von Gustav oder Eustach waere er am leichtesten
zu erfahren gewesen; aber diese zwei mochte ich am wenigsten fragen,
am allerwenigsten Gustav, wenn er unzaehlige Male unbefangen den
Namen Ziehvater aussprach. Der Mann war sehr gut, sehr lieb und sehr
freundlich gegen mich, er nannte seinen Namen nicht, ich konnte auch
nicht mit Gewissheit voraussetzen, dass er meine, ich kenne denselben;
daher beschloss ich, gar nicht, selbst nicht in der groessten Entfernung
von diesem Orte, um den Namen des Besitzers des Rosenhauses zu fragen.
Nach und nach aenderte sich die Zeit immer mehr und immer gewaltiger.
Die Tage waren viel laenger geworden, die Sonne schien schon sehr warm,
die Fristen, in denen der Himmel sich klar und wolkenlos zeigte,
wurden bereits laenger als die, in denen er umwoelkt oder neblich war;
die Erde sprosste, die Baeume knospten, an den Rosenbaeumchen vor dem
Hause wurde sehr fleissig gearbeitet, alles war heiter, und der
Fruehling war in seine ganze Fuelle eingetreten. Diese Zeit war schon
lange als diejenige bestimmt gewesen, in welcher ich abreisen wuerde.
Ich sagte dieses noch einmal meinem Gastfreunde, und da ich Anstalten
getroffen hatte, meinen Koffer fort zu senden, wurde der Tag der
Abreise festgesetzt.
Wir hatten frueher noch die Verabredung getroffen, dass ich meine
Arbeiten so einrichten wolle, dass ich zur Zeit der Rosenbluete
wiederkommen und wieder laengere Zeit in dem Hause verbleiben koenne. Da
ich sah, dass ich gerne aufgenommen werde und dass ich in Hinsicht der
aeusseren Mittel keine Last in dem Hause sei, und da mein Gemuet sich
auch diesem Orte zugeneigt fuehlte, so war mir diese Verabredung ganz
nach meinem Sinne. Nur, meinte mein Gastfreund, muesste ich dann in den
Gebirgstaelern schon zur Herreise aufbrechen, wenn dort kaum die Rosen
voellige Knospen haetten, weil sie hier der bessern Erde und der bessern
Pflege willen frueher bluehten als an allen Teilen des Landes. Ich sagte
es zu, und so war alles in Ordnung.
Am Tage vor meiner Abreise kam Eustachs Bruder zurueck. Er mochte
zwanzig und einige Jahre alt sein, war schoen gewachsen, hatte braune
Wangen und dunkle Locken und ein klein wenig aufgeworfene Lippen.
Mir war, als waere ich dem Manne schon einige Male auf meinen Reisen
begegnet. Er brachte in seinem Buche viele und darunter schoene
Zeichnungen mit, welche mit Anteil betrachtet wurden. Sie sollten nun
auf groesserem Papiere und in kuenstlerischer Richtung ausgefuehrt werden.
Als ich am Abende vor der Abreise noch im Meierhofe gewesen war, als
ich am Morgen derselben zu Eustach und den Gaertnersleuten gegangen
war, als ich den Hausbewohnern Lebewohl gesagt und von meinem
Gastfreunde und von Gustav vor dem Hause Abschied genommen hatte, ging
ich den Huegel hinunter, und ich hoerte schon von dem Garten und von den
Hecken und aus den Saaten den kraeftigen Fruehlingsgesang der Voegel.
Die Begegnung
Auf der Reise nach dem Orte meiner Bestimmung zeichnete ich ein
schoenes Standbild, welches ich in der Nische einer Mauertruemmer fand.
Ich hatte dazu mein Zeichnungsbuch aus dem Raenzlein genommen, in
welchem ich es jetzt immer trug. Dies war die einzige Unterbrechung
und der einzige Aufenthalt auf dieser Reise gewesen.
Als ich an meinem Bestimmungsorte angelangt war, war das erste, was
ich tat, dass ich meine Zeit besser zu Rate hielt als frueher. Ich
musste mir bekennen, dass die Art, wie in dem Rosenhause das Tagewerk
betrieben wurde, auf mich von grossem Einflusse sein solle. Da dort der
Wert der Zeit sehr hoch angeschlagen und dieses Gut sehr sorgfaeltig
angewendet wurde, so fing ich, wenn ich mir auch bisher einen grossen
Vorwurf nicht hatte machen koennen, dennoch an, mit viel mehr Ordnung
als bisher nach einem einzigen Ziele waehrend einer bestimmten Zeit
hinzuarbeiten, waehrend ich frueher, durch augenblickliche Eindruecke
bestimmt, mit den Zielen oefter wechselte und, obwohl ich eifrig
strebte, doch eine dem Streben entsprechende Wirkung nicht jederzeit
erreichte. Ich machte mir nun zur Aufgabe, eine bestimmte Strecke zu
durchforschen und im Verlaufe ueberhaupt nichts liegen zu lassen, was
von Wesenheit waere, aber auch nichts auf eine gelegenere Zukunft zu
verschieben, so dass, sollte ich bis zur Rosenzeit mit der vorgesetzten
Strecke nicht fertig werden, wenigstens der Teil, den ich vollendete,
wirklich fertig waere und ich auf genau umschriebene Ergebnisse zu
deuten im Stande waere. Das sah ich nach dem Beginne der Arbeiten sehr
bald, dass ich mir den Raum zu gross ausgesteckt hatte; aber auch das
sah ich sehr bald, dass der kleinere Raum, den ich ueberwinden wuerde,
mir mehr an Erfolg sicherte, als wenn ich wie in meiner Vergangenheit
durch geraume Zeit den Blick so ziemlich auf Alles gespannt haette.
Hiezu kam auch eine gewisse Zufriedenheit, die ich fuehlte, wenn ich
sah, dass sich Glied an Glied zu einer Ordnung aneinander reihte,
waehrend frueher mehr ein ansprechender Stoff durcheinander lag, als dass
eine aus dem Stoffe hervorgehende Gestaltung sich entwickelt haette.
Meine Kisten fuellten sich und stellten sich an einander.
Meine Fuehrer und meine Traeger gewannen auch einen Halt in der neuen
Ordnung und es wuchs ihnen ein Zutrauen zu mir. Ich bekam eine Neigung
zu ihnen, die sie erwiderten, so dass sich ein froehliches Zusammenleben
immer mehr gestaltete und die Arbeit heiter und darum auch zweckmaessig
wurde. Oft, wenn wir abends in der Wirtsstube um den grossen
viereckigen Ahorntisch oder, da die Tage endlich heisser wurden, statt
an den toten Brettern des Tisches draussen unter den lebenden und
rauschenden Ahornen sassen, um welche ein fichtener Tisch zusammen
gezimmert war und auf welche das vielfenstrige Gasthaus heraus sah,
rechneten sie sich vor, was heute, was seit vierzehn Tagen geschehen
sei, wie viel wir, wie sie sich ausdrueckten, abgetan haben, und wie
viel Gebirge zusammen gestellt worden sei. Sie fingen auch bald an,
die Sache nach ihrer Art zu begreifen, ueber Vorkommnisse in den
Gebirgszuegen zu reden und zu streiten und mir zuzumuten, dass, wenn ich
mir merken koennte, woher alle die gesammelten Stuecke seien, und wenn
ich die Hoehe und die Maechtigkeit der Gebirge zu messen im Stande
waere, ich das Gebirge im Kleinen auf einer Wiese oder auf einem Felde
aufstellen koennte. Ich sagte ihnen, dass das ein Teil meines Zweckes
sei, und wenn gleich das Gebirge nicht auf einer Wiese oder auf
einem Felde zusammengestellt werde, so werde es doch auf dem Papiere
gezeichnet und werde mit solchen Farben bemalt, dass jeder, der sich
auf diese Dinge verstaende, das Gebirge mit allem, woraus es bestehe,
vor Augen habe. Deshalb merke ich mir nicht nur, woher die Stuecke
seien und unter welchen Verhaeltnissen sie in den Bergen bestehen,
sondern schreibe es auch auf, damit es nicht vergessen werde, und
beklebe auch die Stuecke mit Zetteln, auf denen alles Notwendige stehe.
Diese Stuecke, in ihrer Ordnung aufgestellt, seien dann der Beweis
dessen, was auf dem Papiere oder der Karte, wie man das Ding nenne,
aufgemalt sei. Sie meinten, dass dieses sehr klug getan sei, um, wenn
einer einen Stein oder sonst etwas zu einem Baue oder dergleichen
beduerfe, gleich aus der Karte heraus lesen zu koennen, wo er zu finden
sei. Ich sagte ihnen, dass ein anderer Zweck auch darin bestehe, aus
dem, was man in den Gebirgen finde, schliessen zu koennen, wie sie
entstanden seien.
Die Gebirge seien gar nicht entstanden, meinte einer, sondern seien
seit Erschaffung der Welt schon dagewesen.
"Sie wachsen auch", sagte ein anderer, "jeder Stein waechst, jeder
Berg waechst wie die anderen Geschoepfe. Nur", setzte er hinzu, weil er
gerne ein wenig schalkhaft war, "wachsen sie nicht so schnell wie die
Schwaemme."
So stritten sie laenger und oefter ueber diesen Gegenstand, und so
besprachen wir uns ueber unsere Arbeiten. Sie lernten durch den blossen
Umgang mit den Dingen des Gebirges und durch das oeftere Anschauen
derselben nach und nach ein Weiteres und Richtigeres, und laechelten
oft ueber eine irrige Ansicht und Meinung, die sie frueher gehabt
hatten.
Mein Tagebuch der Aufzeichnungen zur Festhaltung der Ordnung dehnte
sich aus, die Blaetter mehrten sich und gaben Aussicht zu einer
umfassenden und regelmaessigen Zusammenstellung des Stoffes, wenn die
Wintertage oder sonst Tage der Musse gekommen sein wuerden.
An Sonntagen oder zu anderen Zeiten, wo die Arbeit minder draengte, gab
es noch Gelegenheit zu manchen angenehmen Freuden und zu staerkender
Erholung.
Eines Tages fanden wir ein Stueck Marmor, von dem ich dachte, dass ihn
mein Gastfreund in seinem Rosenhause noch gar nicht habe. Er war von
dem reinsten Weiss, Rosenrot und Strohgelb in kleiner und lieblicher
Mischung. Seine Art ist eine der seltensten, und hier war sie in einem
so grossen Stuecke vorhanden, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Ich
beschloss, diesen Marmor meinem Gastfreunde zum Geschenke zu machen.
Ich versuchte, mir ein Eigentumsrecht darueber zu erwerben, und als
mir dieses gelungen war, ging ich daran, das Stueck, soweit seine
Festigkeit ununterbrochen war, heraus nehmen und in eine Gestalt
schneiden zu lassen, deren es faehig war. Es zeigte sich, dass eine
schoene Tischplatte aus diesem Stoffe zu verfertigen waere. Von den
losen Schuttstuecken nahm ich mehrere der besseren mit, um allerlei
Dinge der Erinnerung daraus machen zu lassen. Eines liess ich zu
einer Tafel schleifen und dieselbe glaetten, dass mein Gastfreund die
Zeichnung und die Farbe des Marmors auf das beste sehen koenne.
So war eine Strecke abgetan, als in den Taelern sich die kleinen
Knospen der Rosen zu zeigen anfingen und selbst an dem Hagedorn, der
in Feldgehegen oder an Gebirgssteinen wuchs, die Baellchen zu der
schoenen, aber einfachen Blume sich entwickelten, die die Ahnfrau
unserer Rosen ist. Ich beschloss daher, meine Reise in das Rosenhaus
anzutreten. Ich habe mich kaum mit groesserem Vergnuegen nach einem
langen Sommer zur Heimreise vorbereitet, als ich mich jetzt nach einer
wohlgeordneten Arbeit zu dem Besuche im Rosenhause anschickte, um dort
eine Weile einen angenehmen Landaufenthalt zu geniessen.
Eines Nachmittages stieg ich zu dem Hause empor und fand die Rosen
zwar nicht bluehend, aber so ueberfuellt mit Knospen, dass in nicht mehr
fernen Tagen eine reiche Bluete zu erwarten war.
"Wie hat sich alles veraendert", sagte ich zu dem Besitzer, nachdem ich
ihn begruesst hatte, "da ich im Fruehlinge von hier fortging, war noch
alles oede, und nun blaettert, blueht und duftet alles hier beinahe in
solcher Fuelle wie im vorigen Jahre zu der Zeit, da ich zum ersten Male
in dieses Haus heraufkam."
"Ja", erwiderte er, "wir sind wie der reiche Mann, der seine Schaetze
nicht zaehlen kann. Im Fruehlinge kennt man jedes Graeschen persoenlich,
das sich unter den ersten aus dem Boden hervor wagt, und beachtet
sorgsam sein Gedeihen, bis ihrer so viele sind, dass man nicht mehr
nach ihnen sieht, dass man nicht mehr daran denkt, wie muehevoll sie
hervor gekommen sind, ja dass man Heu aus ihnen macht und gar nicht
darauf achtet, dass sie in diesem Jahre erst geworden sind, sondern
tut, als staenden sie von jeher auf dem Platze."
Man hatte mir eine eigene Wohnung machen lassen und fuehrte mich
in dieselbe ein. Es waren zwei Zimmer am Anfange des Ganges der
Gastzimmer, welche man durch eine neugebrochene Tuer zu einer einzigen
Wohnung gemacht hatte. Das eine war bedeutend gross und hatte
urspruenglich die Bestimmung gehabt, mehrere Personen zugleich zu
beherbergen. Es war jetzt ausgeleert, an seinen Waenden standen Tische
und Gestelle herum, sowie in seiner Mitte ein langer Tisch angebracht
war, damit ich meine Sachen, die ich etwa von dem Gebirge braechte,
ausbreiten koennte. Das zweite Zimmer war kleiner und war zu meinem
Schlaf- und Wohngemache hergerichtet. Der alte Mann reichte mir die
Schluessel zu dieser Wohnung. Auch zeigte man mir in der leichten
gemauerten Huette, die nicht weit hinter der Schreinerei an der
westlichen Grenze des Gartens lag und in frueheren Zeiten zu den
Steinarbeiten benutzt worden war, einen Raum, den man ausgeleert hatte
und in welchen ich Gegenstaende, die ich gesammelt haette, bis auf
weitere Verfuegung niederlegen koennte. Sollte ich mehr brauchen, so
koenne noch mehr geraeumt werden, da jetzt die Arbeiten mit den Steinen
fast beendigt seien und selten etwas gesaegt, geschliffen oder
geglaettet werde. Ich war ueber diese Aufmerksamkeiten so geruehrt, dass
ich fast keinen Dank dafuer zu sagen vermochte. Ich begriff nicht, was
ich mir denn fuer Verdienste um den Mann oder seine Umgebung erworben
habe, dass man solche Anstalten mache. Das Eine gereichte zu meiner
Beruhigung, dass ich aus diesen Vorrichtungen sah, dass ich in dem Hause
nicht unwillkommen sei, denn sonst waere man nicht auf den Gedanken
derselben geraten. Dieses Bewusstsein versprach meinen Bewegungen in
den hiesigen Verhaeltnissen viel mehr Freiheit zu geben. Ich stattete
endlich doch meinen Dank ab und man nahm ihn mit Vergnuegen auf.
Da ich in meiner Wohnung meine Wandersachen abgelegt hatte und
die ersten allgemeinen Gespraeche vorueber waren, wollte ich einen
uebersichtlichen Gang durch den Garten machen. Ich ging bei der
Seitentuer des Hauses hinaus, und da ich auf den kleinen Raum kam, der
hier eingefasst ist, kam der grosse Hofhund auf mich zu und wedelte.
Als ich sah, dass der alte Hilan mich erkenne und begruesse, war ich so
kindisch, mich darueber zu freuen, weil es mir war, als sei ich kein
Fremder, sondern gehoere gewissermassen zur Familie.
Am naechsten Tage nach meiner Ankunft erschien der Wagen mit meinem
Gepaecke und mit der Marmorplatte. Ich liess abladen und uebergab die
Platte meinem Gastfreunde mit dem Bedeuten, dass ich ihm in derselben
eine Erinnerung aus dem Gebirge bringe. Zugleich haendigte ich ihm
das kleinere geschliffene Stueck zur genaueren Einsicht in die Natur
des Marmors ein. Er besah das Stueck und dann auch die Platte sehr
sorgfaeltig. Hierauf sagte er: "Dieser Marmor ist ausserordentlich
schoen, ich habe ihn noch gar nicht in meiner Sammlung, auch scheint
die Platte dicht und ohne Unterbrechung zu sein, so dass ein reiner
Schliff auf ihr moeglich sein wird, ich bin sehr erfreut, in dem
Besitze dieses Stueckes zu sein und danke euch sehr dafuer. Allein in
meinem Hause kann er als Bestandteil desselben nicht verwendet werden,
weil dort nur solche Stuecke angebracht sind, welche ich selber
gesammelt habe, und weil ich an dieser Art der Sammlung und an der
Verbuchung darueber eine solche Freude habe, dass ich auch in der
Zukunft nicht von diesem Grundsatze abgehe. Es wird aber ganz gewiss
aus diesem Marmor etwas gemacht werden, das seiner nicht unwert ist,
ich hege die Hoffnung, dass es euch gefallen wird, und ich wuensche, dass
die Gelegenheit seiner Verwendung euch und mir zur Freude gereiche."
Ich hatte ohnehin ungefaehr so etwas erwartet und war beruhigt.
Der Marmor wurde in die Steinhuette gebracht, um dort zu liegen, bis
man ueber ihn verfuegen wuerde. Meine uebrigen Dinge aber liess ich in
meine Wohnung bringen.
Ich ging im Sommer immer sehr leicht gekleidet, entweder in
ungebleichtem oder gestreiftem Linnen. Den Kopf bedeckte meistens ein
leichter Strohhut. Um nun hier nicht aufzufallen und um weniger von
der einfachen Kleidung der Hausbewohner abzustechen, nahm ich ein paar
solcher Anzuege sammt einem Strohhute aus dem Koffer, kleidete mich in
einen und legte dafuer meinen Reiseanzug fuer eine kuenftige Wanderung
zurueck,
Mein Gastfreund hatte auf seiner Besitzung eine etwas eigentuemliche
Tracht teils eingefuehrt, teils nahmen sie die Leute selber an. Die
Dienerinnen des Hauses waren in die Landestracht gekleidet, nur dort,
wo diese, wie namentlich in unserem Gebirge, ungefaellig war oder in
das Haessliche ging, wurde sie durch den Einfluss des Hausbesitzers
gemildert und mit kleinen Zutaten versehen, die mir schoen erschienen.
Diese Zutaten fanden im Anfange Widerstand, aber da sie von dem alten
Herrn geschenkt wurden und man ihn nicht kraenken wollte, wurden sie
angenommen und spaeter von den Umwohnerinnen nicht nur beneidet,
sondern auch nachgeahmt. Die Maenner, welche in dem Hause dienten oder
in dem Meierhofe arbeiteten oder in dem Garten beschaeftigt waren,
trugen gefaerbtes Linnen, nur war dasselbe nicht so dunkel, als es
bei uns im Gebirge gebraeuchlich ist. Eine Jacke oder eine andere Art
Ueberrock hatten sie im Sommer nicht, sondern sie gingen in lediglichen
Hemdaermeln, und um den Hals hatten sie ein loses Tuch geschlungen. Auf
dem Haupte trugen einige wie der Hausherr nichts, andere hatten den
gewoehnlichen Strohhut. Eustach schien in seiner Kleidung niemanden
nachzuahmen, sondern sie selbst zu waehlen. Er ging auch in gestreiftem
Linnen, meistens rostbraun mit grau oder weiss; aber die Streifen waren
fast handbreit, oder es hatte der ganze Stoff nur zwei Farben, die
Haelfte des Laengenblattes braun, die Haelfte weiss. Oft hatte er einen
Strohhut, oft gar nichts auf dem Haupte. Seine Arbeiter hatten
aehnliche Anzuege, auf denen selten ein Schmutzfleck zu sehen war; denn
bei der Arbeit hatten sie grosse gruene Schuerzen um. Unter allen diesen
Leuten hoben sich der Gaertner und die Gaertnerin heraus, welche bloss
schneeweiss gingen.
Ich zeigte meinem Gastfreunde und Eustach die Zeichnung, welche ich
von dem Standbilde in der Mauernische gemacht hatte. Sie freuten sich,
dass ich auf derlei Dinge aufmerksam sei, und sagten, dass sie dasselbe
Bild auch unter ihren Zeichnungen haetten, nur dass es jetzt mit
mehreren anderen Blaettern ausser Hause sei.
Ich betrachtete nun alles, was mir in dem Garten und auf dem Felde
im vorigen Jahre in derselben Jahreszeit merkwuerdig gewesen war.
Die Blaetter der Baeume, die Blaetter des Kohles und die von anderen
Gewaechsen waren vom Raupenfrasse frei, und nicht nur die im Garten,
sondern auch die in der naechsten und in der in ziemliche Ferne
reichenden Umgebung. Ich hatte bei meiner Herreise eigens auf diesen
Umstand mein Augenmerk gerichtet. Dennoch entbehrte der Garten nicht
des schoenen Schmuckes der Faltern; denn einerseits konnten die Voegel
doch nicht alle und jede Raupen verzehren und andererseits wehte
der Wind diese schoenen lebendigen Blumen in unsern Garten oder sie
kamen auf ihren Wanderungen, die sie manchmal in grosse Entfernungen
antreten, selber hieher. Der Gesang der Voegel war mir wieder wie im
vorigen Jahre eigentuemlich, und er war mir wieder ganz besonders
schmelzend.
Dadurch, dass sie in verschiedenen Fernen sind, die Laute also
mit ungleicher Staerke an das Ohr schlagen, dadurch, dass sie sich
gelegenheitlich unterbrechen, da sie inzwischen allerlei zu tun haben,
eine Speise zu haschen, auf ein Junges zu merken, wird ein reizender
Schmelz veranlasst wie in einem Walde, waehrend die besten Singvoegel in
vielen Kaefigen nahe bei einander nur ein Geschrei machen, und dadurch,
dass sie in dem Garten sich doch wieder naeher sind als im Walde, wird
der Schmelz kraeftiger, waehrend er im Walde zuweilen duenn und einsam
ist. Ich sah die Nester, besuchte sie und lernte die Gebraeuche dieser
Tiere kennen.
In meinen Zimmern richtete ich mich ein, ich tat die Buecher und
Papiere, die ich mitgebracht hatte, heraus, um zu lesen, einzuzeichnen
und zu ordnen. Ich legte auch auf den grossen Tisch und auf die
Gestelle an den Waenden kleinere Gegenstaende, die ich mitgebracht
hatte, besonders Versteinerungen oder andere deutlichere Ueberreste, um
sie zu benutzen.
Gustav kam haeufig zu mir, er nahm Anteil an diesen Dingen, ich
erklaerte ihm manches, und mein Gastfreund sah es nicht ungern, wenn
ich mit ihm, entweder ein Buch in der Hand unter den schattigen Linden
des Gartens oder ohne Buch auf grossen Spaziergaengen - denn der alte
Mann liebte die Bewegung noch sehr - von meiner Wissenschaft sprach.
Er erzaehlte mir dagegen von der seinigen, und ich hoerte ihm freundlich
zu, wenn er auch Dinge brachte, die mir schon besser bekannt waren.
Zeiten, in denen ich ohne Beschaeftigung und allein war, brachte ich
auf Gaengen in den Feldern oder auf einem Besuche in dem Schreinerhause
oder in dem Gewaechshause oder bei den Cactus zu.
Die wogenden Felder, die ich im vorigen Jahre um dieses Anwesen
getroffen hatte, waren auch heuer wogende und wurden mit jedem Tage
schoener, dichter und segensreicher, der Garten huellte sich in die
Menge seiner Blaetter und der nach und nach schwellenden Fruechte, der
Gesang der Voegel wurde mir immer noch lieblicher und schien die Zweige
immer mehr zu erfuellen, die scheuen Tiere lernten mich kennen, nahmen
von mir Futter und fuerchteten mich nicht mehr. Ich lernte nach und
nach alle Dienstleute kennen und nennen, sie waren freundlich mit
mir, und ich glaube, sie wurden mir gut, weil sie den Herrn mich mit
Wohlwollen behandeln sahen. Die Rosen gediehen sehr, Tausende harrten
des Augenblicks, in dem sie aufbrechen wuerden. Ich half oft an den
Beschaeftigungen, die diesen Blumen gewidmet wurden, und war dabei,
wenn die Rosenarbeiten besichtigt wurden und ausgemittelt ward, ob
alles an ihnen in gutem Stande sei. Ebenso ging ich gerne zum Besehen
anderer Dinge mit, wenn auf Wiesen oder im Walde gearbeitet wurde, in
welch letzterem man jetzt daran war, das im Winter geschlagene Holz zu
verkleinern oder zum Baue oder zu Schreinerarbeiten herzurichten. Ich
trug oft meinen Strohhut, wenn der alte Mann und Gustav neben mir
barhaeuptig gingen, in der Hand, und ich musste bekennen, dass die Luft
viel angenehmer durch die Haare strich, als wenn sie durch einen Hut
auf dem Haupte zurueck gehalten wurde, und dass die Hitze durch die
Locken so gut wie durch einen Hut von dem blossen Haupte abgehalten
wurde.
Eines Tages, da ich in meinem Zimmer sass, hoerte ich einen Wagen zu dem
Hause herzufahren. Ich weiss nicht, weshalb ich hinabging, den Wagen
ankommen zu sehen. Da ich an das Gitter gelangte, stand er schon
ausserhalb desselben. Er war von zwei braunen Pferden herbeigezogen
worden, der Kutscher sass noch auf dem Bocke und musste eben angehalten
haben. Vor der Wagentuer, mit dem Ruecken gegen mich gekehrt, stand
mein Gastfreund, neben ihm Gustav und neben diesem Katharina und zwei
Maegde. Der Wagen war noch gar nicht geoeffnet, er war ein geschlossener
Glaeserwagen und hatte an der innern Seite seiner Fenster gruene
zugezogene Seidenvorhaenge. Einen Augenblick nach meiner Ankunft
oeffnete mein Gastfreund die Wagentuer. Er geleitete an seiner Hand eine
Frauengestalt aus dem Wagen. Sie hatte einen Schleier auf dem Hute,
hatte aber den Schleier zurueckgeschlagen und zeigte uns ihr Angesicht.
Sie war eine alte Frau.
Augenblicklich, da ich sie sah, fiel mir das Bild ein, welches mein
Gastfreund einmal ueber manche alternde Frauen von verbluehenden Rosen
hergenommen hatte. "Sie gleichen diesen verwelkenden Rosen. Wenn sie
schon Falten in ihrem Angesichte haben, so ist doch noch zwischen den
Falten eine sehr schoene, liebe Farbe", hatte er gesagt, und so war es
bei dieser Frau. Ueber die vielen feinen Faeltchen war ein so sanftes
und zartes Rot, dass man sie lieben musste und dass sie wie eine Rose
dieses Hauses war, die im Verbluehen noch schoener sind als andere Rosen
in ihrer vollen Bluete. Sie hatte unter der Stirne zwei sehr grosse
schwarze Augen, unter dem Hute sahen zwei sehr schmale Silberstreifen
des Haares hervor, und der Mund war sehr lieb und schoen. Sie stieg von
dem Wagentritte herab und sagte die Worte: "Gott gruesse dich, Gustav!"
Hiebei neigte sich der alte Mann gegen sie, sie neigte ihr
Angesicht gegen ihn und die beiderseitigen Lippen kuessten sich zum
Willkommensgrusse.
Nach dieser Frau kam eine zweite Frauengestalt aus dem Wagen.
Sie hatte auch einen Schleier um den Hut und hatte ihn auch
zurueckgeschlagen. Unter dem Hute sahen braune Locken hervor, das
Antlitz war glatt und fein, sie war noch ein Maedchen. Unter der
Stirne waren gleichfalls grosse schwarze Augen, der Mund war hold und
unsaeglich guetig, sie schien mir unermesslich schoen. Mehr konnte ich
nicht denken; denn mir fiel ploetzlich ein, dass es gegen die Sitte
sei, dass ich hinter dem Gitter stehe und die Aussteigenden anschaue,
waehrend die, die sie empfangen, mir den Ruecken zuwenden und von meiner
Anwesenheit nichts wissen. Ich ging um die Ecke des Hauses zurueck und
begab mich wieder in mein Wohnzimmer.
Dort hoerte ich nach einiger Zeit an Tritten und Gespraechen, dass die
ganze Gesellschaft an meinem Zimmer vorbei den ganzen Gang entlang
wahrscheinlich in die schoenen Gemaecher an der oestlichen Seite des
Hauses gehe.
Was weiter an dem Wagen geschehen sei, ob noch eine oder zwei Personen
aus demselben gestiegen seien, konnte ich nicht wissen; denn auch
nicht einmal beim Fenster wollte ich nun hinabsehen. Dass aber
Gegenstaende von demselben abgepackt und in das Haus gebracht wurden,
konnte ich an dem Reden und Rufen der Leute erkennen. Auch den Wagen
hoerte ich endlich fortfahren, wahrscheinlich wurde er in den Meierhof
gebracht.
Ich blieb immer in der Tiefe des Zimmers sitzen. Ich ging weder zu dem
Fenster, noch ging ich in den Garten, noch verliess ich ueberhaupt das
Zimmer, obwohl eine ziemlich lange Zeit ruhig und still verfloss. Ich
wollte lesen oder schreiben und tat es dann doch wieder nicht.
Endlich, da vielleicht ein paar Stunden vergangen waren, kam Katharina
und sagte, der alte Herr lasse mich recht schoen bitten, dass ich in das
Speisezimmer kommen moege, man erwarte mich dort.
Ich ging hinab.
Als ich eingetreten war, sah ich, dass mein Gastfreund in einem
Lehnsessel an dem Tische sass, neben ihm sass Gustav. An der
entgegengesetzten Seite sass die Frau. Ihr Sessel war aber ein wenig
von dem Tische abgewendet und der Tuer, durch welche ich eintrat,
zugekehrt. Hinter ihr und um eine Sesselhaelfte seitwaerts sass das
Maedchen.
Sie waren nun ganz anders gekleidet, als da ich sie aus dem Wagen
steigen gesehen hatte. Statt des staedtischen Hutes, den sie da
getragen hatten, deckte jetzt ein Strohhut mit nicht gar breiten
Fluegeln, so dass sie eben genug Schatten gaben, das Haupt, die uebrigen
Kleider bestanden aus einem einfachen, lichten, mattfaerbigen Stoffe
und waren ohne alle besonderen Verzierungen verfertigt, so wie der
Schnitt nichts Auffaelliges hatte, weder eine zur Schau getragene
Laendlichkeit noch ein zu strenge festgehaltenes staedtisches Wesen.
Es standen mehrere Diener herum, so wie Katharina, die mich geholt
hatte, auch wieder hinter mir in das Zimmer gegangen war und sich zu
den dastehenden Maegden gesellt hatte. Selbst der Gaertner Simon war
zugegen.
Als ich in die Naehe des Tisches gekommen war, stand mein Gastfreund
auf, umging den Tisch, fuehrte mich vor die Frau und sagte: "Erlaube,
dass ich dir den jungen Mann vorstelle, von dem ich dir erzaehlt habe."
Hierauf wandte er sich gegen mich und sagte: "Diese Frau ist Gustavs
Mutter, Mathildis."
Die Frau sagte in dem ersten Augenblicke nichts, sondern richtete ein
Weilchen die dunkeln Augen auf mich.
Dann wies er mit der Hand auf das Maedchen und sagte: "Diese ist
Gustavs Schwester Natalie."
Ich wusste nicht, waren die Wangen des Maedchens ueberhaupt so rot oder
war es erroetet. Ich war sehr befangen und konnte kein Wort hervor
bringen. Es war mir aeusserst auffallend, dass er jetzt, wo er den Namen
beinahe mit Notwendigkeit brauchte, weder um den meinigen gefragt noch
den der Frauen genannt hatte. Ehe ich recht mit mir zu Rate gehen
konnte, ob zu der Verbeugung, welche ich gemacht hatte, etwas gesagt
werden solle oder nicht, fuhr er in seiner Rede fort und sagte: "Er
ist ein freundlicher Hausgenosse von uns geworden und schenkt uns
einige Zeit in unserer laendlichen Einsamkeit. Er strebt die Berge
und das Land zu erforschen und zur Kenntnis des Bestehenden und zur
Herstellung der Geschichte des Gewordenen etwas beizutragen. Wenn auch
die Taten und die Foerderung der Welt mehr das Geschaeft des Mannes
und des Greises sind, so ziert ein ernstes Wollen auch den Juengling,
selbst wo es nicht so klar und so bestimmt ist wie hier."
"Mein Freund hat mir von euch erzaehlt", sagte die Frau zu mir, indem
sie mich wieder mit den dunkeln glaenzenden Augen ansah, "er hat mir
gesagt, dass ihr im vergangenen Jahre bei ihm waret, dass ihr ihn im
Fruehlinge besucht habt und dass ihr versprochen habt, zur Zeit der
Rosenbluete wieder eine Weile in diesem Hause zuzubringen. Mein Sohn
hat auch sehr oft von euch gesprochen."
"Er scheint nicht ganz ungerne hier zu sein", sagte mein Gastfreund;
"denn sein Angesicht wenigstens hat noch nicht, bei dem frueheren so
wie bei dein jetzigen Besuche, die Heiterkeit verloren."
Ich hatte mich waehrend dieser Reden gesammelt und sagte: "Wenn ich
auch aus der grossen Stadt komme, so bin ich doch wenig mit fremden
Menschen in Verkehr getreten und weiss daher nicht, wie mit ihnen um
zugehen ist. In diesem Hause bin ich, da ich irrtuemlich ein Gewitter
fuerchtete und um einen Unterstand herauf ging, sehr freundlich
aufgenommen worden, ich bin wohlwollend eingeladen worden, wieder zu
kommen und habe es getan. Es ist mir hier in Kurzem so lieb geworden
wie bei meinen teuren Eltern, bei welchen auch eine Regelmaessigkeit
und Ordnung herrscht wie hier. Wenn ich nicht ungelegen bin und die
Umgebung mir nicht abgeneigt ist, so sage ich gerne, wenn ich auch
nicht weiss, ob man es sagen darf, dass ich immer mit Freuden kommen
werde, wenn man mich einladet."
"Ihr seid eingeladen", erwiderte mein Gastfreund, "und ihr muesst aus
unsern Handlungen erkennen, dass ihr uns sehr willkommen seid. Nun
werden auch Gustavs Mutter und Schwester eine Weile in diesem Hause
zubringen, und wir werden erwarten, wie sich unser Leben entwickeln
wird. Wollt ihr euch nicht ein wenig zu mir setzen und abwarten, bis
der Willkommensgruss von allen, die da stehen, vorueber ist?"
Er ging wieder um den Tisch herum zurueck, und ich folgte ihm. Gustav
machte mir Platz neben seinem Ziehvater und sah mich mit der Freude
an, welche ein Sohn empfindet, der in der Fremde den Besuch der Mutter
empfaengt.
Natalie hatte kein Wort gesprochen.
Ich konnte jetzt, da ich ein wenig gegen die Frauen hin zu blicken
vermochte, recht deutlich sehen, dass hier Gustavs Mutter und Schwester
zugegen seien; denn beide hatten dieselben grossen schwarzen Augen wie
Gustav, beide dieselben Zuege des Angesichtes, und Natalie hatte auch
die braunen Locken Gustavs, waehrend die der Mutter die Silberfarbe des
Alters trugen. Sie gingen nun, recht schoen geordnet, in einem viel
breiteren Bande an beiden Seiten der Stirne herab, als sie es unter
dem Reisestrohhute getan hatten.
Vor Mathilde war, waehrend wir unsere Sitze eingenommen hatten, die
Haushaelterin Katharina getreten.
Die Frau sagte: "Sei mir vielmal gegruesst, Katharina, ich danke dir, du
hast deinen Herrn und meinen Sohn in deiner besonderen Obhut und uebst
viele Sorgfalt an ihnen aus. Ich danke dir sehr. Ich habe dir etwas
gebracht, nur als eine kleine Erinnerung, ich werde es dir schon
geben."
Als Katharina zurueck getreten war, als sich die anderen insgesammt
naeherten, sich verbeugten und mehrere Maedchen der Frau die Hand
kuessten, saegte sie: "Seid mir alle von Herzen gegruesst, ihr sorgt alle
fuer den Herrn und seinen Ziehsohn. Sei gegruesst, Simon, sei gegruesst,
Klara, ich danke euch allen und habe allen etwas gebracht, damit ihr
seht, dass ich keines in meiner Zuneigung vergessen habe; denn sonst
ist es freilich nur eine Kleinigkeit."
Die Leute wiederholten ihre Verbeugung, manche auch den Handkuss, und
entfernten sich. Sie hatten sich auch vor Natalie geneigt, welche den
Gruss recht freundlich erwiderte.
Als alle fort waren, sagte die Frau zu Gustav: "Ich habe auch dir
etwas gebracht, das dir Freude machen soll, ich sage noch nicht was;
allein ich habe es nur vorlaeufig gebracht, und wir muessen erst den
Ziehvater fragen, ob du es schon ganz oder nur teilweise oder noch gar
nicht gebrauchen darfst."
"Ich danke dir, Mutter", erwiderte der Sohn, "du bist recht gut,
liebe Mutter, ich weiss jetzt schon, was es ist, und wie der Ziehvater
ausspricht, werde ich genau tun."
"So wird es gut sein", antwortete sie.
Nach dieser Rede waren alle aufgestanden.
"Du bist heuer zu sehr guter Zeit gekommen, Mathilde", sagte mein
Gastfreund, "keine einzige der Rosen ist noch aufgebrochen; aber alle
sind bereit dazu."
Wir hatten uns waehrend dieser Rede der Tuer genaehert, und mein
Gastfreund hatte mich gebeten, bei der Gesellschaft zu bleiben.
Wir gingen bei dem gruenen Gitter hinaus und gingen auf den Sandplatz
vor dem Hause. Die Leute mussten von diesem Vorgange schon unterrichtet
sein; denn ihrer zwei brachten einen geraeumigen Lehnsessel und
stellten ihn in einer gewissen Entfernung mit seiner Vorderseite gegen
die Rosen.
Die Frau setzte sich in den Sessel, legte die Haende in den Schoss und
betrachtete die Rosen.
Wir standen um sie. Natalie stand zu ihrer Linken, neben dieser
Gustav, mein Gastfreund stand hinter dem Stuhle und ich stellte mich,
um nicht zu nahe an Natalie zu sein, an die rechte Seite und etwas
weiter zurueck.
Nachdem die Frau eine ziemliche Zeit gesessen war, stand sie
schweigend auf, und wir verliessen den Platz. Wir gingen nun in das
Schreinerhaus. Eustach war nicht bei der allgemeinen Bewillkommnung im
Speisezimmer gewesen. Er musste wohl als Kuenstler betrachtet worden,
dem man einen Besuch zudenke. Ich erkannte aus dem ganzen Benehmen,
dass das Verhaeltnis in der Tat so sei und als das richtigste empfunden
werde. Eustach musste das gewusst haben; denn er stand mit seinen Leuten
ohne die gruenen Schuerzen vor der Tuer, um die Angekommenen zu begruessen.
Die Frau dankte freundlich fuer den Gruss aller, redete Eustach herzlich
an, fragte ihn um sein und seiner Leute Wohlbefinden, um ihre Arbeiten
und Bestrebungen, und sprach von vergangenen Leistungen, was ich, da
mir diese fremd waren, nicht ganz verstand. Hierauf gingen wir in die
Werkstaette, wo die Frau jede der einzelnen Arbeiterstellen besah. In
dem Zimmer Eustachs sprach sie die Bitte aus, dass er ihr bei ihrem
laengeren Aufenthalte manches Einzelne zeigen und naeher erklaeren moege.
Von dem Schreinerhause gingen wir in die Gaertnerwohnung, wo die Frau
ein Weilchen mit den alten Gaertnerleuten sprach.
Hierauf begaben wir uns in das Gewaechshaus, zu den Ananas, zu den
Cacteen und in den Garten.
Die Frau schien alle Stellen genau zu kennen; sie blickte mit
Neugierde auf die Plaetze, auf denen sie gewisse Blumen zu finden
hoffte, sie suchte bekannte Vorrichtungen auf und blickte sogar in
Buesche, in denen etwa noch das Nest eines Vogels zu erwarten war. Wo
sich etwas seit frueher veraendert hatte, bemerkte sie es und fragte um
die Ursache. So waren wir durch den ganzen Garten bis zu dem grossen
Kirschbaume und zu der Felderrast gekommen. Dort sprach sie noch etwas
mit meinem Gastfreunde ueber die Ernte und ueber die Verhaeltnisse der
Nachbarn.
Natalie sprach aeusserst wenig.
Als wir in das Haus zurueck gekommen waren, begaben wir uns, da das
Mittagsmahl nahe war, auf unsere Zimmer. Mein Gastfreund sagte mir
noch vorher, ich moege mich zum Mittagessen nicht umkleiden; es sei
dieses in seinem Hause selbst bei Besuchen von Fremden nicht Sitte,
und ich wuerde nur auffallen.
Ich dankte ihm fuer die Erinnerung.
Als ich, da die Hausglocke zwoelf Uhr geschlagen hatte, in das
Speisezimmer hinunter gegangen war, fand ich in der Tat die
Gesellschaft nicht umgekleidet. Mein Gastfreund war in den Kleidern,
wie er sie alle Tage hatte, und die Frauen trugen die nehmlichen
Gewaender, in denen sie den Spaziergang gemacht hatten. Gustav und ich
waren wie gewoehnlich.
Am oberen Ende des Tisches stand ein etwas groesserer Stuhl und vor ihm
auf dem Tische ein Stoss von Tellern. Mein Gastfreund fuehrte, da ein
stummes Gebet verrichtet worden war, die Frau zu diesem Stuhle, den
sie sofort einnahm. Links von ihr sass mein Gastfreund, rechts ich,
neben meinem Gastfreunde Natalie und neben ihr Gustav. Mir fiel es
auf, dass er die Frau als ersten Gast zu dem Platze mit den Tellern
gefuehrt hatte, den in meiner Eltern Hause meine Mutter einnahm und
von dem aus sie vorlegte. Es musste aber hier so eingefuehrt sein; denn
wirklich begann die Frau sofort die Teller der Reihe nach mit Suppe zu
fuellen, die ein junges Aufwartemaedchen an die Plaetze trug.
Mich erfuellte das mit grosser Behaglichkeit. Es war mir, als wenn das
immer bisher gefehlt haette. Es war nun etwas wie eine Familie in
dieses Haus gekommen, welcher Umstand mir die Wohnung meiner Eltern
immer so lieb und angenehm gemacht hatte.
Das Essen war so einfach, wie es in allen Tagen gewesen war, die ich
in dem Rosenhause zugebracht hatte.
Die Gespraeche waren klar und ernst, und mein Gastfreund fuehrte sie mit
einer offenen Heiterkeit und Ruhe.
Nach dem Essen kam ein grosser Korb, welchen Arabella, das
Dienstmaedchen Mathildens, welches mit den Frauen gekommen war, welches
ich aber nicht mehr hatte aussteigen gesehen, herein gebracht hatte.
Ausser dem Korbe wurde auch ein Pack in grauem Papiere und mit schoenen
Schnueren zugeschnuert gebracht und auf zwei Sessel gelegt, die an
der Wand standen. In dem Korbe befanden sich die Geschenke, welche
Mathilde den Leuten mitgebracht hatte und welche jetzt ausgepackt
waren. Ich sah, dass diese Geschenkausteilung gebraeuchlich war und
oefter vorkommen musste. Das Gesinde kam herein, und jede der Personen
erhielt etwas Geeignetes, sei es ein schwarzes seidnes Tuch fuer ein
Maedchen oder eine Schuerze oder ein Stoff auf ein Kleid, oder sei
es fuer einen Mann eine Reihe Silberknoepfe auf eine Weste oder eine
glaenzende Schnalle auf das Hutband oder eine zierliche Geldtasche. Der
Gaertner empfing etwas, das in sehr feine Metallblaetter gewickelt war.
Ich vermutete, dass es eine besondere Art von Schnupftabak sein muesse.
Als schon alles ausgeteilt war, als sich schon alle auf das beste
bedankt und aus dem Zimmer entfernt hatten, wies Mathilde auf den
Pack, der noch immer auf den Sesseln lag, und sagte: "Gustav, komme
her zu mir."
Der Juengling stand auf und ging um den Tisch herum zu ihr. Sie nahm
ihn freundlich bei der Hand und sagte: "Was noch da liegt, gehoert dir.
Du hast mich schon lange darum gebeten, und ich habe es dir lange
versagen muessen, weil es noch nicht fuer dich war. Es sind Goethes
Werke. Sie sind dein Eigentum. Vieles ist fuer das reifere Alter, ja
fuer das reifste. Du kannst die Wahl nicht treffen, nach welcher du
diese Buecher zur Hand nehmen oder auf spaetere Tage aufsparen sollst.
Dein Ziehvater wird zu den vielen Wohltaten, die er dir erwies, auch
noch die fuegen, dass er fuer dich waehlt, und du wirst ihm in diesen
Dingen ebenso folgen, wie du ihm bisher gefolgt hast."
"Gewiss, liebe Mutter, werde ich es tun, gewiss", sagte Gustav.
"Die Buecher sind nicht neue und schoen eingebundene, wie du vielleicht
erwartest", fuhr sie fort. "Es sind dieselben Buecher Goethes, in
welchen ich in so mancher Nachtstunde und in so mancher Tagesstunde
mit Freude und mit Schmerzen gelesen habe und die mir oft Trost und
Ruhe zuzufuehren geeignet waren. Es sind meine Buecher Goethes, die ich
dir gebe. Ich dachte, sie koennten dir lieber sein, wenn du ausser dem
Inhalte die Hand deiner Mutter daran faendest, als etwa nur die des
Buchbinders und Druckers."
"O lieber, viel lieber, teure Mutter, sind sie mir", antwortete
Gustav, "ich kenne ja die Buecher, die mit dem feinen braunen Leder
gebunden sind, die feine Goldverzierung auf dem Ruecken haben und in
der Goldverzierung die niedlichen Buchstaben tragen, die Buecher, in
denen ich dich so oft habe lesen gesehen, weshalb es auch kam, dass ich
dich schon wiederholt um solche Buecher gebeten habe."
"Ich dachte es, dass sie dir lieber sind", sagte die Frau, "und darum
habe ich sie dir gegeben. Da ich aber auch wohl noch gerne fuer
den Ueberrest meines Lebens ein Wort von diesem merkwuerdigen Manne
vernehmen moechte, werde ich mir die Buecher neu kaufen, fuer mich haben
die neuen die Bedeutung wie die alten. Du aber nimm die deinigen in
Empfang und bringe sie an den Ort, der dir dafuer eingeraeumt ist."
Gustav kuesste ihr die Hand und legte seinen Arm wie in unbeholfener
Zaertlichkeit auf die Schulter ihres Gewandes. Er sprach aber kein
Wort, sondern ging zu den Buechern und begann, ihre Schnur zu loesen.
Als ihm dies gelungen war, als er die Buecher aus den Umschlagpapieren
geloest und in mehreren geblaettert hatte, kam er ploetzlich mit einem
in der Hand zu uns und sagte: "Aber siehst du, Mutter, da sind manche
Zeilen mit einem feinen Bleistifte unterstrichen und mit demselben
feingespitzten Stifte sind Worte an den Rand geschrieben, die von
deiner Hand sind. Diese Dinge sind dein Eigentum, sie sind in den
neugekauften Buechern nicht enthalten, und ich darf dir dein Eigentum
nicht entziehen."
"Ich gebe es dir aber", antwortete sie, "ich gebe es dir am liebsten,
der du jetzt schon von mir entfernt bist und in Zukunft wahrscheinlich
noch viel weiter von mir entfernt leben wirst. Wenn du in den Buechern
liesest, so liesest du das Herz des Dichters und das Herz deiner
Mutter, welches, wenn es auch an Werte tief unter dem des Dichters
steht, fuer dich den unvergleichlichen Vorzug hat, dass es dein
Mutterherz ist. Wenn ich an Stellen lesen werde, die ich unterstrichen
habe, werde ich denken, hier erinnert er sich an seine Mutter,
und wenn meine Augen ueber Blaetter gehen werden, auf welche ich
Randbemerkungen niedergeschrieben habe, wird mir dein Auge
vorschweben, welches hier von dem Gedruckten zu dem Geschriebenen
sehen und die Schriftzuege von Einer vor sich haben wird, die deine
beste Freundin auf der Erde ist. So werden die Buecher immer ein Band
zwischen uns sein, wo wir uns auch befinden. Deine Schwester Natalie
ist bei mir, sie hoert oefter als du meine Worte, und ich hoere auch oft
ihre liebe Stimme und sehe ihr freundliches Angesicht."
"Nein, nein, Mutter", sagte Gustav, "ich kann die Buecher nicht nehmen,
ich beraube dich und Natalie."
"Natalie wird schon etwas anderes bekommen", antwortete die Mutter.
"Dass du mich nicht beraubst, habe ich dir schon erklaert, und es war
seit laengerer Zeit mein wohldurchdachter Wille, dass ich dir diese
Buecher geben werde."
Gustav machte keine Einwendungen mehr. Er nahm ihre Rechte in seine
beiden Haende, drueckte sie, kuesste sie und ging dann wieder zu den
Buechern.
Als er alle ausgepackt hatte, holte er einen Diener und liess sie durch
ihn in seine Wohnung tragen.
Nach dem Essen war es im Plane, dass wir uns zerstreuen sollten und
jeder sich nach seinem Sinne beschaeftige.
Ich hatte es waehrend des Vorganges mit den Buechern nicht vermocht, auf
das Angesicht Nataliens zu schauen, was etwa in ihr vorgehen moege und
was sich in den Zuegen spiegle. Ich musste mir nur denken, sie werde
von dem hoechsten Beifalle ueber die Handlung ihrer Mutter durchdrungen
sein. Als wir uns aber von dem Tische erhoben, als wir das stumme
Gebet gesprochen und uns wechselweise verneigt hatten, wobei ich meine
Augen immer nur auf meinen alten Gastfreund und auf die Frau gerichtet
hatte, und als wir uns jetzt anschickten, das Zimmer zu verlassen, und
Natalie den Arm Gustavs nahm und beide Geschwister sich umkehrten, um
der Tuer zuzugehen, wagte ich es, den Blick zu dem Spiegel zu erheben,
in dem ich sie sehen musste. Ich sah aber fast nichts mehr als die vier
ganz gleichen schwarzen Augen sich in dem Spiegel umwenden.
Wir traten alle in das Freie.
Mein Gastfreund und die Frau begaben sich in eine Wirtschaftstube.
Natalie und Gustav gingen in den Garten, er zeigte ihr Verschiedenes,
das ihm etwa an dem Herzen lag oder worueber er sich freute, und sie
nahm gewiss den Anteil, den die Schwester an den Bestrebungen des
Bruders hat, den sie liebt, auch wenn sie die Bestrebungen nicht ganz
verstehen sollte und sie, wenn es auf sie allein ankaeme, nicht zu den
ihrigen machen wuerde. So tut es ja auch Klotilde mit mir in meiner
Eltern Hause.
Ich stand an dem Eingange des Hauses und sah den beiden Geschwistern
nach, so lange ich sie sehen konnte. Einmal erblickte ich sie, wie sie
vorsichtig in ein Gebuesch schauten. Ich dachte mir, er werde ihr ein
Vogelnest gezeigt haben und sie sehe mit Teilnahme auf die winzige
befiederte Familie. Ein anderes Mal standen sie bei Blumen und
schauten sie an. Endlich sah ich nichts mehr. Das lichte Gewand der
Schwester war unter den Baeumen und Gestraeuchen verschwunden, manche
schimmernde Stellen wurden zuweilen noch sichtbar und dann nichts
mehr. Ich ging hierauf in meine Zimmer.
Mir war, als muesse ich dieses Maedchen schon irgendwo gesehen haben;
aber da ich mich bisher viel mehr mit leblosen Gegenstaenden oder
mit Pflanzen beschaeftigt hatte als mit Menschen, so hatte ich
keine Geschicklichkeit, Menschen zu beurteilen, ich konnte mir die
Gesichtszuege derselben nicht zurecht legen, sie mir nicht einpraegen
und sie nicht vergleichen; daher konnte ich auch nicht ergruenden, wo
ich Natalie schon einmal gesehen haben koennte.
Ich blieb den ganzen Nachmittag in meiner Wohnung.
Als die Hitze des Tages, welcher ganz heiter war, sich ein wenig
gemildert hatte, wurde ich aufgefordert, einen Spaziergang mit zu
machen. An demselben nahmen mein Gastfreund, Mathilde, Natalie,
Gustav und ich Teil. Wir gingen durch eine Strecke des Gartens. Mein
Gastfreund, Mathilde und ich bildeten eine Gruppe, da sie mich in
ihr Gespraech gezogen hatten, und wir gingen, wo es die Breite des
Sandweges zuliess, neben einander. Die andere Gruppe bildeten Natalie
und Gustav, und sie gingen eine ziemliche Anzahl Schritte vor uns.
Unser Gespraech betraf den Garten und seine verschiedenen Bestandteile,
die sich zu einem angenehmen Aufenthalte wohltuend abloesten, es betraf
das Haus und manche Verzierungen darin, es erweiterte sich auf die
Fluren, auf denen wieder der Segen stand, der den Menschen abermals
um ein Jahr weiter helfen sollte, und es ging auf das Land ueber,
auf manche gute Verhaeltnisse desselben und auf anderes, was der
Verbesserung beduerfte. Ich sah den zwei holen Gestalten nach, die
vor uns gingen. Gustav ist mir heute ploetzlich als voellig erwachsen
erschienen. Ich sah ihn neben der Schwester gehen und sah, dass er
groesser sei als sie. Dieser Gedanke draengte sich mir mehrere Male auf.
War er aber auch groesser, so war ihre Gestalt feiner und ihre Haltung
anmutiger. Gustav hatte wie sein Ziehvater nichts auf dem Haupte als
die Fuelle seiner dichten braunen Locken, und als Natalie den sanft
schattenden Strohhut, den sie wie ihre Mutter auf hatte, abgenommen
und an den Arm gehaengt hatte, so zeigten ihre Locken genau die Farbe
wie die Gustavs, und wenn die Geschwister, die sich sehr zu lieben
schienen, sehr nahe an einander gingen, so war es von ferne, als saehe
man eine einzige braune, glaenzende Haarfuelle und als teilen sich nur
unten die Gestalten.
Wir gingen bei der Pforte hinaus, die gegen den Meierhof fuehrt, gingen
aber nicht in den Meierhof, sondern machten einen grossen Bogen durch
die Felder und kamen dann schief ueber den suedlichen Abhang des Huegels
wieder zu dem Hause hinauf.
Da die Tage sehr lang waren, so leuchtete noch die Abendroete, wenn
wir von unserem Abendessen, das puenktlich immer zur gleichen Zeit
sein musste, aufstanden. Wir gingen daher heute auch noch nach dem
Abendessen in den Garten. Wir gingen zu dem grossen Kirschbaume empor.
Dort setzten wir uns auf das Baenklein. Mein Gastfreund und Mathilde
sassen in der Mitte, so dass ihre Angesichter gegen den Garten hinab
gerichtet waren. Links von meinem Gastfreunde sass ich, rechts von der
Mutter sassen Natalie und Gustav. Die Luefte dunkelten immer mehr, ein
blasser Schein war ueber die Wipfel des Gartens, der jetzt schwieg, und
ueber das Dach des Hauses gebreitet. Das Gespraech war heiter und ruhig,
und die Kinder wendeten oft ihr Angesicht herueber, um an dem Gespraeche
Anteil zu nehmen und gelegentlich selber ein Wort zu reden.
Da sich der eine und der andere Stern an dem Himmel entzuendete und
in den Tiefen der Gartengestraeuche schon die voellige Dunkelheit
herrschte, gingen wir in das Haus und in unsere Zimmer.
Ich war sehr traurig. Ich legte meinen Strohhut auf den Tisch, legte
meinen Rock ab und sah bei einem der offenen Fenster hinaus. Es war
heute nicht wie damals, da ich zum ersten Male in diesem Hause ueber
dem Rosengitter aus dem offenen Fenster in die Nacht hinausgeschaut
hatte. Es standen nicht die Wolken am Himmel, die ihn nach Richtungen
durchzogen und ihm Gestaltung gaben, sondern es brannte bereits ueber
dem ganzen Gewoelbe der einfache und ruhige Sternenhimmel. Es ging kein
Duft der Rosen zu meiner Nachtherberge herauf, da sie noch in den
Knospen waren, sondern es zog die einsame Luft kaum fuehlbar durch die
Fenster herein, ich war nicht von dem Verlangen belebt wie damals, das
Wesen und die Art meines Gastfreundes zu erforschen, dies lag entweder
aufgeloest vor mir oder war nicht zu loesen. Das einzige war, dass wieder
Getreide ausserhalb des Sandplatzes vor den Rosen ruhig und unbewegt
stand; aber es war eine andere Gattung und es war nicht zu erwarten,
dass es in der Nacht im Winde sich bewegen und am Morgen, wenn ich die
geklaerten Augen ueber die Gegend wendete, vor mir wogen wuerde.
Als die Nacht schon sehr weit vorgerueckt war, ging ich von dem Fenster
und obwohl ich jeden Abend gewohnt war, ehe ich mich zur Ruhe begab,
zu meinem Schoepfer zu beten, so kniete ich doch jetzt vor dem
einfachen Tischlein hin und tat ein heisses, inbruenstiges Gebet zu
Gott, dem ich alles und jedes, besonders mein Sein und mein Schicksal
und das Schicksal der Meinigen, anheim stellte.
Dann entkleidete ich mich, schloss die Schloesser meiner Zimmer ab und
begab mich zur Ruhe.
Als ich schon zum Entschlummern war, kam mir der Gedanke, ich wolle
nach Mathilden und ihren Verhaeltnissen eben so wenig eine Frage tun,
als ich sie nach meinem Gastfreunde getan habe.
Ich erwachte sehr zeitig; aber nach der Natur jener Jahreszeit war es
schon ganz licht, ein blauer, wolkenloser Himmel woelbte sich ueber die
Huegel, das Getreide unter meinen Fuessen wogte wirklich nicht, sondern
es stand unbewegt, mit starkem Taue wie mit feurigen Funken angetan,
in der aufgehenden Sonne da.
Ich kleidete mich an, richtete meine Gedanken zu Gott und setzte mich
zu meiner Arbeit.
Nach geraumer Zeit hoerte ich durch meine Fenster, welche ich bei
weiter fortschreitendem Morgen geoeffnet hatte, dass auch am aeussersten
Ende des Hauses gegen Osten Fenster erklangen, welche geoeffnet wurden.
In jener Gegend wohnten die Frauen in den schoenen, nach weiblicher Art
eingerichteten Gemaechern. Ich ging zu meinem Fenster, schaute hinaus
und sah wirklich, dass alle Fensterfluegel an jenem Teile des Hauses
offen standen. Nach einer Zeit, da es bereits zur Stunde des
Fruehmahles ging, hoerte ich weibliche Schritte an meiner Tuer vorueber
der Marmortreppe zugehen, welche mit einem weichen Teppiche belegt
war. Ich hatte auch, obwohl sie gedaempft war, wahrscheinlich, um mich
nicht zu stoeren, Gustavs Stimme erkannt.
Ich ging nach einer kleinen Weile auch ueber die Marmortreppe an dem
Marmorbilde der Muse vorueber in das Speisezimmer hinunter.
Der Tag verging ungefaehr wie der vorige, und so verflossen nach und
nach mehrere.
Die Ordnung des Hauses war durch die Ankunft der Frauen fast gar
nicht gestoert worden, nur dass solche Vorrichtungen vorgenommen werden
mussten, welche die Aufmerksamkeit fuer die Frauen verlangte. Die
Unterrichts- und Lernstunden Gustavs wurden eingehalten wie frueher,
und ebenso ging die Beschaeftigung meines Gastfreundes ihren Gang.
Mathilde beteiligte sich nach Frauenart an dem Hauswesen. Sie sah auf
das, was ihren Sohn betraf, und auf alles, was das haeusliche Wohl des
alten Mannes anging. Sie wurde gar nicht selten in der Kueche gesehen,
wie sie mitten unter den Maegden stand und an den Arbeiten Teil nahm,
die da vorfielen. Sie begab sich auch gerne in die Speisekammer, in
den Keller oder an andere Orte, die wichtig waren. Sie sorgte fuer die
Dinge, welche den Dienstleuten gehoerten, insoferne sie sich auf ihre
Nahrung bezogen oder auf ihre Wohnung oder auf ihre Kleider und
Schlafstellen. Sie legte das Linnen, die Kleider und anderes Eigentum
des alten Herrn und ihres Sohnes zurecht und bewirkte, dass, wo
Verbesserungen notwendig waren, dieselben eintreten koennten. Unter
diesen Dingen ging sie manches Mal des Tages auf den Sandplatz vor dem
Hause und betrachtete gleichsam wehmuetig die Rosen, die an der Wand
des Hauses empor wuchsen. Natalie brachte viele Zeit mit Gustav zu.
Die Geschwister mussten sich ausserordentlich lieben. Er zeigte ihr alle
seine Buecher, namentlich die neu zu den alten hinzu gekommen waren,
er erklaerte ihr, was er jetzt lerne, und suchte sie in dasselbe
einzuweihen, wenn sie es auch schon wusste und frueher die nehmlichen
Weg gegangen war. Wenn es die Umstaende mit sich brachten, schweiften
sie in dein Garten herum und freuten sich all des Lebens, was in
demselben war, und freuten sich des gegenseitigen Lebens, das sich
an einander schmiegte und dessen sie sich kaum als eines gesonderten
bewusst wurden. Die Zeit, welche alle frei hatten, brachten wir haeufig
gemeinschaftlich mit einander zu. Wir gingen in den Garten oder sassen
unter einem schattigen Baume oder machten einen Spaziergang oder waren
in dem Meierhofe. Ich vermochte nicht in die Gespraeche so einzugehen,
wie ich es mit meinem Gastfreunde allein tat, und wenn auch Mathilde
recht freundlich mit mir sprach, so wurde ich fast immer noch stummer.
Die Rosen fingen an, sich stets mehr zu entwickeln, sehr viele waren
bereits aufgeblueht und stuendlich oeffneten andere den sanften Kelch.
Wir gingen sehr oft hinaus und betrachteten die Zierde, und es
musste manchmal eine Leiter herbei, um irgend etwas Stoerendes oder
Unvollkommenes zu entfernen.
Die Mittage waren lieb und angenehm. Auch das, dass Mathilde und
Natalie so fein und passend, wenn auch einfach angezogen waren, wie
ich es von meiner Mutter und Schwester gewohnt war, gab dem Mahle
einen gewissen Glanz, den ich frueher vermisst hatte. Die Vorhaenge waren
gegen die unmittelbare Sonne jederzeit zu, und es war eine gebrochene
und sanfte Helle in dem Zimmer.
Die Abende nach dem Abendessen brachten wir immer im Freien zu, da
noch lauter schoene Tage gewesen waren. Meistens sassen wir bei dem
grossen Kirschbaume oben, welches bei weitem der schoenste Platz zu
einem Abendsitze war, obgleich er auch zu jeder andern Zeit, wenn die
Hitze nicht zu gross war, mit der groessten Annehmlichkeit erfuellte.
Mein Gastfreund fuehrte die Gespraeche klar und warm, und Mathilde
konnte ihm entsprechend antworten. Sie wurden mit einer Milde und
Einsicht gefuehrt, dass sie immer an sich zogen, dass ich gerne meine
Aufmerksamkeit hin richtete und, wenn sie auch Gewoehnliches betrafen,
etwas Neues und Eindringendes zu hoeren glaubte. Der alte Mann fuehrte
dann die Frau im Sternenscheine oder bei dem schwachen Lichte der
schmalen Mondessichel, die jetzt immer deutlicher in dem Abendrote
schwamm, ueber den Huegel in das Haus hinab, und die schlanken Gestalten
der Kinder gingen an den dunkeln Bueschen dahin.
Das war alles so einfach, klar und natuerlich, dass es mir immer war,
die zwei Leute seien Eheleute und Besitzer dieses Anwesens, Gustav
und Natalie seien ihre Kinder, und ich sei ein Freund, der sie hier
in diesem abgeschiedenen Winkel der Welt besucht habe, wo sie den
stilleren Rest ihres Daseins in Unscheinbarkeit und Ruhe hinbringen
wollten.
Eines Tages wurde eine feierliche Mahlzeit in dem Speisezimmer
gehalten. Es war Eustach, dann der Hausaufseher, der alte Gaertner
mit seiner Frau, der Verwalter des Meierhofes und die Haushaelterin
Katharina geladen worden. Statt Katharinen musste ein anderes die
Herrschaft in der Kueche fuehren. Es musste, wie ich aus allem entnahm,
jedes Mal bei der Anwesenheit Mathildens die Sitte sein, ein solches
Gastmahl abzuhalten; die Leute fanden sich auf eine natuerliche Art
in die Sache, und die Gespraeche gingen mit einer Gemaessheit vor sich,
welche auf Uebung deutete. Mathilde konnte sie veranlassen, etwas zu
sagen, was passte und was daher dem Sprechenden ein Selbstgefuehl gab,
das ihm den Aufenthalt in der Umgebung angenehm machte. Eustach
allein erhielt die Auszeichnung, dass man das bei ihm nicht fuer noetig
erachtete, er sprach daher auch weniger und nur in allgemeinen
Ausdruecken ueber allgemeine Dinge. Er empfand, dass er der hoeheren
Gesellschaft zugezaehlt werde, wie ich es auch, da ich ihn naeher kennen
gelernt hatte, ganz natuerlich fand, waehrend die anderen nicht merkten,
dass man sie empor hebe. Der Gaertner und seine Frau waren in ihrem
weissen, reinlichen Anzuge ein sehr liebes greises Paar, welches auch
die anderen mit einer gewissen Auszeichnung behandelten. An Speisen
war eine etwas reichlichere Auswahl als gewoehnlich, die Maenner bekamen
einen guten Gebirgswein zum Getraenke, fuer die Frauen wurde ein suesser
neben die Backwerke gestellt.
Da die Rosen immer mehr der Entfaltung entgegen gingen, wurden einmal
Sessel und Stuehle in einem Halbkreise auf dem Sandplatze vor dem Hause
aufgestellt, so dass die Oeffnung des Kreises gegen das Haus sah, und
ein langer Tisch wurde in die Mitte gestellt. Wir setzten uns auf die
Sessel, der Gaertner Simon war gerufen worden, Eustach kam, und von den
Leuten und Gartenarbeitern konnte kommen, wer da wollte. Sie machten
auch Gebrauch davon.
Die Rosen wurden einer sehr genauen Beurteilung unterzogen. Man fragte
sich, welche die schoensten seien oder welche dem einen oder dem
anderen mehr gefielen. Die Aussprueche erfolgten verschieden und jedes
suchte seine Meinung zu begruenden. Es lagen Druckwerke und Abbildungen
auf dem Tische, zu denen man dann seine Zuflucht nahm, ohne eben jedes
Mal ihrem Ausspruche beizupflichten. Man tat die Frage, ob man nicht
Baeumchen versetzen solle, um eine schoenere Mischung der Farben zu
erzielen. Der allgemeine Ausspruch ging dahin, dass man es nicht tun
solle, es taete den Baeumchen wehe, und wenn sie gross waeren, koennten sie
sogar eingehen; eine zu aengstliche Zusammenstellung der Farben verrate
die Absicht und stoere die Wirkung; eine reizende Zufaelligkeit sei
doch das Angenehmste. Es wurde also beschlossen, die Baeume stehen zu
lassen, wie sie standen. Man sprach sich nun ueber die Eigenschaften
der verschiedenen Baeumchen aus, man beurteilte ihre Trefflichkeit
an sich, ohne auf die Blumen Ruecksicht zu nehmen, und oft wurde der
Gaertner um Auskunft angerufen. Ueber die Gesundheit der Pflanzen und
ihre Pflege konnte kein Tadel ausgesprochen werden, sie waren heuer so
vortrefflich, wie sie alle Jahre vortrefflich gewesen waren. Auf den
Tisch wurden nun Erfrischungen gestellt und alle jene Vorrichtungen
ausgebreitet, die zu einem Vesperbrote notwendig sind. Aus den Reden
Mathildens sah ich, dass sie mit allen hier befindlichen Rosenpflanzen
sehr vertraut sei und dass sie selbst kleine Veraenderungen bemerkte,
welche seit einem Jahre vorgegangen sind. Sie musste wohl Lieblinge
unter den Blumen haben, aber man erkannte, dass sie allen ihre Neigung
in einem hohen Masse zugewendet habe. Ich schloss aus diesem Vorgange
wieder, welche Wichtigkeit diese Blumen fuer dieses Haus haben.
Gegen Abend desselben Tages kam ein Besuch in das Rosenhaus. Es war
ein Mann, welcher in der Naehe eine bedeutende Besitzung hatte, die er
selber bewirtschaftete, obwohl er sich im Winter eine geraume Zeit
in der Stadt aufhielt. Er war von seiner Gattin und zwei Toechtern
begleitet, Sie waren auf der Rueckfahrt von einem Besuche begriffen,
den sie in einem entfernteren Teile der Gegend gemacht hatten, und
waren wie sie sagten, zu dem Hause herauf gefahren, um zu sehen, ob
die Rosen schon bluehten und um die gewoehnliche Pracht zu bewundern.
Sie hatten im Sinne, am Abende wieder fort zu fahren, allein da die
Zeit schon so weit vorgerueckt war, drang mein Gastfreund in sie,
die Nacht in seinem Hause zuzubringen, in welches Begehren sie
auch einwilligten. Die Pferde und der Wagen wurden in den Meierhof
gebracht, den Reisenden wurden Zimmer angewiesen.
Sie gingen aus denselben aber wieder sehr bald hervor, man begab sich
auf den Sandplatz vor dem Hause, und die Rosenschau wurde aufs neue
vorgenommen. Es waren zum Teile noch die Stuehle vorhanden, die man
heute herausgetragen hatte, obwohl der Tisch schon weggeraeumt war. Die
Mutter setzte sich auf einen derselben und noetigte Mathilden, neben
ihr Platz zu nehmen. Die Maedchen gingen neben den Rosen hin, und man
redete viel von den Blumen und bewunderte sie.
Vor dem Abendessen wurde noch ein Gang durch den Garten und einen Teil
der Felder gemacht, dann begab sich alles auf seine Zimmer.
Da die Stunde zu dem Abendmahle geschlagen hatte, versammelte man sich
wieder in dem Speisesaale. Der Fremde und seine Begleiterinnen hatten
sich umgekleidet, der Mann erschien sogar im schwarzen Fracke,
die Frauen hatten einen Anzug, wie man ihn in der Stadt bei nicht
festlichen, aber freundschaftlichen Besuchen hat. Wir waren in unseren
gewoehnlichen Kleidern. Aber gerade durch den Anzug der Fremden, an dem
sachgemaess nichts zu tadeln war, was ich recht gut beurteilen konnte,
weil ich solche Gewaender an meiner Mutter und Schwester oft sah
und auch oft Urteile darueber hoerte, wurden unsere Kleider nicht in
den Schatten gestellt, sondern sie taten eher denen der Fremden,
wenigstens in meinen Augen, Abbruch. Der geputzte Anzug erschien mir
auffallend und unnatuerlich, waehrend der andere einfach und zweckmaessig
war. Es gewann den Anschein, als ob Mathilde, Natalie, mein alter
Gastfreund und selbst Gustav bedeutende Menschen waeren, indes jene
einige aus der grossen Menge darstellten, wie sie sich ueberall
befinden.
Ich betrachtete waehrend der Zeit des Essens und nachher, da wir
uns noch eine Weile in dem Speisezimmer aufhielten, sogar auch die
Schoenheit der Maedchen. Die aeltere von den beiden Toechtern der Fremden
- wenigstens mir erschien sie als die aeltere - hiess Julie. Sie hatte
braune Haare wie Natalie. Dieselben waren reich und waren schoen um die
Stirne geordnet. Die Augen waren braun, gross und blickten mild. Die
Wangen waren fein und ebenmaessig, und der Mund war aeusserst sanft und
wohlwollend. Ihre Gestalt hatte sich neben den Rosen und auf dem
Spaziergange als schlank und edel, und ihre Bewegungen hatten sich als
natuerliche und wuerdevolle gezeigt. Es lag ein grosser hinziehender Reiz
in ihrem Wesen. Die juengere, welche Appolonia hiess, hatte gleichfalls
braune, aber lichtere Haare als die Schwester. Sie waren ebenso
reich und wo moeglich noch schoener geordnet. Die Stirne trat klar und
deutlich von ihnen ab, und unter derselben blickten zwei blaue Augen
nicht so gross wie die braunen der Schwester, aber noch einfacher,
guetevoller und treuer hervor. Diese Augen schienen von dem Vater zu
kommen, der sie auch blau hatte, waehrend die der Mutter braun waren.
Die Wangen und der Mund erschienen noch feiner als bei der Schwester
und die Gestalt fast unmerkbar kleiner. War ihr Benehmen minder
anmutig als das der Schwester, so war es treuherziger und lieblicher.
Meine Freunde in der Stadt wuerden gesagt haben, es seien zwei
hinreissende Wesen, und sie waren es auch. Natalie - ich weiss nicht,
war ihre Schoenheit unendlich groesser oder war es ein anderes Wesen
in ihr, welches wirkte -, ich hatte aber dieses Wesen noch in einem
geringen Masse zu ergruenden vermocht, da sie sehr wenig zu mir
gesprochen hatte, ich hatte ihren Gang und ihre Bewegungen nicht
beurteilen koennen, da ich mir nicht den Mut nahm, sie zu beobachten,
wie man eine Zeichnung beobachtet - aber sie war neben diesen zwei
Maedchen weit hoeher, wahr, klar und schoen, dass jeder Vergleich
aufhoerte. Wenn es wahr ist, dass Maedchen bezaubernd wirken koennen, so
konnten die zwei Schwestern bezaubern; aber um Natalie war etwas wie
ein tiefes Glueck verbreitet.
Mathilde und mein Gastfreund schienen diese Familie sehr zu lieben und
zu achten, das zeigte das Benehmen gegen sie.
Die Mutter der zwei Maedchen schien ungefaehr vierzig Jahre alt zu sein.
Sie hatte noch alle Frische und Gesundheit einer schoenen Frau, deren
Gestalt nur etwas zu voll war, als dass sie zu einem Gegenstande der
Zeichnung haette dienen koennen, wie man wenigstens in Zeichnungen gerne
schoene Frauen vorstellt. Ihr Gespraech und ihr Benehmen zeigte, dass sie
in der Welt zu dem sogenannten vorzueglicheren Umgang gehoere. Der Vater
schien ein kenntnisvoller Mann zu sein, der mit dem Benehmen der
feineren Staende der Stadt die Einfachheit der Erfahrung und die Guete
eines Landwirtes verband, auf den die Natur einen sanften Einfluss
uebte. Ich hoerte seiner Rede gerne zu. Mathilde erschien bedeutend
aelter als die Mutter der zwei Maedchen, sie schien einstens wie Natalie
gewesen zu sein, war aber jetzt ein Bild der Ruhe und, ich moechte
sagen, der Vergebung. Ich weiss nicht, warum mir in den Tagen dieser
Ausdruck schon mehrere Male einfiel. Sie sprach von den Gegenstaenden,
welche von den Besuchenden vorgebracht wurden, brachte aber nie ihre
eigenen Gegenstaende zum Gespraeche. Sie sprach mit Einfachheit, ohne
von den Gegenstaenden beherrscht zu werden und ohne die Gegenstaende
ausschliesslich beherrschen zu wollen. Mein Gastfreund ging in die
Ansichten seines Gutsnachbars ein und redete in der ihm eigentuemlichen
klaren Weise, wobei er aber auch die Hoeflichkeit beging, den Gast die
Gegenstaende des Gespraeches waehlen zu lassen.
So sassen diese zwei Abteilungen von Menschen an demselben Tische und
bewegten sich in demselben Zimmer, wirklich zwei Abteilungen von
Menschen.
Daraus, dass sie gerade zur Rosenbluete herauf gefahren waren, erkannte
ich, dass die Nachbarn meines Gastfreundes nicht bloss um seine Vorliebe
fuer diese Blumen wussten, sondern dass sie etwa auch Anteil daran
nahmen.
Es wurde nach dem Essen nicht mehr ein Spaziergang gemacht, wie in
diesen Tagen, sondern man blieb in Gespraechen bei einander und ging
spaeter, als es sonst in diesem Hause gebraeuchlich war, zur Ruhe.
Am anderen Morgen wurde das Fruehmahl in dem Garten eingenommen, und
nachdem man sich noch eine Weile in dem Gewaechshause aufgehalten
hatte, fuhren die Gaeste mit der wiederholt vorgebrachten Bitte fort,
sie doch auch recht bald auf ihrem Gute zu besuchen, was zugesagt
wurde.
Nach dieser Unterbrechung gingen die Tage auf dem Rosenhause dahin,
wie sie seit der Ankunft der Frauen dahin gegangen waren. Die Zeit,
welche jedes frei hatte, brachten wir wieder oefter gemeinschaftlich
zu. Ich wurde nicht selten in diesen Zeiten ausdruecklich zur
Gesellschaft geladen. Natalie hatte auch ihre Lernstunden, welche sie
gewissenhaft hielt. Gustav sagte mir, dass sie jetzt Spanisch lerne und
spanische Buecher mit hieher gebracht habe. Ich hatte doch den Raum,
welchen man mir in dem sogenannten Steinhause eingeraeumt hatte,
benutzt und hatte mehrere meiner Gegenstaende dort hingebracht. Gustav
las bereits in den Buechern von Goethe. Sein Ziehvater hatte ihm
Hermann und Dorothea ausgewaehlt und ihm gesagt, er solle das Werk so
genau und sorgfaeltig lesen, dass er jeden Vers voellig verstehe, und wo
ihm etwas dunkel sei, dort solle er fragen. Mir war es ruehrend, dass
die Buecher alle in Gustavs Zimmer aufgestellt waren und dass man das
Zutrauen hatte, dass er kein anderes lesen werde, als welches ihm von
dem Ziehvater bezeichnet worden sei. Ich kam oft zu ihm, und wenn ich
nach der Kenntnis, die ich bereits von seinem Wesen gewonnen hatte,
nicht gewusst haette, dass er sein Versprechen halten werde, so haette ich
mich durch meine Besuche von dieser Tatsache ueberzeugt. Mathilde und
Natalie standen oft dabei, wenn mein Gastfreund fuer seine gefiederten
Gaeste auf der Fuetterungstenne Koerner streute, und nicht selten, wenn
ich des Morgens von einem Gange durch den Garten zurueckkam, sah
ich, dass bei der Fuetterung in dem Eckzimmer, an dessen Fenstern die
Fuetterungsbrettchen angebracht waren, eine schoene Hand taetig sei, die
ich fuer Nataliens erkannte. Wir besuchten manchmal die Nester, in
welchen noch gebruetet wurde oder sich Junge befanden. Die meisten
aber waren schon leer, und die Nachkommenschaft wohnte bereits in
den Zweigen der Baeume. Oft befanden wir uns in dem Schreinerhause,
sprachen mit den Leuten, betrachteten die Fortschritte der Arbeit und
redeten darueber.
Wir besuchten sogar auch Nachbarn und sahen uns in ihrer
Wirtschaftlichkeit um. Wenn wir in dem Hause waren, befanden wir uns
in dem Arbeitszimmer meines Gastfreundes, es wurde etwas gelesen, oder
es wurde ein geistansprechender Versuch in dem Zimmer der Naturlehre
gemacht, oder wir waren in dem Bilderzimmer oder in dem Marmorsaale.
Mein Gastfreund musste oft seine Kunst ausueben und das Wetter
voraussagen. Immer, wenn er eine bestimmte Aussage machte, traf sie
ein. Oft verweigerte er aber diese Aussage, weil, wie er erklaerte, die
Anzeigen nicht deutlich und verstaendlich genug fuer ihn seien.
Zuweilen waren wir auch in den Zimmern der Frauen. Wir kamen dahin,
wenn wir dazu geladen waren. Das kleine letzte Zimmerchen mit der
Tapetentuer gehoerte insbesondere Mathilden. Ich hatte es Rosenzimmer
genannt, und es wurde scherzweise der Name beibehalten. Mir war es
ein anmutiger Eindruck, dass ich sah, wie liebend und wie hold dieses
Zimmer fuer die alte Frau eingerichtet worden war. Es herrschte eine
zusammenstimmende Ruhe in diesem Zimmer mit den sanften Farben
Blassrot, Weissgrau, Gruen, Mattveilchenblau und Gold. In all das sah die
Landschaft mit den lieblichen Gestalten der Hochgebirge herein.
Mathilde sass gerne auf dem eigentuemlichen Sessel am Fenster und sah
mit ihrem schoenen Angesichte hinaus, dessen Art mein Gastfreund einmal
mit einer welkenden Rose verglichen hatte.
In den Zimmern las zuweilen Natalie etwas vor, wenn mein Gastfreund es
verlangte. Sonst wurde gesprochen. Ich sah auf ihrem Tische Papiere in
schoener Ordnung und neben ihnen Buecher liegen. Ich konnte es nie ueber
mich bringen, auch nur auf die Aufschrift dieser Buecher zu sehen, viel
weniger gar eines zu nehmen und hinein zu schauen. Es taten dies auch
andere nie. An dem Fenster stand ein verhuellter Rahmen, an dem sie
vielleicht etwas arbeitete; aber sie zeigte nichts davon. Gustav,
wahrscheinlich aus Neigung zu mir, um mich mit den schoenen Dingen zu
erfreuen, die seine Schwester verfertigte, ging sie wiederholt darum
an. Sie lehnte es aber jedes Mal auf eine einfache Art ab. Ich hatte
einmal in einer Nacht, da meine Fenster offen waren, Zithertoene
vernommen. Ich kannte dieses Musikgeraet des Gebirges sehr gut, ich
hatte es bei meinen Wanderungen sehr oft und von den verschiedensten
Haenden spielen gehoert, und hatte mein Ohr fuer seine Klaenge und
Unterschiede zu bilden gesucht. Ich ging an das Fenster und hoerte zu.
Es waren zwei Zithern, die im oestlichen Fluegel des Hauses abwechselnd
gegen einander und mit einander spielten. Wer Uebung im Hoeren dieser
Klaenge hat, merkt es gleich, ob auf derselben Zither oder auf
verschiedenen, und von denselben Haenden oder verschiedenen gespielt
wird. In den Gemaechern der Frauen sah ich spaeter die zwei Zithern
liegen. Es wurde aber in unserer Gegenwart nie darauf gespielt. Mein
Gastfreund verlangte es nicht, ich ohnehin nicht, und in dieser
Angelegenheit beobachtete auch Gustav eine feste Enthaltung.
Indessen war nach und nach die Zeit herangerueckt, in welcher die Rosen
in der allerschoensten Bluete standen. Das Wetter war sehr guenstig
gewesen. Einige leichte Regen, welche mein Gastfreund vorausgesagt
hatte, waren dem Gedeihen bei weitem foerderlicher gewesen, als es
fortdauernd schoenes Wetter haette tun koennen. Sie kuehlten die Luft von
zu grosser Hitze zu angenehmer Milde herab und wuschen Blatt, Blume und
Stengel viel reiner von dem Staube, der selbst in weit von der Strasse
entfernten und mitten in Feldern gelegenen Orten doch nach lange
andauerndem schoenem Wetter sich auf Daechern, Mauern, Zaeunen, Blaettern
und Halmen sammelt, als es die Spruehregen, die mein Gastfreund ein
paar Male durch seine Vorrichtung unter dem Dache auf die Rosen hatte
ergehen lassen, zu tun im Stande gewesen waren. Unter dem klarsten,
schoensten und tiefsten Blau des Himmels standen nun eines Tages
Tausende von den Blumen offen, es schien, dass keine einzige Knospe im
Rueckstande geblieben und nicht aufgegangen ist. In ihrer Farbe von dem
reinsten Weiss in gelbliches Weiss, in Gelb, in blasses Rot, in feuriges
Rosenrot, in Purpur, in Veilchenrot, in Schwarzrot zogen sie an der
Flaeche dahin, dass man bei lebendiger Anschauung versucht wurde, jenen
alten Voelkern Recht zu geben, die die Rosen fast goettlich verehrten
und bei ihren Freuden und Festen sich mit diesen Blumen bekraenzten.
Man war taeglich, teils einzeln, teils zusammen, zu dem Rosengitter
gekommen, um die Fortschritte zu betrachten, man hatte gelegentlich
auch andere Rosenteile und Rosenanlagen in dem Garten besucht;
allein an diesem Tage erklaerte man einmuetig, jetzt sei die Bluete am
schoensten, schoener vermoege sie nicht mehr zu werden und von jetzt an
muesse sie abzunehmen beginnen. Dies hatte man zwar auch schon einige
Tage frueher gesagt; jetzt aber glaubte man sich nicht mehr zu irren,
jetzt glaubte man auf dem Gipfel angelangt zu sein.
So weit ich mich auf das vergangene Jahr zu erinnern vermochte, in
welchem ich auch diese Blumen in ihrer Bluete angetroffen hatte, waren
sie jetzt schoener als damals.
Es kamen wiederholt Besuche an, die Rosen zu sehen. Die Liebe zu
diesen Blumen, welche in dem Rosenhause herrschte, und die zweckmaessige
Pflege, welche sie da erhielten, war in der Nachbarschaft bekannt
geworden, und da kamen manche, welche sich wirklich an dem
ungewoehnlichen Ergebnisse dieser Zucht ergoetzen wollten, und andere,
die dem Besitzer etwas Angenehmes erzeigen wollten, und wieder
andere, die nichts Besseres zu tun wussten, als nachzuahmen, was
ihre Umgebung tat. Alle diese Arten waren nicht schwer von einander
zu unterscheiden. Die Behandlung derselben war von Seite meines
Gastfreundes so fein, dass ich es nicht von ihm vermutet hatte und dass
ich diese Eigenschaft an ihm erst jetzt, wo ich ihn unter Menschen
beobachten konnte, entdeckte.
Auch Bauern kamen zu verschiedenen Zeiten und baten, dass sie die Rosen
anschauen duerfen. Nicht nur die Rosen wurden ihnen gezeigt, sondern
auch alles andere im Hause und Garten, was sie zu sehen wuenschten,
besonders aber der Meierhof, insoferne sie ihn nicht kannten oder
ihnen die letzten Veraenderungen in demselben neu waren.
Eines Tages kam auch der Pfarrer von Rohrberg, den ich bei meinem
vorjaehrigen Besuche in dem Rosenhause getroffen hatte. Er zeichnete
sich einige Rosen in ein Buch, das er mitgebracht hatte, und wendete
sogar Wasserfarben an, um die Farben der Blumen so getreu, als nur
immer moeglich ist, nachzuahmen. Die Zeichnung aber sollte keine
Kunstabbildung von Blumen sein, sondern er wollte sich nur solche
Blumen anmerken und von ihnen den Eindruck aufbewahren, deren Art er
in seinen Garten zu verpflanzen wuenschte. Es bestand nehmlich schon
seit lange her zwischen meinem Gastfreunde und dem Pfarrer das
Verhaeltnis, dass mein Gastfreund dem Pfarrer Pflanzen gab, womit
dieser seinen Garten zieren wollte, den er teils neu um das Pfarrhaus
angelegt, teils erweitert hatte.
Unter allen aber schien Mathilde die Rosen am meisten zu lieben. Sie
musste ueberhaupt die Blumen sehr lieben; denn auf den Blumentischen in
ihren Zimmern standen stets die schoensten und frischesten des Gartens,
auch wurde gerne auf dem Tische, an welchem wir speisten, eine Gruppe
von Gartentoepfen mit ihren Blumen zusammengestellt. Abgebrochen oder
abgeschnitten und in Glaeser mit Wasser gestellt durften in diesem
Hause keine Blumen werden, ausser sie waren welk, so dass man sie
entfernen musste. Den Rosen aber wendete sie ihr meistes Augenmerk zu.
Nicht nur ging sie zu denen, welche im Garten in Straeuchen, Baeumchen
und Gruppen standen, und bekuemmerte sich um ihre Hegung und Pflege,
sondern sie besuchte auch ganz allein, wie ich schon frueher bemerkt
hatte, die, welche an der Wand des Hauses bluehten. Oft stand sie lange
davor und betrachtete sie. Zuweilen holte sie sich einen Schemel,
stieg auf ihn und ordnete in den Zweigen. Sie nahm entweder ein welkes
Laubblatt ab, das den Blicken der andern entgangen war, oder bog eine
Blume heraus, die am vollkommenen Aufbluehen gehindert war, oder las
ein Kaeferchen ab oder lueftete die Zweige, wo sie sich zu dicht und zu
buschig gedraengt hatten. Zuweilen blieb sie auf dem Schemel stehen,
liess die Hand sinken und betrachtete wie im Sinnen die vor ihr
ausgebreiteten Gewaechse.
Wirklich war der Tag, den man als den schoensten der Rosenbluete
bezeichnet hatte, auch der schoenste gewesen. Von ihm an begann sie
abzunehmen, und die Blumen fingen an zu welken, so dass man oefter die
Leiter und die Schere zur Hand nehmen musste, um Verunzierungen zu
beseitigen.
Auch zwei fremde Reisende waren in das Rosenhaus gekommen, welche
sich eine Nacht und einen Teil des darauf folgenden Vormittages in
demselben aufgehalten hatten. Sie hatten den Garten, die Felder und
den Meierhof besehen. In seine Zimmer und in die Schreinerei hatte sie
mein Gastfreund nicht gefuehrt, woraus ich die mir angenehme Bemerkung
zog, dass er mir bei meiner ersten Ankunft in seinem Hause eine
Bevorzugung gab, die nicht jedem zu Teil wurde, dass ich also eine Art
Zuneigung bei ihm gefunden haben musste.
Gegen das Ende der Rosenbluete kam Eustachs Bruder Roland in das Haus.
Da er sich mehrere Tage in demselben aufhielt, fand ich Gelegenheit,
ihn genauer zu beobachten. Er hatte noch nicht die Bildung seines
Bruders, auch nicht dessen Biegsamkeit; aber er schien mehr Kraft zu
besitzen, die seinen Beschaeftigungen einen wirksamen Erfolg versprach.
Was mir auffiel, war, dass er mehrere Male seine dunkeln Augen laenger
auf Natalien heftete, als mir schicklich erscheinen wollte. Er hatte
eine Reihe von Zeichnungen gebracht und wollte noch einen entfernteren
Teil des Landes besuchen, ehe er wiederkehrte, um den Stoff vollkommen
zu ordnen.
Ehe Mathilde und Natalie das Rosenhaus verliessen, musste noch der
versprochene Besuch auf dem Gute des Nachbars, welches Ingheim hiess
und von dem Volke nicht selten der Inghof genannt wurde, gemacht
werden. Es wurde hingeschickt und ein Tag genannt, an dem man kommen
wollte, welcher auch angenommen wurde. Am Morgen dieses Tages wurden
die braunen Pferde, mit denen Mathilde gekommen war und die sie die
Zeit ueber in dem Meierhofe gelassen hatte, vor den Wagen gespannt,
der die Frauen gebracht hatte, und Mathilde und Natalie setzten sich
hinein. Mein Gastfreund, Gustav und ich, der ich eigens in die Bitte
des Gegenbesuchs eingeschlossen worden war, stiegen in einen anderen
Wagen, der mit zwei sehr schoenen Grauschimmeln meines Gastfreundes
bespannt war. Eine rasche Fahrt von einer Stunde brachte uns an den
Ort unserer Bestimmung. Ingheim ist ein Schloss, oder eigentlich sind
zwei Schloesser da, welche noch von mehreren anderen Gebaeuden umgeben
sind. Das alte Schloss war einmal befestigt. Die grauen, aus grossen
viereckigen Steinen erbauten runden Tuerme stehen noch, ebenso die
graue aus gleichen Steinen erbaute Mauer zwischen den Tuermen.
Beide Teile beginnen aber oben zu verfallen. Hinter den Tuermen und
Mauern steht das alte, unbewohnte, ebenfalls graue Haus, scheinbar
unversehrt; aber von den mit Brettern verschlagenen Fenstern schaut
die Unbewohntheit und Ungastlichkeit herab. Vor diesen Werken des
Altertums steht das neue weisse Haus, welches mit seinen gruenen
Fensterlaeden und dem roten Ziegeldache sehr einladend aussieht. Wenn
man von der Ferne koemmt, meint man, es sei unmittelbar an das alte
Schloss angebaut, welches hinter ihm emporragt. Wenn man aber in dem
Hause selber ist und hinter dasselbe geht, so sieht man, dass das alte
Gemaeuer noch ziemlich weit zurueck ist, dass es auf einem Felsen steht
und dass es durch einen breiten, mit einem Obstbaumwald bedeckten
Graben von dem neuen Hause getrennt ist. Auch kann man in der Ferne
wegen der ungewoehnlichen Groesse des alten Schlosses die Geraeumigkeit
des neuen Hauses nicht ermessen. Sobald man sich aber in demselben
befindet, so erkennt man, dass es eine bedeutende Raeumlichkeit habe und
nicht bloss fuer das Unterkommen der Familie gesorgt ist, sondern auch
eine ziemliche Zahl von Gaesten noch keine Ungelegenheit bereitet. Ich
hatte wohl den Namen des Schlosses oefter gehoert, dasselbe aber nie
gesehen. Es liegt so abseits von den gewoehnlichen Wegen und ist durch
einen grossen Huegel so gedeckt, dass es von Reisenden, welche durch
diese Gegend gewoehnlich den Gebirgen zugehen, nicht gesehen werden
kann. Als wir uns naeherten, entwickelten sich die mehreren Bauwerke.
Zuerst kamen wir zu den Wirtschaftsgebaeuden oder der sogenannten
Meierei. Dieselben standen, wie es bei vielen Besitzungen in unserem
Lande der Brauch ist, ziemlich weit entfernt von dem Wohnhause und
bildeten eine eigene Abteilung. Von da fuehrte der Weg durch eine Allee
uralter grosser Linden eine Strecke gegen das neue Haus. Die Allee ist
ein Bruchstueck von derjenigen, die einmal gegen die Zugbruecke des
alten Schlosses hinauf gefuehrt hatte; sie brach daher ab, und wir
fuhren die uebrige Strecke durch schoenen gruenen Rasen, der mit
einzelnen Blumenhuegeln geschmueckt war, dem Hause zu. Dasselbe war von
weisslich grauer Farbe und hatte saeulenartige Streifen und Friese. Alle
Fenster, soweit die geoeffneten Laeden eine Einsicht zuliessen, zeigten
von Innen schwere Vorhaenge. Als der Wagen der Frauen unter dem
Ueberdache der Vorfahrt hielt, stand schon der Herr von Ingheim
sammt seiner Gattin und seinen Toechtern am Ende der Treppe zur
Bewillkommnung. Sie waren alle mit Geschmack gekleidet, sowie die
Dienerschaft, die hinter ihnen stand, in Festkleidern war. Der
Herr half den Frauen aus dem Wagen, und da wir mittlerweile auch
ausgestiegen und herzugekommen waren, wurden wir von der ganzen
Familie begruesst und die Treppe hinauf geleitet.
Man fuehrte uns in ein grosses Empfangszimmer und wies uns Plaetze an.
Mathilde und Natalie hatten zwar festlichere Kleider an, als sie im
Rosenhause trugen, aber dieselben, so edel der Stoff war, zeigten doch
keine uebermaessige Verzierung oder gar Ueberladung. Mein Gastfreund,
Gustav und ich waren gekleidet, wie man es zu laendlichen Besuchen zu
sein pflegt. So liessen wir uns in die prachtvollen Polster, die hier
ueberall ausgelegt waren, nieder. Auf einem Tische, ueber den ein
schoener Teppich gebreitet war, standen Erfrischungen verschiedener
Art. Andere Tische, die noch in dem Zimmer standen, waren unbedeckt.
Die Geraete waren von Mahagoniholz und schienen aus der ersten
Werkstaette der Stadt zu stammen. Ebenso waren die Spiegel, die
Kronleuchter und andere Dinge des Zimmers. Eine Ecke an einem Fenster
nahm ein sehr schoenes Clavier ein. Die ersten Gespraeche betrafen die
gewoehnlichen Dinge ueber Wohlbefinden, ueber Wetter, ueber Gedeihen
der Feld- und Gartengewaechse. Die Maenner nannten sich wechselweise
Nachbar, die Frauen benannten sich gar nicht.
Als man etwas Weniges von den dastehenden Speisen genommen hatte,
erhob man sich, und wir gingen durch die Zimmer. Es war eine Reihe,
deren Fenster groesstenteils gegen Mittag auf die Landschaft hinaus
gingen. Alle waren sehr schoen nach neuer Art eingerichtet, besonders
reich waren die Palisandergeraete im Empfangszimmer der Frau, in
welchem, so wie in dem Arbeitszimmer der Maedchen, wieder Claviere
standen. Der Herr des Hauses fuehrte besonders mich in den Raeumen
herum, dem sie noch fremd waren. Die uebrige Gesellschaft folgte uns
gelegentlich in das eine oder andere Gemach.
Aus den Zimmern ging man in den Garten. Derselbe war wie viele
wohlgehaltene und schoene Gaerten in der Naehe der Stadt. Schoene
Sandgaenge, gruene ausgeschnittene Rasenplaetze mit Blumenstuecken,
Gruppen von Zier- und Waldgebueschen, ein Gewaechshaus mit
Camellien, Rhododendren, Azaleen, Eriken, Calceolarien und vielen
neuhollaendischen Pflanzen, endlich Ruhebaenke und Tische an geeigneten
schattigen Stellen. Der Obstgarten als Nuetzlichkeitsstueck war nicht
bei dem Wohnhause, sondern hinter dem Meierhofe.
Von dem Garten gingen wir, wie es bei laendlichen Besuchen zu geschehen
pflegt, in die Meierei. Wir gingen durch die Reihen der glatten
Rinder, die meistens weiss gestirnt waren, wir besahen die Schafe, die
Pferde, das Gefluegel, die Milchkammer, die Kaesebereitung, die Brauerei
und aehnliche Dinge. Hinter den Scheuern trafen wir den Gemuesegarten
und den sehr weitlaeufigen Obstgarten an. Von diesen gingen wir in die
wohlbestellten Felder und in die Wiesen. Der Wald, welcher zu der
Besitzung gehoert, wurde mir in der Ferne gezeigt.
Nachdem wir unsern ziemlich bedeutenden Spaziergang beendigt hatten,
wurden wir in eine ebenerdige grosse Speisehalle gefuehrt, in welcher
der Mittagtisch gedeckt war. Ein einfaches, aber ausgesuchtes Mahl
wurde aufgetragen, wobei die Dienerschaft hinter unseren Stuehlen
stehend bediente. Hatte sich die Familie Ingheim schon bei dem Besuche
auf dem Rosenhause als unter die gebildeten gehoerig gezeigt, so war
dies bei unserem Empfange in ihrem eigenen Hause wieder der Fall.
Sowohl bei Vater und Mutter als auch bei den Maedchen war Einfachheit,
Ruhe und Bescheidenheit. Die Gespraeche bewegten sich um mehrere
Gegenstaende, sie rissen sich nicht einseitig nach einer gewissen
Richtung hin, sondern schmiegten sich mit Mass der Gesellschaft an.
Einen Teil der Zeit nach dem Mittagessen brachten wir in den Zimmern
des ersten Stockwerkes zu. Es wurde Musik gemacht, und zwar Clavier
und Gesang. Zuerst spielte die Mutter etwas, dann beide Maedchen
allein, dann zusammen. Jedes der Maedchen sang auch ein Lied. Natalie
sass in den seidenen Polstern und hoerte aufmerksam zu. Als man sie aber
aufforderte, auch zu spielen, verweigerte sie es.
Gegen Abend fuhren wir wieder in das Rosenhaus zurueck.
Als Gustav aus unserem Wagen gesprungen war, als mein Gastfreund und
ich denselben verlassen hatten, und ich die edle, schlanke Gestalt
Nataliens gegen die Marmortreppe hinzu gehen sah, blieb ich ein
Weilchen stehen und begab mich dann auch in meine Zimmer, wo ich bis
zum Abendessen blieb.
Dieses war wie gewoehnlich, man machte aber nach demselben an diesem
Tage keinen Spaziergang mehr.
Ich ging in mein Schlafzimmer, oeffnete die Fenster, die man trotz des
warmen Tages, weil ich abwesend gewesen war, geschlossen gehalten
hatte, und lehnte mich hinaus. Die Sterne begannen sachte zu glaenzen,
die Luft war mild und ruhig und die Rosenduefte zogen zu mir herauf.
Ich geriet in tiefes Sinnen. Es war mir wie im Traume, die Stille der
Nacht und die Duefte der Rosen mahnten an Vergangenes; aber es war doch
heute ganz anders.
Nach diesem Besuche auf dem Inghofe folgten mehrere Regentage, und
als diese beendigt waren und wieder dem Sonnenscheine Platz machten,
war auch die Zeit heran genaht, in welcher Mathilde und Natalie das
Rosenhaus verlassen sollten. Es war schon Mehreres gepackt worden, und
darunter sah ich auch die beiden Zithern, die man in sammtene Faecher
tat, welche ihrerseits wieder in lederne Behaeltnisse gesteckt wurden.
Endlich war der Tag der Abreise festgesetzt worden.
Am Abende vorher war schon das Hauptsaechlichste, was mitgenommen
werden sollte, in den Wagen geschafft, und die Frauen hatten
am Nachmittage in mehreren Stellen Abschied genommen: bei den
Gaertnerleuten, in der Schreinerei und im Meierhofe.
Am andern Morgen erschienen sie bei dem Fruehmahle in Reisekleidern,
waehrend noch Arabella, das Dienstmaedchen Mathildens, diejenigen
Sachen, die bis zu dem letzten Augenblicke im Gebrauch gewesen waren,
in den Wagen packte.
Nach dem Fruehmahle, als die Frauen schon die Reisehuete aufhalten,
sagte Mathilde zu meinem Gastfreunde:
"Ich danke dir, Gustav, lebe wohl, und komme bald in den Sternenhof."
"Lebe wohl, Mathilde", sagte mein Gastfreund.
Die zwei alten Leute kuessten sich wieder auf die Lippen, wie sie es bei
der Ankunft Mathildens getan hatten.
"Lebe wohl, Natalie", sagte er dann zu dem Maedchen.
Dasselbe erwiderte nur leise die Worte: "Dank fuer alle Guete."
Mathilde sagte zu dem Knaben: "Sei folgsam und nimm dir deinen
Ziehvater zum Vorbilde."
Der Knabe kuesste ihr die Hand.
Dann, zu mir gewendet, sprach sie: "Habet Dank fuer die freundlichen
Stunden, die ihr uns in diesem Hause gewidmet habt. Der Besitzer wird
euch fuer euren Besuch wohl schon danken. Bleibt meinem Knaben gut, wie
ihr es bisher gewesen seid, und lasst euch seine Anhaenglichkeit nicht
leid tun. Wenn es eure schoene Wissenschaft zulaesst, so seid unter
denen, die von diesem Hause aus den Sternenhof besuchen werden. Eure
Ankunft wird dort sehr willkommen sein."
"Den Dank muss wohl ich zurueckgeben fuer alle die Guete, welche mir
von euch und von dem Besitzer dieses Hauses zu Teil geworden ist",
erwiderte ich. "Wenn Gustav einige Zuneigung zu mir hat, so ist
wohl die Guete seines Herzens die Ursache, und wenn ihr mich von
dem Sternenhofe nicht zurueck weiset, so werde ich gewiss unter den
Besuchenden sein."
Ich empfand, dass ich mich auch von Natalien verabschieden sollte; ich
vermochte aber nicht, etwas zu sagen, und verbeugte mich nur stumm.
Sie erwiderte diese Verbeugung ebenfalls stumm.
Hierauf verliess man das Haus und ging auf den Sandplatz hinaus.
Die braunen Pferde standen mit dem Wagen schon vor dem Gitter. Die
Hausdienerschaft war herbei gekommen, Eustach mit seinen Arbeitern
stand da, der Gaertner mit seinen Leuten und seiner Frau und der Meier
mit dem Grossknechte aus dem Meierhofe waren ebenfalls gekommen.
"Ich danke euch recht schoen, lieben Leute", sagte Mathilde, "ich danke
euch fuer eure Freundschaft und Guete, seid fuer euren Herrn treu und
gut. Du, Katharina, sehe auf ihn und Gustav, dass keinem ein Ungemach
zustoesst."
"Ich weiss, ich weiss" fuhr sie fort, als sie sah, dass Katharina reden
wollte, "du tust Alles, was in deinen Kraeften ist, und noch mehr, als
in deinen Kraeften ist; aber es liegt schon so in dem Menschen, dass er
um Erfuellung seiner Herzenswuensche bittet, wenn er auch weiss, dass sie
ohnehin erfuellt werden, ja dass sie schon erfuellt worden sind."
"Kommt recht gut nach Hause", sagte Katharina, indem sie Mathilden die
Hand kuesste und sich mit dem Zipfel ihrer Schuerze die Augen trocknete.
Alle draengten sich herzu und nahmen Abschied. Mathilde hatte fuer
ein jedes liebe Worte. Auch von Natalien beurlaubte man sich, die
gleichfalls freundlich dankte.
"Eustach, vergesst den Sternenhof nicht ganz", sagte Mathilde zu diesem
gewendet, "besucht uns mit den anderen. Ich will nicht sagen, dass euch
auch die Dinge dort notwendig haben koennten, ihr sollt unsertwegen
kommen."
"Ich werde kommen, hochverehrte Frau", erwiderte Eustach.
Nun sprach sie noch einige Worte zu dem Gaertner und seiner Frau und zu
dem Meier, worauf die Leute ein wenig zurueck traten.
"Sei gut, mein Kind", sagte sie zu Gustav, indem sie ihm ein Kreuz
mit Daumen und Zeigefinger auf die Stirne machte und ihn auf dieselbe
kuesste. Der Knabe hielt ihre Hand fest umschlungen und kuesste sie. Ich
sah in seinen grossen schwarzen Augen, die in Traenen schwammen, dass er
sich gerne an ihren Hals wuerfe; aber die Scham, die einen Bestandteil
seines Wesens machte, mochte ihn zurueck halten.
"Bleibe lieb, Natalie", sagte mein Gastfreund.
Das Maedchen haette bald die dargereichte Hand gekuesst, wenn er es
zugelassen haette.
"Teurer Gustav, habe noch einmal Dank", sagte Mathilde zu meinem
Gastfreunde. Sie hatte noch mehr sagen wollen; aber es brachen Traenen
aus ihren Augen. Sie nahm ein feines, weisses Tuch und drueckte es fest
gegen diese Augen, aus denen sie heftig weinte.
Mein Gastfreund stand da und hielt die Augen ruhig; aber es fielen
Traenen aus denselben herab.
"Reise recht gluecklich, Mathilde", sagte er endlich, "und wenn bei
deinem Aufenthalte bei uns etwas gefehlt hat, so rechne es nicht
unserer Schuld an."
Sie tat das Tuch von den Augen, die noch fortweinten, deutete auf
Gustav und sagte: "Meine groesste Schuld steht da, eine Schuld, welche
ich wohl nie werde tilgen koennen."
"Sie ist nicht auf Tilgung entstanden", erwiderte mein Gastfreund.
"Rede nicht davon, Mathilde, wenn etwas Gutes geschieht, so geschieht
es recht gerne."
Sie hielten sich noch einen Augenblick bei den Haenden, waehrend ein
leichtes Morgenlueftchen einige Blaetter der abgebluehten Rosen zu ihren
Fuessen wehte.
Dann fuehrte er sie zu dem Wagen, sie stieg ein, und Natalie folgte
ihr.
Es war nach den mehreren Regentagen ein sehr klarer, nicht zu warmer
Tag gefolgt. Der Wagen war offen und zurueck gelegt. Mathilde liess den
Schleier von dem nehmlichen Hute, den sie bei ihrer Herfahrt gehabt
hatte, ueber ihr Angesicht herabfallen; Natalie aber legte den ihrigen
zurueck und gab ihre Augen den Morgenlueften. Nachdem auch noch Arabella
in den Wagen gestiegen war, zogen die Pferde an, die Raeder furchten
den Sand und der Wagen ging auf dem Wege hinab der Hauptstrasse zu.
Wir begaben uns wieder in das Haus zurueck.
Jeder ging in sein Zimmer und zu seinen Geschaeften.
Nachdem ich eine Weile in meiner Wohnung gewesen war, suchte ich den
Garten auf. Ich ging zu mehreren Blumen, die in einer fuer Blumen schon
so weit vorgerueckten Jahreszeit noch bluehten, ich ging zu den Gemuesen,
zu dem Zwergobste und endlich zu dem grossen Kirschbaume hinauf. Von
demselben ging ich in das Gewaechshaus. Ich traf dort den Gaertner,
welcher an seinen Pflanzen arbeitete. Als er mich eintreten sah,
kam er mir entgegen und sagte: "Es ist gut, dass ich allein mit euch
sprechen kann, habt ihr ihn gesehen?"
"Wen?" fragte ich.
"Nun, ihr waret ja auf dem Inghofe", antwortete er, "da werdet ihr
wohl den Cereus peruvianus angeschaut haben."
"Nein, den habe ich nicht angeschaut", erwiderte ich, indem ich mich
wohl des Gespraeches erinnerte, in welchem er mir erzaehlt hatte, dass
sich eine so grosse Pflanze dieser Art in dem Inghofe finde, "ich habe
auf ihn vergessen."
"Nun, wenn ihr ihn vergessen habt, so wird ihn wohl der Herr
angeschaut haben", sagte er.
"Ich glaube, dass uns niemand auf diese Pflanze aufmerksam gemacht hat,
als wir in dem Gewaechshause waren", erwiderte ich; "denn wenn jemand
anderer sich eigens zu dieser Pflanze gestellt haette, so haette ich es
gewiss bemerkt und haette sie auch angesehen."
"Das ist sehr sonderbar und sehr merkwuerdig", sagte er; "nun, wenn ihr
vergessen habt, den Cereus peruvianus anzusehen, so muesst ihr einmal
mit mir hinuebergehen; wir brauchen nicht zwei Stunden, und es ist ein
angenehmer Weg. So etwas seht ihr nicht leicht anders wo. Sie bringen
ihn nie zur Bluete. Wenn ich ihn hier haette, so wuerde er bald so weiss
wie meine Haare bluehen, natuerlich viel weisser. Die unseren sind noch
viel zu klein zum Bluehen."
Ich sagte ihm zu, dass ich einmal mit ihm in den Inghof hinuebergehen
werde, ja sogar, wenn es nicht eine Unschicklichkeit sei und nicht zu
grosse Hindernisse im Wege stehen, dass ich auch versuchen werde, dahin
zu wirken, dass diese Pflanze zu ihm herueberkomme.
Er war sehr erfreut darueber und sagte, die Hindernisse seien gar
nicht gross, sie achten den Cereus nicht, sonst haetten sie ja die
Gesellschaft zu ihm hingefuehrt, und der Herr wolle sich vielleicht
keine Verbindlichkeit gegen den Nachbar auflegen. Wenn ich aber eine
Fuersprache mache, so wuerde der Cereus gewiss herueber kommen.
Wie doch der Mensch ueberall seine eigenen Angelegenheiten mit sich
herum fuehrt, dachte ich, und wie er sie in die ganze uebrige Welt
hineintraegt. Dieser Mann beschaeftigt sich mit seinen Pflanzen und
meint, alle Leute muessten ihnen ihre Aufmerksamkeit schenken, waehrend
ich doch ganz andere Gedanken in dem Haupte habe, waehrend mein
Gastfreund seine eigenen Bestrebungen hat und Gustav seiner Ausbildung
obliegt. Das eine Gute hatte aber die Ansprache des Gaertners fuer mich,
dass sie mich von meinen wehmuetigen und schmerzlichen Gefuehlen ein
wenig abzog und mir die Ueberzeugung brachte, wie wenig Berechtigung
sie haben und wie wenig sie sich fuer das Einzige und Wichtigste in der
Welt halten duerfen.
Ich blieb noch laenger in dem Gewaechshause und liess mir Mehreres von
dem Gaertner zeigen und erklaeren. Dann ging ich wieder in meine Wohnung
und setzte mich zu meiner Arbeit.
Wir kamen bei dem Mittagessen zusammen, wir machten am Nachmittage
einen Spaziergang, und die Gespraeche waren wie gewoehnlich.
Die Zeit auf dem Rosenhause floss nach dem Besuche der Frauen wieder so
hin, wie sie vor demselben hingeflossen war.
Ich hatte die Musse, welche ich mir von meinen Arbeiten im Gebirge
zu einem Aufenthalte bei meinem Gastfreunde abgedungen hatte,
beinahe schon erschoepft. Das, was ich mir in dem Rosenhause als
Ergaenzungsarbeit zu tun auferlegt hatte, rueckte auch seiner Vollendung
entgegen. Ich liess mir aber dessohngeachtet einen Aufschub gefallen,
weil man verabredet hatte, einen Besuch auf dem Sternenhofe zu machen,
was, wie ich einsah, Mathildens Wohnsitz war, und weil ich bei diesem
Besuche zugegen sein wollte. Auch war es im Plane, dass wir eine Kirche
besuchen wollten, die in dem Hochlande lag und in welcher sich ein
sehr schoener Altar aus dem Mittelalter befand. Ich nahm mir vor,
das, was mir an Zeit entginge, durch ein laenger in den Herbst hinein
fortgesetztes Verweilen im Gebirge wieder einzubringen.
Mein Gastfreund hatte in dem Meierhofe wieder Bauarbeiten beginnen
lassen und beschaeftigte dort mehrere Leute. Er ging alle Tage hin, um
bei den Arbeiten nachzusehen. Wir begleiteten ihn sehr oft. Es war
eben die letzte Einfuhr des Heues aus den hoeheren, in dem Alizwalde
gelegenen Wiesen, deren Ertrag spaeter als in der Ebene gemaeht wurde,
im Gange. Wir erfreuten uns an dieser duftenden, wuerzigen Nahrung der
Tiere, welche aus den Waldwiesen viel besser war als aus den fetten
Wiesen der Taeler; denn auf den Bergwiesen wachsen sehr mannigfaltige
Kraeuter, die aus den sehr verschiedenartigen Gesteingrundlagen die
Stoffe ihres Gedeihens ziehen, waehrend die gleichartigere Gartenerde
der tiefen Gruende wenigere, wenngleich wasserreichere Arten hervor
bringt. Mein Gastfreund widmete diesem Zweige eine sehr grosse
Aufmerksamkeit, weil er die erste Bedingung des Gedeihens der
Haustiere, dieser geselligen Mitarbeiter der Menschen ist. Alles,
was die Wuerze, den Wohlgeruch und, wie er sich ausdrueckte, die
Nahrungslieblichkeit beeintraechtigen konnte, musste strenge
hintan gehalten werden, und wo durch Versehen oder Ungunst der
Zeitverhaeltnisse doch dergleichen eintrat, musste das minder Taugliche
ganz beseitigt oder zu andern Wirtschaftszwecken verwendet werden.
Darum konnte man aber auch keine schoeneres, glatteren, glaenzenderen
und froehlicheren Tiere sehen als auf dem Asperhofe. Der
Wirtschaftsvorteil lag ausserdem noch als Zugabe bei; denn da das
Schlechtere gar nicht verwendet werden durfte, wurde bei der
Behandlung und Einbringung die groesste Sorgfalt von den Leuten
beobachtet, abgesehen davon, dass mein Gastfreund bei seiner Kenntnis
der Witterungsverhaeltnisse weniger Schaden durch Regen oder
dergleichen erlitt als die meisten Landwirte, die sich um diese
Kenntnis gar nicht bekuemmerten. Und der Nachteil der Nichtanwendung
des Schlechteren wurde weit durch den Vorteil des besseren Gedeihens
der Tiere aufgewogen. In dem Asperhofe konnte man immer mit einer
geringeren Anzahl Tiere groessere Arbeiten ausfuehren als in anderen
Gehoeften. Hiezu kam noch eine gewisse Froehlichkeit und Heiterkeit
der untergeordneten Leute, die bei jeder sachgemaessen Fuehrung eines
Geschaeftes, bei dem sie beteiligt sind, und bei einer wenn auch
strengen, doch stets freundlichen Behandlung nicht ausbleibt. Ich
hoerte bei meiner jetzigen Anwesenheit oefter von benachbarten Leuten
die Aeusserung, das haette man dem alten Asperhofe nicht angesehen, dass
das noch heraus kommen koennte.
Es wurde, da wieder mehrere Gewitter niedergegangen waren, die Luft
sich gereinigt hatte und einige schoene Tage erwartet werden konnten,
die Reise zu der Kirche mit dem sehenswuerdigen Altare festgesetzt.
Im Norden unseres herrlichen Stromes, welcher das Land in einen
noerdlichen und suedlichen Teil teilt, erhebt sich ein Hochland, welches
viele Meilen die noerdlichen Ufer des Stromes begleitet. In seinem
Sueden ist eine acht bis zehn Meilen breite, verhaeltnismaessig ebene
Gegend von grosser Fruchtbarkeit, die endlich von dem Zuge der Alpen
begrenzt ist. Ich war bisher nur vorzugsweise in die Alpen gegangen,
die noerdlichen Hochlande hatte ich bloss ein einziges Mal betreten und
nur eine kleine Ecke derselben durchwandert. Jetzt sollte ich mit
meinem Gastfreunde eine Fahrt in das Innere derselben machen; denn die
Kirche, welche das Ziel unserer Reise war, steht weit naeher an der
noerdlichen als an der suedlichen Grenze des Hochlandes. Wir fuhren
in der Begleitung Eustachs von dem Stromesufer die staffelartigen
Erhebungen empor und fuhren dann in dem hohen vielgehuegelten Lande
dahin. Wir fuhren oft mit unseren Gespann langsam bis auf die hoechste
Spitze eines Berges empor, dann auf der Hoehe fort, oder wir senkten
uns wieder in ein Tal, umfuhren oft in Windungen abwaerts die Dachung
des Berges, legten eine enge Schlucht zurueck, stiegen wieder empor,
veraenderten recht oft unsere Richtung und sahen die Huegel, die Gehoefte
und andere Bildungen von verschiedenen Seiten. Wir erblickten oft von
einer Spitze das ganze flache gegen Mittag gelegene Land mit seiner
erhabenen Hochgebirgskette, und waren dann wieder in einem Talkessel,
in welchem wir keine Gegenstaende neben unserem Wagen hatten als eine
dunkle, weitaestige Fichte und eine Muehle. Oft, wenn wir uns einem
Gegenstande gleichsam auf einer Ebene naehern zu koennen schienen, war
ploetzlich eine tiefe Schlucht in die Ebene geschnitten, und wir mussten
dieselbe in Schlangenwindungen umfahren.
Ich hatte bei meinem ersten Besuche dieses Hochlandes die Bemerkung
gemacht, dass es mir da stiller und schweigsamer vorkomme, als wenn ich
durch andere, ebenfalls stille und schweigende Landschaften zog. Ich
dachte nicht weiter darueber nach. Jetzt kam mir dieselbe Empfindung
wieder. In diesem Lande liegen die wenigen groesseren Ortschaften sehr
weit von einander entfernt, die Gehoefte der Bauern stehen einzeln auf
Huegeln oder in einer tiefen Schlucht oder an einem nicht geahnten
Abhange. Herum sind Wiesen, Felder, Waeldchen und Gestein. Die Baeche
gehen still in den Schluchten, und wo sie rauschen, hoert man ihr
Rauschen nicht, weil die Wege sehr oft auf den Hoehen dahin fuehren.
Einen grossen Fluss hat das Land nicht, und wenn man die ausgedehnte
suedliche Ebene und das Hochgebirge sieht, so ist es nur ein sehr
grosser, aber stiller Gesichtseindruck. In den Alpen geht der
Strassenzug meistens nur in den Talrinnen, an den Fluessen oder
Wildbaechen dahin, er kann sich wenig verzweigen, der Verkehr ist auf
ihn zusammengedraengt, und es regt sich auf ihm, und es wehet und
rauscht an ihm.
In diesem Lande sind noch viele wertvolle Altertuemer zerstreut und
aufbewahrt, es haben einmal reiche Geschlechter in ihm gewohnt, und
die Krieges- und Voelkerstuerme sind nicht durch das Land gegangen.
Wir kamen in den kleinen Ort Kerberg. Er liegt in einem sehr
abgeschiedenen Winkel und ist von keinerlei Bedeutung. Nicht einmal
eine Strasse von nur etwas lebhaftem Verkehre fuehrt durch, sondern
nur einer jener Landwege, wie sie zum Austausche der Erzeugnisse der
Bevoelkerung dienen und von dem guten Sand- und Steinstoffe des Landes
sehr gut gebaut sind. Nur die Lage ist schoen, da hier die Bildungen
etwas groesser sind und, mit daemmerigem Walde teilweise bekleidet,
anmutig zusammentreten. Und doch steht in diesem Orte die Kirche,
zu welcher wir auf der Reise waren. Hinter dem Orte, ungefaehr nach
Mitternacht, liegt ein weitlaeufiges Schloss auf einem Berge, welches
grosse Garten- und Waldanlagen um sich hat. Auf diesem Schlosse hat
einmal ein reiches und maechtiges Geschlecht gewohnt. Einer von ihnen
hatte in dem kleinen Orte die Kirche bauen und auszieren lassen. Er
hat die Kirche im altdeutschen Stile gebaut, Spitzbogen schliessen
sie, schlanke Saeulen aus Stein teilen sie in drei Schiffe, und hohe
Fenster mit Steinrosen in ihren Boegen und mit den kleinen vieleckigen
Taefelchen geben ihr Licht. Der Hochaltar ist aus Lindenholz
geschnitzt, steht wie eine Monstranze auf dem Priesterplatze und ist
von fuenf Fenstern umgeben. Viele Zeiten sind voruebergegangen. Der
Gruender ist gestorben, man zeigt sein Bild aus rotem Marmor in
Halbarbeit auf einer Platte in der Kirche. Andere Menschen sind
gekommen, man machte Zutaten in der Kirche, man bemalte und bestrich
die steinernen Saeulen und die aus gehauenen Steinen gebauten Waende,
man ersetzte die zwei Seitenaltaere, von deren Gestalt man jetzt nichts
mehr weiss, durch neue, und es geht die Sage, dass schoene Glasgemaelde
die Monstranze umstanden haben, dass sie fortgekommen seien und dass
gemeine viereckige Tafeln in die fuenf Fenster gesetzt wurden. Sie
verunzieren in der Tat noch jetzt die Kirche. Die neuen Besitzer des
Schlosses waren nicht mehr so reich und maechtig, andere Zeiten hatten
andere Gedanken bekommen, und so war der geschnitzte Hochaltar von
Voegeln, Fliegen und Ungeziefer beschmutzt worden, die Sonne, die
ungehindert durch die viereckigen Tafeln hereinschien, hatte ihn
ausgedoerrt, Teile fielen herab und wurden willkuerlich wieder hinauf
getan und durcheinander gestellt, und in Arme, Angesichter und
Gewaender bohrte sich der Wurm.
Darum haben die Behoerden des Landes den Altar wieder hergestellt, und
zu diesem gingen wir.
Eustach geleitete uns in die Kirche, es war ein sonniger Vormittag,
kein Mensch war zugegen, und wir traten vor das Schnitzwerk. Eustach
konnte vieles aus den Regeln der alten Kunst und aus der Geschichte
derselben erklaeren. Er sprach ueber das Mittelfeld, in welchem drei
ganze, ueberlebensgrosse Gestalten auf reich verzierten Gestellen unter
reichen Ueberdaechern standen. Es waren die Gestalten des heiligen
Petrus, des heiligen Wolfgang - beide in Bischofsgewaendern - und des
heiligen Christophorus, wie er das Jesuskindlein auf der Schulter
traegt, und wie dasselbe nach der Legende dem riesenhaft starken Manne
schwer wie ein Weltball wird und seine Kraefte erschoepft, welche
Erschoepfung in der Gestalt ausgedrueckt ist. Sehr viele kleine
Gestalten waren noch nach der Sitte unserer Voraeltern in dem Raume
zerstreut. An dem Mittelfelde waren in gezierten Rahmen zwei Fluegel,
auf welchen Bilder in halberhabener Arbeit sich befanden: die
Verkuendigung des Engels, die Geburt des Heilandes, die Opferung der
drei Koenige und der Tod Marias. Oberhalb des Mittelstueckes war ein
Giebel mit der emporstrebenden durchbrochenen Arbeit, die man, wie
Eustach meint, faelschlich die gothische nennt, da sie vielmehr
mittelalterlich deutsch sei. In diese durchbrochene Arbeit waren
mehrere Gestalten eingestreut. Zu beiden Seiten hinter den Fluegeln
standen die Gestalten des heiligen Florian und des heiligen Georg in
mittelalterlicher Ritterruestung empor.
Der heilige Florian hatte das Sinnbild des brennenden Hauses und der
heilige Georg das des Drachen zu seinen Fuessen. Eustach behauptete,
dass sich nur aus der Ansicht eines Sinnbildes die Kleinheit solcher
Beigaben zu altertuemlichen Gestalten erklaere, da unsere kunstsinnigen
Altvordern gewiss nicht den grossen Fehler der Unverhaeltnismaessigkeit der
Koerper der Gegenstaende gemacht haben wuerden. Mein Gastfreund sagte,
ohne die Meinung Eustachs verwerfen zu wollen, dass man die Sache auch
etwa so auslegen koenne, dass man durch die ueber alles Mass hinausgehende
Groesse der Gestalten, gegen welche ein Haus oder ein Drache klein sei,
ihre Uebernatuerlichkeit habe ausdruecken wollen.
Mein Gastfreund sagte, es muessten einmal nicht nur viel kunstsinnigere
Zeiten gewesen sein als heute, sondern es muesste die Kunst auch ein
allgemeineres Verstaendnis bis in das unterste Volk hinab gefunden
haben; denn wie waeren sonst Kunstwerke in so abgelegene Orte wie
Kerberg gekommen, oder wie befaenden sich solche in noch kleineren
Kirchen und Kapellen des Hochlandes, die oft einsam auf einem Huegel
stehen oder mit ihren Mauern aus einem Waldberge hervor ragen, oder
wie waeren kleine Kirchlein, Feldkapellen, Wegsaeulen, Denksteine
alter Zeit mit solcher Kunst gearbeitet: so wie heut zu Tage der
Kunstverfall bis in die hoeheren Staende hinauf rage, weil man nicht nur
in die Kirchen, Graeber und heiligen Orte abscheuliche Gestalten, die
eher die Andacht zerstoeren als befoerdern, von dem Volke stellen laesst,
sondern auch bis zu sich hinauf in das herrschaftliche Schloss so oft
die leeren und geistesarmen Arbeiten einer ohnmaechtigen Zeit zieht.
Meines Gastfreundes und Eustachs bemaechtigte sich bei diesen
Betrachtungen eine Traurigkeit, welche ich nicht ganz begriff.
Wir betrachteten nach dem Altare auch noch die Kirche, betrachteten
das Steinbild des Mannes, der sie hatte erbauen lassen. und
betrachteten noch andere alte Grabdenkmale und Inschriften. Es zeigte
sich hier, dass die fuenf Fenster des Priesterplatzes nicht wie die
Fenster des Kirchenschiffes in ihren Spitzbogen Steinrosen hatten, was
als neuer Beweis galt, dass das Glas aus diesen Fenstern einmal heraus
genommen worden war, und dass man zu besserer Gewinnung der Gemaelde
in den Spitzbogen oder gar zu bequemerer Einsetzung der viereckigen
Tafeln die steinernen Fassungen weggeraeumt habe.
Ich ging mit manchem Gedanken bereichert neben meinen zwei Begleitern
aus der Kirche.
Auf der Rueckfahrt schlugen wir einen anderen Weg ein, damit ich auch
noch andere Teile des Landes zu sehen bekaeme. Wir besuchten noch ein
paar Kirchen und kleinere Bauwerke, und Eustach versprach mir, dass
er mir, wenn wir nach Hause gekommen waeren, die Zeichnungen von den
Dingen zeigen wuerde, welche wir gesehen hatten. Die Maenner sprachen
auf der Rueckreise auch von der mutmasslichen Zeit, in welcher die
Kirche, die das Ziel unserer Reise gewesen war, entstanden sein
koennte. Sie schlossen auf diese Zeit aus der Art und Weise des Baues
und aus manchen Verzierungen. Sie bedauerten nur, dass man Naeheres
darueber aus Urkunden nicht erfahren koenne, da das Schriftgewoelbe des
alten Schlosses unzugaenglich gehalten werde.
Wir fuhren am Mittage des naechsten Tages wieder die staffelartigen
Erhebungen hinab und gelangten in spaeter Nacht in das Rosenhaus.
Ich mahnte in ein paar Tagen darauf den Gaertner an unsern verabredeten
Gang nach Ingheim. Er freute sich ueber meine Achtsamkeit, wie er es
nannte, und an einem freundlichen Nachmittage gingen wir in das Schloss
hinueber. Wir sagten die Ursache unseres Besuches und wurden mit
Zuvorkommenheit empfangen.
Wir gingen sogleich in das Gewaechshaus, und es war in Wirklichkeit
eine sehr schoene und zu ansehnlicher Groesse ausgebildete Pflanze, zu
der mich der Gaertner Simon gefuehrt hatte. Ich kannte nicht genau, wie
weit sich diese Pflanzen ueberhaupt entwickeln und welche Groesse sie zu
erreichen vermoegen; aber eine groessere habe ich nirgends gesehen. Dass
man sie in Ingheim nicht viel achte, erkannte ich ebenfalls; denn der
Winkel des Gewaechshauses, in welchem sie in freiem Boden stand, war
der vernachlaessigteste, es lagen Blumenstaebe, Bastbaender, welke
Blaetter und dergleichen dort, und man hatte ihn mit Gestellen, auf
welchen andere Pflanzen standen, verstellt, dass sein Anblick den Augen
entzogen werde. Man konnte den gruenen Arm dieser Pflanze wohl an der
Decke des Hauses hingehen sehen, ich hatte aber dort hinauf bei meiner
ersten Anwesenheit nicht geschaut. Mein Begleiter erkannte jetzt, dass
es ein Cereus peruvianus sei und erklaerte mir seine Merkmale. Sonst
aber konnten wir keine Cactus in Ingheim entdecken. Nach mancher
Aufmerksamkeit, die uns in dem Schlosse noch zu Teil wurde, begaben
wir uns gegen Abend wieder auf den Rueckweg, und ich troestete meinen
alten Begleiter mit den Worten, dass ich glaube, dass es nicht schwer
sein werde, diese Pflanze in das Rosenhaus zu bringen. Dort wuerde sie
die Sammlung ergaenzen und zieren, waehrend sie in Ingheim allein ist.
Auch wird man wohl einem Wunsche meines Gastfreundes willfaehrig sein,
und ich werde die Sache schon zu foerdern trachten.
Nach kurzer Zeit traten wir unsere Weg zum Besuche in dem Sternenhofe
an. Dieses Mal fuhr ausser Eustach auch Gustav mit. Die Grauschimmel
wurden vor einen groesseren Wagen gespannt, als wir in den Hochlanden
gehabt hatten, und wir fuhren mit ihnen ueber den Huegel hinab. Es war
sehr frueh am Morgen, noch lange vor Sonnenaufgang. Wir fuhren auf der
Hauptstrasse gegen Rohrberg zu und fuhren endlich auf der Anhoehe an dem
Alizwalde empor. Da die Pferde langsam den Weg hinan gingen, sagte
mein Gastfreund: "Es ist moeglich, dass ihr im vorigen Jahre an dieser
Stelle Mathilden und Natalien gesehen habt. Sie erzaehlten mir, als sie
zu Besuche der Rosenbluete zu mir kamen, und ich ihnen von euch, von
eurer Anwesenheit bei mir und von eurer an dem Morgen ihrer Ankunft
erfolgten Abreise sagte, dass sie einem Fussreisenden auf der Alizhoehe
begegnet seien, der dem ungefaehr gleich gesehen habe, den ich ihnen
beschrieben."
Ploetzlich war es mir ganz klar, dass wirklich Mathilde und Natalie
die zwei Frauen gewesen waren, welchen ich an jenem Morgen an dieser
Stelle begegnet bin. Mir waren jetzt deutlich dieselben Reisehuete vor
Augen, die sie auch dieses Mal aufgehabt hatten, ich sah die Zuege
Nataliens wieder, und auch der Wagen und die braunen Pferde kamen
mir in die Erinnerung. Darum also war mir Natalie immer als schon
einmal gesehen vorgeschwebt. Ich hatte ja sogar damals gedacht,
dass das menschliche Angesicht etwa der edelste Gegenstand fuer die
Zeichnungskunst sein duerfte, und hatte sie als unbeholfener Mensch,
der im Zurechtlegen aller Eindruecke geschickter ist als in dem der
menschlichen, doch wieder aus meiner Vorstellungskraft verloren. Ich
sagte zu meinem Gastfreunde, dass er durch seine Bemerkung meinem
Gedaechtnisse zu Hilfe gekommen sei, dass ich jetzt alles klar wisse und
dass mir auf dieser Anhoehe Mathilde und Natalie begegnet seien, und dass
ich ihnen, da der Wagen langsam den Berg hinab fuhr, nachgesehen habe.
"Ich habe mir es gleich so gedacht", erwiderte er.
Aber auch etwas anderes fiel mir ein und machte, dass mein Angesicht
erroetete. Also hatte mein Gastfreund von mir mit den Frauen
gesprochen, und mich sogar beschrieben. Er hatte also einen Anteil an
mir genommen. Das freute mich von diesem Manne sehr.
Als wir auf der Hoehe des Berges angekommen waren, liess mein Gastfreund
an einer Stelle, wo das Seitengebuesch des Weges eine Durchsicht
erlaubte, halten, stand im Wagen auf und bat mich, das gleiche zu tun.
Er sagte, dass man an dieser Stelle das Stueck des Alizwaldes, das zu
dem Asperhofe gehoere, uebersehen koenne. Er wies mir mit dem Zeigefinger
an den Farbunterschieden des Waldes, die durch die Mischung der
Buchen und Tannen, durch Licht und Schatten und durch andere Merkmale
hervorgebracht wurden, die Grenzen dieses Besitztumes nach. Als ich
dies genugsam verstanden und ihm auch mit dem Finger ungefaehr die
Stellen des Waldes gezeigt hatte, an denen ich schon gewesen war,
setzten wir uns wieder nieder und fuhren weiter.
Es war bei dieser Gelegenheit das erste Mal gewesen, dass ich aus
seinem Munde den Namen Asperhof gehoert habe, mit dem er sein Besitztum
bezeichnete.
Nach kurzer Fahrt trennten wir uns von der nach Osten gehenden
Hauptstrasse und schlugen einen gewoehnlichen Verbindungsweg nach Sueden
ein. Wir fuhren also dem Hochgebirge naeher. Am Mittage blieben wir
eine ziemlich lange Zeit zur Erquickung und zum Ausruhen der Pferde,
auf deren Pflege mein Gastfreund sehr sah, in einem einzeln stehenden
Gasthofe, und es war schon am Abende in tiefer Daemmerung, als mir mein
Gastfreund die Umrisse des Sternenhofes zeigte. Ich war schon zweimal
in der Gegend gewesen, erinnerte mich sogar im allgemeinen auf das
Gebaeude und wusste genau, dass am Fusse des Huegels, auf welchem es stand,
sehr schoene Ahorne wuchsen. Ich hatte aber nie Ursache gehabt, mich
weiter um diese Gegenstaende zu kuemmern.
Wir kamen bei Sternenscheine zu den mir bekannten Ahornen, fuhren
einen Huegel empor, legten einen Torweg zurueck und hielten in einem
Hofe. In demselben standen vier grosse Baeume, an deren eigentuemlichen,
gegen den dunkeln Nachthimmel gehaltenen Bildungen ich erkannte, dass
es Ahorne seien. In ihrer Mitte plaetscherte ein Brunnen. Auf das
Rollen des Wagens unter dem hallenden Torwege kamen Diener mit
Lichtern herbei, uns aus dem Wagen zu helfen. Gleich darauf erschien
auch Mathilde und Natalie in dem Hofe, um uns zu begruessen. Sie
geleiteten uns die Treppe hinan in einen Vorsaal, in welchem die
Begruessungen im allgemeinen wiederholt wurden und von wo aus man uns
unsere Zimmer anwies.
Das meinige war ein grosses freundliches Gemach, in welchem bereits
auf dem Tische zwei Kerzen brannten. Ich legte, da der Diener die
Tuer hinter sich geschlossen hatte, meinen Hut auf den Tisch, und das
Naechste, was ich tat, war, dass ich mehrere Male schnell in dem Zimmer
auf und nieder ging, um die durch das Fahren ersteiften Glieder wieder
ein wenig einzurichten. Als dieses ziemlich gelungen war, trat ich an
eines der offenen Fenster, um herum zu schauen. Es war aber nicht viel
zu sehen. Die Nacht war schon zu weit vorgerueckt und die Lichter im
Zimmer machten die Luft draussen noch finsterer. Ich sah nur so viel,
dass meine Fenster ins Freie gingen. Nach und nach begrenzten sich
vor meinen Augen die dunkeln Gestalten der am Fusse des Huegels
stehenden Ahorne, dann kamen Flecken von dunkler und fahler Farbe,
wahrscheinlich Abwechslung von Feld und Wald, weiter war nichts zu
unterscheiden als der glaenzende Himmel darueber, der von unzaehligen
Sternen, aber nicht von dem geringsten Stueckchen Mond beleuchtet war.
Nach einer Zeit kam Gustav und holte mich zu dem Abendessen ab. Er
hatte eine grosse Freude, dass ich in dem Sternenhofe sei. Ich ordnete
aus meinem Reisesacke, der heraufgeschafft worden war, ein wenig meine
Kleider und folgte dann Gustav in das Speisezimmer. Dasselbe war fast
wie das in dem Rosenhause. Mathilde sass wie dort in einem Ehrenstuhle
oben an, ihr zur Rechten mein Gastfreund und Natalie, ihr zur Linken
ich, Eustach und Gustav. Auch hier besorgte eine Haushaelterin und eine
Magd den Tisch. Der Hergang bei dem Speisen war der nehmliche wie an
jenen Abenden bei meinem Gastfreunde, an denen wir alle beisammen
gewesen waren.
Um von der Reise ausruhen zu koennen, trennte man sich bald und suchte
seine Zimmer.
Ich entschlief unter Unruhe, sank aber nach und nach in festeren
Schlummer und erwachte, da die Sonne schon aufgegangen war.
Jetzt war es Zeit, herum zu schauen.
Ich kleidete mich so schnell und so sorgfaeltig an, als ich konnte,
ging an ein Fenster, oeffnete es und sah hinaus. Ein ganz gleicher,
sehr schoen gruener Rasen, der durch keine Blumengebuesche oder
dergleichen unterbrochen war, sondern nur den weissen Sandweg enthielt,
breitete sich ueber die gedehnte Dachung des Huegels, auf der das
Gebaeude stand, hinab. Auf dem Sandwege aber gingen Natalie und Gustav
herauf. Ich sah in die schoenen jugendlichen Angesichter, sie aber
konnten mich nicht sehen, weil sie ihre Augen nicht erhoben. Sie
schienen in traulichem Gespraeche begriffen zu sein, und bei ihrer
Annaeherung - an dem Gange, an der Haltung, an den grossen dunklen
Augen, an den Zuegen der Angesichter - sah ich wieder recht deutlich,
dass sie Geschwister seien. Ich sah auf sie, so lange ich sie erblicken
konnte, bis sie endlich der dunkle Torweg aufgenommen hatte.
Jetzt war die Gegend sehr leer.
Ich blickte kaum auf sie.
Allgemach entwickelten sich aber wieder freundlich Felder, Waeldchen
und Wiesen im Gemisch, ich erblickte Meierhoefe rings herumgestreut,
hie und da erglaenzte ein weisser Kirchturm in der Ferne und die Strasse
zog einen lichten Streifen durch das Gruen. Den Schluss machte das
Hochgebirge, so klar, dass man an dem untern Teile seiner Wand die
Talwindungen, an dem obern die Gestaltung der Kanten und Flaechen und
die Schneetafeln wahrnehmen konnte.
Sehr gross und schoen waren die Ahorne, die unten am Huegel standen,
deshalb mochten sie schon frueher bei meinen Reisen durch diese Gegend
meine Aufmerksamkeit erregt haben. Von ihnen zogen sich Erlenreihen
fort, die den Lauf der Baeche anzeigten.
Das Haus musste weitlaeufig sein; denn die Wand, in der sich meine
Fenster befanden und die ich, hinausgebeugt, uebersehen konnte, war
sehr gross. Sie war glatt mit vorspringenden steinernen Fenstersimsen
und hatte eine grauweissliche Farbe, mit der sie offenbar erst in
neuerer Zeit uebertuencht worden war.
Hinter dem Hause musste vielleicht ein Garten oder ein Waeldchen sein,
weil ich Vogelgesang herueber hoerte. Auch war es mir zuweilen, als
vernaehme ich das Rauschen des Hofbrunnens.
Der Tag war heiter.
Ich harrte nun der Dinge, die kommen sollten.
Ein Diener rief mich zu dem Fruehmahle. Es war zu derselben Zeit wie
im Rosenhause. Als ich in das Speisezimmer getreten war, sagte mir
Mathilde, dass es sehr lieb von mir sei, dass ich ihre Freunde und ihren
Sohn in den Sternenhof begleitet habe, sie werde sich bemuehen, dass es
mir in demselben gefalle, wozu ihr ihr Freund, der mir den Asperhof
anziehend mache, beistehen muesse.
Ich antwortete, dass ich mich auf die Reise in den Sternenhof sehr
gefreut habe und dass ich mich freue, in demselben zu sein. Von einer
Bedeutung sei es nicht, dass mir eine Ruecksicht zu Teil werde, ich
bitte nur, dass man, wenn ich etwas fehle, es nachsehe.
Nach mir trat Eustach ein. Mathilde begruesste auch ihn noch einmal.
Gustav, der schon zugegen war, gesellte sich zu mir.
Die Frauen waren haeuslich und schoen, aber minder einfach als in dem
Rosenhause gekleidet. Meinen Gastfreund sah ich zum ersten Male in
ganz anderen Kleidern als auf seiner Besitzung und auf dem Besuche zu
Ingheim. Er war schwarz, mit einem Fracke, der einen etwas weiteren
und bequemeren Schnitt hatte als gewoehnlich, und sogar einen leichten
Biberhut trug er in der Hand.
Nach dem Fruehmahle sagte Mathilde, sie wolle mir ihre Wohnung zeigen.
Die andern gingen mit. Wir traten aus dem Speisezimmer in einen
Vorsaal. Am Ende desselben wurden zwei Fluegeltueren aufgetan, und ich
sah in eine Reihe von Zimmern, welche nach der ganzen Laenge des Hauses
hinlaufen musste. Als wir eingetreten waren, sah ich, dass in den
Zimmern alles mit der groessten Reinheit, Schoenheit und Zusammenstimmung
geordnet war. Die Tueren standen offen, so dass man durch alle
Zimmer sehen konnte. Die Geraete waren passend, die Waende waren mit
zahlreichen Gemaelden geziert, es standen Glaskaesten mit Buechern, es
waren musikalische Geraete da, und auf Gestellen, die an den rechten
Orten angebracht waren, befanden sich Blumen. Durch die Fenster sah
die naehere Landschaft und die ferneren Gebirge herein.
Es zeigte sich, dass diese Zimmer ein schoener Spaziergang seien, der
unter dem Dache und zwischen den Waenden hinfuehrte. Man konnte sie
entlang schreiten, von angenehmen Gegenstaenden umgeben sein und die
Kaelte oder das Ungestuem des Wetters oder Winters nicht empfinden,
waehrend man doch Feld und Wald und Berg erblickte. Selbst im Sommer
konnte es Vergnuegen gewaehren, hier bei offenen Fenstern gleichsam halb
im Freien und halb in der Kunst zu wandeln. Da ich meinen Blick mehr
auf das Einzelne richtete, fielen mir die Geraete besonders auf. Die
waren neu und nach sehr schoenen Gedanken gebildet. Sie schickten sich
so in ihre Plaetze, dass sie gewissermassen nicht von Aussen gekommen,
sondern zugleich mit diesen Raeumen entstanden zu sein schienen. Es
waren an ihnen sehr viele Holzarten vermischt, das erkannte ich sehr
bald, es waren Holzarten, die man sonst nicht gerne zu Geraeten nimmt,
aber sie schienen mir so zu stimmen, wie in der Natur die sehr
verschiedenen Geschoepfe stimmen.
Ich machte in dieser Hinsicht eine Bemerkung gegen meinen Gastfreund,
und er antwortete: "Ihr habt einmal gefragt, ob Gegenstaende, die wir
in unserem Schreinerhause neu gemacht haben, in meinem Hause vorhanden
seien, worauf ich geantwortet habe, dass nichts von Bedeutung in
demselben sei, dass sich aber einige gesammelt in einem anderen Orte
befinden, in den ich euch, wenn ihr Lust zu solchen Dingen haettet,
geleiten wuerde. Diese Zimmer hier sind der andere Ort, und ihr seht
die neuen Geraete, die in unserem Schreinerhause verfertigt worden
sind."
"Es ist aber zu bewundern, wie sehr sie in ihren Abwechslungen und
Gestalten hieher passen", sagte ich.
"Als wir einmal den Plan gefasst hatten, die Zimmer Mathildens nach
und nach mit neuen Geraeten zu bestellen", erwiderte er, "so wurde die
ganze Reihe dieser Zimmer im Grund- und Aufrisse aufgenommen, die
Farben bestimmt, welche die Waende der einzelnen Zimmer haben sollten,
und diese Farben gleich in die Zeichnungen getragen. Hierauf wurde zur
Bestimmung der Groesse, der Gestalt und der Farbe, mithin der Hoelzer der
einzelnen Geraete geschritten. Die Farbezeichnungen derselben wurden
verfertigt und mit den Zeichnungen der Zimmer verglichen. Die
Gestalten der Geraete sind nach der Art entworfen worden, die wir vom
Altertume lernten, wie ich euch einmal sagte, aber so, dass wir nicht
das Altertum geradezu nachahmten, sondern selbststaendige Gegenstaende
fuer die jetzige Zeit verfertigten mit Spuren des Lernens an
vergangenen Zeiten. Wir sind nach und nach zu dieser Ansicht gekommen,
da wir sahen, dass die neuen Geraete nicht schoen sind und dass die alten
in neue Raeume zu wohnlicher Zusammenstimmung nicht passten. Wir haben
uns selber gewundert, als die Sachen nach vielerlei Versuchen,
Zeichnungen und Entwuerfen fertig waren, wie schoen sie seien. In der
Kunst, wenn man bei so kleinen Dingen von Kunst reden kann, ist eben
so wenig ein Sprung moeglich als in der Natur. Wer ploetzlich etwas so
Neues erfinden wollte, dass weder den Teilen noch der Gestaltung nach
ein Aehnliches da gewesen ist, der wuerde so toericht sein wie der,
der fordern wuerde, dass aus den vorhandenen Tieren und Pflanzen sich
ploetzlich neue, nicht dagewesene entwickeln. Nur dass in der Schoepfung
die Allmaehlichkeit immer rein und weise ist; in der Kunst aber, die
der Freiheit des Menschen anheim gegeben ist, oft Zerrissenheit, oft
Stillstand, oft Rueckschritt erscheint. Was die Hoelzer anbelangt, so
sind da fast alle und die schoensten Blaetter verwendet worden, die wir
aus den Knollen der Erlen geschnitten haben, die in unserer Sumpfwiese
gewachsen sind. Ihr koennt sie dann betrachten. Wir haben uns aber auch
bemueht, Hoelzer aus unserer ganzen Gegend zu sammeln, die uns schoen
schienen, und haben nach und nach mehr zusammengebracht, als wir
anfaenglich glaubten. Da ist der schneeige, glatte Bergahorn, der
Ringelahorn, die Blaetter der Knollen von dunkelm Ahorn - alles aus den
Alizgruenden -, dann die Birke von den Waenden und Klippen der Aliz,
der Wachholder von der duerren, schiefen Haideflaeche, die Esche, die
Eberesche, die Eibe, die Ulme, selbst Knorren von der Tanne, der
Haselstrauch, der Kreuzdorn, die Schlehe und viele andere Gestraeuche,
die an Festigkeit und Zartheit wetteifern, dann aus unseren Gaerten
der Wallnussbaum, die Pflaume, der Pfirsich, der Birnbaum, die Rose.
Eustach hat die Blaetter der Hoelzer alle gemalt und zur Vorgleichung
zusammengestellt, er kann euch die Zeichnung einmal im Asperhofe
zeigen und die vielen Arten noch angeben, die ich hier nicht genannt
habe. In der Holzsammlung muessen sie ja auch vorhanden sein."
Ich betrachtete die Sachen genauer. Die Erlenblaetter, von denen mir
mein Gastfreund im vorigen Jahre gesagt hatte, dass sie an einem
anderen Orte verwendet worden seien, waren in der Tat ausserordentlich,
so feurig und fast erhaben, auch ungemein gross; alles andere Holz,
wie zart, wie schoen in der Zusammenstellung, dass man gar nicht ahnen
sollte, dass dies in unseren Waeldern ist. Und die Gestalten der Geraete,
wie leicht, wie fein, wie anschmiegend, sie waren ganz anders als
die jetzt verfertigt werden, und waren doch neu und fuer unsere Zeit
passend. Ich erkannte, welch ein Wert in den Zeichnungen liege, die
Eustach habe. Ich dachte an meinen Vater, der solche Dinge so liebt.
Ach, wenn er nur hier waere, dass er sie sehen koennte! Mir war, als
gingen mir neue Kenntnisse auf. Ich wagte einen Blick auf Natalie, ich
wendete ihn aber schnell wieder weg; sie stand so in Gedanken, dass ich
glaube, dass sie erroetete, als ich sie anblickte.
Mathilde sagte zu Eustach: "Es ist im Verlaufe der Zeit, ohne dass eine
absichtliche Stoerung vorgekommen waere, manches hier anders geworden
und nicht mehr so schoen als anfangs. Wir werden es einmal, wenn ihr
Zeit habt und herueber kommen wollt, ansehen, ihr koennt die Fehler
erkennen und Mittel zur Abhilfe an die Hand geben."
Wir gingen nun weiter. Durch eine geoeffnete Tuer gelangten wir in
Zimmer, welche in einer anderen Richtung des Hauses lagen. Die
durchwanderten hatten nach Sued gesehen, diese sahen nach West. Es
waren ein grosser Saal und zwei Seitengemaecher. Waren die frueheren
Zimmer lieb und wohnlich gewesen, so waren diese wahrhaft prachtvoll.
Der Saal war mit Marmor gepflastert, die Zimmer hatten altertuemliche
Wandbekleidung, altertuemliche Fenstervorhaenge und altertuemliche
Geraete, der Fussboden des Saales enthielt die schoensten, seltensten und
zahlreichsten Gattungen unsers Marmors, nach einer Zeichnung eingelegt
und so geglaettet, dass er alle Dinge spiegelte. Es war der ernsteste
und feurigste Teppich. Wir mussten hier auch Filzschuhe anlegen. Auf
diesem Spiegelboden standen die schoensten und wohlerhaltensten alten
Schreine und andere Einrichtungsstuecke. Es waren hier die groessten
versammelt. In den zwei anstossenden Gemaechern standen auf feurig
farbigen Holzteppichen die kleineren, zarteren und feineren. Waren
gleich die altertuemlichen Geraete nicht schoener als die bei meinem
Gastfreunde - ich glaube, schoenere wird es kaum geben -, so zeigte
sich hier eine Zusammenstimmung, als muessten die, welche diese Dinge
urspruenglich hatten herrichten lassen, in ihren einstigen Trachten
bei den Tueren hereingehen. Es ergriff einen ein Gefuehl eines
Bedeutungsvollen.
"Die Marmore", sagte mein Gastfreund, "sind aller Orten erworben,
geschliffen, geglaettet und nach einer altertuemlichen Zeichnung vieler
Kirchenfenster eingesetzt worden."
"Aber dass ihr die Geraete so zusammen gefunden habt, dass sie wie ein
Einziges stimmen, ist zu verwundern", sagte ich.
"Also empfindet ihr, dass sie stimmen?" erwiderte er. "Seht, das ist
mir lieb, dass ihr das sagt. Ihr seid ein Beobachter, der nicht von der
Sucht nach Altem befangen ist, wie uns unsere Gegner vorwerfen. Ihr
empfangt also das Gefuehl von den Gegenstaenden und tragt es nicht in
dieselben hinein, wie auch unsere Gegner von uns sagen. Die Sache aber
ist nur so: als man die Nichtigkeit und Leere der letztvergangenen
Zeiten erkannte und wieder auf das Alte zurueck wies und es nicht
mehr als Plunder und Troedel ansah, sondern Schoenes darin suchte: da
geschahen freilich toerichte Dinge. Man sammelte wieder Altes und nur
Altes. Statt der neuen Mode mit neuen Gegenstaenden kam die neueste
mit alten Gegenstaenden. Man raffte Schreine, Betschemel, Tische und
dergleichen zusammen, weil sie alt waren, nicht weil sie schoen waren,
und stellte sie auf. Da standen nun Dinge beisammen, die in ihren
Zeiten weit von einander ablagen, es konnte nicht fehlen, dass ein
Widerwaertiges herauskam und dass die Feinde des Alten, wenn sie Gefuehl
hatten, sich abwenden mussten. Nichts aber kann so wenig passen, als
alte Dinge von sehr verschiedenen Zeiten. Die Voraeltern legten so sehr
einen eigentuemlichen Geist in ihre Dinge - es war der Geist ihres
Gemuetes und ihres allgemeinen Gefuehlslebens -, dass sie diesem Geiste
sogar den Zweck opferten. Man bringt Linnen, Kleider und dergleichen
in neue Geraete zweckmaessiger unter als in alte. Man kann daher alte
Geraete von ziemlich gleicher Zeit, aber verschiedenem Zwecke ohne
grosse Stoerung des Geistes der Traulichkeit und Innigkeit, der in ihnen
wohnt, zusammenstellen, waehrend von unseren Geraeten, die keinen Geist,
aber einen Zweck haben, sogleich ein Widersinniges ausgeht, wenn man
Dinge verschiedenen Gebrauches in dasselbe Zimmer tut, wie etwa den
Schreibtisch, den Waschtisch, den Buecherschrein und das Bett. Die
groesste Wirkung erzielt man freilich, wenn man alte Geraete aus
derselben und guten Zeit, die also denselben Geist haben, und auch
Geraete des nehmlichen Zweckes, in ein Zimmer bringt. Da spricht nun in
der Wirklichkeit etwas ganz anderes als bei unseren neuen Dingen."
"Und das scheint mir hier der Fall zu sein", sagte ich.
"Es ist nicht Alles alt", erwiderte er. "Viele Dinge sind so
unwiederbringlich verloren gegangen, dass es fast unmoeglich ist, eine
ganze Wohnung mit Gegenstaenden aus der selben Zeit einzurichten, dass
kein notwendiges Stueck fehlt. Wir haben daher lieber solche Stuecke im
alten Sinn neu gemacht, als alte Stuecke von einer ganz anderen Zeit
zugemischt. Damit aber Niemand irre gefuehrt werde, ist an jedem
solchen altneuen Stuecke ein Silberplaettchen eingefuegt, auf welchem die
Tatsache in Buchstaben eingegraben ist."
Er zeigte mir nun jene Gegenstaende, welche in dem Schreinerhause als
Ergaenzung hinzugemacht worden sind.
Trotzdem war bei mir der Eindruck immer derselbe, und ich hatte
bestaendig und bestaendig den Gedanken an meinen Vater in dem Haupte.
Man fuehrte mich auch zu den alten, schweren, mit Gold und Silber
durchwirkten Fenstervorhaengen und zeigte mir dieselben als echt, so
auch die ledernen, mit Farben und Metallverzierungen versehenen Belege
der Zimmerwaende. Nur hat man da in dem Leder nachhelfen und ihm
Nahrung geben muessen.
Als ich diese ernsten und feierlichen Gemaecher genugsam betrachtet
hatte, oeffnete Mathilde das schwere Schloss der Ausgangstuer, und wir
kamen in mehrere unbedeutende Raeume, die nach Norden sahen, worunter
auch der allgemeine Eintrittssaal und das Speisezimmer waren. Von da
gelangten wir in den Fluegel, dessen Fenster die Morgensonne hatten.
Hier waren die Wohnzimmer Mathildens und Nataliens. Jede hatte ein
groesseres und ein kleineres Gemach. Sie waren einfach mit neuen Geraeten
eingerichtet und drueckten durch Dinge unmittelbaren Gebrauches die
Bewohntheit aus, ohne dass ich die vielen Spielereien sah, mit denen
gerne, zwar nicht bei meinen Eltern, aber an anderen Orten unserer
Stadt, die Zimmer der Frauen angefuellt sind. In jeder der zwei
Wohnungen sah ich eine der Zithern, die in dem Rosenhause gewesen
waren. Bei Natalien herrschten besonders Blumen vor. Es standen
Gestelle herum, auf welche sie von dem Garten herauf gebracht worden
waren, um hier zu verbluehen. Auch standen groessere Pflanzen, namentlich
solche, welche schoene Blaetter oder einen schoenen Bau hatten, in einem
Halbkreise und in Gruppen auf dem Fussboden.
In einem Vorsaale, der den Eintritt zu diesen Wohnungen bildete,
befand sich ein Clavier.
Die Zimmer im zweiten Stockwerke des Hauses waren geblieben, wie sie
frueher gewesen waren. Sie sahen so aus, wie sie gerne in weitlaeufigen
alten Schloessern auszusehen pflegen. Sie waren mit Geraeten vieler
Zeiten, die meistens ohne Geschmack waren, mit Spielereien vergangener
Geschlechter, mit einigen Waffen und mit Bildern, namentlich
Bildnissen, die nach der Laune des Tages gemacht waren, angefuellt.
Namentlich waren an den Waenden der Gaenge Abbildungen aufgehaengt
von grossen Fischen, die man einmal gefangen, nebst beigefuegter
Beschreibung, von Hirschen, die man geschossen, von Federwild, von
Wildschweinen und dergleichen. Auch Lieblingshunde fehlten nicht. In
diesem Stockwerke waren nach Sueden die Gastzimmer, und der Fluegel
derselben war geordnet worden. Hier befand sich auch mein Zimmer nebst
dem Gustavs.
Nach der Besichtigung der Zimmer gingen wir in das Freie. Die breite
Haupttreppe aus rotem Marmor fuehrte in den Hof hinab. Derselbe zeigte,
wie gross das Gebaeude sei. Er war von vier ganz gleichen, langen
Fluegeln umschlossen. In seiner Mitte war ein Becken von grauem Marmor,
in welches sich aus einer Verschlingung von Wassergoettinnen vier
Strahlen ergossen. Um das Becken standen vier Ahorne, welche gewiss
nicht kleiner waren als die, welche den Schlosshuegel saeumten. Auf
dem Sandplatze unter den Ahornen waren Ruhebaenke, ebenfalls aus
grauem Marmor. Von diesem Sandplatze liefen Sandwege wie Strahlen
auseinander. Der uebrige Raum war gleichfoermiges Rasen, nur dass an den
Mauern des Hauses eine Pflasterung von glatten Steinen herum fuehrte.
Von dem Hofe gingen wir bei dem grossen Tore hinaus. Ich wendete mich,
da wir draussen waren, unwillkuerlich um, um das Gebaeude zu betrachten.
Ueber dem Tore war ein ziemlich umfangreiches steinernes Schild
mit sieben Sternen. Sonst sah ich nichts, als was ich bei meinem
Morgenausblicke aus dem Fenster schon gesehen hatte. Wir gingen auf
einem Sandwege des gruenen Rasens, wir umgingen das Haus und gelangten
hinter demselben in den Garten. Hier sah ich, was ich mir schon
frueher gedacht hatte, dass das Gebaeude, welches man wohl ein Schloss
nennen musste, nur aus den vier grossen Fluegeln bestehe, welche ein
vollkommenes Viereck bildeten. Die Wirtschaftsgebaeude standen ziemlich
weit entfernt in dem Tale.
Der Garten begann mit Blumen, Obst und Gemuese, zeigte aber, dass er in
der Entfernung mit etwas endigen muesse, das wie ein Laubwald aussah.
Alles war rein und schoen gehalten. Der Garten war auch hier mit
gefiederten Bewohnern bevoelkert, und man hatte aehnliche Vorrichtungen
wie im Asperhofe. Die Baeume standen daher auch vortrefflich und
gesund. Rosen zeigten sich ebenfalls viele, nur nicht in so besonderen
Gruppierungen wie bei meinem Gastfreunde. Die Gewaechshaeuser des
Gartens waren ausgedehnt und weit groesser und sorgfaeltiger gepflegt
als auf dem Asperhofe. Der Gaertner, ein junger und, wie es schien,
unterrichteter Mann, empfing uns mit Hoeflichkeit und Ehrfurcht am
Eingange derselben. Er zeigte mir mit mehr Genauigkeit seine Schaetze,
als ich mit der Ruecksicht auf meine Begleiter, denen nichts neu
war, fuer vereinbarlich hielt. Es waren viele Pflanzen aus fremden
Weltteilen da, sowohl im warmen als im kalten Hause. Besonders erfreut
war er ueber seine reiche Sammlung von Ananas, die einen eigenen Platz
in einem Gewaechshause einnahmen.
Nicht weit hinter dem Gewaechshause stand eine Gruppe von Linden,
welche beinahe so schoen und so gross waren wie die in dem Garten des
Asperhofes. Auch war der Sand unter ihrem Schattendache so rein
gefegt, und um die Aehnlichkeit zu vollenden, liefen auf demselben
Finken, Ammern, Schwarzkehlchen und andere Voegel so traulich hin, wie
auf dem Sande des Rosenhauses. Dass Baenke unter den Linden standen, ist
natuerlich. Die Linde ist der Baum der Wohnlichkeit. Wo waere eine Linde
in deutschen Landen - und gewiss ist es in andern auch so - unter der
nicht eine Bank staende oder auf der nicht ein Bild hinge oder neben
welcher sich nicht eine Kapelle befaende. Die Schoenheit ihres Baues,
das Ueberdach ihres Schattens und das gesellige Summen des Lebens in
ihren Zweigen ladet dazu ein. Wir gingen in den Schatten der Linden.
"Das ist eigentlich der schoenste Platz in dem Sternenhofe", sagte
Mathilde, "und jeder, der den Garten besucht, muss hier ein wenig
ruhen, daher sollt ihr auch so tun."
Mit diesen Worten wies sie auf die Baenke, die fast in einem Bogen
unter den Staemmen der Linden standen und hinter denen sich eine Wand
gruenen Gebuesches aufbaute. Wir setzten uns nieder. Das Summen, wie es
jedes Mal in diesen Baeumen ist, war gleichmaessig ueber unserm Haupte,
das stumme Laufen der Voegel ueber den reinen Sand war vor unsern Augen
und ihr gelegentlicher Aufflug in die Baeume toente leicht in unsere
Ohren.
Nach einiger Zeit bemerkte ich, dass auch mit Unterbrechungen ein
leises Rauschen hoerbar sei, gleichsam als wuerde es jetzt von einem
leichten Lueftchen hergetragen, jetzt nicht. Ich aeusserte mich darueber.
"Ihr habt recht gehoert", sagte Mathilde, "wir werden die Sache gleich
sehen."
Wir erhoben uns und gingen auf einem schmalen Sandpfade durch die
Gebuesche, die sich in geringer Entfernung hinter den Linden befanden.
Als wir etwa vierzig oder fuenfzig Schritte gegangen waren, oeffnete
sich das Dickicht und ein freier Platz empfing uns, der rueckwaerts mit
dichtem Gruen geschlossen war. Das Gruen bestand aus Epheu, welcher
eine Mauer von grossen Steinen bekleidete, die an ihren beiden Enden
riesenhafte Eichen hatte. In der Mitte der Mauer war eine grosse
Oeffnung, oben mit einem Bogen begrenzt, gleichsam wie eine grosse
Nische oder wie eine Tempelwoelbung. Im Innern dieser Woelbung,
die gleichfalls mit Eppich ueberzogen war, ruhte eine Gestalt von
schneeweissem Marmor - ich habe nie ein so schimmerndes und fast
durchsichtiges Weiss des Marmors gesehen, das noch besonders merkwuerdig
wurde durch das umgebende Gruen. Die Gestalt war die eines Maedchens,
aber weit ueber die gewoehnliche Lebensgroesse, was aber in der Epheuwand
und neben den grossen Eichen nicht auffiel. Sie stuetzte das Haupt mit
der einen Hand, den anderen Arm hatte sie um ein Gefaess geschlungen,
aus welchem Wasser in ein vor ihr befindliches Becken rann. Aus dem
Becken fiel das Wasser in eine in den Sand gemauerte Vertiefung, von
welcher es als kleines Baechlein in das Gebuesch lief.
Wir standen eine Weile, betrachteten die Gestalt und redeten ueber sie.
Eustach und ich kosteten auch mittelst einer alabasternen Schale, die
in einer Vertiefung des Epheus stand, von dem frischen Wasser, welches
sich aus dem Gefaesse ergoss.
Hierauf gingen wir hinter der Eppichwand ueber eine Steintreppe empor
und erstiegen einen kleinen Huegel, auf welchem sich wieder Sitze
befanden, die von verschiedenen Gebueschen beschattet waren. Gegen das
Haus zu aber gewaehrten sie die Aussicht. Wir mussten uns hier wieder
ein wenig setzen. Zwischen den Eichen, gleichsam wie in einem gruenen,
knorrigen Rahmen erschien das Haus. Mit seinem hohen, steilen Dache
von altertuemlichen Ziegeln und mit seinen breiten und hochgefuehrten
Rauchfaengen glich es einer Burg, zwar nicht einer Burg aus den
Ritterzeiten, aber doch aus den Jahren, in denen man noch den Harnisch
trug, aber schon die weichen Locken der Peruecke auf ihn herabfallen
liess. Die Schwere einer solchen Erscheinung sprach sich auch in dem
ganzen Bauwerke aus. Zu beiden Seiten des Schlosses sah man die
Landschaft und hinten das liebliche Blau der Gebirge. Die dunkeln
Gestalten der Linden, unter denen wir gesessen waren, befanden sich
weiter links und stoerten die Aussicht nicht.
"Man hat sehr mit Unrecht in neuerer Zeit die Mauern dieses Schlosses
mit der weissgrauen Tuenche ueberzogen", sagte mein Gastfreund,
"wahrscheinlich um es freundlicher zu machen, welche Absicht man sehr
gerne zu Ende des vorigen Jahrhunderts an den Tag legte. Wenn man
die grossen Steine, aus denen die Hauptmauern errichtet sind, nicht
bestrichen haette, so wuerde das natuerliche Grau derselben mit
dem Rostbraun des Daches und dem Gruen der Baeume einen sehr
zusammenstimmenden Eindruck gemacht haben. Jetzt aber steht das Schloss
da wie eine alte Frau, die weiss gekleidet ist. Ich wuerde den Versuch
machen, wenn das Schloss mein Eigentum waere, ob man nicht mit Wasser
und Buersten und zuletzt auf trockenem Wege mit einem feinen Meissel
die Tuenche beseitigen koennte. Alle Jahre eine maessige Summe darauf
verwendet, wuerde jaehrlich die Aussicht, des widrigen Anblickes
erledigt zu werden, angenehm vermehren."
"Wir koennen ja den Versuch nahe an der Erde machen und aus der Arbeit
einen ungefaehren Kostenanschlag verfertigen", sagte Mathilde; "denn
ich gestehe gerne zu, dass mich auch der Anblick dieser Farbe nicht
erfreut, besonders, da die Aussenseite der Mauern ganz von Steinen ist,
die mit feinen Fugen an einander stossen, und man also bei Erbauung des
Hauses auf keine andere Farbe als die der Steine gerechnet hat. Jetzt
ist das Schloss von Innen viel natuerlicher und, wenn auch nicht an eine
Kunstzeit erinnernd, doch in seiner Art zusammenstimmender als von
Aussen."
"Das Grau der Mauer mit den grauen Steinsimsen der Fenster, die nicht
ungeschickt gegliedert sind, mit der Hoehe und Breite der Fenster,
deren Verhaeltnis zu den festen Zwischenraeumen ein richtiges ist,
wuerde, glaube ich, dem Hause ein schoeneres Ansehen geben, als man
jetzt ahnt", sagte Eustach.
Mir fielen bei dieser Aeusserung die Worte ein, welche mein Gastfreund
einmal zu mir gesagt hatte, dass alte Geraete in neuen Haeusern nicht
gut stehen. Ich erinnerte mich, dass in dem Saale und in den alt
eingerichteten Gemaechern dieses Schlosses die hohen Fenster, die
breiten Raeume zwischen ihnen und die eigentuemlich gestalteten
Zimmerdecken den Geraeten sehr zum Vorteile gereichten, was in Zimmern
der neuen Art gewiss nicht der Fall gewesen waere.
Als wir so sprachen, kamen Natalie und Gustav, die bei der Nymphe des
Brunnens zurueckgeblieben waren, die Steintreppe zu uns empor. Die
Angesichter waren sanft geroetet, die dunkeln Augen blickten heiter in
das Freie, und die beiden jugendlichen Gestalten stellten sich mit
einer anmutigen Bewegung hinter uns.
Von diesem Huegel der Eichenaussicht gingen wir weiter in den Garten
zurueck und gelangten endlich in das Gemisch von Ahornen, Buchen,
Eichen, Tannen und anderen Baeumen, welches wie ein Waeldchen den Garten
schloss. Wir gingen in den Schatten ein, und die Freudenaeusserungen
und das Geschmetter der Voegel war kaum irgendwo groesser als hier. Wir
besuchten Stellen, wo man der Natur nachgeholfen hatte, um diese
Abteilung noch angenehmer zu machen, und Gustav zeigte mir Baenke,
Tischchen und andere Plaetze, wo er mit Natalien gesessen war, wo
sie gelernt, wo sie als Kinder gespielt hatten. Wir gingen an den
wunderbar von Licht und Schatten gesprenkelten Staemmen dahin, wir
gingen ueber die dunkeln und die leuchtenden Stellen der Sandwege, wir
gingen an reichen gruenenden Bueschen, an Ruhebaenken und sogar an einer
Quelle vorbei und kamen durch Wendungen, die ich nicht bemerkt hatte,
an einer Stelle wieder in den freien Garten zurueck, die an der
entgegengesetzten Seite von der lag, bei welcher wir das Waeldchen
betreten hatten.
Wir liessen jetzt die zwei grossen Eichen links, ebenso die Linden und
gingen auf einem anderen Wege in das Schloss zurueck.
Das Mittagessen wurde an dem aeusserst schoenen Gruen des Huegels
unmittelbar vor dem Hause unter einem Dache von Linnen eingenommen.
Am Nachmittage besprachen sich Mathilde und Eustach vorlaeufig ueber
das, was in Hinsicht der Beschaedigungen geschehen koennte, welche die
neuen Geraete in den Suedzimmern sowie die Fussboeden und zum Teile auch
die alten Geraete in den Westzimmern in der Zeit erlitten hatten. Gegen
Abend wurden der Meierhof und die Wirtschaftsgebaeude besucht.
So wie Mathilde in dem Rosenhause um den weiblichen Anteil des
Hauswesens sich bekuemmert, alles, was dahin einschlug, besehen und
Anleitungen zu Verbesserungen gegeben hatte: so tat es mein Gastfreund
in dem Sternenhofe mit allem, was auf die aeussere Verwaltung des
Besitzes Bezug hatte, worin er mehr Erfahrung zu haben schien als
Mathilde. Er ging in alle Raeume, besah die Tiere und ihre Verpflegung
und besah die Anstalten zur Bewahrung oder Umgestaltung der
Wirtschaftserzeugnisse. War mir dieses Verhaeltnis schon in dem
Rosenhause ersichtlich gewesen, so war es hier noch mehr der Fall. In
den Handlungen meines Gastfreundes und in dem kleinen Teile, den ich
von seinen Gespraechen mit Mathilde ueber haeusliche Dinge hoerte, zeigte
er sich als ein Mann, der mit der Bewirtschaftung eines grossen
Besitzes vertraut ist und die Pflichten, die ihm in dieser Hinsicht
zufallen, mit Eifer, mit Umsicht und mit einem Blicke ueber das Ganze
erfuellt, ohne eben deshalb die Grenzen zu beruehren, innerhalb welcher
die Geschaefte einer Frau liegen. Das geschah so natuerlich, als muesste
es so sein und als waere es nicht anders moeglich.
Von dem Meierhofe gingen wir in die Wiesen und auf die Felder, welche
zu der Besitzung gehoerten. Wir gingen endlich ueber die Grenzen des
Besitztumes hinaus, gingen ueber den Boden anderer Menschen, die wir
zum Teile arbeitend auf den Feldern trafen und mit denen wir redeten.
Wir gelangten endlich auf eine Anhoehe, die eine grosse Umsicht
gewaehrte. Wir blieben hier stehen. Das erste, auf das wir blickten,
war das Schloss mit seinem gruenen Huegel und im Schosse seiner
umguertenden Ahorne und des begrenzenden Gartenwaldes. Dann gingen wir
auf andere Punkte ueber.
Man zeigte und nannte mir die einzelnen Haeuser, die zerstreut in der
Landschaft lagen und durch die Linien von Obstbaeumen, die hier ueberall
durch das Land gingen, wie durch gruene Ketten zusammenhingen. Dann kam
man auf die entfernteren Ortschaften, deren Tuerme hier zu erblicken
waren. In diesem Stoffe konnte ich schon mehr mitreden, da mir die
meisten Orte bekannt waren. Als wir aber mit unsern Augen in die
Gebirge gelangten, war ich fast der Bewandertste. Ich geriet nach und
nach in das Reden, da man mich um verschiedene Punkte fragte, und sah,
dass ich Antwort zu geben wusste. Ich nannte die Berge, deren Spitzen
erkennbar hervortraten, ich nannte auch Teile von ihnen, ich
bezeichnete die Taeler, deren Windungen zu verfolgen waren, zeigte die
Schneefelder, bemerkte die Einsattlungen, durch welche Berge oder
ganze Gebirgszuege zusammenhingen oder getrennt waren, und suchte die
Richtungen zu verdeutlichen, in denen bekannte Gebirgsortschaften
lagen oder bekannte Menschenstaemme wohnten. Natalie stand neben mir,
hoerte sehr aufmerksam zu und fragte sogar um Einiges.
Als die Sonne untergegangen war und die sanfte Glut von den Gipfeln
der Hochgebirge sich verlor, gingen wir in das Schloss zurueck.
Das Abendessen wurde in dem Speisezimmer eingenommen.
So brachten wir mehrere Tage in freundlichem Umgange und in heiteren,
mitunter belehrenden Gespraechen hin.
Endlich ruesteten wir uns zur Abreise. Am fruehesten Morgen war der
Wagen bespannt. Mathilde und Natalie waren aufgestanden, um uns
Lebewohl zu sagen. Mein Gastfreund nahm Abschied von Mathilde und
Natalie, Eustach und Gustav verabschiedeten sich, und ich glaubte auch
einige Worte des Dankes fuer die guetige Aufnahme an Mathilde richten zu
muessen. Sie gab eine freundliche Antwort und lud mich ein, bald wieder
zu kommen. Selbst zu Natalie sagte ich ein Wort des Abschiedes, das
sie leise erwiderte.
Wie sie so vor mir stand, begriff ich wieder, wie ich bei ihrem ersten
Anblicke auf den Gedanken gekommen war, dass der Mensch doch der
hoechste Gegenstand fuer die Zeichnungskunst sei, so suess gehen ihre
reinen Augen und so lieb und hold gehen ihre Zuege in die Seele des
Betrachters.
Wir stiegen in den Wagen, fuhren den gruenen Rasenhuegel hinab, wendeten
unsern Weg gegen Norden und kamen spaet in der Nacht im Rosenhause an.
Mein Bleiben war nun in diesem Hause nicht mehr lange; denn ich hatte
keine Zeit mehr zu verlieren. Ich packte meine Sachen ein, bezeichnete
die Kisten und Koffer, welchen Weg sie zu nehmen haetten, besuchte
alle, von denen ich glaubte, Abschied nehmen zu muessen, dankte
meinem Gastfreunde fuer alle Guete und Freundlichkeit, leistete das
Versprechen, wieder zu kommen, und wanderte eines Tages ueber den
Rosenhuegel hinunter. Da es zu einer Zeit geschah, in welcher Gustav
frei war, begleiteten er und Eustach mich eine Stunde Weges.
Die Erweiterung
Ich ging an den Ort, wo ich meine Arbeiten abgebrochen hatte. Die
Leute, welche von meiner Absicht, wieder zu kommen, unterrichtet
waren, hatten mich schon lange erwartet. Der alte Kaspar, welcher mein
treuester Begleiter auf meinen Gebirgswanderungen war und meistens in
einem Ledersacke die wenigen Lebensmittel trug, welche wir fuer einen
Tag brauchten, hatte schon mehrere Male in dem Ahornwirtshause um mich
gefragt und war gewoehnlich, wie mir die Wirtin sagte, ehe er eintrat,
ein wenig auf der Gasse stehen geblieben und hatte auf die vielen
Fenster, welche von der hoelzernen Zimmerung des Hauses auf die Ahorne
hinausschauten, empor geblickt, um zu sehen, ob nicht aus einem
derselben mein Haupt hervorrage. Jetzt sass er wieder bei mir an dem
langen Eichtentische unter den gruenen Baeumen, und die andern, denen er
Botschaft getan hatte, fanden sich ein. Ich war sehr erfreut und es
ruehrte mein Herz, als ich sah, dass diese Leute mit Vergnuegen mein
Wiederkommen ansahen und sich schon auf die Fortsetzung der Arbeit
freuten.
Ich ging sehr ruestig daran, gleichsam als ob mich mein Gewissen
draengte, das, was ich durch die laengere Abwesenheit versaeumt hatte,
einzubringen. Ich arbeitete fleissiger und taetiger als in allen
frueheren Zeiten, wir durchforschten die Bergwaende laengs ihrer
Einlagerungen in die Talsohlen und in ihren verschiedenen Hoehepunkten,
die uns zugaenglich waren oder die wir uns durch unsere Haemmer und
Meissel zugaenglich machten. Wir gingen die Taeler entlang und spaehten
nach Spuren ihrer Zusammensetzungen, und wir begleiteten die Wasser,
die in den Tiefen gingen, und untersuchten die Gebilde, welche von
ihnen aus entlegenen Stellen hergetragen und immer weiter und weiter
geschoben wurden. Der Hauptsammelplatz fuer uns blieb das Ahornhaus,
und wenn wir auch oft laenger von demselben abwesend waren und in
anderen Gebirgswirtshaeusern oder bei Holzknechten oder auf einer Alpe
oder gar im Freien uebernachteten, so kamen wir in Zwischenraeumen
doch immer wieder in das Ahornhaus zurueck, wir wurden dort als
Eingebuergerte betrachtet, meine Leute fanden ihre Schlafstellen im
Heu, ich hatte mein bestaendiges wohleingerichtetes Zimmer und hatte
ein Gelass, in welches ich meine gesammelten Gegenstaende konnte bringen
lassen.
Oft, wenn ich von dem Arbeiten ermuedet war oder wenn ich glaubte,
in dem Einsammeln meiner Gegenstaende genug getan zu haben, sass
ich auf der Spitze eines Felsens und schaute sehnsuechtig in die
Landschaftsgebilde, welche mich umgaben, oder blickte in einen der
Seen nieder, wie sie unser Gebirge mehrere hat, oder betrachtete die
dunkle Tiefe einer Schlucht, oder suchte mir in den Moraenen eines
Gletschers einen Steinblock aus und sass in der Einsamkeit und schaute
auf die blau oder gruene oder schillernde Farbe des Eises. Wenn
ich wieder talwaerts kam und unter meinen Leuten war, die sich
zusammenfanden, war es mir, als sei mir alles wieder klarer und
natuerlicher.
Von einem Jaegersmanne, welcher aber mehr ein Herumstreicher war, als
dass er an einem Platze durch lange Zeit als ein mit dem Bezirke und
mit dem Wildstande vertrauter Jaeger gedient haette, liess ich mir eine
Zither ueber die Gebirge herueber bringen. Er kannte, eben weil er
nirgends lange blieb und an allen Orten schon gedient hatte, das ganze
Gebirge genau und wusste, wo die besten und schoensten Zithern gemacht
wuerden. Er konnte dies darum auch am besten beurteilen, weil er
der fertigste und beruehmteste Zitherspieler war, den es im Gebirge
gab. Er brachte mir eine sehr schoene Zither, deren Griffbrett von
rabenschwarzem Holze war, in welchem sich aus Perlenmutter und
Elfenbein eingelegte Verzierungen befanden, und auf welchem die Stege
von reinem glaenzenden Silber gemacht waren. Die Bretter, sagte mein
Bote, koennten von keiner singreicheren Tanne sein; sie ist von dem
Meister gesucht und in guten Zeichen und Jahren eingebracht worden.
Die Fuesslein der Zither waren elfenbeinerne Kugeln. Und in der Tat,
wenn der Jaegersmann auf ihr spielte, so meinte ich, nie einen suesseren
Ton auf einem menschlichen Geraete gehoert zu haben. Selbst was Mathilde
und Natalie in dem Rosenhause gespielt hatten, war nicht so gewesen;
ich hatte weit und breit nichts gehoert, was an die Handhabung der
Zither durch diesen Jaegersmann erinnerte. Ich liess ihn gerne in meiner
Gegenwart auf meiner Zither spielen, weil ihm keine so klang wie diese
und weil er sagte, sie muesse eingespielt werden.
Er wurde mein Lehrer im Zitherspiele, und ich nahm mir vor, da ich
sah, dass er meine Zither allen anderen vorzog, ihm, wenn ich Ursache
haette, mit unseren Lehrstunden zufrieden zu sein, eine gleiche zu
kaufen.
Er hatte nehmlich erzaehlt, dass der Meister mehrere aus dem gleichen
Holze wie die meinige und in gleicher Art gefertigt habe. Da sie
nun ziemlich teuer gewesen war, so schloss ich, dass der Meister die
gleichen nicht so schnell werde verkaufen koennen und dass noch eine
werde uebrig sein, wenn ich meinem Lehrer zu dem gewoehnlichen Lohne,
den ich ihm in Geld zugedacht habe, noch dieses Geschenk wuerde
hinzufuegen wollen.
Ich begann in demselben Sommer auch, mir eine Sammlung von Marmoren
anzulegen. Die Stuecke, die ich gelegentlich fand oder die ich mir
erwarb, wurden zu kleinen Koerpern geschliffen, gleichsam dicken
Tafeln, die auf ihren Flaechen die Art des Marmors zeigten. Wenn ich
groessere Stuecke fand, so bestimmte ich sie ausser dem, dass ich die
gleiche Art in Tafeln in die Sammlung tat, zu allerlei Gegenstaenden,
zu kleinen Dingen des Gebrauches auf Schreibtischen, Schreinen,
Waschtischen oder zu Teilen von Geraeten oder zu Geraeten selbst. Ich
hoffte, meinem Vater und meiner Mutter eine grosse Freude zu machen,
wenn ich nach und nach als Nebengewinn meiner Arbeiten eine Zierde in
ihr Haus oder gar in den Garten braechte; denn ich sann auch darauf,
aus einem Blocke, wenn ich einen faende, der gross genug waere, ein
Wasserbecken machen zu lassen.
Im Lauterthale fand ich einmal Roland, den Bruder Eustachs. Er hatte
in einer alten Kirche gezeichnet und war jetzt damit beschaeftigt, im
Gasthause des Lauterthales diese Zeichnungen und einige andere, welche
er in der Naehe entworfen hatte, mehr in das Reine zu bringen. Es
befand sich nehmlich nicht weit von Lauterthal ein einsamer Hof
oder eigentlich mehr ein festes, steinernes, schlossartiges Haus,
welches einmal einer Familie gehoert hatte, die durch Handel mit
Gebirgserzeugnissen und durch immer ausgedehnteren Verkehr in viele
Gegenden der Erde wohlhabend und durch Entartung ihrer Nachkommen,
durch den Leichtsinn derselben und durch Verschwendung wieder arm
geworden war. Einer dieses Geschlechtes hatte das grosse steinerne Haus
gebaut. Er gehoerte jetzt einem fremden Herrn aus der Stadt, welcher
es seiner Lage und seiner Seltenheiten willen gekauft hatte und
es zuweilen besuchte. In dem Hause waren schoene Bauwerke, schoene
Steinarbeiten und schoene Arbeiten aus Holz, teils in Zimmerdecken,
Tueren und Fussboeden, teils in Geraeten. Die Holzarbeit musste einmal im
Gebirge viel bluehender gewesen sein als jetzt. Von diesen Gegenstaenden
durfte nichts aus dem Hause gebracht werden, auch wurde von ihnen
nichts verkauft. Roland hatte die Erlaubnis erhalten, zu zeichnen, was
ihm als zeichnungswuerdig erscheinen wuerde. Dieses Zweckes halber hielt
er sich im Lanterthalwirtshause auf. Ich besuchte mit ihm oefter das
Haus, und wir gerieten in mannigfache Gespraeche, namentlich, wenn
wir abends, nachdem wir beide unser Tagewerk getan hatten, an dem
Wirtstische in der grossen Stube zusammen kamen. Ich fand in ihm einen
sehr feurigen Mann von starken Entschluessen und von heftigem Begehren,
sei es, dass ein Gegenstand der Kunst sein Herz erfuellte oder dass er
sonst etwas in den Bereich seines Wesens zu ziehen strebte. Er verliess
diese Staette frueher als ich.
Ehe mich meine Geschaefte aus der Gegend fuehrten, fand ich noch etwas,
das mich meines Vaters willen sehr freute. Kaspar hatte oefters meinen
und Rolands Gespraechen zugehoert und mitunter sogar in die Zeichnungen
geblickt. Einmal sagte er mir, dass, wenn ich an alten Dingen so ein
Vergnuegen haette, er mir etwas zeigen koenne, das sehr alt und sehr
merkwuerdig waere.
Es gehoere einem Holzknechte, der ein Haus, einen Garten und
ein kleines Feldwesen habe, das von seinem Weibe und seinen
heranwachsenden Kindern besorgt werde. Wir gingen einmal auf meine
Anregung in das Haus hinauf, das jenseits eines Waldarmes mitten in
einer trockenen Wiese nicht weit von kleinen Feldern und hart an einem
grossen, vereinzelten Steinblocke lag, wie sie sich losgerissen oft im
Innern von fruchtbaren Gruenden befinden. Das alte Werk, welches ich
hier traf, war die Vertaefelung von zwei Fensterpfeilern, ungefaehr
halbmanneshoch. Es war offenbar der Rest einer viel groesseren
Vertaefelung, welche in der angegebenen Hoehe auf dem Fussboden laengs der
ganzen Waende eines Zimmers herum gelaufen war. Hier bestanden nur mehr
die Verkleidungen von zwei Fensterpfeilern; aber sie waren vollkommen
ganz. Halberhabne Gestalten von Engeln und Knaben, mit Laubwerk
umgeben, standen auf einem Sockel und trugen zarte Simse. Der Besitzer
des Haeuschens hatte die zwei Verkleidungen in seiner Prunkstube so
aufgestellt, dass sie mit der unverzierten Hoehlung gegen die Stube
schauten. In diese Hoehlung hatte er geschnitzte und bemalte
Heiligenbilder aus neuerer Zeit gestellt. Vermutlich war das Werk
einmal in dem steinernen Hause gewesen und war dort weggekommen, da
etwa Nachfolger Veraenderungen machten und Gegenstaende verschleuderten.
Der Besitzer des Wiesenhauses sagte uns, dass sein Grossvater die
Dinge in einer Versteigerung der Hagermuehle gekauft habe, die wegen
Verschwendung des Muellers war eingeleitet worden. Meine Nachfragen um
die Ergaenzungen zu diesen Verkleidungen waren vergeblich, und durch
Vermittlung Kaspars erkaufte ich von dem Besitzer die uebergebliebenen
Reste. Ich liess Kisten machen, legte die gefugten Teile auseinander,
packte sie selber ein und sendete sie unterdessen in das Ahornhaus zu
meinen anderen Dingen.
Ich blieb wirklich in jenem Herbste sehr lange im Gebirge. Es lag
nicht nur der Schnee schon auf den Bergen, sondern er deckte auch
bereits das ganze Land, und man fuhr schon in Schlitten statt in
Waegen, als ich von dem Ahornhause Abschied nahm. Ich hatte alle meine
Sachen gepackt und hatte sie voraus gesendet, weil ich im kuenftigen
Jahre nicht mehr in diesem freundlichen Hause, sondern irgend wo
anders meinen Aufenthalt wuerde aufschlagen muessen. Ich sagte allen
meinen Leuten Lebewohl und ging auf der glattgefrorenen Bahn neben dem
rauschenden Flusse, der schon Stuecke Ufereis ansetzte, in die ebneren
Laender hinaus. Mein Weg fuehrte mich in seinem Verlaufe auf Anhoehen
dahin, von welchen ich im Norden die Gegend des Rosenhauses und im
Sueden die des Sternenhofes erblicken konnte. In dem weissen Gewande,
welches sich ueber die Gefilde breitete und welches von den
dunkeln Baendern der Waelder geschnitten war, konnte ich kaum die
Huegelgestaltungen erkennen, innerhalb welcher das Haus meines Freundes
liegen musste, noch weniger konnte ich die Umgebungen des Sternenhofes
unterscheiden, da ich nie im Winter in dieser Gegend gewesen war. Das
aber wusste ich mit Gewissheit, in welcher Richtung das Haus liegen
muesse, an dem im vergangenen Sommer so viele Rosen geblueht haben und
in welcher das Schloss, hinter dem die alten Linden standen und die
Quelle floss, an der die weibliche Gestalt aus weissem Marmor Wache
hielt. Die wohltuenden Faeden, die mich nach beiden Richtungen zogen,
wurden von dem staerkeren Bande aufgehoben, das mich zu den lieben,
teuren Meinigen fuehrte.
Als ich das flache Land erreicht hatte und an dem Orte eingetroffen
war, in welchem mich meine Kisten erwarten sollten, uebergab ich
dieselben, die ich unverletzt vorfand, meinem Fraechter zur Befoerderung
an den Strom und empfahl sie ihm, besonders die mit den Altertuemern,
auf das Angelegentlichste. Am anderen Tage reiste ich in einem Wagen
nach. Am Strome liess ich die Kisten sorgfaeltig in ein Schiff bringen
und fuhr am naechsten Morgen mit dem nehmlichen Schiffe meiner
Vaterstadt zu.
Ich langte gluecklich dort an, liess meine Habseligkeiten in unser Haus
schaffen, packte zuerst die Kiste mit den Altertuemern aus und war
beruhigt, als die Holzschnitzereien unversehrt daraus hervor gingen.
Die Freude meines Vaters war ausserordentlich, die Mutter freute sich
des Vaters willen, und die Schwester, deren glaenzende Augen bald auf
mich, bald auf den Vater schauten, zeigte, dass sie mit mir zufrieden
sei. Dieses liess mir manches vergessen, das beinahe wie eine Sorge in
meinem Herzen war. Ich befand mich wieder bei meinen Angehoerigen, die
mit allen Kraeften ihrer Seele an meinem Wohle Anteil nahmen, und dies
erfuellte mich mit Ruhe und einer suessen Empfindung, die mir in der
letzten Zeit beinahe fremd geworden war.
Ich sah am anderen Tage, als ich in das Speisezimmer ging, den Vater,
wie er vor den Verkleidungen stand und sie betrachtete. Bald neigte er
sich naeher zu ihnen, bald kniete er nieder und befuehlte manches mit
der Hand oder untersuchte es genauer mit den Augen.
Mir klopfte das Herz vor Freude, und die weissen Haare, welche unter
den dunkeln immer haeufiger auf seinem Haupte zum Vorschein kamen,
erschienen mir doppelt ehrwuerdig, und die leichte Falte der Sorge
auf seiner Stirne, die in der Arbeit fuer uns auf diesem Sitze seiner
Gedanken entstanden war, waehrend ich meiner Freude nachgehen und die
Welt und die Menschen geniessen konnte, und waehrend meine Schwester wie
eine prachtvolle Rose erbluehen durfte, erfuellte mich beinahe mit einer
Andacht. Die Mutter kam dazu, er zeigte ihr manches, er erklaerte ihr
die Stellungen der Gestalten, die Fuehrung und die Schwingung der
Stengel und der Blaetter und die Einteilung des Ganzen. Die Mutter
verstand diese Dinge durch die langjaehrige Uebung viel besser als ich,
und ich sah jetzt, dass ich dem Vater etwas weit Schoeneres gebracht
habe, als ich wusste. Ich nahm mir vor, im naechsten Fruehlinge viel
genauer nach den zu diesen Verkleidungen noch gehoerenden Teilen zu
forschen; ich hatte frueher nur im allgemeinen gefragt, jetzt wollte
ich aber auf das Sorgfaeltigste in der ganzen Gegend suchen. Nachdem
wir noch eine Weile ueber das Werk geredet hatten, fuehrte mich die
Mutter durch alle meine Zimmer und zeigte mir, was man waehrend meiner
Abwesenheit getan habe, um mir den Winteraufenthalt recht angenehm zu
machen. Die Schwester kam dazu, und da die Mutter fortgegangen war,
schlang sie beide Arme um meinen Hals, kuesste mich und sagte, dass ich
so gut sei und dass sie mich nach Vater und Mutter unter allen Dingen,
die auf der Welt sein koennen, am meisten und am ausserordentlichsten
liebe. Mir waeren bei dieser Rede bald die Traenen in die Augen
getreten.
Als ich spaeter in meinem Zimmer allein auf und ab ging, wollte mir
mein Herz immer sagen: "Jetzt ist alles gut, jetzt ist alles gut."
Ich kaufte mir am andern Tage eine spanische Sprachlehre, welche mir
ein Freund, der sich seit mehreren Jahren mit diesen Dingen abgegeben
hatte, anriet. Ich begann neben meinen anderen Arbeiten vorerst fuer
mich in diesem Buche zu lernen, mir vorbehaltend, spaeter, wenn ich es
fuer noetig halten sollte, auch einen Lehrer im Spanischen zu nehmen.
Auch fuhr ich nicht nur fort, in den Schauspielen Shakespeares zu
lesen, sondern ich wendete die Zeit, die mir von meinen Arbeiten uebrig
blieb, auch der Lesung anderer dichterischer Werke zu. Ich suchte die
Schriften der alten Griechen und Roemer wieder hervor, von denen ich
schon Bruchstuecke waehrend meiner Studienjahre als Pflichterfuellung
hatte lesen muessen. Damals waren mir die Gestaltungen dieser Voelker,
die ich mit ruhigen und kuehlen Kraeften hatte erfassen koennen, sehr
angenehm gewesen, deshalb nahm ich jetzt die Buecher dieser Art wieder
vor.
Meine Zither gereichte der Schwester zur Freude. Ich spielte ihr die
Dinge vor, die ich bereits auf diesen Saiten hervorzubringen im Stande
war, ich zeigte ihr die Anfangsgruende, und als fuer uns beide in dieser
Uebung auch ein Meister aus der Stadt in das Haus kam, lieh ich ihr die
Zither und versprach ihr, eine eben so schoene und gute oder eine noch
schoenere und bessere fuer sie aus dem Gebirge zu schicken, wenn sie zu
bekommen waere. Ich erzaehlte ihr, dass der Mann, der mir in dem Gebirge
Unterricht im Zitherspiele gebe, bei weitem schoener, wenn auch nicht
so gekuenstelt spiele als der Meister in der Stadt. Ich sagte, ich
wolle in dem Gebirge sehr fleissig lernen und ihr, wenn ich wieder
komme, Unterricht in dem erteilen, was ich unterdessen in mein
Eigentum verwandelt haette.
Unter diesen Beschaeftigungen und unter andern Dingen, welche schon
fruehere Winter eingeleitet hatten, ging die kaeltere Jahreszeit dahin.
Als die Fruehlingsluefte wehten und die Erde abzutrocknen begann, trat
ich meine Sommerwanderung wieder an. Ich waehlte doch abermals das
Ahornhaus zu meinem Aufenthalte, wenn ich auch wusste, dass ich oft weit
von ihm weggehen und lange von ihm wuerde entfernt bleiben muessen.
Es war nur schon zur Gewohnheit geworden, und es war mir lieb und
angenehm in ihm.
Das erste, was ich vernahm, war, dass ich Botschaft nach meinem
Zitherspieljaegersmanne aussandte. Da er ueberall zu finden ist,
kam er sehr bald, und wir verabredeten, wie wir unsere Uebungen
im Zitherspiele fortsetzen wuerden. Gleichzeitig begann ich die
Forschungen nach jenen Teilen der Wandverkleidungen, welche zu den
meinem Vater ueberbrachten Pfeilerverkleidungen als Ergaenzung gehoerten.
Ich forschte in dem Hause nach, in welchem Roland im vergangenen
Sommer gezeichnet hatte, ich forschte bei dem Holzknechte, von welchem
mir die Pfeilerverkleidungen waren verkauft worden, ich dehnte meine
Forschungen in alle Teile der umliegenden Gegend aus, gab besonders
Maennern Auftraege, welche oft in die abgelegensten Winkel von Haeusern
und anderen Gebaeuden kommen, wie zum Beispiele Zimmerleuten, Maurern,
dass sie mir sogleich Nachricht gaeben, wenn sie etwas aus Holz
Geschnitztes entdeckten, ich reiste selber an manche Stellen, um
nachzusehen: allein es fand sich nichts mehr vor. Als beinahe
nicht zu bezweifeln stellte sich heraus, dass die von mir gekauften
Verkleidungen einmal zu dem steinernen Hause der ausgestorbenen
Gebirgskaufherren gehoert haben, in welchem sie die Unterwand eines
ganzen Saales umgeben haben mochten. Bei einer einmal vorgenommenen
sogenannten Verschoenerung spaeterer, verschwenderisch gewordener
Nachkommen hat man sie wahrscheinlich weg getan und sie fremden Haenden
ueberlassen, die sie in abwechselnden Besitz brachten.
Die Pfeilerverkleidungen, welche gleichsam Nischen bildeten, in die
man Heiligenbilder tun konnte, sind uebrig geblieben, die anderen
geraden Teile sind verkommen oder sogar mutwillig zerschlagen oder
verbrannt worden.
Gleich in den ersten Tagen meines Aufenthaltes ging ich auch mit
meinem Jaegersmanne von dem Ahornhause ueber das Echergebirge in das
Echertal, wo der Meister wohnte, von dem der Jaeger die Zither fuer mich
gekauft hatte und von dem ich auch eine fuer meine Schwester kaufen
wollte. Dieser Mann verfertigte Zithern fuer das ganze umliegende
Gebirge und zur Versendung. Er hatte noch zwei mit der meinigen ganz
gleiche. Ich waehlte eine davon, da in der Arbeit und in dem Tone gar
keine Verschiedenheit wahrgenommen werden konnte. Der Meister sagte,
er habe lange keine so guten Zithern gemacht und werde lange keine
solchen mehr machen. Sie seien alle drei von gleichem Holze, er habe
es mit vieler Muehe gesucht und mit vielen Schwierigkeiten gefunden. Er
werde vielleicht auch nie mehr ein solches finden. Auch werde er kaum
mehr so kostbare Zithern machen, da seine entfernten Abnehmer nur
oberflaechliche Ware verlangten und auch die Gebirgsleute, die wohl die
Guete verstehen, doch nicht gerne teure Zithern kauften.
Von dem Zitherspiele, welches mein Jaeger mit mir uebte, schrieb ich mir
so viel auf, als ich konnte, um es der Schwester zum Einlernen und zum
Spielen zu bringen.
Gegen die Zeit der Rosenbluete ging ich in den Asperhof und fand die
zwei Zimmer schon fuer mich hergerichtet, welche ich im vorigen Sommer
bewohnt hatte.
Am ersten Tage erzaehlte mir schon der Gaertner Simon, der von seinem
Gewaechshause zu mir herueber gekommen war, dass der Cereus peruvianus in
dem Asperhofe sei. Der Herr habe ihn von dem Inghofe gekauft, und da
ich gewiss Ursache dieser Erwerbung sei, so muesse er mir seinen Dank
dafuer abstatten. Ich hatte allerdings mit meinem Gastfreunde ueber den
Cereus geredet, wie ich es dem Gaertner versprochen hatte; aber ich
wusste nicht, wie viel Anteil ich an dem Kaufe haette, und sagte daher,
dass ich den Dank nur mit Zurueckhaltung annehmen koenne. Ich musste dem
Gaertner in das Cactushaus folgen, um den Cereus anzusehen. Die Pflanze
war in freien Grund gestellt, man hatte fuer sie einen eigenen Aufbau,
gleichsam ein Tuermchen von doppeltem Glas, auf dem Cactushause
errichtet und hatte durch Stuetzen oder durch Lenkung der
Sonnenstrahlen auf gewisse Stellen des Gewaechses Anstalten getroffen,
dass der Cereus, der sich an der Decke des Gewaechshauses im Inghofe
hatte kruemmen muessen, wieder gerade wachsen koenne. Ich haette nicht
gedacht, dass diese Pflanze so gross sei und dass sie sich so schoen
darstellen wuerde.
Weil mein Vater an altertuemlichen Dingen eine so grosse Freude hatte,
weil ihn die Verkleidungen so sehr erfreut hatten, welche ich ihm im
vergangenen Herbste gebracht hatte, so tat ich an meinen Gastfreund,
da ich eine Weile in seinem Hause gewesen war, eine Bitte. Ich hatte
die Bitte schon laenger auf dem Herzen gehabt, tat sie aber erst jetzt,
da man gar so gut und freundlich mit mir in dem Rosenhause war. Ich
ersuchte nehmlich meinen Gastfreund, dass er erlaube, dass ich einige
seiner alten Geraete zeichnen und malen duerfe, um meinem Vater die
Abbilder zu bringen, die ihm eine deutlichere Vorstellung geben
wuerden, als es meine Beschreibungen zu tun im Stande waeren.
Er gab die Einwilligung sehr gerne und sagte: "Wenn ihr eurem Vater
ein Vergnuegen bereiten wollet, so zeichnet und malet, wie ihr wollt,
ich habe nicht nur nichts dagegen, sondern werde auch Sorge tragen,
dass in den Zimmern, die ihr benuetzen wollt, gleich alles zu eurer
Bequemlichkeit hergerichtet werde. Sollte euch Eustach an die Hand
gehen koennen, so wird er es gewiss sehr gerne tun."
Am folgenden Tage war in dem Zimmer, in welchem sich der grosse
Kleiderschrein befand. mit dem ich anfangen wollte, eine Staffelei
aufgestellt und neben ihr ein Zeichnungstisch, ob ich mich des einen
oder des andern bedienen wollte. Der Schrein war von seiner Stelle weg
in ein besseres Licht gerueckt, und alle Fenster bis auf eines waren
mit ihren Vorhaengen bedeckt, damit eine einheitliche Beleuchtung auf
den Gegenstand geleitet wurde, der gezeichnet werden sollte. Eustach
hatte alle seine Farbstoffe zu meiner Verfuegung gestellt, wenn etwa
die von mir mitgebrachten irgendwo eine Luecke haben sollten. Das
zeigte sich sogleich klar, dass die Zeichnungen jedenfalls mit Farben
gemacht werden muessten, weil sonst gar keine Vorstellung von den
Gegenstaenden haette erzeugt werden koennen, die aus verschiedenfarbigem
Holze zusammengestellt waren.
Ich ging sogleich an die Arbeit. Mein Gastfreund hatte auch fuer meine
Ruhe gesorgt. So oft ich zeichnete, durfte niemand in das Zimmer
kommen, in dem ich war, und so lange sich ueberhaupt meine
Geraetschaften in demselben befanden, durfte es zu keinem andern
Gebrauche verwendet werden. Um desto mehr glaubte ich meine Arbeit
beschleunigen zu muessen.
Es waren indessen Mathilde und Natalie in dem Asperhofe angekommen,
und sie lebten dort, wie sie im vorigen Jahre gelebt hatten.
Ich zeichnete fleissig fort. Niemand stellte das Verlangen, meine
Arbeit zu sehen. Eustach hatte ich gebeten, dass ich ihn zuweilen um
Rat fragen duerfe, was er bereitwillig zugestanden hatte. Ich fuehrte
ihn daher zu Zeiten in das Zimmer, und er gab mir mit vieler
Sachkenntnis an, was hie und da zu verbessern waere. Nur Gustav liess
Neugierde nach der Zeichnung blicken; nicht dass ihm geradezu eine
Aeusserung in dieser Hinsicht entfallen waere; aber da er sich so an mich
angeschlossen hatte und da sein Wesen sehr offen und klar war, so
erschien es nicht schwer, den Wunsch, den er hegte, zu erkennen. Ich
lud ihn daher ein, mich in dem Zimmer zu besuchen, wenn ich zeichnete,
und ich richtete es so ein, dass meine Zeichnungszeit in seine freien
Stunden fiel. Er kam fleissig, sah mir zu, fragte um allerlei und
geriet endlich darauf, auch ein solches Gemaelde versuchen zu wollen.
Da mein Gastfreund nichts dawider hatte, so ueberliess ich ihm meine
Farben zur Benuetzung, und er begann auf einem Tische neben mir sein
Geschaeft, indem er den nehmlichen Schrein abbildete wie ich. Im
Zeichnen war er sehr unterrichtet, Eustach war sein Lehrmeister;
dieser hatte aber bisher noch immer nicht zugegeben, dass sein Zoegling
den Gebrauch der Farben anfange, weil er von dem Grundsatze ausging,
dass zuvor eine sehr sichere und behende Zeichnung vorhanden sein
muesse. Die Spielerei aber mit dem Schreine - denn es war nichts weiter
als eine Spielerei - liess er als eine Ausnahme geschehen.
Ich wurde in Kurzem mit der ersten Arbeit fertig. Das Bild sah in den
genau und gewissenhaft nachgeahmten Farben fast noch lieblicher und
reizender aus als der Gegenstand selber, da alles ins Kleinere und
Feinere zusammengerueckt war.
Da ich die Zeichnung vollendet hatte, legte ich sie meinem Gastfreunde
und Mathilde vor. Sie billigten dieselbe und schlugen einige kleine
Aenderungen vor. Da ich die Notwendigkeit derselben einsah, nahm ich
sie sogleich vor. Hierauf wurde von ihnen so wie von Eustach die
Abbildung fuer fertig erklaert.
Nach dem Kleiderschreine nahm ich den Schreibtisch mit den Delphinen
vor.
Weil ich durch die erste Zeichnung schon einige Fertigkeit erlangt
hatte, so ging es bei der zweiten schneller, und alles geriet mit mehr
Leichtigkeit und Schwung. Ich war fertig geworden und legte auch diese
Abbildung Mathilden, meinem Gastfreunde und Eustach vor. Gustav hatte
in der Zeit auch seine Zeichnung des grossen Schreines vollendet und
brachte sie herbei. Er wurde ein wenig ausgelacht, und andererseits
wurden ihm auch Dinge angegeben, die er noch zu veraendern und hinein
zu machen haette. Auch bei mir wurden Verbesserungen vorgeschlagen. Als
wir beide mit unsern Ausfeilungen fertig waren, wurden in dem Zimmer,
in welchem wir gezeichnet hatten, die Geraete wieder an den Platz
gerueckt, und die Staffelei und unsere Malergeraetschaften wurden daraus
entfernt. Ich hatte mir in diesem Zimmer nur die zwei Gegenstaende
abzubilden vorgenommen.
Hierauf versuchte ich noch einige kleinere Gegenstaende.
Unterdessen waren manche Leute zum Besuche in das Rosenhaus gekommen,
wir selber hatten auch einige Nachbarn aufgesucht, hatten Spaziergaenge
gemacht, und an mehreren Abenden sassen wir im Garten oder vor den
Rosen oder unter dem grossen Kirschbaume und es wurde von verschiedenen
Dingen gesprochen.
Eustach sagte mir einmal, da ich von den Geraeten in dem Sternenhofe
redete und die Aeusserung machte, dass meinen Vater Abbildungen von ihnen
sehr freuen wuerden, es koenne keinen Schwierigkeiten unterliegen, dass
ich in dem Sternenhofe ebenso zeichnen duerfe wie in dem Asperhause.
Ich ging auf die Sache nicht ein, da ich nicht den Mut hatte, mit
Mathilde darueber zu sprechen. Am andern Tage zeigte mir Eustach die
Einwilligung an, und Mathilde lud mich auf das Freundlichste ein und
sagte, dass mir in ihrem Hause jede Bequemlichkeit zu Gebote stehen
wuerde. Ich dankte sehr freundlich fuer die Guete, und nach mehreren
Tagen fuhr ich mit den Pferden meines Gastfreundes in den Sternenhof,
waehrend Mathilde und Natalie noch in dem Rosenhause blieben.
Im Sternenhofe fand ich zu meiner Ueberraschung schon alles zu meinem
Empfange vorbereitet. Da Bilder in dem Schlosse waren, hatte man auch
mehrere Staffeleien, welche man mir zur Auswahl in das grosse Zimmer
gestellt hatte, in welchem die altertuemlichen Geraete standen. Auch ein
Zeichnungstisch mit allem Erforderlichen war in das Zimmer geschafft
worden. Ich waehlte unter den Staffeleien eine und liess die uebrigen
wieder an ihre gewoehnlichen Orte bringen. Den Zeichnungstisch behielt
ich zur Bequemlichkeit neben der Staffelei bei mir. Es war nun zum
Malen beinahe alles so eingerichtet wie im Asperhofe. Auch durfte ich
mir die Geraete, die ich zu zeichnen vorhatte, in das Licht ruecken
lassen wie ich wollte. Zum Wohnen und Schlafen hatte man mir das
nehmliche Zimmer hergerichtet, in welchem ich bei meinem ersten
Besuche gewesen war. Zum Speisen wurde mir der Saal, in dem ich
arbeitete, oder mein Wohnzimmer frei gestellt. Ich waehlte das Letzte.
Ich betrachtete mir vorerst die Geraete und waehlte diejenigen aus, die
ich abbilden wollte. Hierauf ging ich an die Arbeit. Ich malte sehr
fleissig, um die Unordnung, welche meine Arbeiten notwendig in dem
Hause machen mussten, so kurz als moeglich dauern zu lassen. Ich blieb
daher den ganzen Tag in dem Saale, nur des Abends, wenn es daemmerte,
oder Morgens, ehe die Sonne aufging, begab ich mich in das Freie oder
in den Garten, um einen Gang in der erquickenden Luft zu machen oder
gelegentlich auch, stille stehend oder auf einer Ruhebank sitzend, die
weite Gegend um mich herum zu betrachten. Oft, wenn ich die Pinsel
gereinigt und all das unter Tags gebrauchte Malergeraete geordnet und
an seinen Platz gelegt hatte, sass ich unter den alten hohen Linden
im Garten und dachte nach, bis das spaete Abendrot durch die Blaetter
derselben herein fiel und die Schatten auf dem Sandboden so tief
geworden waren, dass man die kleinen Gegenstaende, die auf diesem Boden
lagen, nicht mehr sehen konnte. Noch oefter aber war ich auf dem Platze
hinter der Epheuwand, von welchem aus das Schloss in die grossen Eichen
eingerahmt zu erblicken war und neben und hinter dem Schlosse sich die
Gegend und die Berge zeigten. Es war die Stille des Landes, wenn der
heitere Spaethimmel sich ueber das Schloss hinzog, wenn die Spitzen von
dessen Dachfaehnchen glaenzten, sich in Ruhe das Gruen herum lagerte und
das Blau der Berge immer sanfter wurde.
Zuweilen, in besonders heissen Tagen, ging ich auch in die Grotte, in
welcher die Marmornymphe war, freute mich der Kuehle, die da herrschte,
sah das gleiche Rinnen des Wassers und sah den gleichen Marmor, auf
dem nur zuweilen ein Lichtchen zuckte, wenn sich ein spaeter Strahl in
dem Wasser fing und auf die Gestalt geworfen wurde.
In dem Schlosse war es sehr einsam, die Diener waren in ihren
abgelegenen Zimmern, ganze Reihen von Fenstern waren durch
herabgelassene Vorhaenge bedeckt, und zu dem Hofbrunnen ging selten
eine Gestalt, um Wasser zu holen, daher er zwischen den grossen Ahornen
eintoenig fortrauschte. Diese Stille machte, dass ich desto mehr der
Bewohnerinnen dachte, die jetzt abwesend waren, dass ich meinte, ihre
Spuren entdecken zu koennen, und dass ich dachte, ihren Gestalten
irgendwo begegnen zu muessen. Besser war es, wenn ich in die Landschaft
hinausging. Dort lebten die Klaenge der Arbeit, dort sah ich heitere
Menschen, die sich beschaeftigten, und regsame Tiere, die ihnen halfen.
Es war eine Art von Verwalter in dem Schlosse, der den Auftrag haben
musste, fuer mich zu sorgen, wenigstens tat er alles, was er zu meiner
Bequemlichkeit fuer noetig erachtete. Er fragte oft nach meinen
Wuenschen, liess mehr Speisen und Getraenke auf meinen Tisch stellen als
noetig war, sorgte stets fuer frisches Wasser, Kerzen und andere Dinge,
liess eine Menge Buecher, die er aus der Buechersammlung des Schlosses
genommen haben mochte, in mein Zimmer bringen und meinte zuweilen, dass
es die Hoeflichkeit erfordere, dass er mehrere Minuten mit mir spreche.
Ich machte so wenig als moeglich Gebrauch von allen fuer mich in diesem
Schlosse eingeleiteten Anstalten und ging nicht einmal in die Meierei,
in welcher es sehr lebhaft war, um durch meine Gegenwart oder durch
mein Zuschauen nicht jemanden in seiner Arbeit zu beirren.
Als ich mit den ausgewaehlten Gegenstaenden fertig war, hoerte ich nicht
auf; denn aus ihnen entwickelten sich wieder andere Arbeiten, was
seinen Grund darin hatte, dass ein Gegenstand den andern verlangte,
was wieder daher ruehrte, dass die Geraete dieses Zimmers und der
Nebengemaecher ein Ganzes bildeten, welches man nicht zerstueckt denken
konnte. Was mir aber zu statten kam, war die grosse Uebung, die ich nach
und nach erlangte, so dass ich endlich in einem Tage mehr vor mich
brachte als sonst in dreien.
Eustach kam einmal herueber, mich zu besuchen. Ich sah darin ein
Zeichen, dass man mir Gelegenheit geben wollte, mich seines Rates zu
bedienen. Ich tat dieses auch, freute mich der Worte, die er sprach,
und folgte den Ansichten, die er entwickelte. Er erzaehlte mir auch,
dass Mathilde und Natalie noch lange in dem Asperhofe zu bleiben
gedaechten. Da, wie ich wusste, ihr Besuch in dem vorigen Sommer im
Rosenhause viel kuerzer gewesen war, so verfiel ich auf den Gedanken,
ob sie nicht etwa gerade darum heuer laenger in demselben verweilten,
um mir Musse zu meinen Arbeiten in dem Sternenhofe zu geben. Ob es nun
so sei oder nicht, wusste ich nicht, es konnte aber so sein, und darum
beschloss ich, mein Malen abzukuerzen. Endlich musste ich doch einmal
schliessen, da ich doch nicht alle Gegenstaende abbilden konnte. Ich
sagte Eustach die Zeit, in der ich fertig sein wuerde. Er blieb zwei
Tage in dem Schlosse, vermass Manches, untersuchte Einiges in manchen
Zimmern und kehrte dann wieder in das Rosenhaus zurueck.
Ehe ich ganz fertig war, kamen alle vom Asperhofe herueber und blieben
einige Tage. Auch Eustach kam wieder mit. Ich legte vor, was ich
gemacht hatte, und es geschah das Nehmliche, was in dem Rosenhause
geschehen war. Man billigte im Allgemeinen die Arbeit und stellte
hie und da etwas aus, was zu verbessern waere. Ich hatte schon zu der
Abbildung der Geraete im Asperhofe Oelfarben angewendet, weil ich in
Behandlung derselben nach und nach eine groessere Fertigkeit erlangt
hatte als in der der Wasserfarben und weil die Wirkung eine viel
groessere war. Die Geraete des Sternenhofes hatte ich nun auch mit
Oelfarben abgebildet, und diese Abbildungen waren viel gelungener als
die im Rosenhause. Ich erkannte die Vorschlaege, welche mir gemacht
worden waren, an und bemerkte mir sie zur Ausfuehrung.
Eustach ging von dem Sternenhofe wieder in das Rosenhaus zurueck; mein
Gastfreund, Mathilde, Natalie und Gustav machten eine kleine Reise.
Auch mein Bleiben war nicht mehr lange in dem Schlosse. Ich machte
noch fertig, was fertig zu machen war, ich verbesserte, was zu
verbessern vorgeschlagen worden war und was mir selber noch in der
Zeit als verbessrungswuerdig einfiel und wartete dann ab, bis alles gut
getrocknet waere, um es einpacken und fuer den Vater in Bereitschaft
halten zu koennen. Da dies geschehen war, dankte ich dem Verwalter sehr
verbindlich fuer alle seine Aufmerksamkeit, gab den Maedchen, die fuer
mich zu tun gehabt hatten, Geschenke, welche ich mir zu diesem Zwecke
schon frueher angeschafft hatte, und bestieg den Wagen, den mir der
Verwalter zu meiner Zurueckfahrt in das Rosenhaus zur Verfuegung
gestellt hatte.
Als ich in dem Rosenhause ankam, traf ich meinen Gastfreund und seine
Gesellschaft von der Reise schon zurueckgekehrt an. Ich blieb noch
mehrere Tage bei ihnen, nahm dann Abschied und begab mich in das
Ahornhaus zu meinen Arbeiten zurueck.
Ich suchte diese Arbeiten rasch zu betreiben; aber alles war jetzt
anders und nahm eine andere Faerbung in meinem Herzen an.
Als ich in dem Fruehling die Hauptstadt verlassen hatte und dem langsam
ueber einen Berg empor fahrenden Wagen folgte, war ich einmal bei einem
Haufen von Geschiebe stehen geblieben, das man aus einem Flussbette
genommen und an der Strasse aufgeschuettet hatte, und hatte das Ding
gleichsam mit Ehrfurcht betrachtet. Ich erkannte in den roten, weissen,
grauen, schwarzgelben und gesprenkelten Steinen, welche lauter
plattgerundete Gestalten hatten, die Boten von unserem Gebirge, ich
erkannte jeden aus seiner Felsenstadt, von der er sich losgetrennt
hatte und von der er ausgesendet worden war. Hier lag er unter
Kameraden, deren Geburtsstaette oft viele Meilen von der seinigen
entfernt ist, alle waren sie an Gestalt gleich geworden, und alle
harrten, dass sie zerschlagen und zu der Strasse verwendet wuerden.
Besonders kamen mir die Gedanken, wozu dann alles da sei, wie es
entstanden sei, wie es zusammenhaenge, und wie es zu unserem Herzen
spreche.
Einmal gelangte ich zu dem See hinunter und betrachtete an dem
sonnigen Nachmittage die Tatsache, dass die Schoenheit der absteigenden
Berge meistens gegen einen Seespiegel am groessten ist. Koemmt das aus
Zufall, haben die abstuerzenden, dem See zueilenden Waesser die Berge
so schoen gefurcht, gehoehlt, geschnitten, geklueftet, oder entspringt
unsere Empfindung von dem Gegensatze des Wassers und der Berge, wie
nehmlich das erste eine weiche, glatte, feine Flaeche bildet, die durch
die rauhen absteigenden Riffe, Rinnen und Streifen geschnitten wird,
waehrend unterhalb nichts zu sehen ist und so das Raetsel vermehrt wird?
Ich dachte bei dieser Gelegenheit: wenn das Wasser durchsichtiger
waere, zwar nicht so durchsichtig wie die Luft, doch beinahe so, dann
muesste man das ganze innere Becken sehen, nicht so klar wie in der
Luft, sondern in einem gruenlichen, feuchten Schleier. Das muesste sehr
schoen sein. Ich blieb in Folge dieses Gedankens laenger an dem See,
mietete mich in einem Gasthofe ein und machte mehrere Messungen der
Tiefe des Wassers an verschiedenen Stellen, deren Entfernung vom Ufer
ich mittelst einer Messschnur bezeichnete. Ich dachte, auf diese Weise
koennte man annaehernd die Gestalt des Seebeckens ergruenden, koennte
es zeichnen und koennte das innere Becken von dem aeusseren durch eine
sanftere, gruenlichere Farbe unterscheiden. Ich beschloss, bei einer
ferneren Gelegenheit die Messungen fortzusetzen.
Diese Bestrebungen brachten mich auf die Betrachtung der Seltsamkeiten
unserer Erdgestaltungen. In dem Seegrunde sah ich ein Tal, in
dessen Sohle, die sich bei andern Taelern mit dem vieltausendfachen
Pflanzenreichtume und den niedergestuerzten Gebirgsteilen fuellt und
so einen schoenen Wechsel von Pflanzen und Gestein darstellt, kein
Pflanzengrund sich entwickelt, sondern das Geroelle sich sachte mehrt,
der Boden sich hebt und die urspruenglichen Klueftungen ausfuellt.
Dazu kommen die Stuecke, die unmittelbar von den Waenden in den See
stuerzen, dazu kommen die Huegel, die ausser der gewoehnlichen Ordnung
von bedeutenden Hochwassern in den See geschoben und von dem
nachtraeglichen Wellenschlage wieder abgeflacht werden. In
Jahrtausenden und Jahrtausenden fuellt sich das Becken immer mehr, bis
einmal, moegen hundert oder noch mehr Jahrtausende vergangen sein,
kein See mehr ist, auf der ungeheuren Dicke der Geroellschichten der
menschliche Fuss wandelt, Pflanzen gruenen und selbst Baeume stehen. So
kannte ich manche Stellen, die einst Seegrund gewesen waren.
Der Fluss, der Vater des Sees, hatte sich in seinem Weiterlaufe tiefer
gewuehlt, er hatte den Seespiegel niederer gelegt, der Seegrund hatte
sich gehoben, bis nichts mehr war als ein Tal, an dem jetzt die Ufer
als gruene Waelle in langen Strecken stehen, mit kraeftigen Kraeutern,
bluehenden Bueschen und mancher lachenden Wohnung von Menschen prangen,
waehrend das, was einmal ein maechtiges Wasser gebildet hatte, jetzt
als ein schmales Baendlein in glaenzenden Schlangenlinien durch die
Landschaft geht.
Ich betrachtete vom See aus die Schichtungen der Felsen. Was bei
Kristallen der Blaetterdurchgang ist, das zeigt sich hier in grossen
Zuegen. An manchen Stellen ist die Neigung diese, an manchen ist sie
eine andere. Sind diese ungeheuren Blaetter einst gestuerzt worden,
sind sie erhoben worden, werden sie noch immer erhoben? Ich zeichnete
manche Lagerungen in ihren schoenen Verhaeltnissen und in ihren
Neigungen gegen die wagrechte Flaeche. Wenn ich so die Blaetter
durchging und die Gestaltungen ansah, war es mir wie eine unbekannte
Geschichte, die ich nicht entraetseln konnte und zu der es doch
Anhaltspunkte geben musste, um die Ahnungen in Nahrung zu setzen.
Wenn ich die Stuecke unbelebter Koerper, die ich fuer meine Schreine
sammelte, ansah, so fiel mir auf, dass hier diese Koerper liegen, dort
andere, dass ungeheure Mengen desselben Stoffes zu grossen Gebirgen
aufgetuermt sind und dass wieder in kleinen Abstaenden kleine Lagerungen
mit einander wechseln. Woher sind sie gekommen, wie haben sie sich
gehaeuft? Liegen sie nach einem Gesetze, und wie ist dieses geworden?
Oft sind Teile eines groesseren Koerpers in Menge oder einzeln an
Stellen, wo der Koerper selber nicht ist, wo sie nicht sein sollen,
wo sie Fremdlinge sind. Wie sind sie an den Platz gekommen? Wie ist
ueberhaupt an einer Stelle gerade dieser Stoff entstanden und nicht ein
anderer? Woher ist die Berggestalt im Grossen gekommen? Ist sie noch in
ihrer Reinheit da oder hat sie Veraenderungen erlitten, und erleidet
sie dieselben noch immer? Wie ist die Gestalt der Erde selber
geworden, wie hat sich ihr Antlitz gefurcht, sind die Luecken gross,
sind sie klein?
Wenn ich auf meinen Marmor kam - wie bewunderungswuerdig ist der
Marmor! Wo sind denn die Tiere hin, deren Spuren wir ahnungsvoll in
diesen Gebilden sehen? Seit welcher Zeit sind die Riesenschnecken
verschwunden, deren Andenken uns hier ueberliefert wird? Ein Andenken,
das in ferne Zeiten zurueck geht, die niemand gemessen hat, die
vielleicht niemand gesehen hat und die laenger gedauert haben als der
Ruhm irgend eines Sterblichen.
Eine Tatsache fiel mir auf. Ich fand tote Waelder, gleichsam
Gebeinhaeuser von Waeldern, nur dass die Gebeine hier nicht in eine Halle
gesammelt waren, sondern noch aufrecht auf ihrem Boden standen. Weisse,
abgeschaelte, tote Baeume in grosser Zahl, so dass vermutet werden musste,
dass an dieser Stelle ein Wald gestanden sei. Die Baeume waren Fichten
oder Laerchen oder Tannen. Jetzt konnte an der Stelle ein Baum gar
nicht mehr wachsen, es sind nur Kriechhoelzer um die abgestorbenen
Staemme, und auch diese selten. Meistens bedeckt Geroelle den Boden oder
groessere, mit gelbem Moose ueberdeckte Steine. Ist diese Tatsache eine
vereinzelte, nur durch vereinzelte Ortsursachen hervorgebracht? Haengt
sie mit der grossen Weltbildung zusammen? Sind die Berge gestiegen, und
haben sie ihren Waelderschmuck in hoehere, todbringende Luefte gehoben?
Oder hat sich der Boden geaendert, oder waren die Gletscherverhaeltnisse
andere? Das Eis aber reichte einst tiefer: wie ist das alles geworden?
Wird sich vieles, wird sich alles noch einmal ganz aendern? In welch
schneller Folge geht es? Wenn durch das Wirken des Himmels und seiner
Gewaesser das Gebirge bestaendig zerbroeckelt wird, wenn die Truemmer
herabfallen, wenn sie weiter zerklueftet werden und der Strom sie
endlich als Sand und Geschiebe in die Niederungen hinausfuehrt, wie
weit wird das kommen? Hat es schon lange gedauert? Unermessliche
Schichten von Geschieben in ebenen Laendern bejahen es. Wird es noch
lange dauern? So lange Luft, Licht, Waerme und Wasser dieselben
bleiben, so lange es Hoehen gibt, so lange wird es dauern. Werden
die Gebirge also einstens verschwunden sein? Werden nur flache,
unbedeutende Hoehen und Huegel die Ebenen unterbrechen, und werden
spaehst diese auseinander gewaschen werden? Wird dann die Waerme in den
feuchten Niederungen oder in tiefen, heissen Schluchten verschwinden,
so wie die kalte Luft in Hoehen auf die Erde ohne Einfluss sein wird,
so dass alle Glieder in unsern Laendern von demselben lauen Stoffe
umflossen sind und sich die Verhaeltnisse aller Gewaechse aendern? Oder
dauert die Taetigkeit, durch welche die Berge gehoben wurden, noch
heute fort, dass sie durch innere Kraft an Hoehe ersetzen oder
uebertreffen, was sie von Aussen her verlieren? Hoert die Hebungskraft
einmal auf? Ist nach Jahrmillionen die Erde weiter abgekuehlt, ist ihre
Rinde dicker, so dass der heisse Fluss in ihrem Innern seine Kristalle
nicht mehr durch sie empor zu treiben vermag? Oder legt er langsam und
unmerklich stets die Raender dieser Rinde auseinander, wenn er durch
sie seine Geschiebe hinan hebt? Wenn die Erde Waerme ausstrahlt
und immer mehr erkaltet, wird sie nicht kleiner? Sind dann die
Umdrehungsgeschwindigkeiten ihrer Kreise nicht geringer? Aendert das
nicht die Passate? Werden Winde, Wolken, Regen nicht anders? Wie viele
Millionen Jahre muessen verfliessen, bis ein menschliches Werkzeug die
Aenderung messen kann?
Solche Fragen stimmten mich ernst und feierlich, und es war, als waere
in mein Wesen ein inhaltreicheres Leben gekommen. Wenn ich gleich
weniger sammelte und zusammentrug als frueher, so war es doch,
als wuerde ich in meinem Innern bei weitem mehr gefoerdert als in
vergangenen Zeiten.
Wenn eine Geschichte des Nachdenkens und Forschens wert ist, so ist
es die Geschichte der Erde, die ahnungsreichste, die reizendste,
die es gibt, eine Geschichte, in welcher die der Menschen nur ein
Einschiebsel ist und wer weiss es, welch ein kleines, da sie von
anderen Geschichten vielleicht hoeherer Wesen abgeloeset werden kann.
Die Quellen zu der Geschichte der Erde bewahrt sie selber wie in einem
Schriftengewoelbe in ihrem Inneren auf, Quellen, die vielleicht in
Millionen Urkunden niedergelegt sind und bei denen es nur darauf
ankoemmt, dass wir sie lesen lernen und sie durch Eifer und Rechthaberei
nicht verfaelschen. Wer wird diese Geschichte einmal klar vor Augen
haben? Wird eine solche Zeit kommen oder wird sie nur der immer ganz
wissen, der sie von Ewigkeit her gewusst hat?
Von solchen Fragen fluechtete ich zu den Dichtern. Wenn ich von langen
Wanderungen in das Ahornhaus zurueck kam oder wenn ich ferne von dem
Ahornhause in irgend einem Stuebchen eines Alpengebaeudes wohnte, so
las ich in den Werken eines Mannes, der nicht Fragen loeste, sondern
Gedanken und Gefuehle gab, die wie eine Loesung in holder Umhuellung
waren und wie ein Glueck aussahen. Ich hatte mannigfaltige solcher
Maenner. Unter den Buechern waren auch solche, in denen Schwulst
enthalten war. Sie gaben die Natur in und ausser dem Menschen nicht so
wie sie ist, sondern sie suchten sie schoener zu machen und suchten
besondere Wirkungen hervorzubringen. Ich wendete mich von ihnen ab.
Wem das nicht heilig ist was ist, wie wird der Besseres erschaffen
koennen als was Gott erschaffen hat? In der Naturwissenschaft war ich
gewohnt geworden, auf die Merkmale der Dinge zu achten, diese Merkmale
zu lieben und die Wesenheit der Dinge zu verehren. Bei den Dichtern
des Schwulstes fand ich gar keine Merkmale, und es erschien mir
endlich laecherlich, wenn einer schaffen wollte, der nichts gelernt
hat.
Die Maenner gefielen mir, welche die Dinge und die Begebenheiten mit
klaren Augen angeschaut hatten und sie in einem sicheren Masse in dem
Rahmen ihrer eigenen inneren Groesse vorfuehrten. Andere gaben Gefuehle in
schoener Sittenkraft, die tief auf mich wirkten. Es ist unglaublich,
welche Gewalt Worte ueben koennen; ich liebte die Worte und liebte
die Maenner und sehnte mich oft nach einer unbestimmten, unbekannten
gluecklichen Zukunft hinaus.
Die Alten, die ich einst zu verstehen geglaubt hatte, kamen mir doch
jetzt anders vor als frueher. Es schien mir, als waeren sie natuerlicher,
wahrer, einfacher und groesser als die Maenner der neuen Zeit und als
lasse sie der Ernst ihres Wesens und die Achtung vor sich selbst nicht
zu den Ueberschreitungen gelangen, welche spaetere Zeiten fuer schoen
hielten. Ich trug Homeros, Aeschylos, Sophokles, Thukydides fast
auf allen Wanderungen mit mir. Um sie zu verstehen, nahm ich alle
griechischen Sprachwerke, die mir empfohlen waren, vor und lernte
in ihnen. Am foerderlichsten im Verstehen war aber das Lesen selber.
Bei den Alten nahm ich Geschichtschreiber gerne unter Dichter, sie
schienen mir dort einander naeher zu stehen als bei den Neuen.
Da geriet auch ich auf das Malen. Die Gebirge standen im Reize und im
Ganzen vor mir, wie ich sie frueher nie gesehen hatte. Sie waren meinen
Forschungen stets Teile gewesen. Sie waren jetzt Bilder, so wie frueher
bloss Gegenstaende. In die Bilder konnte man sich versenken, weil sie
eine Tiefe hatten, die Gegenstaende lagen stets ausgebreitet zur
Betrachtung da. So wie ich frueher Gegenstaende der Natur fuer
wissenschaftliche Zwecke gezeichnet hatte, wie ich bei diesen
Zeichnungen zur Anwendung von Farben gekommen war, wie ich ja vor
Kurzem erst Geraete gezeichnet und gemalt hatte: so versuchte ich jetzt
auch, den ganzen Blick, in dem ein Hintereinanderstehendes, im Dufte
Schwebendes, vom Himmel sich Abhebendes enthalten war, auf Papier oder
Leinwand zu zeichnen und mit Oelfarben zu malen. Das sah ich sogleich,
dass es weit schwerer war als meine frueheren Bestrebungen, weil es
sich hier darum handelte, ein Raeumliches, das sich nicht in gegebenen
Abmessungen und mit seinen Naturfarben, sondern gleichsam als die
Seele eines Ganzen darstellte, zu erfassen, waehrend ich frueher nur
einen Gegenstand mit bekannten Linienverhaeltnissen und seiner ihm
eigentuemlichen Farbe in die Mappe zu uebertragen hatte. Die ersten
Versuche misslangen gaenzlich. Dieses schreckte mich aber nicht ab,
sondern eiferte mich vielmehr noch immer staerker an. Ich versuchte
wieder und immer wieder. Endlich vertilgte ich die Versuche
nicht mehr, wie ich frueher getan hatte, sondern bewahrte sie zur
Vergleichung auf. Diese Vergleichung zeigte mir nach und nach, dass
sich die Versuche besserten und die Zeichnung leichter und natuerlicher
wurde. Es war ein gewaltiger Reiz fuer das Herz, das Unnennbare, was
in den Dingen vor mir lag, zu ergreifen, und je mehr ich nach dem
Ergreifen strebte, desto schoener wurde auch dieses Unnennbare vor mir
selbst.
Ich blieb so lange in dem Gebirge, als es nur moeglich wurde und als
die zunehmende Kaelte einen Aufenthalt im Freien nicht ganz und gar
verbot.
Im spaetesten Herbste ging ich noch einmal zu meinem Gastfreunde in
das Rosenhaus. Es war zur Zeit, da in dem Gebirge schon mannigfaltige
Schneelasten auf den Hoehen lagen und das flache Land sich schon jedes
Schmuckes entaeussert hatte. Der Garten meines Freundes war kahl,
die Bienenhuette war in Stroh eingehuellt, in den laublosen Zweigen
schrillte mir noch manche vereinzelte Kohlmeise oder ein Wintervogel,
und ueber ihnen zogen in dem grauen Himmel die grauen Dreiecke der
Gaense nach dem Sueden. Wir sassen in den langen Abenden bei dem Feuer
des Kamins, arbeiteten unter Tags an der Einhuellung und Einwinterung
der Gegenstaende, die es bedurften, oder machten an manchem Nachmittage
einen Spaziergang, wenn der regsame Nebel die Huegel und die Taeler und
die Ebenen umwandelte.
Ich zeigte meinem Gastfreunde meine Versuche im landschaftlichen
Malen, weil ich es gewissermassen fuer eine Falschheit gehalten haette,
ihm nichts von der Veraenderung zu sagen, die in mir vorgegangen war.
Ich scheute mich sehr, die Versuche vorzulegen, ich tat es aber doch,
und zwar zu einer Zeit, da auch Eustach zugegen war. Als Einleitung
erklaerte ich, wie ich nach und nach dazu gekommen waere, diese Dinge zu
machen.
"Es geht allen so, welche die Gebirge oefter besuchen und welche
Einbildungskraft und einiges Geschick in den Haenden haben", sagte mein
Gastfreund, "ihr braucht euch deshalb nicht beinahe zu entschuldigen,
es war zu erwarten, dass ihr nicht bloss bei eurem Sammeln von Steinen
und Versteinerungen bleiben werdet, es ist so in der Natur, und es ist
so gut."
Die Entwuerfe wurden mit viel mehr Ernst und Genauigkeit durchgenommen,
als sie verdienten. Da sowohl mein Gastfreund als auch Eustach
jedes Blatt oefter betrachtet hatten, sprachen sie mit mir
darueber. Ihr Urteil ging einstimmig darauf hinaus, dass mir das
Naturwissenschaftliche viel besser gelungen sei als das Kuenstlerische.
Die Steine, die sich in den Vordergruenden befaenden, die Pflanzen, die
um sie herum wuchsen, ein Stueck alten Holzes, das da laege, Teile von
Geroelle, die gegen vorwaerts saessen, selbst die Gewaesser, die sich
unmittelbar unter dem Blicke befaenden, haette ich mit Treue und mit den
ihnen eigentuemlichen Merkmalen ausgedrueckt. Die Fernen, die grossen
Flaechen der Schatten und der Lichter an ganzen Bergkoerpern und das
Zurueckgehen und Hinausweichen des Himmelsgewoelbes seien mir nicht
gelungen. Man zeigte mir, dass ich nicht nur in den Farben viel zu
bestimmt gewesen waere, dass ich gemalt haette, was nur mein Bewusstsein
an entfernten Stellen gesagt, nicht mein Auge, sondern dass ich auch
die Hintergruende zu gross gezeichnet haette, sie waeren meinen Augen
gross erschienen, und das haette ich durch das Hinaufruecken der Linien
angeben wollen. Aber durch Beides, durch Deutlichkeit der Malerei
und durch die Vergroesserung der Fernen haette ich die letzteren naeher
gerueckt und ihnen das Grossartige benommen, das sie in der Wirklichkeit
besaessen. Eustach riet mir, eine Glastafel mit Canadabalsam zu
ueberziehen, wodurch sie etwas rauher wuerde, so dass Farben auf ihr
haften, ohne dass sie die Durchsichtigkeit verloere und durch diese
Tafel Fernen mit den an sie grenzenden naeheren Gegenstaenden mittelst
eines Pinsels zu zeichnen, und ich wuerde sehen, wie klein sich die
groessten und ausgedehntesten entfernten Berge darstellen und wie gross
das zunaechstliegende Kleine wuerde. Dieses Verfahren aber empfehle
er nur, damit man zur Ueberzeugung der Verhaeltnisse komme und einen
Massstab gewinne, nicht aber, dass man dadurch kuenstlerische Aufnahmen
von Landschaften mache, weil durch einen solchen Vorgang die
kuenstlerische Freiheit und Leichtigkeit verloren wuerde, welche in
Bezug auf Darstellung das Wesen und das Herz der Kunst sei. Das Auge
soll nur geuebt und unterrichtet werden, die Seele muesse schaffen, das
Auge soll ihr dienen. In Hinsicht der Farbgebung der Fernen riet er
mir, dort, wo ich einen Zweifel haette, ob ich etwas saehe oder nur
wisse, es lieber nicht anzugeben und ueberhaupt in der Farbe lieber
unbestimmter als bestimmter zu sein, weil dadurch die Gegenstaende an
Grossartigkeit gewinnen. Sie worden durch die Unbestimmtheit ferner
und durch dieses allein groesser. Durch Linien des Zeichnenstiftes auf
dem kleinen Papiere oder der kleinen Leinwand koenne man nichts gross
machen. Durch Verdeutlichung werden die Koerper naeher gerueckt und
verkleinert. Wenn ueberhaupt ein Fehler gegen die Genauigkeit gemacht
werden muesse - und kein Mensch koenne Dinge, namentlich Landschaften,
in ihrer voelligen Wesenheit geben -, so sei es besser, die Gegenstaende
grossartiger und uebersichtlicher zu geben als in zu viele einzelne
Merkmale zerstreut. Das erste sei das Kuenstlerischere und Wirksamere.
Ich sah sehr gut ein, was sie sagten, und wusste auch, woher die Fehler
kaemen, von denen sie redeten. Ich hatte bisher alle Gegenstaende in
Hinblick auf meine Wissenschaft gezeichnet, und in dieser waren
Merkmale die Hauptsache. Diese mussten in der Zeichnung ausgedrueckt
sein und gerade die am schaerfsten, durch welche sich die Gegenstaende
von verwandten unterschieden. Selbst bei meinem Zeichnen von
Angesichtern hatte ich deren Linien, ihr Koerperliches, ihre Licht- und
Schattenverteilung unmittelbar vor mir.
Daher war mein Auge geuebt, selbst bei fernen Gegenstaenden das, was sie
wirklich an sich hatten, zu sehen, wenn es auch noch so undeutlich
war, und dafuer auf das, was ihnen durch Luft, Licht und Duenste
gegeben wurde, weniger zu achten, ja diese Dinge als Hindernisse der
Beobachtung eher weg zu denken als zum Gegenstande der Aufmerksamkeit
zu machen. Durch das Urteil meiner Freunde wurde mir der Verstand
ploetzlich geoeffnet, dass ich das, was mir bisher immer als wesenlos
erschienen war, betrachten und kennen lernen muesse. Durch Luft,
Licht, Duenste, Wolken, durch nahe stehende andere Koerper gewinnen die
Gegenstaende ein anderes Aussehen, dieses muesse ich ergruenden, und die
veranlassenden Dinge muesse ich, wenn es mir moeglich waere, so sehr zum
Gegenstande meiner Wissenschaft machen, wie ich frueher die unmittelbar
in die Augen springenden Merkmale gemacht hatte. Auf diese Weise
duerfte es zu erreichen sein, dass die Darstellung von Koerpern gelaenge,
die in einem Mittel und in einer Umgebung von anderen Koerpern
schwimmen. Ich sagte das meinen Freunden, und sie billigten meinen
Entschluss. Wenn der Nebel oder ueberhaupt die truebe Jahreszeit einen
Blick in die Ferne gestattete, wurde das, was mit Worten gesagt wurde,
auch an wirklichen Beispielen eroertert, und wir sprachen ueber die Art
und Weise, wie sich die entfernten Gebirge oder Teile von ihnen oder
naeher gehende von der Hauptkette sich abloesende Gruende darstellten.
Es ist unglaublich, wie sehr ich in jenem kurzen Herbstaufenthalte
unterrichtet wurde.
Ich sprach mit meinem Gastfreunde auch von den Dichtern, welche ich
las, und erzaehlte ihm von dem grossen Eindrucke, welchen ihre Worte auf
mich machten. Wir gingen bei Gelegenheit einmal in sein Buecherzimmer,
er fuehrte mich vor die Schreine, in welchen die Dichter standen, und
zeigte mir, was er in dieser Hinsicht besass. Er sagte auch, ich moechte
waehrend des Aufenthaltes in seinem Hause von den Buechern Gebrauch
machen, wie ich wollte; ich koennte sie im Lesezimmer benuetzen oder
auch in meine Wohnung mit hinuebernehmen. Es waren Werke in den
aeltesten Sprachen da, von Indien bis nach Griechenland und Italien,
es waren Werke der neueren Zeiten da und auch der neuesten. Am
zahlreichsten waren natuerlich die der Deutschen.
"Ich habe diese Buecher gesammelt", sagte er, "nicht als ob ich sie
alle verstaende; denn von manchen ist mir die Sprache vollkommen fremd;
aber ich habe im Verlaufe meines Lebens gelernt, dass die Dichter, wenn
sie es im rechten Sinne sind, zu den groessten Wohltaetern der Menschheit
zu rechnen sind. Sie sind die Priester des Schoenen und vermitteln
als solche bei dem steten Wechsel der Ansichten ueber Welt, ueber
Menschenbestimmung, ueber Menschenschicksal und selbst ueber goettliche
Dinge das ewig Dauernde in uns und das allzeit Beglueckende. Sie geben
es uns im Gewande des Reizes, der nicht altert, der sich einfach
hinstellt und nicht richten und verurteilen will. Und wenn auch alle
Kuenste dieses Goettliche in der holden Gestalt bringen, so sind sie
an einen Stoff gebunden, der diese Gestalt vermitteln muss: die Musik
an den Ton und Klang, die Malerei an die Linien und die Farbe, die
Bildnerkunst an den Stein, das Metall und dergleichen, die Baukunst an
die grossen Massen irdischer Bestandteile, sie muessen mehr oder minder
mit diesem Stoffe ringen; nur die Dichtkunst hat beinahe gar keinen
Stoff mehr, ihr Stoff ist der Gedanke in seiner weitesten Bedeutung,
das Wort ist nicht der Stoff, es ist nur der Traeger des Gedankens, wie
etwa die Luft den Klang an unser Ohr fuehrt. Die Dichtkunst ist daher
die reinste und hoechste unter den Kuensten. Da ich nun meine, dass
es so ist, wie ich sage, so habe ich die Maenner, welche die Stimme
der Zeiten als grosse in der Kunst des Dichtens bezeichnete, hier
zusammengestellt. Ich habe Dichter in fremden Sprachen, die ich nicht
verstand, dazu getan, wenn ich nur wusste, dass sie in der Geschichte
ihres Volkes vorzueglich genannt werden, und wenn ich von einem
Fachmanne das Zeugnis hatte, dass ich in dem Buche den Dichter besitze,
den ich meine. Sie moegen unverstanden hier stehen oder es man wohl
einer oder der andere in diesen Saal kommen, der manchen versteht
und liest. Ich habe wohl auch solche Buecher hieher gestellt, die
mir gefallen, das Urteil der Zeit mag anders lauten oder erst
festzustellen sein. In diesen Buechern habe ich viel Glueck gefunden und
in dem Alter fast noch mehr als in der Jugend. Wenn auch die Jugend
die Worte aus einem goldenen Munde mit einem Sturme und mit Entzuecken
aufnimmt, wenn sie auch dieselben mit einer Art Schwaermerei und mit
Sehnsucht in dem Busen traegt, so ist es doch fast stets mehr die
Waerme des eigenen Gefuehles, die sie empfindet, als dass sie die fremde
Weisheit und Groesse in ein besonnenes, betrachtendes, abwaegendes Herz
aufnehmen koennte. Ihr seid selber jung, und die Tiefe und Innigkeit
der Dichtung mag euch foerdern und euer Herz jedem kuenftigen Grossen
oeffnen, wie die reine Dichtkunst das immer an der Jugend tut; aber
ihr werdet selber einmal sehen, um wie viel milder und klarer die
vergluehende Sonne des Alters in die Groesse eines fremden Geistes
leuchtet als die feurige Morgensonne der Jugend, die alles mit ihrem
Glanze faerbt, so wie es eine Tatsache ist, dass die innige, wahre und
treue Liebe der alternden Gattin fester und dauernder beglueckt als
die lodernde Leidenschaft der jungen, schoenen, schimmernden Braut.
Die Jugend sieht in der Dichtung die eigene Unbegrenztheit und
Unendlichkeit der Zukunft, diese verhuellt die Maengel und ersetzt das
Abgaengige. Sie dichtet in das Kunstwerk, was im eignen Herzen lebt.
Daher koemmt die Erscheinung, dass Werke von bedeutend verschiedener
Geltung die Jugend auf gleiche Art entzuecken koennen, und dass
Erzeugnisse hoechster Groesse, wenn sie keine Wiederspieglung der
Jugendbluete sind, nicht erfasst werden koennen. In dem Alter werden
selbst solche Glanzstellen der Jugend, die schon sehr ferne liegen,
wie etwa die Sehnsucht der ersten Liebe mit ihrer Dunkelheit und
Grenzenlosigkeit, oder wie die holde und berauschende Seligkeit der
Gegenliebe, oder die Traeume kuenftiger Taten und kuenftiger Groesse, der
Blick in ein unendliches, erst kommendes Leben, oder wie das erste
Stammeln in irgend einer Kunst, von dem Greise in dem sanften Spiegel
seiner Erinnerung beglueckender aufgefasst als von dem Juenglinge, der
sie in dem Brausen seines Lebens ueberhoert, und an der grauen Wimper
mag manche beseligendere und mitunter schmerzlichere Traene haengen als
der feurige Funke, der in ueberwaeltigender Empfindung aus dem Auge des
Juenglings springt und keine Spur hinterlaesst. Ich lese jetzt selten
mehr die groessten Geister im Zusammenhange - mit kleineren tue ich es
wohl, weil sie in einzelnen Stellen minder bedeutend sind -, aber
ich lese immer in ihnen und werde wohl bis zu meinem Lebensende in
ihnen lesen. Sie begleiten mich mit ihren Gedanken wie mit grossen
Erquickungen durch den Rest meines Lebens und werden mir wohl, wie ich
ahne, an der dunkeln Pforte Kraenze aufhaengen, als waeren sie von meinen
eigenen Rosen geflochten. Deshalb gebe ich auch kein Buch aus dem
Hause, weil ich nicht weiss, ob ich es nicht in naechster Zeit selber
brauchen werde. Im Hause stehen sie jedem, der davon Gebrauch machen
will, zu Gebote. Nur fuer Gustav wird eine Auswahl getroffen, weil er
noch zu jung ist und nicht alles sondern kann. Er wuerde hier zwar
nichts gaenzlich Schlechtes finden; aber nicht alles Gute wuerde er
verstehen, und dann waere die daran gewendete Zeit verloren; oder er
koennte es missverstehen, und dann waere der Erfolg ein unrichtiger. Das
Schlechte, das sich Dichtkunst nennt, ist der Jugend sehr gefaehrlich.
In der Wissenschaft zeigt es sich viel leichter auf. In der Mathematik
liegt es in der Darstellung, da solche Werke wohl kaum vorkommen
duerften, in denen sogar der Stoff fehlerhaft waere, in der
Naturwissenschaft liegt es in der Darstellung wie im Stoffe, in welch
letzterem es sich in der Gestalt gewagter Behauptungen ausspricht; nur
in der sogenannten Weisheitslehre kann es verborgener sein gleichwie
in der Dichtkunst, weil manche Weisheitslehre wie Dichtkunst zusammen
gestellt ist und wirkt: aber in den Werken der eigentlichen Dichtkunst
versteckt es sieh vor dem bluehenden Gemuete des Juenglings, dieser
breitet seine Blueten und seine Begierden darueber und saugt das Gift in
sich. Ein klarer Verstand, der sich von Kindheit an eben zur Klarheit
hingeuebt hat, und ein gutes, reines Herz sind Schutzwehren vor
Schlechtigkeit und Sittenlosigkeit von Dichtungen, weil der klare
Verstand den hohlen Schwulst von sich abweist und das reine Herz
die Unsittlichkeit ablehnt. Aber Beides geschieht nur gegen die
Entschiedenheit des Schlechten. Wo es in Reize verhuellt ist und mit
Reinem gemischt, dort ist es am bedenklichsten, und da muessen Ratgeber
und vaeterliche Freunde zu Hilfe stehen, dass sie teils aufklaeren,
teils von vornherein die Annaeherung des Uebels aufhalten. Gegen die
Schlechtigkeit in der Darstellung oder gegen die lange Weile braucht
man kein Mittel als sie selber. Ihr seid zwar noch jung; aber ihr
seid nicht so jung zu dem Lesen von Dichtern gekommen wie die meisten
unserer Juenglinge, und ihr habt so viel in Wissenschaften gelernt, dass
ich glaube, dass man euch alle Dichter in die Haende geben kann, ohne
Gefahr zu befuerchten, selbst bei solchen, die in ihrem Amte sehr
zweifelhaft sind. Euer Geist wird sich wohl heraus finden und gerade
dadurch noch mehr klaeren. Da ich von der Weisheitslehre sprach, welche
man in unserem deutschen Lande noch immer als Weisheitsliebe mit dem
griechischen Worte Philosophie bezeichnet, muss ich euch sagen, was ihr
wohl vielleicht schon aus anderen Reden von mir gemerkt haben moegt,
dass ich nicht gar sehr viel auf sie halte, wenn sie in ihrem eigenen
und eigentuemlichen Gewande auftritt. Ich habe alte und neue Werke
derselben mit gutem Willen durchgenommen; aber ich habe mich zu viel
mit der Natur abgegeben, als dass ich auf ledigliche Abhandlungen ohne
gegebener Grundlage viel Gewicht legen koennte, ja sie sind mir sogar
widerwaertig. Vielleicht reden wir noch ein anderes Mal von dem
Gegenstande. Wenn ich je einige Weisheit gelernt habe, so habe ich sie
nicht aus den eigentlichsten Weisheitsbuechern, am wenigsten aus den
neuen - jetzt lese ich gar keine mehr - gelernt, sondern ich habe sie
aus Dichtern genommen oder aus der Geschichte, die mir am Ende wie die
gegenstaendlichste Dichtung vorkoemmt."
Als ich meinen Gastfreund so reden hoerte, erinnerte ich mich, dass ich
ihn in der Tat viel lesen gesehen habe. Oft war er mit einem Buche
unter einem schattigen Baume gesessen oder in rauherer Jahreszeit auf
einer sonnigen Bank, oft hatte er sich mit einem auf einen Spaziergang
begeben, er ist sehr haeufig in dem Lesezimmer gewesen, und er trug
Buecher in seine Arbeitsstube. Als wir die letzte Fahrt in den
Sternenhof gemacht hatten, hatte er Buecher mitgenommen, und ich glaube
von Gustav gehoert zu haben, dass er auf jede Reise Buecher einpacke.
Ich ging bei meinem jetzigen Aufenthalte in dem Rosenhause sehr oft in
das Buecherzimmer, und wie ich frueher vor den Schraenken gestanden war,
die die Werke der Naturwissenschaften enthielten, und wie ich damals
manches Buch in das Lesezimmer mitgenommen hatte, so stand ich jetzt
vor den Schreinen mit den Dichtern, sah viele einzelne der vorhandenen
Buecher an, trug manches in das Lesezimmer oder mit Bewilligung meines
Gastfreundes in meine Stube und schrieb mir die Aufschrift von manchem
in mein Gedenkbuch, um es mir, wenn ich nach Hause gekommen waere, zu
kaufen.
Gegen das Ende meines Aufenthaltes, da noch einige sonnige Tage kamen,
zeichnete und malte ich auch mehrere Stuecke der schoenen getaefelten
Fussboeden, die in diesem Hause anzutreffen waren. Ich tat dies, um
dem Vater von allen Dingen, welche ich gesehen hatte, einiger Massen
Abbildungen bringen zu koennen.
Als es schon bald zu meiner Abreise kam, sagte mein Gastfreund, er
haette noch etwas mit mir zu reden, und er sprach: "Weil euch euere
Natur selber zum Teile aus dem Kreise herausgezogen hat, den ihr um
euch gesteckt habt, weil ihr zu euren frueheren Bestrebungen noch
den Einblick in die Dichtungen gesellt habt, so wie ja schon das
Landschaftsmalen als ein Uebergang in das Kunstfach ein Schritt aus
eurem Kreise war, so erlaubet mir, dass ich als Freund, der euch wohl
will, ein Wort zu euch rede. Ihr solltet zu eurem Wesen eine breitere
Grundlage legen. Wenn die Kraefte des allgemeinen Lebens zugleich in
allen oder vielen Richtungen taetig sind, so wird der Mensch, eben weil
alle Kraefte wirksam sind, weit eher befriedigt und erfuellt, als wenn
eine Kraft nach einer einzigen Richtung hinzielt. Das Wesen wird
dann im Ganzen leichter gerundet und gefestet. Das Streben in
einer Richtung legt dem Geiste eine Binde an, verhindert ihn, das
Nebenliegende zu sehen und fuehrt ihn in das Abenteuerliche. Spaeter,
wenn der Grund gelegt ist, muss der Mann sich wieder dem Einzigen
zuwenden, wenn er irgendwie etwas Bedeutendes leisten soll. Er wird
dann nicht mehr in das Einseitige verfallen. In der Jugend muss man
sich allseitig ueben, um als Mann gerade dann fuer das Einzelne tauglich
zu sein. Ich sage nicht, dass man sich in das Tiefste des Lebens
in allen Richtungen versenken muesse, wie zum Beispiele in allen
Wissenschaften, wie ihr ja selber einmal angefangen habt, das waere
ueberwaeltigend oder toetend, ohne dabei moeglich zu sein; sondern dass
man das Leben, wie es uns ueberall umgibt, aufsuche, dass man seine
Erscheinungen auf sich wirken lasse, damit sie Spuren einpraegen,
unmerklich und unbewusst, ohne dass man diese Erscheinungen der
Wissenschaft unterwerfe. Darin, meine ich, besteht das natuerliche
Wissen des Geistes, zum Unterschiede von der absichtlichen Pflege
desselben. Er wird nach und nach gerecht fuer die Vorkommnisse des
Lebens. Ihr habt, scheint es mir, zu jung einen einzelnen Zug erfasst,
unterbrecht ihn ein wenig, ihr werdet ihn dann freier und grossartiger
wieder aufnehmen. Schaut auch die unbedeutenden, ja nichtigen
Erscheinungen des Lebens an. Geht in die Stadt, sucht euch deren
Vorkommnisse zurecht zu legen, kommt dann zu uns auf das Land,
lebt einmal eine Weile muessig bei uns, das heisst tut, was euch der
Augenblick und die Neigung eingibt, wir wollen dieses Haus und den
Garten geniessen, wollen den Nachbar Ingheim besuchen, wollen auch
zu anderen entfernteren Nachbarn gehen und die Dinge an uns vorueber
fliessen lassen, wie sie fliessen."
Ich dankte ihm fuer seine Bemerkungen, sagte, dass ich selber so etwas
Aehnliches in mir empfinde, dass ich wohl etwas unbeholfen gegen das
Leben sei, dass meine Eltern und wohlmeinenden Freunde wohl Nachsicht
mit mir haben muessen und dass ich fuer jeden Wink dankbar sei. Besonders
freue mich die Einladung in sein Haus, und ich werde ihr mit vieler
Freude Folge leisten.
Als die Zeit meiner Abreise herangekommen war, packte ich die
Zeichnungen und alles, was ich in dem Rosenhause hatte, ein, nahm den
herzlichsten Abschied von dem alten Manne, Gustav, Eustach, Roland,
der gekommen war, verabschiedete mich von allen Bewohnern des Hauses,
Gartens und Meierhofes und reisete zu meinen Angehoerigen in die
Hauptstadt zurueck.
Das Erste, was ich dort nach dem innigsten und aufrichtigsten
Bewillkommen sah, war, dass mein Vater das teils glaeserne, teils
hoelzerne Haeuschen, in welchem die alten Waffen hingen, um welches
sich der Epheu rankte und welches im Grunde den aeussersten Ansatz oder
gleichsam einen Erker des rechten Fluegels des Hauses gegen den Garten
bildete, in dem vergangenen Sommer hatte umbauen lassen. Er hatte es
bedeutend vergroessert, aber die Leisten, Spangen und Rahmen, in denen
das Glas befestigt war, hatte er in der frueheren Art gelassen, nur
waren sie dem Stoffe nach neu gemacht und mit schoenen Verzierungen
und Schnitzereien versehen. Die Simse des Daches waren nach
mittelalterlicher Weise verfertigt, schoen geschnitzt und verziert.
Der Epheu war wieder an Leisten empor geleitet worden und blickte an
manchen Stellen durch das Glas herein. Die Fenster waren nicht mehr
nach Aussen und Innen zu oeffnen wie frueher, sondern zum Verschieben.
Die groesste Veraenderung aber war die, dass der Vater zwei Saeulen hatte
auffuehren lassen, waehrend frueher die beiden Waende, welche nach Aussen
geschaut hatten, aus Glas verfertigt gewesen waren. Diese zwei Pfeiler
hatten genau die Abmessungen, dass die zwei Verkleidungen, welche ich
ihm in dem vorigen Herbste gebracht hatte, auf dieselben passten. Die
Verkleidungen waren aber noch nicht auf ihnen, weil das Mauerwerk
zuerst austrocknen musste, dass das Holz an demselben keinen Schaden
nehmen konnte. Der Vater hatte mir nur den ganzen Plan und die
Vorrichtungen zu seiner Ausfuehrung gesagt. So wie es mich einerseits
freute, dass der Vater das Holzkunstwerk so schaetzte, dass er eigens zu
dem Zwecke, es anbringen zu koennen, das Haeuschen hatte umbauen lassen,
so war es mir andererseits erst recht schmerzlich, dass ich die
Ergaenzungen zu den Verkleidungen nicht aufzufinden im Stande gewesen
war. Ich sagte dem Vater von meinen Bemuehungen und von meinem
Leidwesen wegen des schlechten Erfolges. Er und die Mutter troesteten
mich und sagten, es sei alles auch in der vorhandenen Gestalt recht
schoen, was verschwunden ist und nicht mehr erlangt werden kann,
muesse man nicht eigensinnig anstreben, sondern sich an dem, was eine
gute Gunst uns noch erhalten habe, freuen. Das Haeuschen werde eine
Erinnerung sein, und so oft man sich in demselben, wenn es vollkommen
in den Stand gesetzt sein werde, befinden werde, werde einem die Zeit
vorschweben, in welcher das Holzwerk gemacht worden sei, und die,
in welcher ein lieber Sohn es zur Freude des Vaters ans dem Gebirge
gebracht habe.
Ich musste mich wohl, obgleich ungern, beruhigen. Es erschien mir
jetzt erst recht schoen, wenn die Verkleidungen am ganzen Innern des
Haeuschens herum liefen und ueber ihnen einerseits die Pfeiler und
andererseits die Fenster schimmerten.
Nach einigen Tagen, in welchen die ersten Besprechungen gefuehrt
wurden, die nach einer Reise eines Familiengliedes im Schosse
einer Familie immer vorfallen, wenn auch die Reise eine jaehrlich
wiederkommende ist, legte ich dem Vater, da unterdessen auch meine
Koffer und Kisten angekommen waren, die Abbildungen vor, welche ich
von den Geraeten und Fussboeden im Rosenhause und im Sternenhofe gemacht
hatte. Ich war auf die Wirkung sehr neugierig. Ich hatte einen Sonntag
abgewartet, an welchem er Zeit hatte und an welchem er gerne nach dem
Mittagessen eine geraume Weile in dem Kreise seiner Familie zubrachte.
Ich legte die Blaetter vor ihm auf einem Tische auseinander. Er schien
mir bei ihrem Anblick - ich kann sagen - betroffen. Er sah die Blaetter
genau au, nahm jedes mehrere Male in die Hand und sagte laengere Zeit
kein Wort. Endlich ging seine Empfindung in eine unverhohlene Freude
ueber. Er sagte, ich wisse gar nicht, was ich gemacht haette, ich wisse
gar nicht, welchen Wert diese Dinge haetten, ich haette in frueherer Zeit
die Schoenheit und Zusammenstimmigkeit dieser Dinge mit Worten gar
nicht so in das rechte Licht gestellt, wie es sich jetzt in Farbe und
Zeichnung, wenn auch beides mangelhaft waere, beurkunde. Im ersten
Augenblicke hielt der Vater die Geraete, welche ich in dem Sternenhofe
abgebildet hatte, fuer wirklich alte; als ich ihn aber auf die
tatsaechlichen Verhaeltnisse derselben aufmerksam machte, sagte er, das
muesse ein ausserordentlicher Mensch sein, der diese Entwuerfe gemacht
habe, er muesse nicht nur mit der alten Bauart und Zusammenstellung der
Geraete sehr vertraut sein, sondern er muesse auch ein ungewoehnliches
Schoenheitsgefuehl haben, um aus der Menge der ueberlieferten Gestalten
das zu waehlen, was er gewaehlt habe. Und die Zusammenreihung der Geraete
sei so aus einem Gusse, als waeren sie einstens zu einem Zweck und
in einer Zeit verfertigt worden. Auch die wirklich alten Geraete im
Rosenhause seien von einer Schoenheit, wie er sie nie gesehen habe,
obgleich ihm die vorzueglichsten und beruehmtesten Sammlungen der Stadt
und mancher Schloesser bekannt waeren. Zwei so auserlesene Stuecke wie
den grossen Kleiderschrein und den Schreibschrein mit den Delphinen
duerfte man kaum irgendwo finden. Sie waeren wert, in einem kaiserlichen
Gemache zu stehen.
Ich erzaehlte ihm, um den Mann, der die Entwuerfe fuer den Sternenhof
gemacht hatte, naeher zu bezeichnen, dass ich viele Bauzeichnungen und
Zeichnungen von anderen Dingen in dem Rosenhause gesehen habe, welche
weit hoehere Gegenstaende darstellen und auch mit einer ungleich
groesseren Vollendung ausgefuehrt seien, als ich bei meinen Abbildungen
anzubringen im Stande gewesen waere. Diese Arbeiten seien bei dem Manne
Vorbildungen gewesen, damit er die Entwuerfe haette machen koennen, die
er gemacht habe.
Er schien auf meine Worte nicht zu achten, sondern legte irgend ein
Blatt hin, nahm ein anderes auf und betrachtete es.
"So weit ich aus den Abbildungen urteilen kann", sagte er, "sind die
altertuemlichen Gegenstaende, welche du mir da veranschaulicht hast,
nicht nur an sich sehr vortrefflich, sondern sie sind auch hoechst
wahrscheinlich, wie Farbe und Zeichnung dartut, sehr zweckmaessig wieder
hergestellt. Meine Habseligkeiten sinken dagegen zu Unbedeutenheiten
herab, und ich sehe aus diesen Blaettern, wie man die Sache anfassen
muss, wenn man die Zeit, die Kenntnisse und die Mittel dazu hat."
Mich freute es jetzt recht sehr, dass ich auf den Gedanken gekommen
war, dem Vater diese Dinge nachzubilden, um ihm eine Vorstellung von
ihnen zu geben; mich freute sein Anteil, den er an ihnen nahm, und die
Freude, die er darueber hatte.
"Es sind nun zwei Wege, die zu gehen sind", meinte die Mutter,
"entweder kannst du dir nach diesen Gemaelden die Dinge, die sie
darstellen, machen lassen, um dich immerwaehrend daran zu ergoetzen,
oder du kannst in den Asperhof und Sternenhof reisen und sie in
Wirklichkeit sehen, um eine Freude zu haben, so lange du sie siehst,
und in der Erinnerung dich zu laben, wenn du wieder weggereist bist."
Der Vater antwortete: "Die Geraete, die hier gezeichnet sind,
nachmachen zu lassen, ist eine Unzukoemmlichkeit; denn erstens muesste
hiezu die Einwilligung des Eigentuemers erlangt werden, und wenn sie
auch erlangt worden waere, so haetten zweitens die nachgebildeten
Gegenstaende in meinen Augen nicht den Wert, den sie haben sollten,
weil sie doch nur, wie die Maler sagen, Copien waeren. Es boete sich
auch noch der Gedanke, mit Einwilligung des Eigentuemers nach diesen
Abbildungen neue Zusammenstellungen entwerfen und in Wirklichkeit
ausfuehren zu lassen; allein das verlangt eine so grosse
Geschicklichkeit, welche ich nicht nur mir nicht zutraue, sondern
welche ich auch an den Arbeitern in aehnlichen Dingen, die ich in
unserer Stadt kenne, nicht aufzufinden hoffe. Und zuletzt waeren die
verfertigten Gegenstaende doch noch immer nichts mehr als halbe Copien.
Das Verfertigen geht also nicht. Was deinen zweiten Weg anbelangt,
Mutter, so werde ich ihn gewiss gehen. Ich habe mir schon frueher bei
den Erzaehlungen von diesen Dingen vorgenommen, die Reise zu ihnen zu
machen; jetzt aber, da ich die Abbildungen sehe, werde ich die Reise
nicht nur um so gewisser, sondern auch in viel naeherer Zeit machen,
als es wohl sonst haette geschehen koennen."
"Das wird recht schoen sein", riefen wir fast alle aus einem Munde.
Die Mutter sagte: "Du solltest gleich die Zeit bestimmen und solltest
gleich mit deinem Sohne verabreden, dass er dich in derselben zu dem
alten Manne in das Rosenhaus fuehre, welcher dich schon auch in den
Sternenhof geleiten wuerde."
"Nun, so draenget nur nicht", erwiderte er, "es wird geschehen, das
ist genug; binden, wisst ihr, kann sich ein Mann nicht, der von seinem
Geschaefte abhaengt und nicht wissen kann, welche Umstaende einzutreten
vermoegen, die von ihm Zeit und Handlungen fordern."
Die Mutter kannte ihn zu gut, um weiter in ihn zu dringen, er wuerde
bei seinem ausgesprochenen Satze geblieben sein. Sie beruhigte sich
mit dem Erlangten.
Sowohl sie als die Schwester dankten mir, dass ich dem Vater die Bilder
gebracht hatte, die ihm ein solches Vergnuegen bereiteten.
"Die Fussboeden muessen auch vortrefflich sein", rief er aus.
"Sie sind viel schoener als die ungefaehre Malerei andeuten kann",
erwiderte ich, "mein Pinsel kann noch immer nicht den Glanz und die
Zartheit und das Seidenartige der Holzfasern ausdruecken, was man alles
dort so liebt, dass nur mit Filzschuhen auf diesen Boeden gegangen
werden darf."
"Das kann ich mir denken", antwortete er, "das kann ich mir denken."
Hierauf musste ich ihm alle Hoelzer nennen, die hier mit Farben
angegeben waren und aus denen die abgebildeten Gegenstaende bestanden.
Die meisten kannte er ohnehin, was mich freute, weil es der Beweis
war, dass ich die Farben nicht unsachgemaess angewendet habe. Die er
nicht kannte, nannte ich ihm. Ich wusste sie fast alle ganz genau
anzugeben.
Er verwunderte sich wieder und immer aufs Neue und suchte sich die
Gegenstaende recht lebhaft vorzustellen.
Die Mutter und Schwester fragten mich, ob ich recht lange zu dieser
Arbeit gebraucht haette und ob ich nicht dabei beklommen gewesen waere.
Ich antwortete, dass ich des Zweckes willen sehr fleissig gewesen sei,
dass es anfaenglich langsam gegangen sei, dass ich aber nach und nach
Uebung erlangt haette und dass ich dann weit schneller vorwaertsgekommen
sei, als ich selber geahnt habe. Und was die Beklemmung anbelangt, so
haette ich sie freilich im Anfange gehabt; aber da die Dinge einmal auf
mich gewirkt haetten, da ich in Eifer geraten waere, da sich hie und
da ein Gelingen eingestellt haette, namentlich da mir durch die
Entschiedenheit der Erscheinung mancher Holzgattung die Farbe
gleichsam von selber in die Hand gegeben worden waere, so haette sich
bald die Unbefangenheit eingefunden und nach und nach sich die Lust
hinzu gesellt.
Nach diesen Worten zeigte mir der Vater auch manchen Fehler, den ich
in den Arbeiten gemacht haette, und setzte mir auseinander, wie ich
selbe, falls ich wieder aehnliche Dinge entwerfen sollte, vermeiden
koennte. Da er Gemaelde hatte, da er sich seit Jahren mit denselben
beschaeftigt hatte, so durfte ihm wohl ein Urteil in dieser Hinsicht
zugewachsen sein, und ich erkannte das, was er sagte, als vollkommen
richtig an und glaubte mich aber auch befaehigt zu fuehlen, es in
Zukunft besser zu machen.
Nach den Fehlern ging der Vater auch auf die Vorzuege der Arbeit ueber
und sagte, dass er nach den Zeichnungen von Koepfen, die ich vor einiger
Zeit gemacht haette, zu schliessen, von mir nicht erwartet haette, dass
ich etwas so Sachgemaesses in Oelfarben wuerde ausfuehren koennen.
Dieser Sonntagsnachmittag war eine sehr liebe, angenehme Zeit.
Die Freundlichkeit der Schwester, die sie besonders an diesem
Nachmittage an den Tag legte, war mir ein schoenerer Lohn, als wenn ein
Kenner gesagt haette, dass meine Blaetter ausgezeichnet seien, das Lob
der Mutter, dass ich auf den Vater und das vaeterliche Haus gedacht habe
und aus Liebe zu beiden, um Freude zu bereiten, eine beschwerliche
Arbeit unternommen habe, erregte mir die angenehmsten Gefuehle, und da
auch der Vater mit einigen gewaehlten Worten seinen Dank aussprach und
sagte, dass er dieses Zartgefuehl nicht vergessen werde, konnte ich nur
mit grosser Gewalt die Traenen bemeistern.
Ich gab ihm alle Blaetter als Eigentum, und er reihte sie seiner
Sammlung von Merkwuerdigkeiten ein.
Am naechsten Tage packte ich die Zithern aus, legte beide der Schwester
vor und liess ihr die Wahl, ob sie die meinige oder die neuangekaufte
als fuer sie gehoerig annehmen wolle. Sie waehlte die neue und freute
sich darueber sehr. Ich zeigte ihr auch die Stuecke, welche ich mir nach
dem Spiele meines Gebirgslehrmeisters geschrieben hatte, und liess sie
ihr in ihrem Zimmer, dass sie sie abschreiben lassen koenne und dass sie
ihre Uebungen darnach begoenne. Ich versprach ihr, in diesem Winter ihr
Lehrer in dieser Kunst zu sein.
Nach einiger Zeit brachte ich auch meine Malereien von
Gebirgslandschaften zum Vorscheine. Ich hatte bis dahin immer nicht
den Mut dazu gehabt; aber endlich machte mir mein Gewissen zu bittere
Vorwuerfe, dass ich gegen meine Angehoerigen Heimlichkeiten habe. Ich
zeigte meinem Vater die Blaetter auch an einem Sonntagsnachmittage. Ich
blickte ihm erstaunt in das Angesicht, als er dieselben gesehen hatte
und das Nehmliche sagte, was mein Gastfreund im Rosenhause und was
Eustach gesagt hatten. Bei diesen letzten beiden hatte es mich nicht
gewundert, da ich sie fuer Kenner hielt und da sie Gebirgsbewohner
waren. Der Vater aber, der zwar Bilder besass, war ein Kaufherr und
war nie lange in dem Gebirge gewesen. Es erhoehte dies meine Ehrfurcht
gegen ihn noch mehr. Er zeigte mir, wo ich unwahr gewesen war,
und setzte mir auseinander, wie es haette sein sollen, was ich
augenblicklich begriff. Das was er lobte und richtig fand, gefiel mir
selber nachher doppelt so wohl.
Klotilden musste ich die Blaetter noch einmal und allein in ihrem Zimmer
zeigen. Sie verlangte, dass ich ihr beinahe alles erklaere. Sie war nie
in hoeherem oder im Urgebirge gewesen, sie wollte sehen, wie diese
Dinge beschaffen seien, und sie reizten ihre Aufmerksamkeit sehr.
Obgleich meine Malereien keine Kunstwerke waren, wie ich jetzt immer
mehr einsah, so hatten sie doch einen Vorzug, den ich erst spaeter
recht erkannte und der darin bestand, dass ich nicht wie ein Kuenstler
nach Abrundung noch zusammenstimmender Wirkung oder Anwendung von
Schulregeln rang, sondern mich ohne vorgefasster Einuebung den Dingen
hingab und sie so darzustellen suchte, wie ich sie sah. Dadurch
gewannen sie, was sie auch an Schmelz und Einheit verloren, an
Naturwahrheit in einzelnen Stuecken und gaben dem Nichtkenner und dem,
der nie die Gebirge gesehen hatte, eine bessere Vorstellung als schoene
und kuenstlerisch vollendete Gemaelde, wenn sie nicht die vollendetsten
waren, die dann freilich auch die Wahrheit im hoechsten Masse trugen.
Aus diesem Grunde sagte mir Klotilde durch eine Art unbewusster Ahnung,
sie wisse jetzt, wie die Berge aussehen, was sie aus vielen und guten
Bildern nicht gewusst haette. Sie aeusserte auch den Wunsch, einmal die
hohen Berge selber sehen zu koennen, und meinte, wenn der Vater die
Reise in das Rosenhaus und in den Sternenhof mache und bei dieser
Gelegenheit auch die Gebirge besuche, werde sie ihn bitten, sie
mitreisen zu lassen. Ich erzaehlte ihr nun recht viel von den Bergen,
beschrieb ihr ihre Herrlichkeit und Groesse, machte sie mit manchen
Eigentuemlichkeiten derselben bekannt und setzte ihr meine
verschiedenen Reisen in denselben und meine Bestrebungen ausfuehrlicher
als sonst auseinander. Ich hatte nie so viel von den Gebirgen mit
ihr geredet. Nach diesen Worten verlangte sie auch, dass ich sie
unterrichte, ebensolche Abbildungen verfertigen zu koennen, wie sie
hier vor ihr liegen. Sie wolle sich Farben und alle andere dazu
notwendigen Geraetschaften verschaffen. Da sie ohnehin ziemlich gut
zeichnen konnte, so war die Sache nicht so schwierig als sie beim
ersten Anscheine ausgesehen hatte. Ich versprach ihr meinen Beistand,
wenn die Eltern einwilligen wuerden.
Wir fragten nach einiger Zeit die Eltern. Sie hatten im Ganzen
nichts dagegen, nur die Mutter verlangte ausdruecklich, dass diese
Arbeiten nur Nebendinge sein sollen, Dinge zum Vergnuegen, nicht
Hauptbeschaeftigungen; denn die Hauptpflicht des Weibes sei ihr Haus,
diese Dinge koennen zwar auch recht wohl in das Haus gehoeren; aber
einseitig oder gar mit Leidenschaft betrieben, untergraben sie eher
das Haus, als sie es bauen helfen. Klotilde aber sei schon so alt, dass
sie sich ihrem kuenftigen Berufe zuwenden muesse.
Wir begriffen das alles und versprachen, nichts ins Uebermass gehen
lassen zu wollen.
Es wurden alle Erfordernisse angeschafft, und wir begannen in
gegoennten Zeiten die Arbeit.
Auch spanisch wollte die Schwester von mir lernen. Ich betrieb es
fort, und da ich ihr voraus war, wurde ich auch hierin ihr Lehrer,
was die Mutter mit derselben Einschraenkung wie das Landschaftsmalen
gelten liess. Es waren also in unserem Hause fuer dieses Jahr mehr
Beschaeftigungen fuer mich vorhanden als in anderen Zeiten.
Es war mir in jenem Herbste besonders wunderbar, dass weder Vater noch
Mutter genauer nach meinem Gastfreunde fragten. Sie mussten entweder
nach meinen Erzaehlungen ein entschiedenes Vertrauen in ihn setzen
oder sie wollten durch zu vieles Einmischen die Unbefangenheit meiner
Handlungen nicht stoeren.
Bei allen haeuslichen Bestrebungen fing ich bei dem herannahenden
Winter doch ein etwas anderes Leben an, als ich es bisher gefuehrt
hatte, und zwar ein etwas mannigfaltigeres. Ich hatte in vergangener
Zeit nur solche Stadtkreise besucht, in welche meine Eltern geladen
worden waren oder in welche ich durch Freunde, die ich gewann, gezogen
wurde. Diese Kreise bestanden groesstenteils aus Leuten von aehnlichem
Stande mit dem meines Vaters. Ich spuerte Neigung in mir, nun auch
Sitten und Gebraeuche so wie Ansichten und Meinungen solcher Menschen
kennen zu lernen, die sich auf glaenzenderen Lebenswegen befanden. Der
Zufall gab bald hier, bald da Gelegenheit dazu, und teils suchte ich
auch Gelegenheiten. Es geschah, dass ich Bekanntschaften machte und
mitunter auch fortsetzen konnte. Ich lernte Leute von hoeherem Adel
kennen, lernte sehen, wie sie sich bewegen, wie sie sich gegenseitig
behandeln und wie sie sich gegen solche, die nicht ihres Standes sind,
benehmen.
Es lebte eine alte, edle, verwittwete Fuerstin in unserer Stadt, deren
zu frueh verstorbener Gemahl den Oberbefehl in den letzten grossen
Kriegen gefuehrt hatte. Sie war haeufig mit ihm im Felde gewesen und
hatte da die Verhaeltnisse von Kriegsheeren und ihren Bewegungen kennen
gelernt, sie war in den groessten Staedten Europas gewesen und hatte
die Bekanntschaft von Menschen gemacht, in deren Haenden die ganzen
Zustaende des Weltteiles lagen, sie hatte das gelesen, was die
hervorragendsten Maenner und Frauen in Dichtungen, in betrachtenden
Werken und zum Teile in Wissenschaften, die ihr zugaenglich waren,
geschrieben haben, und sie hatte alles Schoene genossen, was die Kuenste
hervorbringen. Einstens war sie in den hoeheren Kreisen eine der
ausserordentlichsten Schoenheiten gewesen, und noch jetzt konnte man
sich kaum etwas Lieblicheres denken als die freundlichen, klugen und
innigen Zuege dieses Angesichtes. Ein Mann, der sich viel mit Gemaelden
und ihrer Beurteilung abgab und oft in die Naehe der Fuerstin kam, sagte
einmal, dass nur Rembrandt im Stande gewesen waere, die feinen Toene und
die kunstgemaessen Uebergaenge ihres Angesichtes zu malen. Sie hatte jetzt
eine Wohnung an der Ostgrenze der innern Stadt, damit die Morgensonne
ihre Zimmer fuellte und damit sie den freien Blick ueber das frische
Gruen und auf die entfernten Vorstaedte haette. Bluehende Soehne in hohen
kriegerischen Wuerden besuchten die alte, ehrwuerdige Mutter hier, so
oft ihr Dienst ihre Anwesenheit in der Stadt gestattete und so oft
waehrend dieser Anwesenheit ein Augenblick es erlaubte. Schoene Enkel
und Enkelinnen gingen bei ihr aus und ein, und eine zahlreiche
Verwandtschaft wurde bald in diesen, bald in jenen Mitgliedern in
ihren Zimmern gesehen. Aber geistige Erholung oder Anstrengung -
wie man den Ausdruck nehmen will - war ihr ein Beduerfnis geblieben.
Sie wollte nicht bloss das wissen, was jetzt noch auf den geistigen
Gebieten hervor gebracht wurde, und in dieser Beziehung, wenn irgend
ein Werk Ruhm erlangte und Aufsehen machte, suchte sie auch an dessen
Pforte zu klopfen und zu sehen, ob sie eintreten koennte; sondern sie
nahm oft auch ein Buch von solchen Personen in die Hand, die in ihre
Jugendzeit gefallen und dort bedeutsam gewesen waren, sie ging das
Werk durch und forschte, ob sie auch jetzt noch die zahlreichen, mit
Rotstift gemachten Zeichen und Anmerkungen wieder in derselben Art
machen oder ob sie andere an ihre Stelle setzen wuerde; ja sie nahm
Werke der aeltesten Vergangenheit vor, die jetzt die Leute, ausser sie
waeren Gelehrte, nur in dem Munde fuehren, nicht lesen; sie wollte doch
sehen, was sie enthielten, und wenn sie ihr gefielen, wurden sie
nach manchen Zwischenzeiten wieder hervorgeholt. Von dem, was in den
Verhaeltnissen der Staaten und Voelker vorging, wollte sie bestaendig
unterrichtet sein. Sie empfing daher von manchen ihrer Verwandten und
Bekannten Briefe, und die vorzueglichsten Zeitungsblaetter mussten auf
ihren Tisch kommen. Weil aber, obwohl ihre Augen noch nicht so schwach
waren, das viele Lesen, das sie sich hatte auflegen muessen, bei
ihrem Alter doch haette beschwerlich werden koennen, hatte sie eine
Vorleserin, welche einen Teil, und zwar den groessten, des Lesestoffes
auf sich nahm und ihr vortrug. Diese Vorleserin war aber keine blosse
Vorleserin, sondern vielmehr eine Gesellschafterin der Fuerstin, die
mit ihr ueber das Gelesene sprach und die eine solche Bildung besass,
dass sie dem Geiste der alten Frau Nahrung zu geben vermochte, so
wie sie von diesem Geiste auch Nahrung empfing. Nach dem Urteile
von Maennern, die ueber solche Dinge sprechen koennen, war die
Gesellschafterin von ausserordentlicher Begabung, sie war im Stande,
jedes Grosse in sich aufzunehmen und wiederzugeben, so wie ihre eigenen
Hervorbringungen, zu denen sie sich zuweilen verleiten liess, zu den
beachtenswertesten der Zeit gehoerten. Sie blieb immer um die Fuerstin,
auch wenn diese im Sommer auf ein Landgut, das in einem entfernten
Teile des Reiches lag und ihr Lieblingsaufenthalt war, ging, oder wenn
sie sich auf Reisen befand oder eine Zeit an einer schoenen Stelle
unsers Gebirges weilte, wie sie gerne tat. An manchen Abenden zu der
Zeit, da sie in der Stadt war, sammelte die Fuerstin einen kleinen
Kreis um sich, in welchem entweder etwas vorgelesen wurde oder in
welchem man ueber wissenschaftliche oder gesellige oder Staatsdinge
oder Dinge der Kunst sprach. Die Kreise waren regelmaessig an gleichen
Tagen der Woche, sie waren in der Stadt bekannt, wurden sehr hoch
geachtet oder verspottet, wie eben der Beurteilende war, wurden
gesucht und bestanden zuweilen aus sehr bedeutenden Personen. In diese
Kreise hatte ich Zutritt erlangt. Die Fuerstin hatte mich einige Male
getroffen, es war einmal von meiner Wissenschaft die Rede gewesen, sie
war sehr neugierig, was man denn von der Geschichte der Erdbildung
wisse und aus welchen Umstaenden man seine Schluesse ziehe, und sie
hatte mich in ihre Naehe gezogen. Ich hoerte aufmerksam zu, wenn ich an
den bestimmten Abenden in ihrem Gesellschaftszimmer war, sprach selber
wenig und meistens nur, wenn ich dazu aufgefordert wurde. Die Fuerstin
sass in schwarzem oder aschgrauem Seidenkleide - lichtere trug sie nie
- in ihrem Polsterstuhle und hatte einen Schemel unter ihren Fuessen.
Die Lampe trug gegen ihre Seite hin einen gruenen Schirm und goss ihr
Licht in die Gegend der Vorleserin oder des Vorlesers, wenn eben
gelesen wurde. Die Andern sassen nach ihrer Bequemlichkeit herum.
Meistens bildete sich von selber eine Art Kreis. Man hoerte in tiefer
Stille dem Vorlesen zu und nahm an den Gespraechen, die nach dem Lesen
folgten oder die, wenn gar keine Vorlesung war, den ganzen Abend
erfuellten, den eifrigsten Anteil. Die Fuerstin konnte ihnen den
lebhaftesten und tiefsten Fortgang geben. Es schien, dass das, was die
vorzueglichsten Maenner in ihrer Gegenwart sprachen, von ihr angeregt
wurde und dass ihre groesste Gabe darin bestand, das, was in Anderen war,
hervor zu rufen. Sie sass dabei mit ihrer aeusserst zierlichen Gestalt
auf die anmutigste Weise in ihrem Stuhle und bewegte noch als
hochbetagte Frau die Gesellschaft mit ihrer herrlichen Schoenheit.
Zuweilen, wenn sich ihr Inneres erregte, stand sie auf, hielt sich
an ihrem Stuhle und erklaerte und sprach zu den Anwesenden mit ihrer
klaren, zarten, wohllautenden Stimme.
Ich lernte verschiedene Menschen in den Zimmern der Fuerstin
kennen. Zuweilen war es ein hervorragender Kuenstler, den man dort
sprechen hoerte, zuweilen ein Staatsmann, der mit den wichtigsten
Angelegenheiten unseres Landes betraut war, oder es war sonst eine
bedeutende Persoenlichkeit der Gesellschaft, oder es waren die Saeulen
und die Fuehrer unseres tapferen Heeres. Ich hoerte bei der Fuerstin
Aussprueche, die ich mir merken wollte, die ich mir aufschrieb und die
mir ein unveraeusserliches Eigentum bleiben sollten. Ich gestehe es,
dass ich nie ohne eine gewisse Beklemmung in das Zimmer mit den
blaubemalten Waenden und den dunkelblauen Geraeten und den einigen
Bildern, worunter mich besonders das anzog, welches ihren Landsitz
darstellte, trat, und ich gestehe es, dass ich nie das Zimmer ohne Ruhe
und Befriedigung verliess. Ich empfand, dass jene Abende fuer mich von
grosser Bedeutung, dass sie eine Zukunft seien.
Ausser den besonders hervorragenden Menschen lernte ich bei der Fuerstin
auch noch andere Personen, des hoeheren Adels unseres Reiches, kennen,
kam manches Mal mit den Kreisen desselben in Beruehrung und sah seine
Art, seine Lebensweise und seine Sitten.
Neben diesen Abteilungen der menschlichen Gesellschaft kam ich auch
mit anderen zusammen. Es war in der Stadt ein oeffentlicher Ort,
welcher hauptsaechlich von Kuenstlern aller Art besucht wurde, welche
sich dort besprachen, Erfrischungen zu sich nahmen, Zeitungen lasen
oder sich mit koerperlichen Spielen ergoetzten. Diesen Ort besuchte ich
gerne. Da war der eine oder der andere Schauspieler von der Hofbuehne
oder von der Oper, da war ein Maler, dessen Namen damals hoch
gepriesen wurde, da waren Tonkuenstler, sowohl ausuebende als dichtende,
da waren Bildhauer und Baumeister, vorzueglich aber waren es
Schriftsteller und Dichter, und es befanden sich darunter auch
Vorstaende und Mitarbeiter an Zeitungsanstalten.
Von anderen Personen waren hoehere Staatsdiener, Buerger, Kaufleute und
ueberhaupt solche vorhanden, die einen Anteil an Kunst und Wissenschaft
und an einem dahin abzielenden Umgange nahmen. Wenn auch eigentlich
nur eine ungezwungene Heiterkeit herrschte, wenn auch nur Spiele zu
koerperlicher Bewegung und daneben das Schachspiel vorzuherrschen
schienen, so waren doch auch Gespraeche und, wie es bei solchen Maennern
zu erwarten war, Gespraeche sehr lebhafter Natur im Gange, und waren
doch im Grunde die Hauptsache. Da konnte man in leichten Worten den
tiefen Geist des Einen sehen oder den ruhigen, der alles zersetzt
und in seine Bestandteile aufloest, oder den lebhaften, der darueber
weggeht, oder den leichtfertigen, der alles verlacht, oder den, dessen
Sitten selbst ein wenig bedenklich waren. Oft war es nur ein Wort, ein
Witz, der den Grund geben konnte, um Schluesse zu bauen. Trotz meiner
Schuechternheit, die mich ferne hielt, geriet ich doch in Gespraeche
und lernte den einen und andern Mann von denen kennen, die sich hier
einfanden. Selbst das aeussere Benehmen und Gebaren von Maennern, die
sonst solche Geltung haben, schien mir nicht gleichgiltig.
Ich besuchte in jenem Winter auch gerne Orte, an welchen sich
viele Menschen zu ihren Vergnuegungen versammeln, um die Art ihrer
Erscheinung, ihr Wesen und ihr Verhalten als eines Ganzen sehen zu
koennen. Vorzueglich ging ich dahin, wo das eigentliche Volk, wie man es
jetzt haeufig zum Gegensatze der sogenannten Gebildeten nennt, zusammen
koemmt. Die man gebildet nennt, sind fast ueberall gleich; das Volk
aber ist urspruenglich, wie ich es bei meinen Wanderungen schon kennen
lernte, und hat seine zugearteten Braeuche und Sitten.
Ich ging in die guten Darstellungen von Musikstuecken, ich fuhr im
Besuche des Hoftheaters fort, ging jetzt auch in die Oper und besuchte
manche oeffentliche wissenschaftliche Vortraege, dann Kunst- und
Buechersammlungen, hauptsaechlich aber zur Vervollkommnung meiner
eigenen kuenftigen Arbeiten die Sammlungen von Gemaelden.
Den Umgang mit meinem neuen Freunde, dem Sohne des Juwelenhaendlers,
setzte ich fort. Wir begannen endlich in der Tat einen eigenen
Unterrichtsgang ueber Edelsteine und Perlen. Zwei Tage in der Woche
waren festgesetzt, an denen ich zu einer bestimmten, fuer ihn
verfuegbaren Stunde kam und so lange blieb, als es eben seine Zeit
gestattete. Er fuehrte mich zuerst in die Kenntnis aller jener
Mineralien ein, welche man Edelsteine nennt und vorzueglich zu Schmuck
benuetzt. Ebenso zeigte er mir alle Gattungen von Perlen. Hierauf
unterrichtete er mich in dem Verfahren, die Juwelen zu erkennen und
von falschen zu unterscheiden. Spaeter erst ging er auf die Merkmale
der schoenen und der minder schoenen ueber. Bei diesem Unterrichte kamen
mir meine Kenntnisse in den Naturwissenschaften sehr zu statten, ja
ich war sogar im Stande, durch Angaben aus meinem Fache die Kenntnisse
meines Freundes zu erweitern, besonders was das Verhalten der
Edelsteine zum Lichtdurchgang, zur doppelten Brechung und zu der
sogenannten Polarisation des Lichtes anbelangt. Ich hatte aber noch
immer nicht den Mut, ueber die gebraeuchliche Fassung der Edelsteine mit
ihm zu sprechen und meine Gedanken hierueber ihm mitzuteilen.
Unter diesen Dingen ging neben meinen eigentlichen Arbeiten der
Unterricht, den ich meiner Schwester gab, regelmaessig fort. In der
Malerei hatte sie noch viel groessere Schwierigkeiten als ich, weil sie
einesteils weniger geuebt war und weil sie andernteils die Urbilder
nicht gesehen, sondern nur fehlerhafte Abbilder vor sich hatte. Im
Zitherspiel ging es weit besser. Ich wurde heuer ein wirksamerer
Lehrer, als ich es in dem vergangenen Jahre gewesen war, und konnte
nach dem, was ich gelernt hatte, ueberhaupt ein besserer Lehrer fuer
sie sein, als einer in der Stadt zu finden gewesen waere, obwohl diese
Schwierigkeiten ueberwanden, deren Besiegung mir und Klotilden eine
Unmoeglichkeit gewesen waere. Nach meinen Ansichten, die ich in den
Bergen gelernt hatte, kam es aber darauf nicht an. Wir lernten
endlich wechselweise von einander und brachten manche freudige und
empfindungsreiche Stunde an der Zither zu.
Ich musste zuletzt Klotilden auch im Spanischen unterrichten. Da ich
immer einige Schritte von ihr voraus war, so konnte ich allerdings
einen Lehrer fuer sie wenigstens in den Anfangsgruenden vorstellen. Wie
es im weiteren Verlaufe zu machen waere, wuerde sich zeigen. Wir lebten
uns in ein wechselseitiges Taetigkeitsleben hinein.
So verging der Winter, und ich blieb damals bis ziemlich tief in das
Fruehjahr hinein bei den Meinigen in der Stadt.
Die Annaeherung
Obwohl fast den ganzen Winter hindurch davon die Rede gewesen war,
dass mich der Vater in dem naechsten Fruehlinge in das Gebirge begleiten
werde und dass er bei dieser Gelegenheit den Mann im Rosenhause
besuchen wolle, um dessen Seltenheiten und Kostbarkeiten zu sehen, so
hatte er doch, als der Fruehling gekommen war, nicht Zeit, sich von
seinen Geschaeften zu trennen, und ich musste wie in allen frueheren
Jahren meine Reise allein antreten.
Als ich zu meinem Gastfreunde gekommen war, war das Erste, dass ich
ihm von den Wandverkleidungen erzaehlte. Ich hatte frueher ihrer nicht
erwaehnt, weil ich sie doch nicht fuer so wichtig gehalten hatte. Ich
erzaehlte ihm, dass ich sie in dem Lauterthale gefunden und gekauft
habe und dass sie aus Schnitzarbeit von Gestalten und Verzierungen
bestanden. Der Vater, dem ich sie gebracht, habe eine grosse Freude
darueber gehabt, habe sie nicht nur mit grossem Vergnuegen empfangen,
sondern habe auch einen Teil eines Nebenbaues unseres Hauses umgebaut,
um die Verkleidungen geschickt anbringen zu koennen. Dieses letztere
habe mir erst gezeigt, wie wert der Vater diese Dinge halte, und
dies habe mich bestimmt, noch genauer nachzuforschen, ob ich denn
die Ergaenzungen zu dem Getaefel nicht aufzufinden vermoege; denn
das, was der Vater habe, seien nur Bruchstuecke, und zwar zwei
Pfeilerverkleidungen, das uebrige fehle. Ich habe wohl schon
Nachforschungen in der besten Art, wie ich glaube, angestellt; aber
ich wolle sie doch noch fortsetzen und versuchen, ob ich nicht noch
neue Mittel und Wege auffinden koenne, zu meinem Ziele, wenn es noch
vorhanden sei, zu gelangen oder die groesstmoegliche Gewissheit zu
erhalten, dass das Gesuchte nicht mehr bestehe.
Ich beschrieb meinem Gastfreunde, so gut ich es aus der Erinnerung
konnte, die Vertaeflungen und machte ihn mit dem Fundorte und den
Nebenumstaenden bekannt. Ich verhehlte ihm nicht, dass ich das darum
tue, dass er mir einen Rat geben moege, wie ich etwa weiter vorzugehen
habe. Es handle sich um einen Gegenstand, der meinem Vater nahe gehe.
Nicht vorzueglich, weil diese Dinge schoen seien, obwohl dies auch ein
Antrieb fuer sich sein koennte, sondern hauptsaechlich darum suche ich
darnach zu forschen, weil sie dem Vater Freude machen. Je aelter er
werde, desto mehr schliesse er sich in einem engen Raume ab, sein
Geschaeftszimmer und sein Haus werden nach und nach seine ganze Welt,
und da seien es vorzueglich Werke der bildenden Kunst und die Buecher,
mit denen er sich beschaeftige und die Wirkung, welche diese Dinge auf
ihn machen, wachse mit den Jahren. Er habe sich von dem Schnitzwerke
in den ersten Tagen kaum trennen koennen, er habe es in allen Teilen
genau betrachtet und sei zuletzt so mit demselben bekannt geworden,
als waere er bei dessen Verfertigung zugegen gewesen. Darum wolle ich
so vorgehen, dass ich mich nicht in die Lage setze, mir einen Vorwurf
machen zu muessen, dass ich in meinen Nachforschungen etwas versaeumt
habe. Bisher seien sie freilich fruchtlos gewesen.
Mein Gastfreund fragte mich noch um einige Teile des Werkes und seines
Auffindens, die ich ihm nicht dargestellt hatte oder die ihm dunkel
geblieben waren, und liess sich die Oertlichkeiten des Auffindens noch
einmal auf das Umstaendlichste beschreiben. Hierauf sagte er mir, ich
moege an meinen Vater ungesaeumt einen Brief senden und ihn bitten, die
genauen Ausmasse des Schnitzwerkes nach Aussen und nach Innen zu nehmen
und mir zu schicken. Ich begriff augenblicklich die Zweckmaessigkeit der
Massregel und schaemte mich, dass sie mir selber nicht frueher eingefallen
war. Er selber wolle vorlaeufig an Roland schreiben und ihm dann,
wenn sie eingelangt waeren, die Ausmasse schicken. Auch wolle er seine
Geschaeftsfuehrer in jener Gegend beauftragen, sich um die Sache zu
bemuehen. Wenn das Gesuchte zu finden ist, so duerfte Roland der
geeignetste Mithelfer sein, und die anderen Maenner, die er noch
auffordern werde, haetten sich schon in den verschiedensten
Gelegenheiten sehr erprobt.
Ich dankte meinem Gastfreunde auf das Verbindlichste fuer seine
Gefaelligkeit und versprach, in nichts saeumig zu sein.
Am naechsten Morgen trug ein Bote meinen Brief an den Vater und die
Briefe meines Gastfreundes an Roland und andere Maenner auf die naechste
Post. Mein Gastfreund musste bis in die tiefe Nacht geschrieben haben,
denn es war ein ganzes Paeckchen von Briefen. Mich ruehrte diese Guete
ausserordentlich, denn ich wusste nicht, wie ich sie verdient hatte.
Dass ich in der ersten Zeit meines Aufenthaltes in dem Rosenhause
gleich an alle Orte ging, die mir lieb waren, begreift sich.
In dem Zeichnungszimmer Eustachs fand ich den Musiktisch fertig. Es
war seit seiner Vollendung erst eine kurze Zeit verflossen, deshalb
stand er noch an dieser Stelle. Ich hatte nicht geahnt, dass das Werk,
das ich bei Beginn seiner Wiederherstellung gesehen hatte, sich so
darstellen wuerde, wenn es fertig waere. Ich hatte Bilder, Bauwerke,
Zeichnungen und dergleichen in juengster Zeit in grosser Menge gesehen
und selber aehnliche Dinge verfertigt, ich konnte mir daher in solchen
Sachen ein kleines Urteil zutrauen; aber, wenn ich nicht gewusst haette,
dass der Rahmen und das Gestelle des Tisches neu gemacht worden sei, so
haette ich es nie erkannt, so sehr passte beides im Baue, in der ganzen
Art und selbst in der Farbe des Holzes zu der Platte. Das ganze
Werk stand rein, glaenzend und klar vor den Augen. Die Farbe der
verschiedenen Hoelzer an den Verzierungen, am Laubwerke, am Obste und
an den Geraeten trat unter der Macht des Harzes kraeftig und scharf
hervor. Selbst die Missverhaeltnisse der Groessen in den verschiedenen
eingelegten Geraeten, zum Beispiele zwischen der Floete, der Geige, der
Trommel, welche mir bei meinem ersten Besuche in dem Schreinerhause
Anstoss gegeben hatten, erschienen mir jetzt als naiv und hatten etwas
Anziehendes fuer mich, welches mir die Tischplatte lieber machte als
wenn sie ganz fehlerfrei oder etwa nach neuen Kunstbegriffen gemacht
gewesen waere. Ich fragte Eustach, wohin der Tisch zu stehen kommen
wuerde. Er konnte es mir nicht sagen. Es sei darueber nichts eroeffnet
worden, ob er in dem Hause bleiben oder ob er irgend wohin versendet
werden wuerde. Jetzt bleibe er hier stehen, damit alle Nachtrocknungen
in jener allmaehlichen Stufenfolge vor sich gehen koennen, wie sie bei
jedem neuverfertigten Geraete eintreten muessen, dass es nicht Schaden
leide. Die meisten der neuverfertigten oder wiederhergestellten Werke
seien zu diesem Zwecke in dem Zeichnungszimmer stehen geblieben, wenn
sie anders dort Platz hatten. Ich betrachtete den Tisch noch eine
Weile und ging dann zu andern Gegenstaenden ueber.
Auch die Gaertnerleute besuchte ich, die Leute des Meierhofes, die
Gartenarbeiter, die Dienstleute des Hauses und einige Nachbaren, zu
denen wir frueher oefter gekommen waren und die ich naeher kennen gelernt
hatte.
Obwohl ich nach dem Rate und der Einladung meines Gastfreundes
entschlossen war heuer meine Berufsarbeit, wenigstens jenes Berufes,
den ich mir selber aufgelegt hatte, ruhen zu lassen, sondern einen
Teil des Sommers in dem Rosenhause zu verleben und mich meiner Laune
und dem Augenblicke hinzugeben: hatte ich doch nicht den Willen, gar
nichts zu tun, was mir die groesste Qual gewesen waere, sondern mich bei
meinen Handlungen von meinem Vergnuegen und der Gelegenheit leiten
zu lassen. Mein Gastfreund hatte mir die nehmlichen zwei Zimmer
eingeraeumt, welche ich bisher stets inne gehabt hatte, und freute
sich, dass ich seinen Rat befolgen und einmal auch anderswohin sehen
wolle als immer einseitig auf meine Arbeiten, und dass ich einmal
zu einem allgemeineren Bewusstsein kommen wolle, als zu dem ich
mich bisher gebannt haette. Ich hatte viele Buecher und Schriften
mitgebracht, hatte alle Werkzeuge zur Oelmalerei bei mir und hatte doch
aus Vorsicht auch einige Vorrichtungen zu Vermessungen und dergleichen
eingepackt.
Wenn man von dem Rosenhause ueber den Huegel, auf dem der grosse
Kirschbaum steht, nordwaerts geht, so koemmt man in die Wiese, durch
welche der Bach fliesst, an dem mein Gastfreund jene Erlengewaechse
zieht, welche ihm das schoene Holz liefern, das er neben anderen
Hoelzern zu seinen Schreinerarbeiten verwendet. Wir waren oefter zu
diesem Bache gekommen und seinen Ufern entlang gegangen. Er floss aus
einem Gehoelze hervor, in welchem mein Gastfreund einige Wasserwerke
hatte auffuehren lassen, um die Wiese vor Ueberschwemmungen zu sichern
und die Verwilderung des Baches zu verhindern. Im Innern des Gehoelzes
befindet sich ein ziemlich grosser Teich, eigentlich ein kleiner See,
da er nicht mit Kunst angelegt, sondern groesstenteils von selber
entstanden war. Nur Geringes hatte man hinzu gefuegt, um nicht
Versumpfungen an seinen Raendern und Ueberflutungen bei seinem Ausflusse
entstehen zu lassen. Das Wasser dieses Waldbeckens ist so klar, dass
man in ziemlicher Tiefe noch alle die bunten Steine sehen kann, welche
auf dem Grunde liegen. Nur schienen sie gruenlich blau gefaerbt, wie es
bei allen Waessern der Fall ist, die aus unsern Kalkalpen oder in deren
Naehe fliessen. Rings um dieses Wasser ist das Gezweige so dicht, dass
man keinen Stein und kaum einen Uferrand sehen kann, sondern die
Zweige aus dem Wasser zu ragen scheinen. Die Baeume, die da stehen,
sind eines Teils Nadelholz, das mit seinem Ernste sich in die
Heiterkeit mischt, die auf den Aesten, Blaettern und Wipfeln der
Laubbaeume ruht, die den vorherrschenden Teil bilden. Vorzugsweise ist
die Erle, der Ahorn, die Buche, die Birke und die Esche vorhanden.
Zwischen den Staemmen ist reichliches Wuchergestrippe. Der Bach in der
Erlenwiese meines Gastfreundes verdankt dem See sein Dasein; aber
da dieser aus Quellzufluessen lebt, so ist der ausfliessende Bach
oft so trocken, dass man, ohne sich die Sohle zu netzen, ueber seine
hervorragenden Steine gehen kann. Wo er aus dem See geht, ist eine
kleine Huette erbaut, die den Hauptzweck hat, dass die, welche in dem
See sich baden wollen, in ihr sich entkleiden koennen. Der Seegrund
geht mit seinen schoenen Kieseln so sachte in die Tiefe, dass man
ziemlich weit vorwaerts gehen und das wallende Wasser geniessen kann
ohne den Grund zu verlieren. Auch zum Lernen des Schwimmens ist dieser
Teil sehr geeignet, weil man an allen Stellen Grund findet und sich
unbefangener den Uebungen hingeben kann. Weiter draussen beginnt das
Gebiet derer, die ihrer Arme und ihrer Bewegungen schon vollstaendig
Herr sind. Gustav ging an Sommertagen fast jeden zweiten Tag mit
Eustach oder mit jemand anderm oder zuweilen auch mit meinem
Gastfreunde zu dem See hinaus, um in demselben zu schwimmen. Diese
Taetigkeit, so wie die andern Koerperbewegungen und Uebungen, die fuer
ihn in dem Rosenhause angeordnet waren, schienen ihm viele Freude zu
machen. Mein Gastfreund hielt auf koerperliche Uebungen sehr viel, da
sie zur Entwicklung und Gesundheit unumgaenglich notwendig seien. Er
lobte diese Uebungen sehr an den Griechen und Roemern, welche beiden
Voelker er auf eine hervorragende Weise ehrte. Das liege auf der Hand,
pflegte er zu sagen, dass, so wie die Krankheit des Koerpers den Geist
zu etwas anderem mache, als er in der Gesundheit des Koerpers ist, ein
kraeftiger und in hohem Masse entwickelter Koerper die Grundlage zu allem
dem abgebe, was tuechtig und herzhaft heisst. Bei den alten Roemern ist
ein grosser Teil ihrer Erfolge in der Geschichte und ihres frueheren
Glueckes in der Pflege und Entwicklung ihres Koerpers zu suchen. Ihr
Glueck dauerte auch nur so lange, als die vernuenftige Pflege ihrer
Leibesuebungen dauerte. In neuen Schulen vernachlaessige man diese
Pflege zu sehr, die bei uns um so notwendiger waere, als sich durch
das Zusammengehaeuftsein in dunstigen und heissen Stuben ohnehin Uebel
erzeugen, die dem Aufenthalte in freier Luft fremd sind. Darum werden
auch die Geisteskraefte von Schuelern der neuen Zeit nicht entwickelt
wie sie sollten und wie sie es bei Kindern, die in Wald und Feldern
schweifen, freilich auf Kosten ihres hoeheren Wesens, wirklich sind.
Daher stamme ein Teil der Schalheit und Traegheit unserer Zeiten. Ich
ging mit Gustav jetzt, da ich viele Musse hatte, sehr fleissig zu dem
Waeldchen, und da ich in der Kunst des Schwimmens eine grosse Fertigkeit
hatte, so sah er an mir ein Vorbild, dem er nachstreben konnte, und
lernte Gelenkigkeit und Ausdauer mehr, als er es ohne mich gekonnt
haette.
Ueberhaupt gewann Gustav eine immer groessere Neigung zu mir. Es mochte,
wie ich mir schon frueher gedacht hatte, zuerst der Umstand eingewirkt
haben, dass ich ihm an Alter nicht so sehr ferne stand. Dazu mochte
sich gesellt haben, dass ich, der ich eigentlich sehr einsam und
abgeschlossen erzogen worden war, viel tiefer in spaetere Jahre hinein
die Merkmale der Kindheit bewahrt haben mochte als andere Leute,
die gleichen Alters mit mir waren, und zuletzt konnte jetzt
auch das wirken, dass ich bei meiner Geschaeftlosigkeit viel
mehr Beruehrungspunkte mit ihm fand, als es bei meinen frueheren
Anwesenheiten in dem Rosenhause der Fall gewesen war.
Ich schrieb nun auf dem Asperhofe mehr Briefe als sonst, ich las in
Dichtern, betrachtete alles um mich herum, schweifte oft weit in die
Gegend hinaus; aber diese Lebensweise wurde mir bald beschwerlich, und
ich suchte etwas hervor, was mich tiefer beschaeftigte. Die Dichter als
das Edelste, was mir jetzt begegnete, riefen wieder das Malen hervor.
Ich richtete meine Zeichnungsgeraete und meine Vorrichtungen zur
Malerei in den Stand und begann wieder meine Uebungen im Malen der
Landschaft. Ich malte je nach der Laune bald ein Stueck Himmel, bald
eine Wolke, bald einen Baum oder Gruppen von Baeumen, entfernte Berge,
Getreidehuegel und dergleichen. Auch schloss ich menschliche Gestalten
nicht aus und versuchte Teile derselben. Ich versuchte das Antlitz
des Gaertners Simon und das seiner Gattin auf die Leinwand zu bringen.
Die beiden Leute hatten eine grosse Freude ueber das Ding, und ich gab
ihnen die Bilder in ihre Stube, nachdem ich vorher nette Rahmen dazu
bestellt und in der Zeit, bis sie eintrafen, mir Abbilder von den
Koepfen fuer meine eigene Mappe gemacht hatte. Ich malte die Haende oder
Buesten verschiedener Leute, die sich in dem Rosenhause oder in dem
Meierhofe befanden. Meinen Gastfreund oder Eustach oder Gustav zu
bitten, dass sie mir als Gegenstand meiner Kunstbestrebungen dienen
sollten, hatte ich nicht den Mut, weil die Erfolge noch gar zu
unbedeutend waren.
Gustav nahm unter allen den groessten Anteil an diesen Dingen. So wie er
im vorigen Jahre Geraete mit mir gemalt hatte, versuchte er es heuer
auch mit den Landschaften. Sein Ziehvater und sein Zeichnungslehrer
hatten nichts dagegen, da nur freie Stunden zu diesen Beschaeftigungen
verwendet wurden, da seine Koerperuebungen nicht darunter zu leiden
hatten und da sich dadurch das Band zwischen mir und ihm noch mehr
befestigte, was mein Gastfreund nicht ungern zu sehen schien, da
doch zuletzt der Juengling niemanden hatte, an wen er das Gefuehl der
Freundschaft leiten sollte, das in seinen Jahren so gerne erwacht und
das sich in sanftem Zuge an einen Gegenstand richtet. Da unter seiner
Hand ein Baum, ein Stein, ein Berg, ein Waesserchen in lieblichen
Farben hervorging, hatte er eine unaussprechliche Freude. Bei Eustach
hatte er nur groesstenteils Bau- und Geraetezeichnungen gesehen, und
Roland hatte auch nur Aehnliches von seinen Reisen zurueck gebracht. Was
von Landschaften in der Gemaeldesammlung seines Ziehvaters hing, auf
denen er wohl gruene Baeume, weisse Wolken, blaue Berge beobachten
konnte, hatte er nie um seine Entstehung angeschaut, sondern die Dinge
waren da, wie auch andere Dinge da sind, das Haus, der Getreidehuegel,
der Berg, der ferne Kirchturm, und er hatte nicht daran gedacht, dass
auch er solche Gegenstaende hervorzubringen vermochte. Er redete auf
Spaziergaengen davon, wie dieser Baum sich baue, wie jener Berg sich
runde, und er erzaehlte mir, dass ihm oft von dem Zeichnen lebhaft
traeume.
Man liess den Juengling auch auf groessere Entfernungen von dem Rosenhause
mit mir gehen. Seine Arbeiten wurden dabei so eingerichtet, dass,
wenn sie auch unterbrochen werden mussten, ein wesentlicher Schaden
sich nicht einstellen konnte. Dafuer gewann er an Gesundheit und
koerperlicher Abhaertung bedeutend. Wir waren nicht selten mehrere Tage
abwesend, und Gustav vergnuegte es sehr, wenn wir Abends nach unserem
leichten Mahle in einem Gasthause in unser Zimmer gingen, wenn er
durch die Fenster auf eine fremde Landschaft hinausschauen konnte,
wenn er sein Raenzlein und seine Reisesachen auf dem Tische zurecht
richten und dann die ermuedeten Glieder auf dem Gastbette ausstrecken
durfte. Wir bestiegen hohe Berge, wir gingen an Felswaenden hin, wir
begleiteten den Lauf rauschender Baeche und schifften ueber Seen.
Er wurde stark, und das zeigte sich sichtbar, wenn wir von einer
Gebirgswanderung - denn fast immer gingen wir in das Gebirge -
zurueckkehrten, wenn seine Wangen gebraeunt waren, als wollten
sie beinahe schwarz werden, wenn seine Locken die dunkle Stirne
beschatteten und die grossen Augen lebhaft aus dem Angesichte hervor
leuchteten. Ich weiss nicht, welcher innere Zug von Neigung mich zu dem
Juenglinge hinwendete, der in seinem Geiste zuletzt doch nur ein Knabe
war, den ich ueber die einfachsten Dinge taeglicher Erfahrung belehren
musste, namentlich, wenn es Wanderungsangelegenheiten waren, und der
mir in seiner Seele nichts bieten konnte, wodurch ich erweitert und
gehoben werden musste, es muesste nur das Bild der vollkommensten Guete
und Reinheit gewesen sein, das ich taeglich mehr an ihm sehen, lieben
und verehren konnte.
Ich ging auch einige Male zu dem Lautersee. Ich hatte im vorigen Jahre
angefangen, seine Tiefe an verschiedenen Stellen zu messen, um ein
Bild darzustellen, in welchem sich die Berge, die den See umstanden,
sichtbar auch unter der Wasserflaeche fortsetzten und nur durch einen
tieferen Ton gedaempft waren. Der Reiz, den diese Aufnahme herbei
gefuehrt hatte, stellte sich wieder ein, und ich setzte die Messungen
nach einem Plane fort, um die Talsohle des Sees immer richtiger zu
ergruenden und das Bild einer groesseren Sicherstellung entgegen zu
fuehren. Gustav begleitete mich mehrere Male und arbeitete mit den
Maennern, die ich gedungen hatte, das Schiff zu lenken, die Schnuere
auszuwerfen, die Kloben zu richten, an denen sich die Senkgewichte
abwickelten, oder andere Dinge zu tun, die sich als notwendig
erwiesen.
Besondere Freude machte es mir, dass ich nach und nach die Feinheiten
des menschlichen Angesichtes immer besser behandeln lernte, besonders,
was mir frueher so schwer war, wenn der leichte Duft der Farbe ueber die
Wangen schoener Maedchen ging, die sich sanft rundeten, schier keine
Abwechslung zeigten und doch so mannigfaltig waren. Mir waren die
Versuche am angenehmsten, das Liebliche, Sittige, Schelmische, das
sich an manchen jungen Land- oder Gebirgsmaedchen darstellte, auf der
Leinwand nachzuahmen.
Eines Abends, da Blitze fast um den ganzen Gesichtskreis leuchteten
und ich von dem Garten gegen das Haus ging, fand ich die Tuer, welche
zu dem Gange des Amonitenmarmors, zu der breiten Marmortreppe und zu
dem Marmorsaale fuehrte, offen stehen. Ein Arbeiter, der in der Naehe
war, sagte mir, dass wahrscheinlich der Herr durch die Tuer hinein
gegangen sei, dass er sich vermutlich in dem steinernen Saale befinden
werde, in welchen er gerne gehe, wenn Gewitter am Himmel staenden, und
dass die Tuer vielleicht offen geblieben sei, damit Gustav, wenn er
kaeme, auch hinaufgehen koennte. Ich blickte in den Marmorgang, sah
hinter der Schwelle mehrere Paare von Filzschuhen stehen und beschloss,
auch in den steinernen Saal hinauf zu gehen, um meinen Gastfreund
aufzusuchen. Ich legte ein Paar von passenden Filzschuhen an und ging
den Gang des Amonitenmarmors entlang. Ich kam zu der Marmortreppe
und stieg langsam auf ihr empor. Es war heute kein Tuchstreifen ueber
sie gelegt, sie stand in ihrem ganzen feinen Glanze da und erhellte
sich noch mehr, wenn ein Blitz durch den Himmel ging und von der
Glasbedachung, die ueber der Treppe war, hereingeleitet wurde. So
gelangte ich bis in die Mitte der Treppe, wo in einer Unterbrechung
und Erweiterung, gleichsam wie in einer Halle, nicht weit von der
Wand die Bildsaeule von weissem Marmor steht. Es war noch so licht, dass
man alle Gegenstaende in klaren Linien und deutlichen Schatten sehen
konnte. Ich blickte auf die Bildsaeule, und sie kam mir heute ganz
anders vor. Die Maedchengestalt stand in so schoener Bildung, wie sie
ein Kuenstler ersinnen, wie sie sich eine Einbildungskraft vorstellen
oder wie sie ein sehr tiefes Herz ahnen kann, auf dem niedern Sockel
vor mir, welcher eher eine Stufe schien, auf die sie gestiegen war, um
herumblicken zu koennen. ich vermochte nun nicht weiter zu gehen und
richtete meine Augen genauer auf die Gestalt. Sie schien mir von
heidnischer Bildung zu sein. Das Haupt stand auf dem Nacken, als
bluehete es auf demselben. Dieser war ein wenig, aber kaum merklich
vorwaerts gebogen, und auf ihm lag das eigentuemliche Licht, das nur der
Marmor hat und das das dicke Glas des Treppendaches hereinsendete. Der
Bau der Haare, welcher leicht geordnet gegen den Nacken niederging,
schnitt diesen mit einem fluechtigen Schatten, der das Licht noch
lieblicher machte. Die Stirne war rein, und es ist begreiflich, dass
man nur aus Marmor so etwas machen kann. Ich habe nicht gewusst, dass
eine menschliche Stirne so schoen ist. Sie schien mir unschuldvoll zu
sein und doch der Sitz von erhabenen Gedanken. Unter diesem Throne war
die klare Wange ruhig und ernst, dann der Mund, so feingebildet, als
sollte er verstaendige Worte sagen oder schoene Lieder singen, und
als sollte er doch so guetig sein. Das Ganze schloss das Kinn wie ein
ruhiges Mass. Dass sich die Gestalt nicht regte, schien bloss in dem
strengen, bedeutungsvollen Himmel zu liegen, der mit den fernen
stehenden Gewittern ueber das Glasdach gespannt war und zur Betrachtung
einlud. Edle Schatten wie schoene Hauche hoben den sanften Glanz der
Brust, und dann waren Gewaender bis an die Knoechel hinunter. Ich dachte
es sei Nausikae, wie sie an der Pforte des goldenen Saales stand und
zu Odysseus die Worte sagte: "Fremdling, wenn du in dein Land koemmst,
so gedenke meiner." Der eine Arm war gesenkt und hielt in den Fingern
ein kleines Staebchen, der andere war in der Gewandung zum Teile
verhuellt, die er ein wenig emporhob. Das Kleid war eher eine schoen
geschlungene Huelle als ein nach einem gebraeuchlichen Schnitte
verfertigtes. Es erzaehlte von der reinen, geschlossenen Gestalt und
war so stofflich treu, dass man meinte, man koenne es falten und in
einen Schrein verpacken. Die einfache Wand des grauen Amonitenmarmors
hob die weisse Gestalt noch schaerfer ab und stellte sie freier. Wenn
ein Blitz geschah, floss ein rosenrotes Licht an ihr hernieder, und
dann war wieder die fruehere Farbe da. Mir duenkte es gut, dass man diese
Gestalt nicht in ein Zimmer gestellt hatte, in welchem Fenster sind,
durch die alltaegliche Gegenstaende herein schauen und durch die
verworrene Lichter einstroemen, sondern dass man sie in einen Raum getan
hat, der ihr allein gehoert, der sein Licht von oben bekoemmt und sie
mit einer daemmerigen Halle wie mit einem Tempel umfaengt. Auch durfte
der Raum nicht einer des taeglichen Gebrauchs sein, und es war sehr
geeignet, dass die Waende rings herum mit einem kostbaren Steine
bekleidet sind. Ich hatte eine Empfindung, als ob ich bei einem
lebenden schweigenden Wesen staende, und hatte fast einen Schauer, als
ob sich das Maedchen in jedem Augenblicke regen wuerde. Ich blickte die
Gestalt an und sah mehrere Male die roetlichen Blitze und die graulich
weisse Farbe auf ihr wechseln. Da ich lange geschaut hatte, ging
ich weiter. Wenn es moeglich waere, mit Filzschuhen noch leichter
aufzutreten als es ohnehin stets geschehen muss, so haette ich es getan.
Ich ging mit dem lautlosen Tritte langsam ueber die glaenzenden Stufen
des Marmors bis zu dem steinernen Saale hinan. Seine Tuer war halb
geoeffnet. Ich trat hinein.
Mein Gastfreund war wirklich in demselben. Er ging in leichten Schuhen
mit Sohlen, die noch weicher als Filz waren, auf dem geglaetteten
Pflaster auf und nieder.
Da er mich kommen sah, ging er auf mich zu und blieb vor mir stehen.
"Ich habe die Tuer zu dem Marmorgange offen gesehen", sagte ich, "man
hat mir berichtet, dass ihr hier oben sein koenntet, und da bin ich
herauf gegangen, euch zu suchen."
"Daran habt ihr recht getan", erwiderte er.
"Warum habt ihr mir denn nicht gesagt", sprach ich weiter, "dass die
Bildsaeule, welche auf eurer Marmortreppe steht, so schoen ist?"
"Wer hat es euch denn jetzt gesagt?" fragte er.
"Ich habe es selber gesehen", antwortete ich.
"Nun dann werdet ihr es um so sicherer wissen und mit desto groesserer
Festigkeit glauben", erwiderte er, "als wenn euch jemand eine
Behauptung darueber gesagt haette."
"Ich habe nehmlich den Glauben, dass das Bildwerk sehr schoen sei",
antwortete ich, mich verbessernd.
"Ich teile mit euch den Glauben, dass das Werk von grosser Bedeutung
sei", sagte er.
"Und warum habt ihr denn nie zu mir darueber gesprochen?" fragte ich.
"Weil ich dachte, dass ihr es nach einer bestimmten Zeit selber
betrachten und fuer schoen erachten werdet", antwortete er.
"Wenn ihr mir es frueher gesagt haettet, so haette ich es frueher gewusst",
erwiderte ich.
"Jemandem sagen, dass etwas schoen sei", antwortete er, "heisst nicht
immer, jemandem den Besitz der Schoenheit geben. Er kann in vielen
Faellen bloss glauben. Gewiss aber verkuemmert man dadurch demjenigen das
Besitzen des Schoenen, der ohnehin aus eigenem Antriebe darauf gekommen
waere. Dies setzte ich bei euch voraus, und darum wartete ich sehr
gerne auf euch."
"Aber was muesst ihr denn die Zeit her ueber mich gedacht haben, dass ich
diese Bildsaeule sehen konnte und ueber sie geschwiegen habe?" fragte
ich.
"Ich habe gedacht, dass ihr wahrhaftig seid", sagte er, "und ich habe
euch hoeher geachtet als die, welche ohne Ueberzeugung von dem Werke
reden, oder als die, welche es darum loben, weil sie hoeren, dass es von
Andern gelobt wird."
"Und wo habt ihr denn das herrliche Bildwerk hergenommen?" fragte ich.
"Es stammt aus dem alten Griechenlande", antwortete er, "und seine
Geschichte ist sonderbar. Es stand viele Jahre in einer Bretterbude
bei Cumae in Italien. Sein unterer Teil war mit Holz verbaut, weil man
den Platz, an dem es stand, und der teils offen, teils gedeckt war, zu
haeufigem Ballschlagen verwendete, und die Baelle nicht selten in die
Bude der Gestalt flogen. Deshalb legte man von der Brust abwaerts einen
dachartigen Schutz an, der die Baelle geschickt herab rollen machte und
ueber den sich die Gestalt wie eine Bueste darstellte. Es waren in dem
Raume, teils an den Bretterbuden, teils an Mauerstuecken, aus denen
er bestand, noch andere Gestalten angebracht, ein kleiner Herkules,
mehrere Koepfe und ein altertuemlicher Stier von etwa drei Fuss Hoehe;
denn der Platz wurde auch zu Taenzen benutzt und war an den Stellen,
die keine Wand hatten, mit Schlinggewaechsen und Trauben begrenzt, an
andern war er offen und blickte ueber Myrten, Lorbeer, Eichen auf die
blauen Berge und den heiteren Himmel dieses Landes hinaus. Gedeckt
waren nur Teile des Raumes, besonders dort, wo die Gestalten standen.
Diese hatten Daecher ueber sich wie die niedlichen Taefelchen, welche
italienische Maedchen auf dem Kopfe tragen. Im Uebrigen war die
Bedeckung das Gezelt des Himmels. Mich brachte ein guenstiger Zufall
nach Cumae, und zu diesem Ballplatze, auf dem sich eben junges Volk
belustigte. Gegen Abend, da sie nach Hause gegangen waren, besichtigte
ich das Mauerwerk, welches aus Resten alter Kunstbauten bestand, und
die Gestalten, welche saemmtlich aus Gips waren, wie sie in Italien
so haeufig alten edlen Kunstwerken nachgebildet werden. Den Herkules
kannte ich insbesondere sehr gut, nur war er hier viel kleiner
gebildet. Die Bueste des Maedchens - fuer eine solche hielt ich die
Gestalt - war mir unbekannt; allein sie gefiel mir sehr. Da ich
mich ueber die reizende Lage dieses Plaetzchens aussprach, sagte die
Besitzerin, eine wahrhaftige altroemische Sibylle, es werde hier in
Kurzem noch viel schoener werden. Ihr Sohn, der sich durch Handel Geld
erworben, werde den Platz in einen Saal mit Saeulen verwandeln, es
werden Tische herum stehen, und es werden vornehme Fremde kommen, sich
hier zu ergoetzen. Die Gestalten muessen weg, weil sie ungleich seien
und weil Menschen und Tiere unter einander stehen, ihr Sohn habe schon
die schoensten Gipsarbeiten bestellt, die alle gleich gross waeren.
Sie fuehrte mich zu dem Maedchen und zeigte mir durch eine Spalte der
Bretter, dass dasselbe in ganzer Gestalt da stehe und also die andern
Dinge weit ueberrage. Man habe darum an dem oberen Rande der Balken,
mit denen die Gestalt umbaut ist, einen hoelzernen, bemalten Sockel
angebracht, von dem der Oberleib wie eine Bueste herab schaue. Dadurch
sei die Sache wieder zu den anderen gestimmt worden. Ich fragte, wann
ihr Sohn hieherkomme und wann das Umbauen beginnen wuerde. Da sie mir
das gesagt hatte, entfernte ich mich. Zur Zeit des mir von der Alten
angegebenen Beginnes des Umbaues fand ich mich auf dem Platze wieder
ein. Ich traf den Sohn der Wittwe - eine solche war sie - hier an, und
der Bau hatte schon begonnen. Die alten reizenden Mauerstuecke waren
zum Teile abgetragen, und ihre Stoffe waren geschichtet, um zu dem
neuen Baue verwendet zu werden. Die Schlinggewaechse und Reben waren
ausgerottet, die Gestraeuche vor dem Platze vernichtet, und man ebnete
ihre Stelle, um dort Rosen anzulegen. Auf der Suedseite baute man schon
die Sockelmauern, auf welche die Saeulen von Ziegeln zu stehen kommen
sollten. Die Gestalt des Maedchens, von der man die Balkenverhuellung
weggenommen hatte, lag in einer Huette, welche groesstenteils Baugeraete
enthielt. Neben ihr lagen der Herkules, der Stier und die Koepfe,
die, wie ich jetzt sah, alte Roemer darstellten. Mir gefiel nun auch
die frueher nicht gesehene uebrige Gestalt des Maedchens, die nicht
wesentlich verletzt war, ausserordentlich, und ich erhandelte sie, da
die Dinge zum Zwecke des Verkaufes in der Bretterhuette lagen. Aber
der Verkaeufer sagte, er gebe von der Sammlung nichts einzeln weg,
und ich musste den Stier, den Herkules und die Koepfe mit kaufen. Der
Kaufschilling war nicht geringe, da mein Gegenmann die Schoenheit der
Gestalt recht gut kannte und sie geltend machte; aber ich fuegte mich.
Ich liess Kisten machen, um die Dinge fortzuschaffen. Den Stier, den
Herkules und die Koepfe verkaufte ich in Italien um ein Geringes, die
Maedchengestalt sendete ich wohlverpackt, dass der Gips nicht leide, an
meinen damaligen Aufenthaltsort; ich kann euch den Namen jetzt nicht
nennen, es war ein kleines Staedtchen an dem Gebirge. Mir fiel schon
damals auf, dass das Fahrgeld fuer die Gestalt sehr hoch sei und dass
man sich ueber ihr Gewicht beklagt habe; allein ich hielt es fuer
italienische List, um von mir, dem Fremden, etwas mehr heraus zu
pressen. Als ich aber nach Deutschland zurueckgekehrt war und als eines
Tages die Gipsgestalt, fuer deren gute Verpackung und Ueberbringung ich
durch mir wohlbekannte Versendungsvermittler gesorgt hatte, in dem
Asperhofe ankam, ueberzeugte ich mich selber von dem ungemeinen
Gewichte der Last. Da der Bretterverschlag, in welchem sich die
Gestalt befand, nicht so schwer sein konnte, so entstand in mir und
Eustach, der damals schon in dem Asperhofe war, der Gedanke, die
Gestalt moechte etwa nass geworden sein und durch die Naesse gelitten
haben. Wir liessen das Standbild in die hoelzerne Huette schaffen, welche
ich teils zu seinem Empfange, teils zur Reinigung von den vielen
Schmutzflecken, die es an seinem frueheren Standorte erhalten hatte,
vor dem Eingange in den Garten hatte aufbauen lassen. Da es dort von
den Brettern und von allen seinen andern Huellen befreit worden war,
sahen wir, dass sich unsere Furcht nicht bestaetigte. Die Gestalt war so
trocken, wie Gips nur ueberhaupt zu sein vermag. Wir setzten nach und
nach die Vorrichtungen in Gebrauch, durch die wir die Gestalt in die
Naehe der Glaswand der Huette auf eine drehbare Scheibe stellen konnten,
um sie nach Bequemlichkeit betrachten und reinigen zu koennen. Da sie
auf der Scheibe stand und wir uns von der Sicherheit ihres Standes
ueberzeugt hatten, gingen wir zu ihrer Betrachtung ueber. Eustach war
ueber ihre Schoenheit entzueckt und machte mich auf Manches aufmerksam,
was mir auf dem Tanz- und Ballplatze bei Cumae und spaeter in der
Bauhuette entgangen war. Freilich stand die Gestalt jetzt viel
vorteilhafter, da durch die reinen Scheiben der Glaswand das klare
Licht auf sie fiel und alle Schwingungen und Schwellungen der
Gestaltung deutlich machte. Da wir die Ueberzeugung gewonnen hatten,
dass ein edles Werk in das Haus gekommen sei, beschlossen wir, sofort
zu dessen Reinigung zu schreiten. Wir nahmen uns vor, dort, wo der
Schmutz nur locker auf der Oberflaeche liege und dem reinen Wasser und
dem Pinsel weiche, auch nur Wasser und den Pinsel anzuwenden. Leichtes
Uebertuenchen und sanftes Glaetten wuerde die letzte Nachhuelfe geben. Fuer
tiefer gehende Verunreinigung wurde die Anwendung des Messers und der
Feile beschlossen; nur sollte die aeusserste Vorsicht beobachtet und
lieber eine kleine Verunreinigung gelassen werden, als dass eine
sichtbare Umgestaltung des Stoffes vorgenommen wuerde. Eustach machte
in meiner Gegenwart Versuche, und ich billigte sein Verfahren. Es
wurde nun sogleich ans Werk geschritten und die Arbeit in der naechsten
Zeit fortgesetzt. Eines Tages kam Eustach zu mir herauf und sagte, er
muesse mich auf einen sonderbaren Umstand aufmerksam machen. Er sei auf
dem Schulterblatte mit dem feinen Messer auf einen Stoff gestossen, der
nicht das Taube des Gipses habe, sondern das Messer gleiten mache und
etwas wie die Ahnung eines Klanges merken lasse. Wenn die Sache nicht
so unwahrscheinlich waere, wuerde er sagen, dass der Stoff Marmor sei.
Ich ging mit ihm in die Bretterhuette hinab. Er zeigte mir die Stelle.
Es war ein Platz, mit dem die Gestalt haeufig, wenn sie gelegt wurde,
auf den Boden kam und der daher durch diesen Umstand und zum Teile
durch Versendungen, denen die Gestalt ausgesetzt gewesen sein mochte,
mehr abgenutzt war als andere. Ich liess das Messer auf dieser Stelle
gleiten, ich liess es an ihr erklingen, und auch ich hatte das Gefuehl,
dass es Marmor sei, was ich eben behandle. Weil der Platz, an dem die
Versuche gemacht wurden, doch zu augenfaellig war, um weiter gehen
zu koennen und ihn etwa zu verunstalten, so beschlossen wir an einem
unscheinbareren einen neuen Versuch zu machen. In der Ferse des
linken Fusses fehlte ein kleines Stueckchen, dort musste jedenfalls Gips
eingesetzt werden, dort beschlossen wir zu forschen. Wir drehten die
Gestalt mit ihrer Scheibe in eine Lage, in welcher das helle Licht auf
die Luecke an der Ferse fiel. Es zeigte sich, dass neben der kleinen
Vertiefung noch ein Stueckchen Gips ledig sei und bei der leisesten
Beruehrung herab fallen muesse. Wir setzten das Messer an, das Stueck
sprang weg, und es zeigte sich auf dem Grunde, der bloss wurde, ein
Stoff, der nicht Gips war. Das Auge sagte, es sei Marmor. Ich holte
ein Vergroesserungsglas, wir leiteten durch Spiegel ein schimmerndes
Licht auf die Stelle, ich schaute durch das Glas auf sie, und mir
funkelten die feinen Kristalle des weissen Marmors entgegen. Eustach
sah ebenfalls durch die Linse, wir versuchten an dem Platze noch
andere Mittel, und es stellte sich fest, dass die untersuchte
Flaeche Marmor sei. Nun begannen wir, um das Unglaubliche voellig zu
beweisen oder unsere Meinung zu widerlegen, auch an andern Stellen
Untersuchungen. Wir fingen an Stellen an, welche ohnehin ein wenig
schadhaft waren und gingen nach und nach zu anderen ueber. Wir
beobachteten zuletzt gar nicht mehr so genau die Vorsichten, die wir
uns am Anfange auferlegt hatten, und kamen zu dem Ergebnisse, dass an
zahlreichen Stellen unter dem Gipse der Gestalt weisser Marmor sei.
Der Schluss war nun erklaerlich, dass an allen Stellen, auch den nicht
untersuchten, der Gips ueber Marmor liege. Das grosse Gewicht der
Gestalt war nicht der letzte Grund unserer Vermutung. Durch welchen
Zufall oder durch welch seltsames Beginnen die Marmorgestalt
mit Gips koenne ueberzogen worden sein, war uns unerklaerlich. Am
wahrscheinlichsten daeuchte uns, dass es einmal irgend ein Besitzer
getan habe, damit ein fremder Feind, der etwa seine Wohnstadt und ihre
Kunstwerke bedrohte, die Gestalt, als aus wertlosem Stoffe bestehend,
nicht mit sich fort nehme. Weil nun doch der Feind die Gestalt
genommen habe oder weil ein anderer hindernder Umstand eingetreten
sei, habe die Decke nicht mehr weggenommen werden koennen, und der
edle Kern habe undenkbar lange Jahre in der schlechten Huelle stecken
muessen. Wir fingen nun auf dem Wirbel des Hauptes an, den Gips nach
und nach zu beseitigen. Teils, und zwar im Roheren, geschah es mit
dem Messer, teils, und zwar gegen das Ende, wurden Pinsel und das
aufloesende Mittel des Wassers angewendet. Wir rueckten so von dem
Haupte ueber die Gestalt hinunter, und alles und jedes war Marmor.
Durch den Gips war der Marmor vor den Unbilden folgender Zeiten
geschuetzt worden, dass er nicht das truebe Wasser der Erde oder sonstige
Unreinigkeiten einsaugen musste, und er war reiner als ich je Marmor
aus der alten Zeit gesehen habe, ja er war so weiss, als sei die
Gestalt vor nicht gar langer Zeit erst gemacht worden. Da aller Gips
beseitigt war, wurde die Oberflaeche, welche doch durch die feinsten
zurueckgebliebenen Teile des Ueberzuges rauh war, durch weiche, wollene
Tuecher so lange geglaettet, bis sich der glaenzende Marmor zeigte und
durch Licht und Schatten die feinste und zartest empfundene Schwingung
sichtbar wurde. Jetzt war die Gestalt erst noch viel schoener als
sie sich in Gips dargestellt hatte, und Eustach und ich waren von
Bewunderung ergriffen. Dass sie nicht aus neuer Zeit stamme, sondern
dem alten Volke der Griechen angehoere, erkannten wir bald. Ich hatte
so viele und darunter die als die schoensten gepriesenen Bildwerke der
alten Heidenzeit gesehen und vermochte daher zwischen ihren und den
Arbeiten des Mittelalters oder der neuen Zeit zu vergleichen. Ich
hatte alle Abbildungen, welche von den Bildwerken der alten Zeit
zu bekommen waren, in den Asperhof gebracht, so dass ich neuerdings
Vergleichungen anstellen konnte, und dass auch Eustach, welcher
nicht so viel in Wirklichkeit gesehen hatte, ein Urteil zu gewinnen
vermochte. Nur nach sehr langen und sehr genauen Untersuchungen gaben
wir uns mit Festigkeit dem Gedanken hin, dass das Standbild aus der
alten Griechenzeit herruehre. Wir lernten bei diesen Untersuchungen,
zu deren groesserer Sicherstellung wir sogar Reisen unternahmen, die
Merkmale der alten und neuen Bildwerke so weit kennen, dass wir die
Ueberzeugung gewannen, die besten Werke beider Zeiten gleich bei der
ersten Betrachtung von einander unterscheiden zu koennen. Das Schlechte
ist freilich schwerer in Hinsicht seiner Zeit zu ermitteln. Merkwuerdig
ist es, dass voellig Wertloses aus der alten Zeit gar nicht auf
uns gekommen ist. Entweder ist es nicht entstanden oder eine
kunstbegeisterte Zeit hat es sogleich beseitigt. Wir haben in jener
Untersuchungszeit viel ueber alte Kunst gelernt. Von wem und aus
welchem Zeitabschnitte aber unser Standbild herruehre, konnten wir
nicht ermitteln. Das war jedoch gewiss, dass es nicht der strengen Zeit
angehoere und von der spaeteren, weicheren stamme. Ehe ich aber das
Bild aus der Huette, in welcher es stand, entfernte, ja ehe ich an den
Platz dachte, auf welchen ich es stellen wollte, musste etwas anderes
geschehen. Ich reiste nach Italien und suchte bei Cumae den Verkaeufer
meines Standbildes auf. Er war mit den Umaenderungen seines Platzes
beinahe fertig. Dieser war jetzt eine Halle neuer Art, in welcher
einige Menschen suessen roten Wein tranken, in welcher neue Gipsbilder
standen, um welche gruener Rasen war und aus welcher man eine schoene
Aussicht hatte. Ich erzaehlte ihm von der Entdeckung, welche ich
gemacht hatte und sagte, er moege nun nach derselben den Preis des
Bildes bestimmen. Er koennte es zu diesem Zwecke selber in Deutschland
besehen oder es besehen lassen. Er fand Beides nicht fuer noetig,
sondern forderte sogleich eine ansehnliche Summe, die den Wert eines
solchen Gegenstandes, deren Preise in den verschiedenen Zeiten sehr
wechseln, darstellen mochte. Ich war damals schon in den Besitz meiner
groesseren Habe gekommen, die mir durch eine Erbschaft zugefallen war,
und zeigte mich bereit, die Summe zu erlegen, nur moechte ich mich ueber
das Herkommen des Standbildes noch naeher unterrichten und mir die
Gewissheit ueber das Recht verschaffen, das mein Vormann bei so
veraenderter Sachlage ueber das Bild habe. Meine Forschungen fuehrten zu
nichts weiter, als dass das Bild seit vielen Menschenaltern schon in
dem Besitze der Familie sei, von welcher ich es habe, dass einmal
Ueberreste eines alten Gebaeudes hier gewesen waeren, dass man das Gebaeude
nach und nach abgebrochen habe, dass man aus Wasserbecken, niederen
Saeulengittern und andern Dingen von weissem Steine Kalk gebrannt, und
dass man aus den Resten des Gebaeudes und mit dem Kalke Haeuser in den
Umgebungen gebaut habe. Es seien mehrere Standbilder bei den Truemmern
gewesen und seien verkauft worden. Fuer das weisse Maedchen mit dem Stabe
in der Hand habe man einmal einen Mantel aus Holz gemacht, darueber ist
ein Streit in Hinsicht der Zahlung entstanden, und die Schrift, welche
den Grossvater des jetzigen Besitzers zur Zahlung verurteilte, ist mir
in dem Amte zur Einsicht und beglaubigten Abschrift gewiesen worden.
Nachdem ich mir noch einen Kaufvertrag ueber das Marmorbild von einem
Notar hatte verfassen lassen und mich mit einer gefertigten Abschrift
versehen hatte, erlegte ich die geforderte Summe und reiste wieder
nach Hause. Hier wurde beraten, wohin das nun mit allem Rechte mein
genannte Standbild kommen sollte. Es war nicht schwer, die Stelle
auszufinden. Ich hatte auf der Marmortreppe schon einen Absatz
errichtet, der einerseits die Treppe unterbrechen und ihr dadurch
Zierlichkeit verleihen und andrerseits dazu dienen sollte, dass einmal
ein Standbild auf ihm stehe und der Treppe den groessten Schmuck
verleihe. Nachdem wir uns durch Messungen ueberzeugt hatten, dass die
Gestalt fuer den Platz nicht zu hoch sei, wurde der kleine Sockel
verfertigt, auf dem sie jetzt steht, es wurde eine Vorrichtung gebaut.
sie auf den Platz zu bringen, und sie wurde auf ihn gebracht. Wir
standen nun oft vor der Gestalt und betrachteten sie. Die Wirkung
wurde statt schwaecher immer groesser und nachhaltiger, und unter allen
Kunstgegenstaenden, die ich habe, ist mir dieser der liebste. Das ist
der hohe Wert der Kunstdenkmale der alten, heitern Griechenwelt, nicht
bloss der Denkmale der bildenden Kunst, die wir noch haben, sondern
auch der der Dichtung, dass sie in ihrer Einfachheit und Reinheit das
Gemuet erfuellen und es, wenn die Lebensjahre des Menschen nach und nach
fliessen, nicht verlassen, sondern es mit Ruhe und Groesse noch mehr
erweitern und mit Unscheinbarkeit und Gesetzmaessigkeit zu immer
groesserer Bewunderung hinreissen. Dagegen ist in der Neuzeit oft ein
unruhiges Ringen nach Wirkung, das die Seele nicht gefangen nimmt,
sondern als ein Unwahres von sich stoesst. Es sind manche Maenner
gekommen, das Standbild zu betrachten, manche Freunde und Kenner der
alten Kunst, und der Erfolg ist fast immer derselbe gewesen, ein
Ernst der Anerkennung und der Wuerdigung. Wir, Eustach und ich, sind
in den Dingen der alten Kunst sehr hiedurch vorgeschritten, und
beide sind wir von der alten Kunst erst recht zur Erkenntnis der
mittelalterlichen gekommen. Wenn wir die unnachahmliche Reinheit,
Klarheit, Mannigfaltigkeit und Durchbildung der alten Gestaltungen
betrachtet hatten und zu denen des Mittelalters gingen, bei welchen
grosse Fehler in diesen Beziehungen walten, so sahen wir hier ein
Inneres, ein Gemuet voll Ungeziertheit, voll Glauben und voll
Innigkeit, das uns fast im Stammeln so ruehrt wie uns jenes dort im
vollendeten Ausdrucke erhobt. Ueber die Zeit der Entstehung unseres
Standbildes koennen wir auch jetzt noch nichts Festes behaupten, auch
nicht, ob es mit anderen aus dem Volke von Standbildern, das in Hellas
stand, nach Rom gekommen ist, oder ob es unter den Roemern von einem
Griechen gefertigt worden ist, wie man es in jener Roemerzeit, da
griechische Kunst mit nicht hinlaenglichem Verstaendnisse ueber Italien
ausgebreitet wurde, in den Sitz eines Roemers gebracht hat und wie es
auf ein ganz anderes, entferntes Geschlecht uebergegangen ist."
Er schwieg nach diesen Worten, und ich sah den Mann an. Wir waren,
waehrend er sprach, in dem Saale auf und nieder gegangen. Ich begriff,
warum er diesen Saal bei Abendgewittern aufsucht. Durch die hellen
Fenster schaut der ganze suedliche Himmel herein, und auch Teile des
westlichen und des oestlichen sind zu erblicken. Die ganze Kette der
hiesigen Alpen kann am Rande des Gesichtskreises gesehen werden. Wenn
nun ein Gewitter in jenem Raume entsteht - und am schoensten sind
Gewitterwaende oder Gewitterberge, wenn sie sich ueber fernhinziehende
Gebirge lagern oder laengs des Kammes derselben dahin gehen -, so kann
er dasselbe frei betrachten, und es breitet sich vor ihm aus. Zu dem
Ernste der Wolkenwaende gesellt sich der Ernst der Waende von Marmor,
und dass in dem Saale gar keine Geraete sind, vermehrt noch die
Einsamkeit und Groesse. Wenn nun vollends schon eine schwache
Abenddaemmerung eingetreten ist, so zeigt die Oberflaeche des Marmors
den Widerschein der Blitze, und waehrend wir so auf und nieder gingen,
war einige Male der reine, kalte Marmor wie in eine Glut getaucht, und
nur die hoelzernen Tueren standen dunkel in dem Feuer oder zeigten ihre
duestere Fuegung.
Ich fragte meinen Gastfreund, ob er das Marmorstandbild schon lange
besitze.
"Die Zahl der Jahre ist nicht sehr gross", antwortete er, "ich kann
sie euch aber nicht genau angeben, weil ich sie nicht in meinem
Gedaechtnisse behalten habe. Ich werde in meinen Buechern nachsehen und
werde euch morgen sagen, wie lange das Bild in meinem Hause steht."
"Ihr werdet wohl erlauben", sagte ich, "dass ich die Gestalt oefter
ansehen darf und dass ich mir nach und nach einpraege und immer klarer
mache, warum sie denn so schoen ist und welches die Merkmale sind, die
auf uns eine solche Wirkung machen."
"Ihr duerft sie besehen, so oft ihr wollt", antwortete er, "den
Schluessel zu der Tuer des Marmorganges gebe ich euch sehr gerne, oder
ihr koennt auch von dem Gange der Gastzimmer ueber die Marmortreppe
hinabgehen, nur muesst ihr sorgen, dass ihr immer Filzschuhe in
Bereitschaft habt, sie anzuziehen. Ich freue mich jetzt, dass ich den
Marmorgang und die Treppe so habe machen lassen, wie sie gemacht sind.
Ich habe damals schon immer daran gedacht, dass auf die Treppe ein Bild
von weissem Marmor wird gestellt werden, dass dann am besten das Licht
von oben darauf herabfaellt und dass die umgebenden Waende so wie der
Boden eine dunklere, sanfte Farbe haben muessen. Das reine Weiss - in
der lichten Daemmerung der Treppe erscheint es fast als ganz rein -
steht sehr deutlich von der umgebenden tieferen Farbe ab. Was aber
die Merkmale anbelangt, an denen ihr die Schoenheit erkennen wollt, so
werdet ihr keine finden. Das ist eben das Wesen der besten Werke der
alten Kunst, und ich glaube, das ist das Wesen der hoechsten Kunst
ueberhaupt, dass man keine einzelnen Teile oder einzelne Absichten
findet, von denen man sagen kann, das ist das Schoenste, sondern das
Ganze ist schoen, von dem Ganzen moechte man sagen, es ist das Schoenste;
die Teile sind bloss natuerlich. Darin liegt auch die grosse Gewalt, die
solche Kunstwerke auf den ebenmaessig gebildeten Geist ausueben, eine
Gewalt, die in ihrer Wirkung bei einem Menschen, wenn er altert,
nicht abnimmt, sondern waechst, und darum ist es fuer den in der Kunst
Gebildeten so wie fuer den voellig Unbefangenen, wenn sein Gemuet nur
ueberhaupt dem Reize zugaenglich ist, so leicht, solche Kunstwerke
zu erkennen. Ich erinnere mich eines Beispieles fuer diese meine
Behauptung, welches sehr merkwuerdig ist. Ich war einmal in einem
Saale von alten Standbildern, in welchem sich ein aus weissem Marmor
verfertigter, auf seinem Sitze zurueckgesunkener und schlafender
Juengling befand. Es kamen Landleute in den Saal, deren Tracht
schliessen liess, dass sie in einem sehr entfernten Teile des Landes
wohnten. Sie hatten lange Roecke, und auf ihren Schnallenschuhen lag
der Staub einer vielleicht erst heute Morgen vollbrachten Wanderung.
Als sie in die Naehe des Juenglings kamen, gingen sie behutsam auf den
Spitzen ihrer Schuhe vollends hinzu. Eine so unmittelbare und tiefe
Anerkennung ist wohl selten einem Meister zu Teil geworden. Wer aber
in einer bestimmten Richtung befangen ist und nur die Schoenheit, die
in ihr liegt, zu fassen und zu geniessen versteht, oder wer sich in
einzelne Reize, die die neuen Werke bringen, hineingelebt hat, fuer
den ist es sehr schwer, solche Werke des Altertums zu verstehen, sie
erscheinen ihm meistens leer und langweilig. Ihr waret eigentlich auch
in diesem Falle. Wenngleich nicht von der neuen, nur bestimmte Seiten
gebenden Kunst gefangen, habt ihr doch Abbildungen von gewissen
Gegenstaenden, besonders denen eurer wissenschaftlichen Bestrebungen,
zu sehr und zu lange in einer Richtung gemacht, als dass euer Auge sich
nicht daran gewoehnt, euer Gemuet sich nicht dazu hingeneigt haette und
ungefueger geworden waere, etwas anderes mit gleicher Liebe aufzunehmen,
das in einer anderen Richtung lag, oder vielmehr, das sich in keiner
oder in allen Richtungen befand. Ich habe gar nie gezweifelt, dass ihr
zu dieser Allgemeinheit gelangen werdet, weil schoene Kraefte in euch
sind, die noch auf keinen Afterweg geleitet sind und nach Erfuellung
streben; aber ich habe nicht gedacht, dass dies so bald geschehen
werde, da ihr noch zu kraftvoll in dem auf seiner Stufe hoechst
lobenswerten Streben nach dem Einzelnen begriffen waret. Ich habe
geglaubt, irgend ein grosses, allgemeines menschliches Gefuehl, das euch
ergreifen wuerde, wuerde euch auf den Standpunkt fuehren, auf dem ich
euch jetzt sehe."
Ich konnte eine geraume Zeit auf diese letzte Rede meines Gastfreundes
nichts antworten. Wir gingen schweigend in dem Saale auf und nieder,
und es war um so stiller, als unsere mit weichen Sohlen bekleideten
Fuesse nicht das geringste Geraeusch auf dem glaenzenden Fussboden machten.
Blitze zuckten zuweilen in den Spiegelflaechen um und unter uns, der
Donner rollte gleichsam bei den offenen Fenstern herein und die
Wolken bauten sich in Gebirgen oder in Truemmern oder in luftigen
Laenderstrecken durch den weiten Raum auf, den die Fenster des Saales
beherrschten.
Ich sagte endlich, dass ich mich jetzt erinnere, wie mein Vater oft
geaeussert habe, dass in schoenen Kunstwerken Ruhe in Bewegung sein muesse.
"Es ist ein gewoehnlicher Kunstausdruck", entgegnete mein Gastfreund,
"allein es taete es auch ohne ihn. Man versteht gewoehnlich unter
Bewegung Bewegbarkeit. Bewegung kann die bildende Kunst, von der wir
hier eigentlich reden, gar nicht darstellen. Da die Kunst in der Regel
lebende Wesen, Menschen, Tiere, Pflanzen - und selbst die Landschaft
trotz der starrenden Berge ist mit ihren beweglichen Wolken und ihrem
Pflanzenschmucke dem Kuenstler ein Atmendes; denn sonst wird sie
ihm ein Erstarrendes - darstellt, so muss sie diese Gegenstaende so
darstellen, dass es dem Beschauer erscheint, sie koennten sich im
naechsten Augenblicke bewegen. Ich will hier wieder aus dem Altertume
ein Beispiel anfuehren. Alle Stoffe, mit welchen Menschen sich
bekleiden, nehmen nach der Art der Bewegungen, denen sich verschiedene
Menschen gerne hingeben, verschiedene Gestaltungen an. Ein Freund von
mir erkannte einen alten wohlbekannten und trefflichen Schauspieler
einmal bei einer Gelegenheit, bei welcher er nur ein Stueck des Rockes
des Schauspielers sehen konnte. Wenn nun die Gestaltungen der Stoffe,
die sich meistens in Falten kund geben, nach der Wirklichkeit
nachgebildet werden, nicht nach willkuerlichen Zurechtlegungen, die man
nach herkoemmlichen Schoenheitsgesetzen an der Gliederpuppe macht, so
liegt in diesen nachgebildeten Gestaltungen zuerst eine bestimmte
Eigentuemlichkeit und Einzelheit, die den Gegenstand sinnlich
hinstellt, und dann drueckt die Gestaltung nicht bloss den Zustand aus,
in dem sie gegenwaertig ist, sondern sie weist auch auf den zurueck,
der unmittelbar vorher war und von dem sich die Gebilde noch leise
vorfinden, und sie laesst zugleich den naechstkuenftigen ahnen, zu dem die
Bildungen neigen. Dies ist es, was bei Gewandungen ganz vorzueglich
fuer das beschauende Auge den Begriff der Bewegung gibt und mithin
der Lebendigkeit. Dies ist es, da die Alten so gerne nach der Natur
arbeiteten, was sie dort, wo sie Gewaender anbringen, so meisterhaft
handhaben, dass der Spruch entstanden ist, sie stellten nicht nur dar,
was ist, sondern auch, was zunaechst war und sein wird. Darum bilden
sie in der Gewandung nicht bloss die Hauptteile, sondern auch die
entsprechenden Unterabteilungen, und dies mit einer solchen Zartheit
und Genauigkeit, dass man auf den Stoff des Werkes vergisst und nur den
Stoff der Gewandung sieht und ihn zusammenlegen und in der Hand ballen
zu koennen vermeint. Solcher Bildung gegenueber legen manche Neuen
sogenannte edle Falten zurecht, bilden sie im Erze oder Marmor nach,
vermeiden hiebei in sorglichem Masse zu grosse Einzelheiten, um nicht
unruhig zu werden, und erzielen hiebei, dass man allerdings grosse,
edle Massen von Faltungen sieht, dass aber in der Falte der Stoff des
Werkes, nicht des Gewandes herrscht, dass man die marmorne, die erzene
Falte sieht, dass das Gemuet erkaeltet wird und dass man meint, der Mann,
der damit angetan ist, koenne nicht gehen, weil ihn die erzene Falte
hindere. Wie es mit dem Gewande ist, ist es auch mit dem Leibe,
der das Gewand der Seele ist, und die Seele allein kann ja nur der
Gegenstand sein, welchen der Kuenstler durch das Bild und Gleichnis
des Leibes darstellt. Hier auch liessen sich die Alten von der
Natur leiten, und wenn sie Suenden begingen, die das Auge des
naturforschenden Zergliederers, strenge genommen, tadeln muesste, so
begingen sie keine, die das nicht so stofflich blickende Auge der
Kunst zu verdammen gezwungen waere. Dafuer zeigt die Schwingung der
Gliederflaechen in ihren Teilen und Unterabteilungen eine solche
Ausbildung und Durchfuehrung, dass die Zustaende von jetzt und von
unmittelbar vorher und nachher sichtbar werden, dass die Glieder, wie
ich vorher von der Gewandung sagte, die Vorstellung der Beweglichkeit
geben und dass sie leben. Wie bei den Gewaendern bilden manche Neue auch
die Glieder ins Groessere, Allgemeinere, weniger Ausgefuehrte, um nicht
krampfig zu werden, und dann geraten die Muskeln gerne wie glatte,
sproede, unbiegsame Glaskoerper, und die Gestalt kann sich nicht ruehren.
Das Gesagte mag ungefaehr den Begriff von dem geben, was man in der
Kunst unter Bewegung versteht. Was man unter Ruhe begreift, das mag
wohl zuerst darin bestehen, dass jeder Gegenstand, den die bildende
Kunst darstellt, genau betrachtet, in Ruhe ist. Der laufende Wagen,
das rennende Pferd, der stuerzende Wasserfall, die jagende Wolke,
selbst der zuckende Blitz sind in der Abbildung ein Starres,
Bleibendes, und der Kuenstler kann nur durch die frueher von mir
angedeuteten Mittel die Bewegung als Bewegbarkeit, als Taeuschung des
Auges darstellen, wodurch er zugleich seinen Gegenstand ueber die
Grenzen des unmittelbar Dargestellten hinaushebt und ihm eine ungleich
groessere Bedeutung gibt. Aber die dargestellte Bewegung darf nicht zu
gewaltsam sein, sonst helfen die Mittel nicht, der Kuenstler scheitert
und wird laecherlich. Zum Beispiele Pferde, die von einem Felsen durch
die Luft hinabstuerzen, duerfen nicht in der Luft fallend gemalt werden
- wenigstens duerfte dies leichter eine den Verstand befriedigende
Zeichnung als ein das ganze Kunstvermoegen entzueckendes Bild werden.
Darum darf der in seinen Gestalten sich stets erneuende Wasserfall mit
weit geringerer Gefahr dargestellt werden als eine Fluessigkeit, die
aus einem Gefaesse gegossen wird, wobei die Einbildungskraft sich mit
dem Gedanken quaelt, dass das Gefaess nicht leer wird. Der in hohen Lueften
auf seinen Schwingen ruhende Geier ist im Bilde erhaben, der dicht
vor unsern Augen auf seine Beute stuerzende kann sehr misslich werden.
Der an Bergen emporsteigende Nebel ist lieblich, der von einer
abgefeuerten Kanone aufsteigende Rauch verletzt uns durch sein
immerwaehrendes Bleiben. Es ist begreiflich, dass die Grenzen zwischen
dem Darstellbaren in der Bewegung nicht fest zu bestimmen sind und
dass groessere Begabungen viel weiter hierin gehen duerfen als kleinere.
So sah ich schon sehr oft gemalte fahrende Waegen. Die Pferde sind
gewoehnlich ihrer Fussstellung nach im schoensten Laufe begriffen,
waehrend die Speichen der Wagenraeder klar und sichtbar in voelliger
Ruhe starren. Der groessere Kuenstler wird uns den Nebel der sausenden
Speichen darstellen und manches Andere zutun und zusammenstellen, dass
wir den Wagen wirklich fahren sehen. Ausser dem hier gegebenen Begriffe
von stofflicher Ruhe mag wohl unter Ruhe weit oefter die kuenstlerische
zu verstehen sein, die ein Kunstwerk, sei es Bild, Dichtung oder
Musik, nie entbehren kann, ohne aufzuhoeren, ein Kunstwerk zu sein.
Es ist diese Ruhe jene allseitige Uebereinstimmung aller Teile zu
einem Ganzen, erzeugt durch jene Besonnenheit, die in hoechster
kunstliebender Begeisterung nie fehlen darf, durch jenes Schweben
ueber dem Kunstwerke und das ordnende Ueberschauen desselben, wie stark
auch Empfindungen oder Taten in demselben stuermen moegen, die das
Kunstschaffen des Menschen dem Schaffen Gottes aehnlich macht und Mass
und Ordnung blicken laesst, die uns so entzuecken. Bewegung regt an,
Ruhe erfuellt, und so entsteht jener Abschluss in der Seele, den wir
Schoenheit nennen. Es ist nicht zu zweifeln, dass sich Andere vielleicht
Anderes bei diesen Worten denken, dass dieses Andere gut oder besser
als das Meinige sein kann - gewoehnlich geht es mit solchen Gangwoertern
so, dass jeder seinen eigenen Sinn hinein legt. Das Beste ist, dass die
schaffende Kraft in der Regel nicht nach solchen aufgestellten Saetzen
wirkt, sondern das Rechte trifft, weil sie die Kraft ist, und es
desto sicherer trifft, je mehr sie sich auf ihrem eigentuemlichen Wege
naturgemaess ausbildet. Fuer das Verstaendnis der Kunst, fuer solche,
welche ihre Werke beschauen und sich darueber besprechen, sind
Auslegungen derselben Einkleidung ihres Wesens in Worte eine sehr
nuetzliche Sache, nur muss man die Worte nicht zum Hauptgegenstande
machen und auf einen Sinn, den man ihnen beilegt, nicht so bestehen,
dass man alles verdammt, was nicht nach diesem Sinne ist. Sonst muesste
man ja den groessten und einzigen Kuenstler am meisten tadeln, Gott, der
so unzaehlige Gestaltungen erschaffen hat und dessen Werke ja wirklich
von Menschen untergeordneten Geistes getadelt werden, die meinen, sie
haetten es anders gemacht."
Bei diesen Worten kam Gustav in den Saal. Die Daemmerung hatte schon
stark zugenommen, es regnete aber noch immer nicht.
"Dieser steht noch auf demselben Stande, auf welchem ihr frueher
gestanden seid", sagte mein Gastfreund auf Gustav weisend, der auf ihn
zuging.
"Wie meinst du das, Vater?" fragte der Knabe.
"Wir redeten von Kunst", antwortete mein Gastfreund, "und da behaupte
ich, dass du noch nicht in der Lage bist, Kunstwerke so erkennen und
beurteilen zu koennen wie unser Gast hier."
"Wohl, das behaupte ich selber", sagte Gustav, "er ist darum auch
teilweise mein Lehrer, und wenn er in der Erkenntnis der Kunst dir
und Eustach und der Mutter nachstrebt, so werde ich meines Teils ihm
wieder nachstreben."
"Das ist gut", sagte mein Gastfreund, "aber das ist es nicht so ganz,
wovon wir sprachen, allein es tut nichts zur Sache und gehoert auch
nicht zur Wesenheit."
Mit diesen Worten, gleichsam um ferneren Fragen vorzubeugen, trat er
an ein Fenster und wir mit ihm.
Wir betrachteten eine Weile die Erscheinung vor uns, die ueber dem
immer dunkler werdenden Gefilde immer grossartiger wurde, und gingen
dann, da der Abend beinahe in Finsternis uebergehen wollte und die
Stunde des Abendessens gekommen war, ueber die Marmortreppe in das
Speisezimmer hinunter.
Das Gewitter war in der Nacht ausgebrochen, hatte einen Teil derselben
mit Donnern und einen Teil mit blossem Regen erfuellt und machte dann
einem sehr schoenen und heiteren Morgen Platz.
Das Erste, was ich an diesem Tage tat, war, dass ich zu dem marmornen
Standbilde ging. Ich hatte es gestern, da wir ueber die Treppe
hinabstiegen, nicht mehr deutlich und nur von einem Blitze
oberflaechlich beleuchtet gesehen. Die Finsternis war auf der Treppe
schon zu gross gewesen. Heute stand es in der ruhigen und klaren Helle
des Tages, welche das Glasdach auf die Treppe sendete, schmucklos und
einfach da. Ich hatte nicht gedacht, dass das Bild so gross sei. Ich
stellte mich ihm gegenueber und betrachtete es lange.
Mein Gastfreund hatte Recht, ich konnte keine eigentliche einzelne
Schoenheit entdecken, was wir im neuen Sinne Schoenheit heissen, und ich
erinnerte mich auf der Treppe sogar, dass ich oft von einem Buche oder
von einem Schauspiele, ja von einem Bilde sagen gehoert hatte, es sei
voller Schoenheiten, und dem Standbilde gegenueber fiel mir ein, wie
unrecht entweder ein solcher Spruch sei oder, wenn er berechtigt ist,
wie arm ein Werk sei, das nur Schoenheiten hat, selbst dann, wenn es
voll von ihnen ist und das nicht selber eine Schoenheit ist; denn ein
grosses Werk, das sah ich jetzt ein, hat keine Schoenheiten und um so
weniger, je einheitlicher und einziger es ist. Ich geriet sogar auf
den Gedanken und auf die Erfahrung, die ich mir nie klar gemacht
hatte, dass, wenn man sagt, dieser Mann, diese Frau habe eine schoene
Stimme, schoene Augen, einen schoenen Mund, eben damit zuleich gesagt
ist, das andere sei nicht so schoen; denn sonst wuerde man nicht
Einzelnes herausheben. Was bei einem lebenden Menschen gilt, dachte
ich, gilt bei einem Kunstwerke nicht, bei welchem alle Teile gleich
schoen sein muessen, so dass keiner auffaellt, sonst ist es eben als
Kunstwerk nicht rein und ist im strengsten Sinne genommen keines.
Dessenohngeachtet, dass ich, oder vielmehr eben darum, weil ich keine
einzelnen Schoenheiten an dem Standbilde zu entdecken vermochte,
machte es, wie ich mir jetzt ganz klar bewusst war, wieder einen
ausserordentlichen Eindruck auf mich. Der Eindruck war aber nicht
einer, wie ich ihn oefter vor schoenen Sachen hatte, ja selbst vor
Dichtungen, sondern er war, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf,
allgemeiner, geheimer, unentraetselbarer, er wirkte eindringlicher und
gewaltiger; aber seine Ursache lag auch in hoeheren Fernen, und mir
wurde begreiflich, ein welch hohes Ding die Schoenheit sei, wie
schwerer sie zu erfassen und zu bringen sei als einzelne Dinge, die
die Menschen erfreuen und wie sie in dem grossen Gemuete liege und
von da auf die Mitmenschen hinausgehe, um Grosses zu stiften und zu
erzeugen. Ich empfand, dass ich in diesen Tagen in mir um Vieles weiter
gerueckt werde.
In der naechsten Zeit sprach ich auch mit Eustach ueber das Standbild.
Er war sehr erfreut darueber, dass ich es als so schoen erkannte, und
sagte, dass er sich schon lange darnach gesehnt habe, mit mir ueber
dieses Werk zu sprechen; allein es sei unmoeglich gewesen, da
ich selber nie davon geredet habe und eine Zwiesprache nur dann
erspriesslich werde, wenn man beiderseitig von einem Gegenstande
durchdrungen sei. Wir betrachteten nun miteinander das Bildwerk und
machten uns wechselseitig auf Dinge aufmerksam, die wir an demselben
zu erkennen glaubten. Besonders war es Eustach, der ueber das
Marmorbild, so sehr es sich in seiner Einfachheit und seiner taeglich
sich vor mir immer staunenswerter entwickelnden Natuerlichkeit jeder
Einzelverhandlung zu entziehen schien, doch ueber sein Entstehen, ueber
die Art seiner Verhaeltnisse, ueber seine Gesetzmaessigkeit und ueber das
Geheimnis seiner Wirkung sachkundig zu sprechen wusste. Ich hoerte
begierig zu und empfand, dass es wahr sei, was er sprach, obgleich ich
ihn nicht immer so genau verstand wie meinen Gastfreund, da er nicht
so klar und einfach zu sprechen wusste wie dieser. Ich schritt in der
Erkenntnis des Bildes vor, und es war mir, als ob es nach seinen
Worten immer naeher an mich heran gerueckt wuerde.
Er suchte viele Zeichnungen hervor, auf denen sich Abbildungen
von Standbildern oder andern geschnitzten oder auf anderem Wege
hervorgebrachten Gestalten des Mittelalters befanden. Wir verglichen
diese Gestalten mit der aus dem Griechentume stammenden.
Auch wirkliche Gestaltungen von kleinen Engeln, Heiligen oder anderen
Personen, die sich in dem Rosenhause oder in der Naehe befanden, suchte
er zur Vergleichung herbei zu bringen. Es zeigte sich hier fuer meine
Augen, dass das wahr sei, was mein Gastfreund ueber griechische und
mittelalterliche Kunst gesagt hatte. Es war mir wie ein jugendlicher
und doch maennlich gereifter Sinn voll Mass und Besonnenheit sowie voll
herrlicher Sinnfaelligkeit, der aus dem Griechenwerke sprach. In den
mittelalterlichen Gebilden war es mir ein liebes, einfaches, argloses
Gemuet, das glaeubig und innig nach Mitteln griff, sich auszusprechen,
der Mittel nicht voellig Herr wurde, dies nicht wusste und doch
Wirkungen hervorbrachte, die noch jetzt ihre Macht auf uns aeussern und
uns mit Staunen erfuellen. Eis ist die Seele, die da spricht und in
ihrer Reinheit und in ihrem Ernste uns mit Bewunderung erfuellt,
waehrend spaetere Zeiten, von denen Eustach zahlreiche Abbildungen von
Bildwerken vorlegte, trotz ihrer Einsicht, ihrer Aufgeklaertheit und
ihrer Kenntnis der Kunstmittel nur frostige Gestalten in unwahren
Flattergewaendern und uebertriebenen Gebaerden hervorbrachten, die keine
Glut und keine Innigkeit haben, weil sie der Kuenstler nicht hatte, und
die nicht einmal irgend eine Seele zeigen, weil der Kuenstler nicht mit
der Seele arbeitete, sondern mit irgend einer Ueberlegung nach eben
herrschenden Gestaltungsansichten, weshalb er das, was ihm an Gefuehl
abging, durch Unruhe und Heftigkeit des Werkes zu ersetzen suchte. Was
die Sinnfaelligkeit anlangt, so schien mir das Mittelalter nicht nach
Vollendung in derselben gestrebt zu haben. Neben einem Haupte, das in
seiner Einfachheit und Gegenstaendlichkeit trefflich und tadellos war,
befinden sich wieder Bildungen und Gliederungen, die beinahe unmoeglich
sind. Der Kuenstler sah dies nicht; denn er fand den Zustand seines
Gemuetes in dem Ausdrucke seines Werkes, mehr hatte er nicht
beabsichtigt, und nach Verschmelzung des Sinnentumes strebte er nicht,
weil es ihm, wenigstens in seiner Kunsttaetigkeit ferne lag und er
einen Mangel nicht empfand. Darum stellt sich auch bei uns die Wirkung
der Innerlichkeit ein, obgleich wir, unaehnlich dem schaffenden
Kuenstler des Mittelalters, die sinnlichen Maengel des Werkes empfinden.
Dies spricht um so mehr fuer die Trefflichkeit der damaligen Arbeiten.
Es waren recht schoene Tage, die ich mit Eustach in diesen
Vergleichungen und diesen Bestrebungen hinbrachte.
Ich wurde auch wieder auf die Gemaelde alter und laengstvergangener
Zeiten zurueckgefuehrt. Ich hatte in meiner fruehesten Jugend eine
Abneigung vor alten Gemaelden gehabt. Ich glaubte, dass in ihnen eine
Dunkelheit und Duesterheit herrsche, die dem froehlichen Reize der
Farben, wie er in den neuen Bildern sich vorstellt und wie ich ihn
auch in der Natur zu sehen meinte, entgegen und weit untergeordnet
sei. Diese Meinung hatte ich zwar fahren gelassen, als ich selber zu
malen begonnen und nach und nach gesehen hatte, dass die Dinge der
Natur und selber das menschliche Angesicht die heftigen Farben nicht
haben, die sich in dem Farbekasten befinden, dass aber dafuer die Natur
eine Kraft des Lichtes und des Schattens besitze, die wenigstens ich
durch alle meine Farben nicht darzustellen vermochte. Dessohngeachtet
war mir die Erkenntnis dessen, was die Malerkunst in frueheren Zeiten
hervorgebracht hatte, nicht in dem Masse aufgegangen, als es der
Sache nach notwendig gewesen waere. Wenn ich gleich im Einzelnen
vorgesehritten war und Manches in alten Bildern als sehr schoen erkannt
hatte, so war ich doch fort und fort zu sehr in meinen Bestrebungen
auf dem Gebiete der Natur befangen, als dass ich auf andere Gebilde
als die der Natur mit kraeftiger Innerlichkeit geachtet haette. Darum
erschienen mir Pflanzen, Faltern, Baeume, Steine, Waesser, selbst das
menschliche Angesicht als Gegenstaende, die wuerdig waeren, von der
Malerkunst nachgebildet zu werden; aber alte Bilder erschienen
mir nicht als Nachbildungen, sondern gewissermassen als kostbare
Gegenstaende, die da sind und auf denen sich Dinge befinden, die man
gewohnt ist als auf Gemaelden befindliche zu sehen. Diese Richtung
hatte fuer mich den Nutzen, dass ich bei meinen Versuchen, Gegenstaende
der Natur zu malen, nicht in die Nachahmung irgend eines Meisters
verfiel, sondern dass meine Arbeiten mit all ihrer Fehlerhaftigkeit
etwas sehr Gegenstaendliches und Naturwahres hatten; aber es erwuchs
mir auch der Nachteil daraus, dass ich nie aus alten Meistern lernte,
wie dieser oder jener die Farben und Linien behandelt habe und dass
ich mir alles selber muehevoll erfinden musste und in Vielem gar
zu einem Ziele nicht gelangte. Obwohl ich spaeter der Betrachtung
mittelalterlicher Gemaelde mich mehr zuwandte und sogar im Winter viele
Zeit in Gemaeldesammlungen unserer Stadt zubrachte, so war doch ein
frueherer Zustand noch mehr oder weniger unbewusst vorherrschend und die
Kunst des Pinsels fand von mir nicht die Hingabe, die sie verdient
haette. Als ich jetzt mit Eustach die Zeichnungen mittelalterlicher
bildender Kunst durchging, als ich mit ihm ein mir wie ein neues
Wunder aufgegangenes Werk des alten Griechentums betrachtete, als ich
dieses Werk mit den minder alten unserer Vorfahren verglich und die
Unterschiede und Beziehungen einsehen lernte: da fing ich auch an, die
Gemaelde meines Gastfreundes anders zu betrachten, als ich bisher sie
und andere Gemaelde betrachtet hatte. Ich ging nicht nur oft in sein
Bilderzimmer und verweilte lange Zeit in demselben, sondern ich liess
mir auch das Verzeichnis der Bilder geben, um nach und nach die
Meister kennen zu lernen, die er versammelt hatte, ich bat, dass
mir erlaubt werde, mir das eine oder andere Bild, wie ich es eben
wuenschte, auf die Staffelei stellen zu duerfen, um es so kennen zu
lernen, wie mich ein innerer Drang trieb, und ich brachte oft mehrere
Tage in Untersuchung eines einzigen Bildes zu. Welch ein neues Reich
oeffnete sich vor meinen Blicken! Wie die Dichter mir eine Welt der
Seele aufschlossen, so lag hier wieder eine Welt, es war wieder eine
Welt der Seele, wieder dieselbe Welt der hochgehenden Seele der
Dichtkunst; aber mit wie ganz anderen Mitteln war sie hier erstrebt
und erreicht. Welche Kraft, welche Anmut, welche Fuelle, welche
Zartheit, und wie war dem Schoepfer eine aehnliche, eine gleiche, aber
menschliche Schoepfung nachgeschaffen. Ich lernte die Beziehungen der
alten Malerei - mein Freund hatte fast lauter alte Bilder - zu der
Natur kennen. Ich lernte einsehen, dass die alten Meister die Natur
getreuer und liebevoller nachahmten als die neuen, ja dass sie im
Erlernen der Zuege der Natur eine unsaegliche Ausdauer und Geduld
hatten, vielleicht mehr, als ich empfand, dass ich selber haette, und
vielleicht mehr, als mancher Kunstjuenger der Gegenwart haben mag. Ich
konnte nicht aburteilen, da ich zu wenige Werke der Gegenwart kannte
und so betrachtet hatte, als ich jetzt aeltere Bilder betrachtete;
aber es schien mir ein groesseres Eingehen in das Wesen der Natur kaum
moeglich. Ich begriff nicht, wie ich das so lange nicht in dem Masse
hatte sehen koennen, als ich es haette sehen sollen. Wenn aber auch
die Alten, wie ich hier mit ihnen umging, sich der Wirklichkeit sehr
beflissen und sich ihr sehr hingaben, so ging das doch nicht so weit,
als ich bei der Abbildung meiner naturwissenschaftlichen Gegenstaende
geschritten war, von denen ich alle Einzelheiten, so weit es nur
immer moeglich gewesen war, zu geben gesucht hatte. Dies waere, wie
ich einsah, der Kunst hinderlich gewesen, und statt einen ruhigen
Gesammteindruck zu erzielen, waere sie in lauter Einzelheiten
zerfallen. Die Meister, welche mein Gastfreund in seiner Sammlung
besass, verstanden es, das Einzelne der Natur in grossen Zuegen zu fassen
und mit einfachen Mitteln - oft mit einem einzigen Pinselstriche -
darzustellen, so dass man die kleinsten Merkmale zu erblicken waehnte,
bei naeherer Betrachtung aber sah, dass sie nur der Erfolg einer grossen
und allgemeinen Behandlung waren. Diese grosse Behandlung sicherte
ihnen aber auch Wirkungen im Grossen, die dem entgehen, welcher die
kleinsten Gliederungen in ihren kleinsten Teilen bildet. Ich sah erst
jetzt, welche schoene Gestalten aus dem menschlichen Geschlechte auf
der Malerleinwand lebten, wie edel ihre Glieder sind, wie mannigfaltig
- strahlend, kraeftig, geistvoll, milde - ihr Antlitz, wie adelig
ihre Gewaender, und waere es eine Bettlerjacke, und wie treffend die
Umgebung. Ich sah, dass die Farbe der Angesichter und anderer Teile das
leuchtende Licht menschlicher Gestaltungen ist, nicht der Farbestoff,
mit dem der Unkundige seinen Gebilden ein widriges Rot und Weiss gibt,
dass die Schatten so tief gehen, wie sie die Natur zeigt, und dass die
Umgebung eine noch groessere Tiefe hat, wodurch jene Kraft erzielt
wird, die sich der naehert, welche die Schoepfung durch wirklichen
Sonnenschein gibt, den niemand malen kann, weil man den Pinsel nicht
in Licht zu tauchen vermag, eine Kraft, die ich jetzt an den alten
Bildern so bewunderte. Von der aussermenschlichen Natur sah ich
leuchtende Wolken, klare Himmelsgebilde, ragende, reiche Baeume,
gedehnte Ebenen, starrende Felsen, ferne Berge, helle, dahinfliessende
Baeche, spiegelnde Seen und gruene Weiden, ich sah ernste Bauwerke und
ich sah das sogenannte stille Leben in Pflanzen, Blumen, Fruechten, in
Tieren und Tierchen. Ich bewunderte das Geschick und den Geist, womit
alles zurechtgelegt und hervorgebracht ist. Ich erkannte, wie unsere
Vorfahren Landschaften und Tiere malten. Ich erstaunte ueber den
zarten Schmelz, womit einer mittelst Ueberfarben seinen Gebilden
eine Durchsichtigkeit gab, oder ueber die Staerke, womit ein anderer
undurchsichtige Farben hinstellte, dass sie einen Berg bildeten, der
das Licht faengt und spiegelt und es so zwingt, das Bild mit zu malen,
zu dem ein Licht in dem Farbenkasten nicht war. Ich erkannte, wie der
eine in durchsichtigen Farben untermalte und auf diese seine festen,
koerperigen Farben aufsetzte, oder wie ein anderer Farbe auf Farbe mit
breitem Pinsel hinstellt und mit ihm die Uebergaenge vermittelt und mit
ihm die Zeichnung umreisst. Dass alte Bilder duesterer sind, erschien mir
einleuchtend, da das Oel die Farben nachdunkeln macht und der Firniss
eine dunkle braeunliche Farbe erhaelt. Beides haben umsichtige Meister
mehr als voreilige zu vermeiden gewusst, und mein Gastfreund hatte
Bilder, die in schoener Pracht und Farbenherrlichkeit leuchteten,
obwohl auch bei ihnen die Wuerde bewahrt blieb, dass sie mehr die Kraft
des Tones als auffallende oder etwa gar unwahre Farben brachten. Da
ich schon viel mit Farben beschaeftigt gewesen war, so verweilte ich
oft lange bei einem Bilde, um zu ergruenden, wie es gemalt ist und auf
welche Weise die Stoffe behandelt worden sind. In dem Rosenzimmerchen
Mathildens, wohin mich mein Gastfreund fuehrte, um auch dort die Bilder
zu sehen, hingen vier kleine Gemaelde, davon zwei von Tizian waren,
eines von Dominichino und eines von Guido Reni. Sie waren an Groesse
fast gleich und hatten gleiche Rahmen. Sie waren die schoensten,
die mein Gastfreund besass. Je mehr man sie betrachtete, desto
mehr fesselten sie die Seele. Ich bat ihn fast zu oft, mir diese
vier Bildchen zu zeigen, und er ermuedete nicht, mir immer die
Frauengemaecher aufzuschliessen, mich in das Zimmerchen zu fuehren, mich
die Bilder betrachten zu lassen und mit mir darueber zu sprechen. Er
nahm sie oefter herab und stellte sie auf dem Tische oder auf einem
Sessel so auf, dass sie in dem besten Lichte standen. Ich brachte
merkwuerdige Tage in jener Zeit in dem Rosenhause meines Freundes
zu. Mein Wesen war in einer hohen, in einer edlen und veredelnden
Stimmung.
Ich fragte ihn einmal, woher er denn die Bilder erhalten habe.
"Sie sind recht nach und nach in das Haus gekommen, wie es der
Sammelfleiss und mitunter auch der Zufall gefuegt hat", antwortete er.
"Ich habe von einem Oheime mehrere geerbt; sie waren aber nicht die
besten, wie ich sie jetzt habe, ich verkaufte einen Teil davon, um
mir andere, wenn auch wenigere, aber bessere zu kaufen. Ich habe euch
schon einmal gesagt, dass ich in Italien gewesen bin. Ich habe drei
Reisen in dieses Land gemacht. Da hat sich Manches gefunden. Ich habe
stets nach Bildern gesucht, habe Manches gekauft, Manches wieder
verkauft, Neues gekauft, und so war ein fortlaufender Wechsel, bis
es so wurde, wie es jetzt ist. Nun aber verkaufe oder vertausche ich
nichts mehr, selbst wenn mir etwas Ausserordentliches vorkaeme, das ich
nicht ohne Weggabe eines Frueheren erkaufen koennte. Mit dem Alter wird
man so anhaenglich an das Gewohnte, dass man es nicht missen kann, wenn
es auch verbraucht zu werden beginnt und verschossen und verschollen
ist. Ich lege alte Kleider nicht gerne ab, und wenn ich eines der
Bilder, die mich nun so lange umgeben, aus dem Hause lassen muesste, so
wuerde ich einem grossen Schmerze nicht entgehen. Sie moegen nun bleiben,
wie sie sind und wo sie sind, bis ich scheide. Selbst der Gedanke, dass
ein Nachfolger die Bilder so lasse und sie ehre, wie sie hier sind,
hat fuer mich etwas sehr Angenehmes, obwohl er toericht ist und ich ihm
aus dem Wege gehe; denn darin besteht das Leben der Welt, dass ein
Streben und Erringen und darum ein Wandel ist, welcher Wandel auch
hier eintreten wird. Ich habe auch laengere Zeit schon nichts mehr
gekauft, ausser einer recht lieben kleinen Landschaft von Ruysdael, die
neben der Tuer im Bilderzimmer haengt und die ihr so gerne anschaut. Ich
wuerde nur etwas sehr Wertvolles kaufen, in so ferne es meine Kraefte
zuliessen. Ich habe oft Jahre lang auf ein Bild warten muessen, das mir
sehr gefiel und das ich zu haben wuenschte, entweder, weil der Besitzer
eigensinnig war und, obwohl er das Bild weggeben wollte, doch
Bedingungen an die Hingabe knuepfte, die nicht zu erfuellen waren,
oder weil er sich von dem Bilde nicht trennen wollte, obgleich er es
misshandelte und zu Grunde gehen liess. Zuweilen musste ich schlechtere
Bilder kaufen, die durch Farbenreiz oder andere Eigenschaften das Auge
ansprachen, um einen Vorrat zum Tausche zu haben. Es gibt nehmlich
Leute, welche Freude an Bildern haben, welche aeltere bedeutende Bilder
nicht weggeben, wenn sie solche besitzen, sie aber doch nicht erkennen
und sie durch schlechte Behandlung Schaden leiden lassen. Sie ziehen
ein Gemaelde vor, welches sie besser verstehen, welches ihnen mehr
gefaellt, wenn es auch im Werte minder ist, und sind zu einem Tausche
bereit. Dieser macht ihnen Freude, und wenn ich ihnen darlegte, dass
ihr Gemaelde einen hoeheren Wert habe als das meinige, und wenn ich
diesen Wert nach genauer Schaetzung durch Geld ausglich, so war das
Vergnuegen noch groesser; denn sie zweifelten doch immer, ob ich Recht
habe und das alte Bild nicht aus Vorliebe ueberschaetze, da ihnen ja
ihre Augen sagten, dass der Unterschied nicht so gross sei. Auf diese
Weise bekam ich manches Angenehme, ohne meinem Billigkeitsgefuehle nahe
treten zu muessen, was bei Bildergeschaeften so leicht der Fall wird.
Die heilige Maria mit dem Kinde, welche euch so wohl gefaellt und
welche ich beinahe eine Zierde meiner Sammlung nennen moechte, hat
mir Roland auf dem Dachboden eines Hauses gefunden. Er war dorthin
mit dem Eigentuemer gestiegen, um altes Eisenwerk, darunter sich
mittelalterliche Sporen und eine Klinge befanden, zu kaufen. Das Bild
war ohne Blindrahmen und war nicht etwa zusammengerollt, sondern wie
ein Tuch zusammengelegt und lag im Staube. Roland konnte nicht genau
erkennen, ob es einen Wert habe, und kaufte es dem Manne um ein
Geringes ab. Ein Soldat hatte es einmal aus Italien geschickt. Er
hatte es als blosse Packleinwand benuetzt und hatte Waesche und alte
Kleider in dasselbe getan, die ihm zu Hause ausgebessert werden
sollten. Darum hatte das Bild Brueche, wo nehmlich die Leinwand
zusammengelegt gewesen war, an welchen Bruechen sich keine Farbe
zeigte, da sie durch die Gewalt des Umbiegens weggesprungen war. Auch
hatte man, da wahrscheinlich die Flaeche zum Zwecke einer Umhuellung
zu gross gewesen war, Streifen von ihr weggeschnitten. Man sah die
Schnitte noch ganz deutlich, waehrend die anderen Raender sehr alt waren
und noch die Spuren von den Naegeln zeigten, mit denen sie einst an den
Blindrahmen befestigt gewesen waren. Auch war, durch die Misshandlungen
der Zeiten herbeigefuehrt, an andern Stellen als an denen der Brueche
die Farbe verschwunden, so dass man nicht nur den Grund des Gemaeldes,
sondern hie und da auch die lediglichen nackten Faden der alten
Leinwand sehen konnte. So kam das Bild auf dem Asperhofe an. Wir
breiteten es zuerst auseinander, wuschen es mit reinem Wasser und
mussten dann, um es als Flaeche zu erhalten und es betrachten zu koennen,
Gewichte auf seine vier Ecken legen. So lag es auf dem Fussboden des
Zimmers vor uns. Wir erkannten, dass es das Werk eines italienischen
Malers sei, wir erkannten auch, dass es aus aelterer Zeit stamme; aber
von welchem Kuenstler es herruehre oder auch nur aus welcher Zeit es
sei, war nach dem Zustande, in welchem die Malerei sich befand,
durchaus nicht zu bestimmen. Teile, welche ganz waren, liessen indessen
ahnen, dass das Gemaelde einen nicht zu geringen Wert haben duerfte.
Wir gingen nun daran, ein Brett zu verfertigen, auf welches das Bild
geklebt werden koennte. Wir bereiten solche Bretter gewoehnlich aus
Eichenholz, das aus zwei uebereinander liegenden Stuecken, deren Fasern
auf einander senkrecht sind, und einem Roste besteht, damit dem
sogenannten Werfen oder Verbiegen des Holzes vorgebeugt werde. Als das
Brett fertig und die Verkittung an demselben vollkommen ausgetrocknet
war, wurde das Gemaelde auf dasselbe aufgezogen. Wir hatten dort, wo
die Raender des Bildes weggeschnitten waren, die Holzflaeche groesser
gemacht und die neu entstandenen Stellen mit passender Leinwand gut
ausgeklebt, um dem Gemaelde annaehernd wieder eine Gestalt geben zu
koennen, die es urspruenglich gehabt haben mochte und in der es sich
den Augen wohlgefaellig zeigte. Hierauf wurde daran gegangen, das Bild
von dem alten, hie und da noch vorfindlichen Firnisse und von dem
Schmutze, den es hatte, zu reinigen. Der Firniss war durch die
gewoehnlichen Mittel leicht wegzubringen, nicht so leicht aber der
durch Jahrhunderte veraltete Schmutz, ohne dass man in Gefahr kam, auch
die Farben zu beschaedigen. Das gereinigte, auf der Staffelei stehende
Gemaelde wies uns nun eine viel groessere Schoenheit, als es uns nach der
ersten oberflaechlichen Waschung gezeigt hatte; aber es war durch die
vielen Spruenge, Risse und nackten Stellen noch so verunstaltet, dass
eine genaue Wuerdigung auch jetzt nicht moeglich war, selbst wenn wir
bedeutend groessere Erfahrungen gehabt haetten als wir hatten. Roland und
Eustach schritten zur Ausbesserung. Kein Ding kann schwieriger sein,
und durch keins sind Gemaelde so sehr entstellt und entwertet worden.
Ich glaube, wir haben einen nicht unrichtigen Weg eingeschlagen.
Eine urspruengliche Farbe durfte gar nicht bedeckt werden. Zum Gluecke
hatte das Bild gar nie eine Ausbesserung oder sogenannte Uebermalung
erhalten, so dass entweder nur die urspruengliche Farbe vorhanden war
oder gar keine. In die farbentbloessten Stellen wurde die Farbe, welche
die umgrenzenden Raender zeigten, gleichsam wie ein Stift eingesetzt,
bis die Grube erfuellt war. Wir nahmen die Farben so trocken als
moeglich und so dicht gerieben, als es der Laufer auf dem Steine, ohne
stecken zu bleiben zuwege bringen konnte. Wenn sich aber doch wieder
nach dem Trocknen eine Vertiefung zeigte, wurde dieselbe neuerdings
mit der nehmlichen Farbe ausgefuellt und so fortgefahren, bis eine
Hoehlung nicht mehr entstand. Erhoehungen, die blieben, wurden mit einem
feinen Messer gleichgeschliffen. Auch ueber unausrottbaren Schmutz
wurde die Farbe seiner Umgebung gelegt. Wenn die Farbe nach laengerer
Zeit durch das Oel, das sie enthielt, und durch andere Ursachen, die
vielleicht noch mitwirken, nachgedunkelt war und sich in dem Gemaelde
als Fleck zeigte, wurde mit aeusserst trockener Farbe und mit der Spitze
eines feinen Pinsels die Stelle so lange gleichsam ausgepunktet, bis
sie sich von der Umgebung durchaus nicht mehr unterschied. Dieses
Verfahren wurde zuweilen mehrere Male wiederholt. Zuletzt konnte man
mit freien Augen die Plaetze, an welchen sich neue Farben befanden,
gar nicht mehr erkennen. Nur das Vergroesserungsglas zeigte noch die
Ausbesserungen. Wir brachten Jahre mit diesem Verfahren zu, besonders
da Zwischenzeiten waren, die mit andern Arbeiten ausgefuellt werden
mussten und da unser Vorgehen selber Zwischenzeiten bedingte, in denen
die Farben auszutrocknen hatten oder in denen man ihnen Zeit geben
musste, die Veraenderungen zu zeigen, die notwendig bei ihnen eintreten
muessen. Dafuer aber war an dem vollendeten Gemaelde nicht zu merken, dass
es nicht in allen Teilen ein altes sei, es hatte die feinen Spruenge
alter Bilder und hatte alle die Reinheit und Klarheit des Pinsels,
der es urspruenglich geschaffen hatte. Wenn man alte Bilder bei
Ausbesserungen uebermalt und dadurch stimmt, so ist nicht selten
ein Ueberzug ueber die feinen Linien, welche die Zeit in alte Bilder
sprengt, und dieser Ueberzug zeigt nicht nur, dass das Bild ausgebessert
worden ist, sondern er stellt auch einen feinen Schleier dar, der ueber
die Farben gebreitet ist und sie trueb und undurchsichtig macht. Solche
Bilder geben oft einen duestern, unerfreulichen und schwerlastenden
Eindruck. Es werden Viele unser Tun in Herstellung alter Bilder
unbedeutend und unerheblich nennen, besonders da es so viele Zeit und
so viele Anstalten erforderte; uns aber machte es eine grosse und eine
innige Freude. Ihr werdet es gewiss nicht tadeln, da ihr einen so
grossen Anteil an den Hervorbringungen der Kunst zu nehmen beginnt.
Wenn nach und nach die Gestalt eines alten Meisters vor uns aufstand,
so war es nicht bloss das Gefuehl eines Erschaffens, das uns beseelte,
sondern das noch viel hoehere eines Wiederbelebens eines Dinges, das
sonst verloren gewesen waere und das wir selber nicht haetten erschaffen
koennen. Als schon bereits einige Teile des Bildes fertig waren, zeigte
es sich, dass die Farben reiner und glaenzender seien, als wir gedacht
hatten, und dass das Bild einen vorzueglicheren Wert habe, als Anfangs
unsere Vermutung war. So lange die vielen Spruenge und farblosen
Stellen und so lange die unreinen Flecke, die wir nicht hatten
beseitigen koennen, auf dem Gemaelde waren, uebten sie auch auf das
Nichtzerstoerte und sogar auf das sehr wohl Erhaltene einen Einfluss aus
und liessen es im Ganzen missfaerbiger erscheinen, als es war. Nachdem
aber in einer ziemlich grossen Flaeche die widerstreitenden Stellen mit
den entsprechenden Farben zugedeckt waren und die neue Farbe die alte,
statt ihr zu widersprechen, unterstuetzte, so kam eine Reinheit, ein
Schmelz, eine Durchsichtigkeit und sogar ein Feuer zu Stande, dass wir
in Erstaunen gerieten; denn bei starkbeschaedigten Bildern kann man die
Folgerichtigkeit der Uebergaenge nicht beurteilen, bis man sie nicht
vollendet vor sich hat. Freilich mochte der besondere Farbenfluss sich
noch hoeher darstellen, da er von den unverbesserten und widerwaertigen
Stellen umgeben und gehoben wurde; aber das war schon vorauszusehen,
dass, wenn das ganze Bild fertig sein wuerde, seine Stimmung einen
entschieden kuenstlerischen Eindruck machen muesse. Ich hatte waehrend
der Arbeit viele Muehe darauf verwendet, die ganze Geschichte und
die Herkunft des Bildes zu erforschen; allein ich kam zu keinem
Ergebnisse. Der Soldat, der die Leinwand aus Italien geschickt hatte,
war laengst gestorben, und es lebte ueberhaupt niemand mehr, der in
naeherer Beziehung zu dem Ereignisse gestanden waere; denn dasselbe
hatte sich weit frueher zugetragen, als ich gedacht hatte. Der
Grossvater des letzten Besitzers des Bildes hatte oefter erzaehlt, dass
er sagen gehoert habe, dass ein aus dem Hause gebuertiger Soldat einmal
seine Struempfe und Hemden in ein Muttergottesbild eingewickelt aus
Welschland nach Hause geschickt habe. Die Wahrheit der Erzaehlung
bestaetigte sich dadurch, dass man noch das alte zerstoerte Marienbild
auf dem Dachboden des Hauses fand. Ich konnte auch nicht ergruenden,
welche Gelegenheit es gewesen sei, die jenen deutschen Soldaten nach
Welschland gefuehrt hatte. Von dem, herauszufinden, aus welcher Gegend
Italiens das Bild gekommen sei, konnte nun vollends gar keine Rede
mehr sein. Als nach langer Zeit, nach vieler Muehe und mancher
Unterbrechung das Gemaelde in einem schoenen, altertuemlich gearbeiteten
Goldrahmen fertig vor uns stand, war es eine Art Fest fuer uns. Roland
war herbei gerufen worden, da er gegen den Schluss des Werkes eine
Reise angetreten und die Vollendung seinem Bruder ueberlassen hatte.
Mehrere Nachbaren waren geladen worden, ja ein Freund und Kenner alter
Kunst, dem ich die Sache gemeldet hatte, war sogar von ziemlich weiter
Entfernung herzugekommen, um die Wiederherstellung zu sehen, und
Andere, wenn sie auch nicht geladen waren, hatten sich eingefunden,
da sie durch Zufall Kenntnis von der Begebenheit erhalten hatten, und
wussten, dass sie auf dem Asperhofe nicht unwillkommen sein wuerden. Es
ist nicht wahr, was man oefter sagt, dass eine schoene Frau ohne Schmuck
schoener sei als in demselben; und eben so ist es nicht wahr, dass
ein Gemaelde zu seiner Geltung nicht des Rahmens beduerfe. Ich
hatte zu unserem Marienbilde einen Rahmen nach Zeichnungen aus
mittelalterlichen Gegenstaenden bestellt und hatte dessen Ausfuehrung
gelegentlich, wenn mich ein Geschaeft oder mein Wille in die Stadt
brachte, ueberwacht. Er war weit eher auf dem Asperhofe angekommen, als
das Bild fertig war, und musste die Zeit ueber in seiner Kiste verpackt
harren. Wir versuchten auch nicht ein einziges Mal das Bild in ihn
zu fuegen, ehe es fertig war, um den Eindruck nicht zu schwaechen.
Bei neuen Bildern zeigt freilich der Rahmen erst, dass noch Manches
hinzuzufuegen und zu aendern ist, und Vieles muss an solchen Bildern erst
gemacht werden, wenn man sie bereits in einem Rahmen gesehen hat.
Bei alten Bildern, die wiederhergestellt werden, ist das anders,
besonders, wenn sie auf unsere Weise hergestellt worden. Da gibt das
Vorhandene den Weg der Herstellung an, man kann nicht anders malen,
als man malt, und die Tiefe, das Feuer und der Glanz der Farben ist
daher durch das bereits auf der Leinwand Befindliche bedingt. Wie dann
das Bild in einem Rahmen aussehen werde, liegt nicht in der Willkuer
des Wiederherstellers, und wenn es in dem Rahmen trefflich oder minder
gut steht, so ist das Sache des urspruenglichen Meisters, dessen Werk
man nicht aendern darf. Als unsere Maria, welche noch nicht einmal
einen Firniss erhalten hatte, aus den altertuemlichen Gestalten des
Rahmens, die sehr passten, heraussah, so war es ein wunderbarer
Anblick, und erst jetzt sahen wir, welche Lieblichkeit und Kraft
der alte Meister in seinem Bilde dargelegt hatte. Obwohl der Rahmen
erhabene Arbeit in Blumen, Verzierungen und sogar in Teilen der
menschlichen Gestalt enthielt und auf demselben Glanzlichter von
starker Wirkung angebracht waren, so erschien das Bild doch nicht
unruhig, ja es beherrschte den Rahmen und machte seinen Reichtum zu
einer anmutigen Mannigfaltigkeit, waehrend es selber durch seine Gewalt
sich geltend machte und in den erhebenden Farben von wuerdigem Schmucke
umgeben thronte. Ein leiser Ruf entschluepfte den Lippen aller
Anwesenden, und ich freute mich, dass ich mich nicht getaeuscht hatte,
als ich auf die Macht des Bildes rechnend einen so reichen Rahmen fuer
dasselbe bestellt hatte. Wir standen lange davor und betrachteten die
Schoenheit der Farbengebung an den entbloessten Teilen so wie die der
Gewandung und der Gruende, was im Vereine mit der Einfachheit und
Hoheit der Linienfuehrung und mit der massvollen Anordnung der Flaechen
ein so wuerdevolles und heiliges Ganzes bildete, dass man sich eines
tiefen Ernstes nicht erwehren konnte, der wie wahrhaftige Andacht war.
Erst spaeter fingen wir zu sprechen an, beredeten dieses und jenes und
kamen, wie es natuerlich war, dahin, Vermutungen ueber den Meister zu
wagen. Es wurde Guido Reni genannt, es wurde Tizian genannt, es wurde
die Rafaelische Schule genannt. Fuer alles hatte man Gruende, und der
Schluss war, wie er es auch noch heute ist, dass man nicht wusste, von
wem das Bild sei. Roland war ausserordentlich vergnuegt, dass er die
Sache in ihrer Entstehung schon geahnt und durch den Kauf eine
so zweckmaessige Handlung ausgefuehrt habe. Damals war er noch
ausserordentlich jung, er war bei Weitem nicht so eingeuebt wie jetzt
und war daher seiner Handlung nicht ganz sicher. Eustach sah man es
an, dass ihm, wie der Volksausdruck sagt, das Herz vor Freude lache.
Eine freundliche Bewirtung meiner Gaeste war damals das Ende des Tages.
Wir suchten in der folgenden Zeit eine Stelle, an welcher das Bild
am vorteilhaftesten aufgehaengt werden koennte. Roland erhielt eine
Belohnung in einem Werke, das er sich schon lange gewuenscht hatte, und
Eustach, das sah ich wohl, fand seine schoenste Befriedigung darin, dass
er naeher in unsere Kunstkreise gezogen wurde. Dem Manne, von welchem
das Bild in seinem verstuemmelten Zustande gekauft worden war, gab ich
noch eine Summe, mit welcher er weit ueber seine Erwartung abgefunden
war; denn das Bild haette er doch nie herstellen lassen koennen, er
waere auch auf den Gedanken nicht gekommen, und ohne Roland waere das
Bild nicht verkauft worden, bis es immer mehr verfallen und einmal
vernichtet worden waere. Oft stand ich in spaeteren Zeiten noch davor
und hatte manche Freude in Betrachtung des Werkes. Ich sah das
Angesicht und die Haende der Mutter an und sah das teils nackte, teils
durch schoene Tuecher schicklich verhuellte Kind. Ein dem Lande Italien
so haeufig zukommendes Zeichen ist es, dass das Kind nicht in den Armen
der Mutter gehalten wird, sondern dass es mit schoenem Hinneigen zu
derselben und von ihr leicht und sanft umfasst auf einem erhoehten
Gegenstande vor ihr steht. Der Kuenstler hat dadurch nicht nur
Gelegenheit gefunden, den Koerper des Kindes in einer weit schoeneren
Stellung zu malen, als wenn er von der Mutter an ihren Busen gehalten
gewesen waere, sondern er hat noch den weit hoeheren Vorteil erreicht,
das goettliche Kind in seiner Kraft und in seiner Freiheit zu zeigen,
was die Wirkung hat, als ehrten wir gleichsam schon die Macht, mit
welcher es einstens handeln wird. Dass suedliche Voelker den Heiland als
Kind in so grosser sinnlicher Schoenheit malen, hat mich immer entzueckt,
und wenn auf meinem Bilde das heilige Kind eher wie ein kraeftiger,
wunderschoener Leib des Suedens aussieht, so beirrt mich das nicht,
sehen doch die Jesuskinder und die Johanneskinder des herrlichen
Rafael auch so aus, und die Wirkung ist doch eine so gewaltige. Dass
die Mutter, deren Mund so schoen ist, die Augen gegen Himmel wendet,
sagt mir nicht ganz zu. Die Wirkung, scheint mir, ist hierin ein
wenig ueberboten, und der Kuenstler legt in eine Handlung, die er seine
Gestalt vor uns vornehmen laesst, eine Bedeutung, von der er nicht
machen kann, dass wir sie in der blossen Gestalt sehen. Wer durch
einfachere Mittel wirkt, wirkt besser. Wenn er die Heiligkeit und
Hoheit statt in die erhobenen Augen in die blosse Gestalt haette legen
koennen, wobei die Augen einfach vor sich hinblickten, so haette er
besser getan. Rafael laesst seine Madonnen ruhig und ernst blicken, und
sie werden Himmelskoeniginnen, waehrend so manche andere nur betende
Maedchen sind. Aus diesem moechte ich auch schliessen, dass das Bild nicht
aus der Rafaelschen Schule ist, so sehr die herrliche Gestalt des
Kindes daran erinnert. Das Bild haengt nicht mehr dort, wo es Anfangs
war. Wir haben alle Bilder mehrere Male umgehaengt, und es gewaehrt eine
eigene Freude, zu versuchen, ob in einer andern Anordnung die Wirkung
des Ganzen nicht eine bessere sei. Auch darueber haben wir ernste
Beratungen und vielerlei Versuche angestellt, welche Farbe wir den
Waenden geben sollen, dass sich die Bilder am besten von ihnen abheben.
Wir blieben dann bei dem roetlichen Braun stehen, das ihr jetzt noch
in dem Gemaeldezimmer findet. Ich lasse nun nichts mehr aendern. Die
jetzige Lage der Bilder ist mir zu einer Gewohnheit und ist mir lieb
geworden, und ich moechte ohne uebeln Eindruck die Sache nicht anders
sehen. Sie ist mir eine Freude und eine Blume meines Alters geworden.
Die Erwerbung der Bilder, die, wie ihr schon aus meinen frueheren
Worten schliessen koennt, nicht immer so leicht war wie die der heiligen
Maria, stellt eine eigene Linie in dem Gange meines Lebens dar, und
diese Linie ist mit Vielem versehen, was mir teils einen freudigen,
teils einen trueben Rueckblick gewaehrt. Wir sind in manche Verhaeltnisse
geraten, haben manche Menschen kennen gelernt und haben manche Zeit
mit Wiederherstellung der Bilder, mit Verwindung von Taeuschungen,
mit Hineinleben in Schoenheiten zugebracht, wir haben auch manche zu
Zeichnungen und Entwuerfen von Rahmen verwendet; denn alle Gemaelde
haben wir nach und nach in neue, von uns entworfene Rahmen getan,
und so stehen nun die Werke um mich wie alte, hochverehrungswuerdige
Freunde, die es taeglich mehr werden und die eine Annehmlichkeit und
eine Wonne fuer meine noch uebrigen Tage sind."
Dass ich durch die Erzaehlung meines Gastfreundes der Sammlung seiner
Bilder noch mehr zugewendet wurde, begreift sich.
Ich lenkte meine Aufmerksamkeit nun auch auf die Kupferstiche meines
Gastfreundes. Da dieselben nicht unter Glas und Rahmen waren, sondern
sich in grossen Laden des Tisches im Lesezimmer befanden, so konnte man
sie weit bequemer betrachten als die Gemaelde. Ich nahm mir zuerst die
Mappen nach einander heraus und sah alle Kupferstiche der Reihe nach
an. Dann aber ging ich an eine mehr geordnete Betrachtung. So wie mein
Gastfreund nicht Buecher aus dem Hause gab, wohl aber einem Gaste in
sein Zimmer die verlangten bringen liess, so tat er es auch mit den
Kupferstichen, nur gab er immer gleich eine ganze Mappe in ein Zimmer,
nicht aber leicht einzelne Blaetter. Er tat dies der Erhaltung und
Schonung willen. Weil ich nun nicht viele Stunden im Lesezimmer
ununterbrochen mit Ansehen von Kupferstichen zubringen mochte, so
liess mir mein Gastfreund die einzelnen Mappen nach und nach in meine
Wohnung bringen, und ich konnte die in ihnen enthaltenen Werke mit
Musse betrachten, konnte diese Beschaeftigung auch durch Anderes
unterbrechen und konnte, wenn ich die Mappe durch eine beliebige Zeit
in meiner Wohnung gehabt hatte, dieselbe durch eine andere ersetzen.
Spaeter, da ich alle Mappen genau durchsucht hatte, wobei ich mir
diejenigen Werke aufzeichnete, die mir ganz besonders gefielen oder
die von meinem Gastfreunde und Eustach als vorzueglich bezeichnet
waren, schlug ich mir bei Gelegenheit nur die eine oder andere auf, um
das eine oder andere mir sehr liebe Werk des Grabstichels zu besehen.
Ich merkte mir in meinem Gedenkbuche auch diejenigen an, welche ich
mir gleichfalls kaufen wollte, wenn es solche waren, die man noch im
Handel bekommen konnte. Ich lernte bei diesen Untersuchungen die Art
und Weise des Vortrags verschiedener Meister und verschiedener Zeiten
kennen und endlich auch wuerdigen, und ich fand wieder, wie es bei den
Gemaelden der Fall ist, dass mit geringen Ausnahmen auch diese Kunst
eine schoenere Vergangenheit gehabt habe, als sie eine Gegenwart habe,
ja bei den Kupferstichen konnte ich dies noch genauer kennen lernen
als bei Gemaelden, da mein Freund alte und neue Kupferstiche hatte,
waehrend in seinem Bilderzimmer nur sehr wenige neue Bilder hingen, die
Vergleichung also schwieriger war, und ich mich auf die neuen Bilder
weniger erinnerte, welche ich in der Stadt gesehen hatte und welche
ich auch mit anderen Augen mochte angeschaut haben. Ich lernte
die Feinheiten, die Grossartigkeit, die Schoenheit, die Ruhe in der
Behandlung immer mehr kennen und wuerdigen und beschloss, da mir
Kupferstiche weit leichter zu erwerben waren als Gemaelde, vorlaeufig
damit zu beginnen, mir Blaetter, die ich fuer trefflich hielt, zu kaufen
und eine Sammlung anzubahnen. Es war eine ziemliche Zeit hingegangen,
die ich mit Betrachtung und Einpraegung der Kupferstiche und Gemaelde
verbrachte. Eustach war haeufig bei mir, wir sprachen ueber die Dinge,
und ich lernte taeglich hoeher von diesem Manne denken.
Ich kam waehrend dieser Zeit auch oefter in das Schreinerhaus und andere
Werkstaetten und sah zu, was da verfertiget werde.
Bei diesen Veranlassungen fiel es mir auf, dass mein Gastfreund noch
nicht begonnen hatte, aus dem in Wahrheit gewiss ausserordentlich
schoenen Marmor, den ich ihm gebracht hatte, dessen Schoenheit ich ganz
gewiss zu beurteilen verstand und der ihm selber viele Freude gemacht
zu haben schien, etwas verfertigen zu lassen. Ich konnte auch
den Marmor in dem Rosenhause gar nicht auffinden. Er war in dem
Vorratshause gelegen, wo sich auch oefter Steine von mir befunden
hatten. Jetzt war er nicht mehr dort. War er, um nicht Verletzungen zu
erfahren, in einen anderen, sichereren Ort gebracht worden oder hatte
man ihn doch irgendwohin gesendet, wo an ihm gearbeitet wurde? Das
Letzte war nicht denkbar, da mein Gastfreund alle Dinge aus Holz
und Stein in seinem Hause arbeiten liess, wozu auch nicht nur die
Vorrichtungen und Werkzeuge vorhanden waren, sondern wohin auch zu
jeder Zeit die etwa noch mangelnden Arbeitskraefte gezogen werden
koennen.
Ich machte eines Tages eine Reise in das Lauterthal und hielt mich
einige Zeit in demselben auf. Es war nicht, um meine gewoehnliche
Beschaeftigung dort vorzunehmen, sondern um nach den Arbeiten mit
meinem Marmor zu sehen. In der Naehe des Ahorngasthauses - etwa zwei
Wegestunden von demselben entfernt - befand sich die Anstalt, in
welcher Marmor gesaegt und geschliffen wurde und in welcher man
verschiedene Dinge aus Marmor verfertigte. Der Ort hiess das Rothmoor,
weshalb, konnte ich nicht ergruenden; denn es war ueberall Gestein und
rauschendes Wasser, und von einem Moore war auf Meilen in der Laenge
und Breite nichts zu finden; aber der Ort hiess so. Es befanden sich
dort mehrere Stuecke Marmor von mir, damit aus denselben etwas fuer den
Vater gemacht wuerde. Das groesste Stueck war fast rosenrot, und es sollte
daraus ein Wasserbecken fuer den Garten werden. Das Becken aber hatte
ich selber entworfen. Aus grosser Vorliebe fuer Gewaechse hatte ich seine
Gestalt aus dem Gewaechsreiche genommen. Es war ein Blatt, welches dem
der Einbeere sehr aehnlich war, in welchem die glaenzende dunkelschwarze
Kugel liegt. Ich hatte das Blatt nach einem wirklichen aus Wachs
gebildet, nur die Auszackung machte ich geringer und die Tiefe groesser.
Das Wachsblatt wurde von einem Arbeiter, der des Gestaltens sehr
kundig war, in Gips bedeutend groesser nachgebildet, und nach dem
Gipsblatte sollte das Marmorbecken gearbeitet werden. In der Tiefe
desselben sollte wie bei dem Einbeerenblatte die Kugel liegen, und aus
einem Stiele, der sich ueber das Blatt erhebt, soll das Wasser in einem
feinen Strahle in das Blatt springen. Das Blatt selber sollte von
Rosenmarmor, der Stamm und Stengel von einem anderen, dunkleren
sein. Ich bestrebte mich in dem Rothmoore nachzusehen, wie weit die
Arbeit gediehen sei, und versuchte durch Besprechungen fuer groessere
Leichtigkeit und Reinheit einzuwirken. Aus anderem Marmor sollten
andere Dinge verfertigt werden. Zuerst das Pflaster um die Einbeere
herum. Das Blatt sollte sein Wasser auf dieses Pflaster hinabgiessen,
dasselbe sollte auf seiner Ebene eine sanfte Rinne bilden, um
das Wasser weiter zu leiten. Die Farbe des Pflasters sollte blass
gelblich sein. Ich hatte eine erkleckliche Anzahl Stuecke hiezu
zusammengebracht. Fuer eine Laube in dem Garten hatte ich die Platte
eines Tischchens beabsichtigt. Sonst waren noch kleine Tragsteine, ein
paar Simse und Briefbeschwerer im Werke. Die Sachen waren in Arbeit.
Als Daraufgabe war ein Nest, in welchem zwei Eier lagen, deren Marmor
fast taeuschend die Farbe von Kibitzeiern hatte.
Ich war mit den Arbeiten, so weit sie jetzt gediehen waren, sehr
zufrieden. Der Stein zu dem Becken war nicht nur in seine allgemeine
Gestalt geschnitten worden, sondern das Blatt war in rohen Umrissen
fertig, so dass zur feineren Ausfeilung und zur Glaettung geschritten
werden konnte. Es arbeiteten zwei Menschen ausschliesslich an diesem
Gegenstande. Mit dem Gipsvorbilde liess ich noch einige Veraenderungen
vornehmen. Es war mir nicht leicht genug und zeigte mir nicht
hinlaenglich das Weiche des Pflanzenlebens.
Ich ging in die Berge, suchte Pflanzen der Einbeere und brachte sie
sammt ihrer Erde in Toepfen zurueck, damit sie nicht zu schnell welkten
und uns laenger als Muster dienen koennten. An diesen Pflanzen suchte
ich zu zeigen, was an dem Vorbilde noch fehle. Ich erklaerte, wo ein
Blatteil sich sanfter legen, ein Rand sich weicher kruemmen muesse,
damit endlich das Steinbild, wenn es fertig waere, nicht den Eindruck
hervorbringe, als ob es gemacht worden, sondern den, als ob es
gewachsen waere. Da ich mich bemuehte, die Sache ohne Verletzung des
Mannes, welcher das Gipsvorbild verfertiget hatte, darzulegen und sie
eher in das Gewand einer Beratung einzukleiden, so ging man auf meine
Ansichten sehr gerne ein, und da die ersten Versuche gelangen und das
Becken durch die groessere Aehnlichkeit, die es mit dem Blatte erlangte,
auch sichtbar an Schoenheit gewann, so ging man mit Eifer an die
Fortsetzung, suchte sich den Pflanzenmerkmalen immer mehr zu naehern
und erlebte die Freude, dass endlich das Werk in ungemein edlerer
Vollendung dastand als frueher. Selbst fuer kuenftige Arbeiten hatte man
durch dieses Verfahren einen Anhaltspunkt gewonnen, und Hoffnungen
geschoepft, sich in schoenere und heiterere Kreise zu schwingen.
Der Werkmeister sprach unverhohlen mit mir ueber die Sache. Frueher
hatte man nach hergebrachten Gestalten und Zeichnungen Gegenstaende
verfertigt, dieselben versandt und Preise dafuer erhalten, die solchen
Waren gewoehnlich zukommen, so dass die Anstalt bestehen konnte, aber
einer gehaebigen und wohlhabenden Bluete doch nicht teilhaftig war.
Dass man sich an Pflanzen als Vorbilder wenden koenne, war ihnen nicht
eingefallen.
Jetzt richtete man den Blick auf sie und fand, dass alle Berge voll
von Dingen staenden, die ihnen Fingerzeige geben koennten, wie sie ihre
Werke zu verfertigen und zu veredeln haetten.
Ich blieb so lange da, bis das Gipsblatt vollkommen fertig war, und
bis ich mich darueber beruhigt hatte, welche Werkzeuge zum Messen
angewendet wuerden, damit die Gestalt des Vorbildes mit allen ihren
Verhaeltnissen in die Nachbildung uebergehen koennte.
Nachdem ich noch die Bitte um Beschleunigung der Arbeit angebracht
hatte, damit ich sie so bald als moeglich in den Garten des Vaters
bringen koennte, und nachdem ich versprochen hatte, in diesem Sommer
noch einen Besuch in der Anstalt zu machen, trat ich den Rueckweg in
das Rosenhaus wieder an.
Ich bestieg auf meiner Wanderung, die ich in den Bergen zu Fusse
machte, das Eiskar, setzte mich auf einen Steinblock und sah beinahe
den ganzen Nachmittag in tiefem Sinnen auf die Landschaften, die vor
mir ausgebreitet waren, hinaus.
In dem Rosenhause beschaeftigte ich mich wieder mit Betrachtung der
Bilder. Ich nahm sogar ein Vergroesserungsglas und sah die Gemaelde an,
wie denn die verschiedenen alten Meister gemalt haben, ob der eine
einen stumpfen, starren Pinsel genommen habe, der andere einen langen,
weichen, ob sie mit breitem oder spitzigem gearbeitet, ob sie viel
untermalt haben oder gleich mit den schweren, undurchsichtigen Farben
darauf gegangen seien, ob sie in kleinen Flaechen fertig gemacht oder
das Grosse vorerst angelegt und es in allen Teilen nach und nach der
Vollendung zugefuehrt haetten.
Mein Gastfreund war in diesen Dingen sehr erfahren und stand mir bei.
Von den Dichtern nahm ich jetzt Calderon vor. Ich konnte ihn bereits
in dem Spanischen lesen und vertiefte mich mit grossem Eifer in seinen
Geist.
Wir besuchten mehrere Male den Inghof. Es wurde dort Musik gemacht, es
wurde gespielt, wir besuchten die schoensten Teile der Umgebung oder
besahen, was der Garten oder der Meierhof oder das Haus Vorzuegliches
aufzuweisen hatte.
Zur Zeit der Rosenbluete kamen Mathilde und Natalie auf den Asperhof.
Wir wussten den Tag der Ankunft und erwarteten sie. Als sie
ausgestiegen waren, als Mathilde und mein Gastfreund sich begruesst
hatten, als einige Worte von den Lippen der Mutter zu Gustav
gesprochen worden waren, wendete sie sich zu mir und sprach mit den
freundlichsten Mienen und mit dem liebevollsten Blick ihrer Augen
die Freude aus, mich hier zu finden, zu wissen, dass ich mich schon
ziemlich lange bei ihrem Freunde und ihrem Sohne aufgehalten habe,
und zu hoffen, dass ich die ganze schoene Jahreszeit auf dem Asperhofe
zubringen werde.
Ich erwiderte, dass ich heuer beschlossen habe, den ganzen Sommer ueber
bloss fuer mein Vergnuegen zu leben und dass ich es mit grossem Danke
anerkennen muesse, dass mir erlaubt sei, auf diesem Sitze verweilen zu
duerfen, der das Herz, den Verstand und das ganze Wesen eines jungen
Mannes so zu bilden geeignet sei.
Natalie stand vor mir, da dieses gesprochen worden war. Sie erschien
mir in diesem Jahre vollkommener geworden und war so ausserordentlich
schoen, wie ich nie in meinem ganzen Leben ein weibliches Wesen gesehen
habe.
Sie sagte kein Wort zu mir, sondern sah mich nur an. Ich war nicht
im Stande, etwas aufzufinden, was ich zur Bewillkommnung haette sagen
koennen. Ich verbeugte mich stumm, und sie erwiderte diese Verbeugung
durch eine gleiche.
Hierauf gingen wir in das Haus.
Die Tage verflossen wie die in den vergangenen Jahren. Nur eine
einzige Ausnahme trat ein. Man begann nach und nach von den Bildern
zu sprechen, man sprach von der Marmorgestalt, welche auf der schoenen
Treppe des Hauses stand, man ging oefter in das Bilderzimmer und besah
Verschiedenes, und man verweilte manche Augenblicke in der daemmerigen
Helle der Treppe, auf welche von oben die sanfte Flut des Lichtes
hernieder sank, und vergnuegte sich an der Herrlichkeit der dort
befindlichen Gestalt und der Pracht ihrer Gliederung. Ich erkannte,
dass Mathilde in der Beurteilung der Kunst erfahren sei und dass sie
dieselbe mit warmem Herzen liebe. Auch an Natalien sah ich, dass sie in
Kunstdingen nicht fremd sei und dass sie in ihrer Neigung etwas gelten.
Ich machte also jetzt die Erfahrung, dass man in frueherer Zeit, da
ich mein Augenmerk noch weniger auf Gemaelde und aehnliche Kunstwerke
gerichtet hatte und dieselben einen tiefen Platz in meinem Innern noch
nicht einnahmen, mich geschont habe, dass man nicht eingegangen sei,
in meiner Gegenwart von den in dem Hause befindlichen Kunstwerken
zu sprechen, um mich nicht in einen Kreis zu noetigen, der in jenem
Augenblicke noch beinahe ausserhalb meiner Seelenkraefte lag. Mir kam
jetzt auch zu Sinne, dass in gleicher Weise mein Vater nie zu mir auf
eigenen Antrieb von seinen Bildern gesprochen habe und dass er sich nur
insoweit ueber dieselben eingelassen, als ich selber darauf zu sprechen
kam und um dieses oder jenes fragte. Sie haben also saemmtlich einen
Gegenstand vermieden, der in mir noch nicht gelaeufig war und von dem
sie erwarteten, dass ich vielleicht mein Gemuet zu ihm hinwenden wuerde.
Mich erfuellte diese Betrachtung einigermassen mit Scham, und ich
erschien mir gegenueber all den Personen, die nun durch meine
Vorstellung gingen, als ungefueg und unbehilflich; aber da sie immer so
gut und liebreich gegen mich gewesen waren, so schloss ich aus diesem
Umstande, dass sie nicht nachteilig ueber mich geurteilt und dass
sie meinen Anteil an dem, was ihnen bereits teuer war, als sicher
bevorstehend betrachtet haben. Dieser Gedanke beruhigte mich eines
Teiles wieder. Besonders aber gereichte es mir zur Genugtuung, dass sie
mit einer Art von Freude in die Gespraeche eingingen, die sich jetzt
ueber bildende Kunst entspannen, dass also das nicht unsachgemaess sein
musste, was ich in dieser Richtung jetzt aeusserte, und dass es ihnen
angenehm war, mit mir auf einer Lebensrichtung zusammen zu treffen,
welche fuer sie Wichtigkeit hatte.
Eines Tages, da die Bluete der Rosen schon beinahe zu Ende war, wurde
ich unfreiwillig der Zeuge einiger Worte, welche Mathilde an meinen
Gastfreund richtete und welche offenbar nur fuer diesen allein
bestimmt waren. Ich zeichnete in einer Stube des Erdgeschosses
ein Fenstergitter. Das Erdgeschoss des Hauses hatte lauter eiserne
Fenstergitter. Diese waren aber nicht jene grossstaebigen Gitter, wie
man sie an vielen Haeusern und auch an Gefaengnissen anbringt, sondern
sie waren sanft geschweift und hatten oben und unten eine flache
Woelbung, die mitten, gleichsam wie in einen Schlussstein, in eine
schoene Rose zusammenlief. Diese Rose war von vorzueglich leichter
Arbeit und war ihrem Vorbilde treuer, als ich irgendwo in Eisen
gesehen hatte. Ausserdem war das ganze Gitter in zierlicher Art
zusammengestellt, und die Staebe hatten nebst der Schlussrose noch
manche andere bedeutsam Verzierungen. Es war fast gegen Abend, als ich
mich in einer Stube des Erdgeschosses, deren Fenster auf die Rosen
hinausgingen, befand, um mir vorlaeufig die ganze Gestalt des Gitters,
die aussen zu sehr von den Rosen verdeckt war, zu entwerfen. Die
einzelnen Verzierungen, deren Hauptentwicklung nach aussen ging, wollte
ich mir spaeter einmal von dorther zeichnen. Da ich in meine Arbeit
vertieft war, dunkelte es vor dem Fenster, wie wenn die Laubblaetter
vor demselben von einem Schatten bedeckt wuerden. Da ich genauer
hinsah, erkannte ich, dass jemand vor dem Fenster stehe, den ich aber
der dichten Ranken willen nicht erkennen konnte. In diesem Augenblicke
ertoente durch das geoeffnete Fenster klar und deutlich Mathildens
Stimme, die sagte: "Wie diese Rosen abgeblueht sind, so ist unser Glueck
abgeblueht."
Ihr antwortete die Stimme meines Gastfreundes, welcher sagte: "Es ist
nicht abgeblueht, es hat nur eine andere Gestalt."
Ich stand auf, entfernte mich von dem Fenster und ging in die Mitte
des Zimmers, um von dem weiteren Verlaufe des Gespraeches nicht mehr zu
vernehmen. Da ich ferner ueberlegt hatte, dass es nicht geziemend sei,
wenn mein Gastfreund und Mathilde spaeter erfuehren, dass ich zu der
Zeit, als sie ein Gespraech vor dem Fenster gefuehrt hatten, in der
Stube gewesen sei, der jenes Fenster angehoerte, so entfernte ich mich
auch aus derselben und ging in den Garten. Da ich nach einer Zeit
meinen Gastfreund, Mathilden, Natalie und Gustav gegen den grossen
Kirschbaum zugehen sah, begab ich mich wieder in die Stube und holte
mir meine Zeichnungsgeraete, die ich dort liegen gelassen hatte;
denn der Abend war mittlerweile so dunkel geworden, dass ich zum
Weiterzeichnen nicht mehr sehen konnte.
Als die Rosenbluete gaenzlich vorueber war, beschlossen wir, uns auch
eine Zeit in dem Sternenhofe aufzuhalten. Da wir den Huegel zu ihm
hinan fuhren, sah ich, dass Gerueste an dem Mauerwerke aufgeschlagen
waren, und als wir uns genaehert hatten, erkannte ich, dass die
Arbeiter, die sich auf den Geruesten befanden, damit beschaeftigt waren,
die Tuenche von den breiten Steinen, welche an die Oberflaeche der
Mauern gingen, abzunehmen und die Steine zu reinigen. Man hatte vorher
an einem abgelegenen Teile des Hauses einen Versuch gemacht, welcher
sich bewaehrte und welcher dartat, dass das Haus ohne Tuenche viel
schoener aussehen werde.
In dem Sternenhofe wurde ich so freundlich behandelt, wie in der
frueheren Zeit, ja wenn ich meinem Gefuehle trauen durfte und wenn man
so feine Unterscheidungen machen darf, noch freundlicher als frueher.
Mathilde zeigte mir selber alles, von dem sie glaubte, dass es mir von
einigem Werte sein koennte, und erklaerte mir bei diesem Vorgange alles,
von dem sie glaubte, dass es einer Erklaerung beduerfen koennte. Waehrend
dieses meines Aufenthaltes erfuhr ich auch, dass Mathilde das Schloss
von einem vornehmen Manne gekauft hatte, der selten auf demselben
gewesen war und es ziemlich vernachlaessigt hatte. Vor ihm war es im
Besitze einer Verwandten gewesen, deren Grossvater es gekauft hatte. In
der Zeit vorher war ein haeufiger Wechsel der Eigentuemer gewesen, und
das Gut war sehr herab gekommen. Mathilde fing damit an, dass sie die
zum Schlosse gehoerigen Untertanen, welche Zehnte und Gaben in dasselbe
zu entrichten hatten, gegen ein vereinbartes Entgelt fuer alle Zeiten
von ihren Pflichten entband und sie zu unbeschraenkten Eigentuemern auf
ihrem Grunde machte. Das zweite, was sie tat, bestand darin, dass sie
die Liegenschaften des Schlosses selber zu bewirtschaften begann,
dass sie einen geschlossenen Hausstand von Gesinde und ihrer eigenen
Familie begruendete und mit diesem Hausstande lebte. Sie richtete den
Meierhof zurecht und brachte mit Hilfe taetiger Leute, die sie aufnahm,
die Felder, die Wiesen und Waelder in einen besseren Stand.
Die schoenen Zeilen von Obstbaeumen, welche durch die Fluren liefen und
die mir bei meinem ersten Aufenthalte schon so sehr gefallen hatten,
waren von ihr selber gepflanzt, und wenn sie gute, selbst ziemlich
erwachsene Obstbaeume irgendwo erhalten konnte, so scheute sie nicht
die Zeit und den Aufwand, sie bringen und auf ihren Grund setzen zu
lassen. Da die Nachbarn dieses Verfahren allmaehlich nachahmten, so
erhielt die Gegend das eigentuemliche und wohlgefaellige Ansehen, das
sie von den umliegenden Laendereien unterschied.
Die Gemaelde, welche sich in den Wohnzimmern Mathildens und Nataliens
befanden, hatten nach meiner Meinung im Ganzen genommen zwar nicht den
Wert wie die im Asperhofe, aber es waren manche darunter, welche mir
nach meinen jetzigen Ansichten mit der groessten Meisterschaft gemacht
schienen. Ich sagte die Sache meinem Gastfreunde, er bestaetigte sie
und zeigte mir Gemaelde von Tizian, Guido Reni, Paul Veronese, Van Dyck
und Holbein. Unbedeutende oder gar schlechte Bilder, wie ich sie, so
weit mir jetzt dieses meine Rueckerinnerung ploetzlich und wiederholt
vor Augen brachte, in manchen Sammlungen, die mir in frueheren Jahren
zugaenglich gewesen waren, gesehen hatte, befanden sich weder in der
Wohnung Mathildens noch in dem Asperhofe. Wir sprachen auch hier
so wie in dem Rosenhause von den Gemaelden, und es gehoerte zu den
schoensten Augenblicken, wenn ein Bild auf die Staffelei getan worden
war, wenn man die Fenster, die ein stoerendes Licht haetten senden
koennen, verhuellt hatte, wenn das Bild in die rechte Helle gerueckt
worden war, und wenn wir uns nun davor befanden. Mathilde und
mein Gastfreund sassen gewoehnlich, Eustach und ich standen, neben
uns Natalie und nicht selten auch Gustav, welcher bei solchen
Gelegenheiten sehr bescheiden und aufmerksam war. Oefter sprach
hauptsaechlich mein Gastfreund von dem Bilde, oefter aber auch Eustach,
wozu Mathilde ihre Worte oder einfachen Meinungen gesellte. Man
wiederholte vielleicht oft gesagte Worte, man zeigte sich Manches, das
man schon oft gesehen hatte, und machte sich auf Dinge aufmerksam, die
man ohnehin kannte. So wiederholte man den Genuss und verlebte sich in
das Kunstwerk. Ich sprach sehr selten mit, hoechstens fragte ich und
liess mir etwas erklaeren. Natalie stand daneben und redete niemals ein
Wort.
Zur Nymphe des Brunnens, die unter der Eppichwand im Garten war, ging
ich auch oefter. Frueher hatte ich den wunderschoenen Marmor bewundert,
desgleichen mir nicht vorgekommen war; jetzt erschien mir auch die
Gestalt als ein sehr schoenes Gebilde. Ich verglich sie mit der auf
der Treppe im Hause meines Gastfreundes stehenden. Wenn auch jenes an
Hoheit, Wuerde und Ernst weit den Vorzug in meinen Augen hatte, so war
dieses doch auch fuer mich sehr anmutig, weich und klar, es hatte eine
beschwichtigende Ruhe, wie die Goettin eines Quells sollte, und hatte
doch wieder jenes Reine und, ich moechte sagen, Fremde, das ein Gemaelde
nicht hat, das aber der Marmor so gerne zeigt. Ich wurde mir dieser
Empfindung des Fremden jetzt klarer bewusst, und ich erfuhr auch,
dass sie mich schon in frueherer Zeit ergriffen hatte, wenn ich mich
Marmorbildwerken gegenueber befand. Es wirkte bei dieser Gestalt noch
ein Besonderes mit, was in meiner Beschaeftigung der Erdforschung
seinen Grund hat, nehmlich, dass der Marmor gar so schoen und fast
fleckenlos war. Er gehoerte zu jener Gattung, die an den Raendern
durchscheinend ist, deren Weisse beinahe funkelt und uns verleitet,
zu meinen, man saehe die zarten Kristalle wie Eisnadeln oder wie
Zuckerkoerner schimmern. Diese Reinheit hatte fuer mich an der Gestalt
etwas Erhabenes. Nur dort, wo das Wasser aus dem Kruge floss, den die
Gestalt umschlungen hielt, war ein gruenlicher Schein in dem Marmor,
und der Staffel, auf dem der am tiefsten herabgehende Fuss ruhte, war
ebenfalls gruen und von unten durch die herauf dringende Feuchtigkeit
ein wenig verunreinigt. Der Marmor an dem Bilde meines Freundes war
wohl trefflich, es mochte wahrscheinlich parischer sein; aber er hatte
schon einigermassen die Farbe alten Marmors, waehrend die Nymphe wie neu
war, als waere der Marmor aus Carrara. Ich dachte mir wohl auch, und
meine Freunde bestaetigten es, dass das Bildwerk neueren Ursprunges sei;
aber wie bei dem meines Gastfreundes wusste man auch hier den Meister
nicht. Ich sass sehr gerne in der Grotte bei dem Bildwerke. Es war da
ein Sitz von weissem Marmor in einer Vertiefung, die sich seitwaerts von
der Nymphe in das Bauwerk zurueck zog und von der aus man die Gestalt
sehr gut betrachten konnte. Es war ein sanftes Daemmern auf dem Marmor,
und im Daemmern war es wieder, als leuchtete der Marmor. Man konnte
hier auch das leise Rinnen des Wassers aus dem Kruge, das Kraeuseln
desselben in dem Becken, das Hinabtraeufeln auf den Boden und das
gelegentliche Blitzen auf demselben sehen.
Zur Wohnung hatte man mir dieselbe Raeumlichkeit gegeben, die ich in
den ersten zwei Malen inne hatte, da ich in diesem Schlosse war. Man
hatte sie mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet, auf die man nur
immer denken konnte und deren ich zum groessten Teile nicht bedurfte;
denn ich war in meinem Reiseleben gewohnt geworden, in den aeusseren
Dingen auf das Einfachste vorzugehen.
Da wir von dem Sternenhofe Abschied nahmen, sagte mir Mathilde auf die
liebe, freundliche Weise Lebewohl, mit der sie mich empfangen hatte.
Wir besuchten auf unserer Rueckreise mehrere Landwirte, welche in der
Gegend einen grossen Ruf genossen, und besahen, was sie auf ihren
Guetern eingefuehrt hatten und was sie zum Wohle des Landes auszubreiten
wuenschten. Mein Gastfreund nahm Rebstecklinge, Abteilungen von Samen
und Abbildungen von neuen Vorrichtungen mit nach Hause.
Ehe ich die Rueckreise zu den Meinigen antrat, ging ich noch einmal in
das Rothmoor, um zu sehen, wie weit die Arbeiten aus meinem Marmor
gediehen waeren. Von den kleineren Dingen waren manche fertig. Das
Wasserbecken und die groesseren Arbeiten mussten in das naechste Jahr
hinueber genommen werden. Ich billigte diese Anordnung; denn es war mir
lieber, dass die Sache gut gemacht wuerde, als dass sie bald fertig waere.
Das Vollendete packte ich ein, um es mit nach Hause zu nehmen.
In dem Rosenhause fand ich bei meiner Zurueckkunft einen Brief
von Roland, der ueber die Ergebnisse der Nachforschungen nach den
Ergaenzungen zu den Pfeilerverkleidungen meines Vaters sprach. Es war
keine Hoffnung vorhanden, die Ergaenzungen zu finden. Im ganzen Gebirge
war nichts, was mit den beschriebenen Verkleidungen Aehnlichkeit hatte,
ueberhaupt sind da keine Verkleidungen und Vertaeflungen vorhanden
gewesen, wohin Roland seit Jahren seine Wanderungen angestellt hatte,
sie muessten denn sehr verborgen sein, wornach man ein Auffinden so dem
Zufalle anheim geben muesse, wie das durch Zufall entdeckt worden sei,
was ich meinem Vater gebracht haette. In Hinsicht der Vertaeflungen
aber, um welche es sich hier handle, sei beinahe Gewiss vorhanden, dass
sie zerstoert worden seien. Die Ausmasse, welche ihm ueber die in den
Haenden meines Vaters befindlichen Werke zugesendet worden seien,
passen genau auf ein Gemach im Steinhause des Lauterthales, woher
gleich Anfangs der Ursprung der Dinge vermutet worden sei und welches
Gemach jetzt oede steht. Es habe zwei Pfeiler, an denen die noch
vorhandenen Verkleidungen gewesen sein muessen. Die Zwischenarbeiten
sind eben so zerstoert worden wie Vieles, was sich in jenem steinernen
Schloesschen befunden habe; denn sonst mussten sie sich entweder in
dem Gebaeude oder in der Gegend vorfinden, was beides nicht der Fall
ist, oder sie muessten sehr im Verborgenen sein, da doch sonst die
Nachforschungen, welche nun schon durch zwei Jahre angestellt und
bekannt geworden seien, die Leute veranlasst haben duerften, die Sachen
zum Verkaufe um einen guten Kaufschilling zu bringen. Man muesse also
seine Gedanken dahin richten, dass nichts zu finden sei, und wenn doch
noch etwas gefunden wuerde, so muesse man es als eine unverhoffte Gunst
ansehen. Mein Gastfreund und ich sagten, dass wir ungefaehr auf dieses
Ergebnis gefasst gewesen seien.
Als der Herbst ziemlich vorgesehritten war, begab ich mich auf die
Rueckreise in meine Heimat. Es war ein sehr heiterer Sonntagsmorgen,
den ich zu meiner Ankunft auserwaehlt hatte, weil ich wusste, dass an
diesem Tage der Vater zu Hause sein wuerde und ich daher den Nachmittag
in dem vollen Kreise der Meinigen zubringen konnte. Ich war nicht
wie gewoehnlich auf einem Schiffe gekommen, sondern ich hatte meine
Wanderung laengs des ganzen Gebirges gegen Sonnenaufgang unternommen
und war dann mitternachtwaerts mit einem Wagen in unsere Stadt
gefahren. Den Vater traf ich sehr heiter an, er schien gleichsam um
mehrere Jahre juenger geworden zu sein. Die Augen glaenzten in seinem
Angesichte, als waere ihm eine sehr grosse Freude widerfahren. Auch die
anderen sahen sehr vergnuegt und froehlich aus.
Nach dem Mittagessen fuehrte er mich in das glaeserne Haeuschen und
zeigte mir, dass sich die Verkleidungen bereits auf den Pfeilern
befaenden. Es war ein bewunderungswuerdiger Anblick, ich haette nie
gedacht, dass sich die Schnitzerei so gut darstellen wuerde. Sie war
vollkommen gereinigt und schwach mit Firniss ueberzogen worden.
"Siehst du", sagte der Vater, "wie sich alles schoen gestaltet hat.
Die Holzverkleidung fuegt sich, als waere sie fuer diese Pfeiler gemacht
worden. Es ist fast auch so der Fall; wenn nicht die Holzverkleidung
fuer die Pfeiler gemacht worden ist, so sind doch die Pfeiler fuer die
Holzverkleidung gemacht worden. Was aber von weit groesserer Bedeutung
ist, besteht darin, dass das Holzkunstwerk in das ganze Haeuschen so
passt, als waere sie urspruenglich fuer dasselbe bestimmt gewesen - und
dies freut mich am meisten. Ich kann mich daher auch nicht so betrueben
wie du, dass die anderen Teile der Verkleidungen nicht aufzufinden
gewesen sind. Ich muesste das ganze Haeuschen wieder umbauen, wenn die
Ergaenzungen zum Vorscheine gekommen waeren; denn schwerlich wuerden sie
hieher passen, und zu verstuemmeln oder zu vergroessern wuerden sie ihrer
Natur nach nicht sein. Wir wollen daher das Vorhandene geniessen, und
koemmt durch ein Wunder die Ergaenzung zum Vorscheine, so wird sich
schon zeigen, was zu tun sei. Du siehst, wir haben uns viele Muehe
gegeben, die Luecken auszufuellen und alles in einen natuerlichen
Zusammenhang zu bringen."
So war es auch. Ueber den Verkleidungen befanden sich an den Pfeilern
Spiegel eingesetzt, deren Rahmen die Verzierungen der Verkleidung
fortsetzten und zu den Verzierungen der Fensterstaebe und Fensterkreuze
hinueber leiteten. Unter den Fenstern waren Simse und Vertaeflungen so
angebracht, dass sie eine ruhigere Flaeche zwischen den Schnitzwerken
abgaben. Ich sprach gegen meinen Vater meine Bewunderung aus, dass man
der Sache eine solche Gestalt zu geben gewusst habe.
"Es ist uns aber auch ein sehr tuechtiger Lehrmeister beigestanden",
erwiderte er, "und wir waren in der Lage, nach seinem Rate noch
Manches in unserem begonnenen Werke abzuaendern; denn sonst waere es
nicht so geworden, wie es geworden ist. Setze dich zu uns, dass ich es
dir erzaehle."
Er sass mit der Mutter auf einer Bank, die aus feinen Rohrstaeben
geflochten war, die Schwester und ich nahmen ihnen gegenueber auf
Sesseln Platz.
"Dein Gastfreund", fing er an, "hat uns ausgefunden und hat, als du
zwei Wochen fort warest, seine Bauzeichnungen und die Zeichnungen
vieler anderer Gegenstaende hieher gesendet, dass ich sie ansehe. Er
hat mir auch den Antrag gemacht, dass ich manche, die mir besonders
gefielen, zu meinem Gebrauche nachzeichnen lassen duerfe, nur moechte
ich ihm die Blaetter vorher alle senden und die bezeichnen, deren
Nachbildung ich wuenschte, er wuerde sie mir dann gelegentlich zu diesem
Gebrauche zustellen. Ich lehnte diese Erlaubnis ab, nur Einzelnes von
Verzierungen oder Staeben liess ich fluechtig heraus zeichnen, in so
fern ich erkannte, dass es mir bei meinen naechsten Anordnungen wuerde
dienlich sein. Den groessten Nutzen aber schoepften wir - mein Arbeiter
und ich - aus der Anschauung des Ganzen ueberhaupt. Wir lernten hier
neue Dinge kennen, wir sahen, dass es Schoeneres gibt, als wir selber
haben, so dass wir den Plan und die Ausfuehrung zu den Arbeiten in dem
Haeuschen hier viel besser machten, als wir sonst beides gemacht haben
wuerden.
Die Zeichnungen von den Bauwerken, Geraeten und anderen Dingen, welche
mir dein Gastfreund gesandt hat, sind so schoen, dass es vielleicht
wenige gleiche gibt. Ich habe wohl in juengeren Jahren bei meinen
Reisen und Wanderungen sehr schoene und hie und da schoenere Bauwerke
gesehen; aber Zeichnungen von Bauwerken habe ich nie so vollendet klar
und rein gesehen. Ich hatte eine grosse Freude bei dem Anschauen dieser
Dinge, und wer in dem Besitze einer so trefflichen Sammlung der
schoensten, zahlreichen und dabei so mannigfaltigen Gegenstaende ist,
der kann niemals mehr bei seinen Anordnungen in das Unbedeutende,
Leere und Nichtige verfallen, ja er muss bei gehoeriger Benuetzung, und
wenn sein Geist die Dinge in sich aufzunehmen versteht, nur das Hohe
und Reine hervorbringen. Das ist eine seltne Gunst des Schicksales,
wenn ein Mann die Musse, Mittel und Mitarbeiter hat, solche Werke
anlegen zu koennen. Es gehoerte zu meinen schoensten Augenblicken, in
diesen Sammlungen blaettern zu duerfen und mich in die Anschauung
dessen, was mich besonders ansprach, zu vertiefen. Vielleicht goennt es
doch noch einmal eine spaetere Gunst, von dem Anerbieten dieses Mannes
Gebrauch machen zu koennen und hie und da etwas zu Stande zu bringen,
was nicht ganz ein unwerter Zuwachs zu meinen letzten Tagen ist.
Also gefaellt dir das, was wir zu unseren Verkleidungen hatten hinzu
machen lassen?"
"Vater, sehr", erwiderte ich; "aber ich habe jetzt andere Dinge zu
reden; ich kann mich von meinem Erstaunen nicht erholen, dass mein
Gastfreund seine Zeichnungen hieher gesendet hat, die er so liebt,
die er gewiss nicht weniger liebt als seine Buecher, von denen er doch
keines aus seinem Hause gibt. Ich habe eine so grosse Freude ueber
dieses Ereignis, dass ich nicht Worte finde, sie nur halb auszudruecken.
Vater, mein Gefuehl hat in juengster Zeit einen solchen Aufschwung
genommen, dass ich die Sache selber nicht begreife, ich muss mit dir
darueber reden, ich habe sehr viele Dinge mit dir zu reden.
Meinem Gastfreunde muss ich auf das Waermste und Heisseste danken, sobald
ich ihn sehe, er hat mir durch die Sendung der Zeichnungen an dich die
hoechste Gunst erzeigt, die er mir nur zu erzeigen im Stande war."
"Dann muss ich dich bitten, mit mir zu gehen und noch etwas
anzuschauen", sagte mein Vater.
Er fuehrte mich in sein Altertumszimmer. Die Mutter und die Schwester
gingen mit.
An einem Pfeiler, der mit einem langen, altertuemlich gefassten Spiegel
geschmueckt war, stand der Tisch mit den Musikgeraeten, den ich im
Rosenhause in der Wiederherstellung befindlich und zu Anfang dieses
Sommers bereits vollendet gesehen hatte.
Ich konnte vor Verwunderung kein Wort sagen.
Der Vater, der mein Gefuehl verstand, sagte. "Der Tisch ist mein
Eigentum. Er ist mir in diesem Sommer gesendet worden, und es war
die Bitte beigefuegt, ich moege ihn unter meinen andern Dingen als
Erinnerung an einen Mann aufstellen, dessen groesste Freude es waere,
einem Andern, der seine Neigung gleichen Dingen zuwende wie er, ein
Vergnuegen zu machen."
"Da muss ich nun augenblicklich zu meinem Freunde reisen", rief ich.
"Den Dank habe ich ihm wohl schon ausgedrueckt", sagte der Vater; "aber
wenn du hingehen und es mit dem eigenen Munde tun willst, so freut es
mich um desto mehr."
Die Schwester huepfte oder sprang beinahe in dem Zimmer herum und rief:
"Ich habe es mir gedacht, dass er so handeln wird, ich habe es mir
gedacht. O der Freude, o der Freude! Wirst du bald abreisen?"
"Morgen mit dem fruehesten Tagesanbruch", erwiderte ich, "heute muessen
noch Pferde bestellt werden."
"Es ist eine spaete Jahreszeit und du bist kaum gekommen, mein Sohn",
sagte die Mutter; "aber ich halte dich nicht ab. Der Tisch und noch
mehr die Gesinnung des Mannes, der ihn sendete, haben auf deinen Vater
wie ein Glueck gewirkt. Das muessen vortreffliche Menschen sein."
"Sie haben ihres Gleichen nicht auf Erden", rief ich. Ohne zu saeumen
schickte ich den Knecht auf die Post, um mir auf den naechsten Morgen
um vier Uhr zwei Pferde zu bestellen. Dann sprachen wir noch von dem
Tische. Der Vater breitete sich ueber seine Eigenschaften aus, er
erklaerte uns dieses und jenes und setzte mir dann in einer laengeren
Beweisfuehrung auseinander, warum er gerade auf diesem Platze stehen
muesse, auf dem er stehe. Ohne von den Gemaelden des Vaters etwas zu
sagen, auf welche ich mich sehr gefreut hatte und von denen ich
mit dem Vater hatte reden wollen, und ohne auf meinen diesjaehrigen
Sommeraufenthalt naeher einzugehen, liess ich den Rest des Tages
verfliessen und erwartete mit Ungeduld den Morgen. Nur gelegentliche
Fragen des Vaters beantwortete ich und hoerte zu, wenn er wieder von
dem sprach, was in diesem Sommer ein Ereignis fuer ihn gewesen war. Vor
dem Schlafengehen nahmen wir Abschied, und ich begab mich auf meine
Zimmer.
Um drei Uhr des Morgens war ein leichter Lederkoffer gepackt, und
eine halbe Stunde spaeter stand ich in guten Reisekleidern da. In dem
Speisezimmer, in welchem noch ein Fruehstueck fuer mich bereit stand,
erwarteten mich die Mutter und die Schwester. Der Vater, sagten sie,
schlummre noch sehr sanft. Das Fruehmahl war eingenommen, die Pferde
standen vor dem Haustore, die Mutter verabschiedete sich von mir,
die Schwester begleitete mich zu dem Wagen, kuesste mich dort auf das
Innigste und Freudigste, ich stieg ein und der Wagen fuhr in der noch
ueberall dicht herrschenden Finsternis davon.
Ich war nie mit eigenen Postpferden gefahren, weil ich die Auslage fuer
Verschwendung hielt. Jetzt tat ich es, mir ging die Reise noch immer
nicht schnell genug, und auf jeder Post, wo ich neue Pferde und einen
neuen Wagen erhielt, daeuchte mir der Aufenthalt zu lange.
Ich hatte den Vater um den Brief nicht gefragt, der mit den
Zeichnungen oder mit dem Tische gekommen war, auch hatte ich mich
nicht um die Art erkundigt, wie diese Dinge eingelangt seien. Der
Vater hatte ebenfalls nichts davon erwaehnt. Ich beschloss, meinem
Vorhaben treu zu bleiben und hierueber eine Frage nicht zu stellen.
Nach einer nur durch das notwendige Essen von mir unterbrochenen Fahrt
bei Tag und Nacht kam ich gegen den Mittag des zweiten Tages in dem
Rosenhause an. Ich hielt vor dem Gitter, gab einem Knechte, der gar
nicht erstaunt war, weil er an mein Gehen und Kommen in diesem Hause
gewohnt sein mochte, meinen Koffer, sendete Wagen und Pferde auf die
letzte Post, in die sie gehoerten, zurueck, ging in das Haus und fragte
nach meinem Freunde.
Er sei in seinem Arbeitszimmer, sagte man mir.
Ich liess mich melden und wurde hinaufgewiesen.
Er kam mir laechelnd entgegen, als ich eintrat. Ich sagte, er scheine
zu wissen, weshalb ich komme.
"Ich glaube es mir denken zu koennen", antwortete er.
"Dann werdet ihr euch nicht wundern", sagte ich, "dass ich in diesem
Jahre, fuer welches ich schon Abschied genommen habe, mittelst einer
sehr eiligen Reise noch einmal in euer Haus komme. Ihr habt meinem
Vater eine doppelte Freude erwiesen, ihr habt zu mir nichts gesagt,
mein Vater hat mir auch nichts geschrieben, wahrscheinlich, um den
Eindruck, wenn ich die Sache selber saehe, groesser zu machen: ich muesste
ein sehr unrechtlicher Mensch sein, wenn ich nicht kaeme und fuer den
Jubel, der in mein Herz kam, nicht dankte. Ich weiss nicht, wodurch ich
es denn verdient habe, dass ihr das getan habt, was ihr tatet; ich weiss
nicht, wie ihr denn mit meinem Vater zusammenhaenget, dass ihr ihm ein
so kostbares Geschenk macht und dass ihr mit den Zeichnungen so in
Liebe an ihn dachtet.
Ich danke euch tausendmal und auf das herzlichste dafuer. Ich habe euch
fuer alles Freundliche, was mir in eurem Hause zu Teil geworden ist, in
meinem Herzen gedankt, ich habe euch auch mit Worten gedankt. Dieses
aber ist das Liebste, was mir von euch gekommen ist, und ich biete
euch den heissesten Dank dafuer an, der sich am besten aussprechen
wuerde, wenn es mir nur auch einmal gegoennt waere, fuer euch etwas tun zu
koennen."
"Das duerfte sich vielleicht auch einmal fuegen", antwortete er, "das
Beste aber, was der Mensch fuer einen andern tun kann, ist doch immer
das, was er fuer ihn ist. Das Angenehmste an der Sache ist mir, dass ich
mich nicht getaeuscht habe und dass euer Vater an den Sendungen Freude
hatte und dass die Freude des Vaters auch euch Freude machte. Im
uebrigen ist ja alles sehr einfach und natuerlich. Ihr habt mir von den
altertuemlichen Dingen erzaehlt, welche euer Vater besitzt und welche
ihm Vergnuegen machen, ihr habt von seinen Bildern gesprochen, ihr habt
ihm Schnitzwerke gebracht, fuer welche er eigens einen kleinen Erker
seines Hauses umbauen liess, ihr habt euch grosse Muehe gegeben, die
Ergaenzungen zu den Schnitzereien zu finden, habt sogar meinen Rat
hiebei eingeholt, und es war euch unangenehm, befuerchten zu muessen,
dass ihr das Gesuchte trotz alles Strebens nicht finden wuerdet. Da
dachte ich, dass ich vielleicht mit einem meiner Gegenstaende eurem
Vater ein Vergnuegen machen koennte, besprach mich mit Eustach und
sandte den Tisch. Das Uebersenden der Zeichnungen war auch ganz
folgerichtig. Ihr habt im vorigen Jahre mit vieler Muehe hier und im
Sternenhofe Abbildungen von Geraeten gemacht, um eurem Vater nur im
Allgemeinen eine Vorstellung von dem zu geben, was hier ist. Wie nahe
lag es also, ihm Zeichnungen zu schicken, in denen noch weit mehr,
weit Umfassenderes und weit Edleres enthalten ist, obgleich sie
nur die Sammlung eines einzelnen Menschen sind und weit hinter dem
zurueckstehen, was an Prachtwerken hie und da besteht. Wir haben
vielerlei an alten Geraeten hier, wir koennen etwas entbehren, haben
schon Manches weggegeben, und geben gerne etwas einem Manne, der damit
Freude hat und der es zu pflegen und zu achten versteht."
"Es wurde mir sehr viel Schmerz machen", sagte ich, "wenn ihr nur im
Entferntesten denken koenntet, dass ich mit meinen Handlungen auf ein
solches Ergebnis habe hinzielen koennen."
"Das habe ich nie geglaubt, mein junger Freund", antwortete er, "sonst
haette ich die Sachen gar nicht geschickt. Aber es ist die zwoelfte
Stunde nahe. Gehet mit mir in das Speisezimmer. Wir wussten zwar von
eurer Ankunft nichts; aber es wird sich schon etwas vorfinden, dass
ihr nicht Hunger leiden muesset und dass auch wir nicht einen Abbruch
leiden."
Mit diesen Worten gingen wir in das Speisezimmer.
Nach dem Essen wurde ich von Gustav in meine Wohnung geleitet, die
immer in reinlichem Stande gehalten wurde und die jetzt von einem
schwachen Feuer wohltaetig erwaermt war. Mir tat eine Ruhe etwas not,
und die maessige Waerme erquickte meine Glieder.
Im Laufe des Nachmittages sagte mein Gastfreund zu mir. "Es ist nie
ein so schoener Spaetherbst gewesen als heuer, meine Witterungsbuecher
weisen keinen solchen seit meinem Hiersein aus, und es sind alle
Anzeichen vorhanden, dass dieser Zustand noch mehrere Tage dauern wird.
Nirgends aber sind solche klare Spaetherbsttage schoener als in unseren
noerdlichen Hochlanden. Waehrend nicht selten in der Tiefe Morgennebel
liegen, ja der Strom taeglich in seinem Tale Morgens den Nebelstreifen
fuehrt, schaut auf die Haeupter des Hochlandes der wolkenlose Himmel
herab und geht ueber sie eine reine Sonne auf, die sie auch den ganzen
Tag hindurch nicht verlaesst. Darum ist es auch in dieser Jahreszeit in
dem Hochlande verhaeltnismaessig warm, und waehrend die rauhen Nebel in
der Tiefgegend schon die Blaetter von den Obstbaeumen gestreift haben,
prangt oben noch mancher Birkenwald, mancher Schlehenstrauch, manches
Buchengehege mit seinem goldenen und roten Schmucke. Nachmittags ist
dann gewoehnlich auch die Aussicht ueber das ganze Tiefland deutlicher
als je zu irgend einer Zeit im Sommer. Wir haben daher beschlossen,
heuer noch eine Reise in das Hochland zu machen, wie ich es in
frueherer Zeit schon in manchen Jahren getan habe. Die Entfernungen
sind dort nicht so gross, und sollten sich die Vorboten melden, dass
das Wetter sich zur Aenderung anschicken so koennen wir jederzeit den
Heimweg antreten und ohne viel Ungemach den Asperhof wieder erreichen.
Morgen wird Mathilde und Natalie eintreffen, sie fahren mit uns, auch
Eustach begleitet uns. Wolltet ihr nicht auch den Weg mit uns machen
und einige Tage der lieblichen Spaetzeit mit uns geniessen? Koemmt dann
Schnee oder Regen, wenn wir wieder in meinem Hause angelangt sind, so
werdet ihr wohl auf dem Postwagen eure Heimreise machen koennen und das
Wetter wird euch nicht viel anhaben."
"Es kann mir nie viel anhaben", entgegnete ich, "weil ich gegen seine
Einfluesse abgehaertet bin, auch koennte mir in dem Gefuehle, welches ich
gegen euch habe, keine groessere Annehmlichkeit begegnen, als einige
Zeit in eurer Gesellschaft zu reisen; aber zu Hause wissen sie nichts
davon und erwarten mich wahrscheinlich schon bald."
"Ihr koenntet sie ja in einem Briefe verstaendigen", sagte er.
"Das kann ich tun", erwiderte ich. "Wenn ich auch gleich nach
meiner Ankunft nach einer viele Monate dauernden Abwesenheit wieder
fortgereist bin, wenn sie mich auch schon in den naechsten Tagen
erwarten, so werden sie doch einsehen, dass ein laengerer Aufenthalt in
der Gesellschaft eines Mannes, zu welchem ich in einer Angelegenheit
wie die zwischen uns vorgefallene gereist bin, nur in der Natur der
Sache gegruendet ist. Sie wuerden es weit uebler nehmen, wenn ich unter
den bestehenden Verhaeltnissen nach Hause kaeme, als wenn ich noch eine
Weile bei euch bleibe."
"Ich habe euch meine Frage und mein Anerbieten gestellt", antwortete
mein Gastfreund, "handelt nach eurem besten Ermessen. Was ihr tut,
wird wohl das Rechte sein."
"Ich schreibe sogleich den Brief."
"Gut, und ich werde ihn sofort auf die Post senden."
Ich ging in meine Zimmer und schrieb einen Brief an den Vater. Es war
wohl das Rechte, was ich tat. Wie schwer wuerden es mir Vater, Mutter
und Schwester verziehen haben, wenn ich mich nicht mit Freude an einen
Mann zu einer kurzen Reise angeschlossen haette, der so an unserm Hause
gehandelt hat.
Als ich mit dem Briefe fertig war, trug ich ihn hinab, und der Knecht,
der gewoehnlich zu allen Botengaengen verwendet wurde, wartete schon auf
ihn, um nebst anderen Auftraegen ihn an den Ort zu bringen, in welchem
er auf die Post kommen sollte.
Am anderen Tage, schon im Verlaufe des Vormittages, kamen Mathilde und
Natalie. Es schien, dass allen die Ursache, weshalb ich, nachdem ich
schon Abschied genommen hatte, wieder in das Rosenhaus gekommen war,
Freude machte. Sie sahen mich freundlicher an. Selbst Natalie, die
mich so gemieden hatte, war anders. Ich glaubte einige Male, wenn ich
abgewendet war, ihren Blick auf mich gerichtet zu wissen, den sie aber
sogleich, wenn ich hinsah, weg wendete. Gustav schloss sich mit ganzem
Herzen an mich an und hatte darueber kein Hehl. Ich wusste schon, dass
er mir immer seine Neigung in grossem Masse zugewendet habe, und ich
erwiderte sie aus dem Grunde meiner Seele.
Nachmittags wurden die Vorbereitungen zur Reise gemacht, und am
anderen Morgen noch vor Aufgang der Sonne fuhren wir ab. Mit Mathilde
fuhren Natalie und ein Dienstmaedchen, mit meinem Gastfreunde fuhren
Eustach, Gustav und ich. Mit Roland sollten wir irgend wo im Lande
zusammen treffen, er sollte eine Strecke mit uns reisen, und fuer
diesen Fall war es dann bestimmt, dass Gustav in dem Wagen der Mutter
untergebracht werden musste. Die eigentuemliche Art des Hochlandes
erzeugte einen eigentuemlichen Plan des Reisens. Wir hatten nehmlich
beschlossen, ueber manchen steilen und laenger dauernden Berg hinan zu
gehen, ebenso ueber manchen hinab. Dies sollte die ganze Gesellschaft
zuweilen zusammen bringen, zuweilen trennen. Man konnte auf diese Art
Manches gemeinschaftlich geniessen, Manches vereinzelt, sich aber in
Kuerze davon Mitteilungen machen.
Ehe noch die Sonne den hoechsten Punkt ihres Bogens erklommen hatte,
waren wir bereits die Dachung empor gekommen, welche das niedrere
Land von dem Hochlande trennt, und fuhren nun in das eigentliche Ziel
unserer Reise hinein.
Mein Gastfreund hatte Recht. In dem milden, sanften Schimmer der
Nachmittagsonne, die hier fast waermer schien als in den Ebenen und
Taelern des Tieflandes, fuhren wir einem lieblichen Schauplatze
entgegen. Selbst untergeordnete Umstaende vereinigten sich, die Reise
angenehm zu machen. Die sandigen Strassen des Oberlandes, welche auch
sehr gut gebaut waren, zeigten sich, ohne staubig zu sein, sehr
trocken, was von den Wegen in der Tiefe nicht gesagt werden konnte,
die teils durch die taeglichen Morgennebel getraenkt, teils ihres
schweren Bodens halber schon in langen Strecken feucht, kuehl und
schmutzig waren. So rollten wir bequem dahin, alles war klar,
durchsichtig und ruhig. Nataliens gelber Reisestrohhut tauchte vor uns
auf oder verschwand, so wie ihr Wagen einen leichten Wall hinan ging
oder jenseits desselben hinab fuhr.
Die Sonne stand an dem wolkenlosen Himmel, aber schon tief gegen
Sueden, gleichsam als wollte sie fuer dieses Jahr Abschied nehmen. Die
letzte Kraft ihrer Strahlen glaenzte noch um manches Gestein und um
die bunten Farben des Gestrippes an dem Gesteine. Die Felder waren
abgeerntet und umgepfluegt, sie lagen kahl den Huegeln und Haengen
entlang, nur die gruenen Tafeln der Wintersaaten leuchteten hervor.
Die Haustiere, des Sommerzwanges entledigt, der sie auf einen kleinen
Weidefleck gebannt hatte, gingen auf den Wiesen, um das nachsprossende
Gras zu geniessen, oder gar auf den Saatfeldern umher. Die Waeldchen,
die die unzaehligen Huegel kroenten, glaenzten noch in dieser spaeten Zeit
des Jahres entweder goldgelb in dem unverlorenen Schmuck des Laubes
oder roetlich oder es zogen sich bunte Streifen durch das dunkle,
bergan klimmende Gruen der Foehren empor. Und ueber allem dem war doch
ein blasser, sanfter Hauch, der es milderte und ihm einen lieben
Reiz gab. Besonders gegen die Talrinnen oder Tiefen zu war die blaue
Farbe zart und schoen. Aus diesem Dufte heraus leuchteten hie und
da entfernte Kirchtuerme oder schimmerten einzelne weisse Punkte von
Haeusern. Das Tiefland war von den Morgennebeln befreit, es lag sammt
dem Hochgebirge, das es gegen Sueden begrenzte, ueberall sichtbar da
und saeumte weithinstreichend das abgeschlossene Huegelgelaende, auf
dem wir fuhren, wie eine entfernte, duftige, schweigende Fabel. Von
Menschentreiben darin war kaum etwas zu sehen, nicht die Begrenzungen
der Felder, geschweige eine Wohnung, nur das blitzende Band des
Stromes war hie und da durch das Blau gezogen. Es war unsaeglich, wie
mir alles gefiel, es gefiel mir bei weitem mehr als frueher, da ich
das erste Mal dieses Land mit meinem Gastfreunde genauer besah.
Ich tauchte meine ganze Seele in den holden Spaetduft, der alles
umschleierte, ich senkte sie in die tiefen Einschnitte, an denen
wir gelegentlich hin fuhren, und uebergab sie mit tiefem, innerem
Abschlusse der Ruhe und Stille, die um uns wartete.
Als wir einmal einen langen Berg empor klommen, dessen Weg einerseits
an kleinen Felsstuecken, Gestrippe und Wiesen dahinging, andererseits
aber den Blick in eine Schlucht und jenseits derselben auf Berge,
Wiesen, Felder und entfernte Waldbaender gewaehrte, als die Waegen voran
gingen und die ganze Gesellschaft langsam folgte, vielfach stehen
bleibend und sich besprechend, geriet ich neben Natalien, die mich,
nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten, fragte, ob ich noch das
Spanische betreibe.
Ich antwortete ihr, dass ich es erst seit Kurzem zu lernen begonnen
habe, dass ich aber seit der Zeit immer darin fortgefahren sei und dass
ich zuletzt mich an Calderon gewagt habe.
Sie sagte, von ihrer Mutter sei ihr das Spanische empfohlen worden.
Es gefalle ihr, sie werde nicht davon ablassen, so weit nehmlich ihre
Kraefte darin ausreichen, und sie finde in dem Inhalte der spanischen
Schriften, besonders in der Einsamkeit der Romanzen, in den Pfaden der
Maultiertreiber und in den Schluchten und Bergen eine Aehnlichkeit mit
dem Lande, in dem wir reisen. Darum gefalle ihr das Spanische, weil
ihr dieses Land hier so gefalle. Sie wuerde am liebsten, wenn es auf
sie ankaeme, in diesen Bergen wohnen.
"Mir gefaellt auch dieses Land", erwiderte ich, "es gefaellt mir mehr,
als ich je gedacht haette. Da ich zum ersten Male hier war, uebte es auf
mich schier keinen Reiz aus, ja mit seinem raschen Wechsel und doch
mit der grossen Aehnlichkeit aller Gruende stiess es mich eher ab, als
es mich anzog. Da ich mit unserem Gastfreunde spaeter einmal einen
groesseren Teil bereiste, war es ganz anders, ich fand mich zu dieser
Weitsicht und Beschraenktheit, zu dieser Enge und Grossartigkeit, zu
dieser Einfachheit und Mannigfaltigkeit hingeneigt. Ich fuehlte mich
bewegt, obwohl ich an ganz andere Gestalten gewohnt war und sie
liebte, nehmlich an die des Hochgebirges. Heute aber gefaellt mir
alles, was uns umgibt, es gefaellt mir so, dass ich es kaum zu sagen im
Stande bin."
"Seht, das geht immer so", erwiderte sie. "Als ich mit meinem Vater
zum ersten Male hier war, freilich befand ich mich noch in den
Kinderjahren, war mir das unaufhoerliche Auf- und Abfahren so
unangenehm, dass ich mich auf das Aeusserste wieder in unsere Stadt und
in deren Ebenen zurueck sehnte. Nach langer Zeit fuhr ich mit der
Mutter durch diese Gegenden und spaeter wiederholt in derselben
Gesellschaft wie heute, ausser euch, und jedes Mal wurde mir das Land
und seine Gestaltungen, ja selbst seine Bewohner lieber. Auch das ist
eigentuemlich und angenehm, dass man Wagenreisen und Fussreisen verbinden
kann. Wenn man, wie wir jetzt tun, die Waegen verlaesst und einen langen
Berg hinan geht oder ihn hinab geht, wird einem das Land bekannter,
als wenn man immer in dem Wagen bleibt. Es tritt naeher an uns. Die
Gestraeuche an dem Wege, die Steinmauern, die sie hier so gerne um die
Felder legen, ein Birkenwaeldchen mit den kleinsten Dingen, die unter
seinen Staemmen wachsen, die Wiesen, die sich in eine Schlucht hinab
ziehen, und die Baumwipfel, welche aus der Schlucht herauf sehen, hat
man unmittelbar vor Augen. In Ebenen eilt man schnell vorbei. Hier ist
gerade so eine Schlucht, wie ich sprach."
Wir blieben ein Weilchen stehen und sahen in die Schlucht hinab. Beide
sprachen wir gar nichts. Endlich fragte ich sie, woher sie denn wisse,
dass ich die spanische Sprache lerne.
"Unser Gastfreund hat es uns gesagt", erwiderte sie, "er hat uns auch
gesagt, dass ihr Calderon leset."
Nach diesen Worten gingen wir weiter. Die andere Gesellschaft, welche
vor uns gewesen war, blieb im Gespraeche stehen, und wir erreichten
sie. Die Gespraeche wurden allgemeiner und betrafen meistens die
Gegenstaende, welche man eben, entweder in naechster Naehe oder in grosser
Entfernung, sah.
Weil nach Untergang der Sonne gleich grosse Kuehle eintrat und unsere
Reise nicht den Zweck hatte, grosse Strecken zurueck zu legen, sondern
das zu geniessen, was die Zeit und der Weg boten, so wurde, als
die Sonne hinter den Waldsaeumen hinab sank, Halt gemacht und die
Nachtherberge bezogen. Die Einteilung war schon so gemacht worden, dass
wir zu dieser Zeit in einem groesseren Orte eintrafen. Wir gingen noch
ins Freie. Wie schnell war in Kurzem der Schauplatz geaendert! Die
belebende und faerbende Sonne war verschwunden, alles stand einfarbiger
da, die Kuehle der Luft liess sich empfinden, in der Tiefe der
Wiesengruende zogen sich sehr bald Nebelfaeden hin, das ferne
Hochgebirge stand scharf in der klaren Luft, waehrend das Tiefland
verschwamm und Schleier wurde. Der Westhimmel war ueber den dunkeln
Waeldern hellgelb, manche Rauchsaeule stieg aus einer Wohnung gegen
ihn auf, und bald auch glaenzte hie und da ein Stern, die feine
Mondessichel wurde ueber den Zacken des westlichen Waldes sichtbar, um
in sie zu sinken.
Wir gingen nun in ein Zimmer, das fuer uns geheizt worden war,
verzehrten dort unser Abendessen, blieben noch eine Zeit in Gespraechen
sitzen und begaben uns dann in unsere Schlafgemaecher.
Am andere Tage war ein klarer Reif ueber Wiesen und Felder. Die
Nebelfaeden unserer Umgebung waren verschwunden, alles lag scharf
und funkelnd da, nur das Tiefland war ein einziger wogender Nebel,
jenseits dessen das Hochgebirge deutlich mit seinen frischen und
sonnigen Schneefeldern dastand.
Kurz nach Aufgang der Sonne fuhren wir fort, und bald waren ihre
milden Strahlen zu spueren. Wir empfanden sie, der Reif schmolz weg und
in Kurzem zeigte sich uns die Gegend wieder wie gestern.
Wir besuchten eine Kirche, in welcher mein Gastfreund Ausbesserungen
an alten Schnitzereien machen liess. Es war aber gerade jetzt nicht
viel zu sehen. Ein Teil der Gegenstaende war in das Rosenhaus
abgegangen, ein anderer war abgebrochen und lag zum Einpacken bereit.
Die Kirche war klein und sehr alt. Sie war in den ersten Anfaengen
der gothischen Kunst gebaut. Ihre Abbildung befand sich unter den
Bauzeichnungen Eustachs. Als wir alles besehen hatten, fuhren wir
wieder weiter.
Nachmittags gesellte sich Roland zu uns. Er hatte uns in einem
Gasthause erwartet, in welchem unsere Pferde Futter bekamen.
Ich konnte, da wir uns eine Weile in dem Hause aufhielten, und spaeter
bei einer andern Gelegenheit, da wir eine Strecke zu Fuss gingen,
wieder bemerken, dass seine Blicke zuweilen auf Natalien hafteten.
Er hatte Zeichnungen in einem Buche, das er bei sich trug, und er
hatte Bemerkungen und Vorschlaege in sein Gedenkbuch geschrieben. Er
teilte von beiden Einiges mit, soweit es die Reise gestattete, und
versprach, Abends, wenn wir in der Herberge angelangt sein wuerden,
noch Mehreres vorzulegen.
Am naechsten Tage Nachmittags kamen wir nach Kerberg und besahen die
Kirche und den schoenen geschnitzten Hochaltar. Mir gefiel er jetzt
viel besser, als da ich ihn in Gesellschaft meines Gastfreundes und
Eustachs zum ersten Male gesehen hatte. Ich begriff nicht, wie ich
damals mit so wenig Anteil vor diesem ausserordentlichen Werke hatte
stehen koennen; denn ausserordentlich erschien es mir trotz seiner
Fehler, die, wie ich wohl sah, in jedem Werke altdeutscher Kunst zu
finden sein wuerden, die ich aber in dem Bildnerwerke, das auf der
Treppe meines Freundes stand, nicht fand. Wir blieben lange in der
Kirche, und ich waere gerne noch laenger geblieben. Vor der Ruhe,
dem Ernste, der Wuerde und der Kindlichkeit dieses Werkes kam eine
Ehrfurcht, ja fast ein Schauer in mein Herz, und die Einfachheit der
Anlage bei dem grossen Reichtume des Einzelnen beruhigte das Auge und
das Gemuet. Wir sprachen ueber das Werk, und aus dem Gespraeche erkannte
ich jetzt recht deutlich, dass frueher auch vor diesem Werke die zwei
Maenner auf meine Unkenntnis Ruecksicht genommen hatten, und ich dankte
es ihnen in meinem Herzen. Ich nahm mir vor, einmal von dieser
Schnitzarbeit ein genaues Abbild zu machen und es meinem Vater zu
bringen.
Ich aeusserte mich, wie schoen, wie gross einmal die Kunst gewirkt habe
und wie dies jetzt anders geworden scheine.
"Es sind in der Kunst viele Anfaenge gemacht worden", sagte mein
Gastfreund. "Wenn man die Werke betrachtet, die uns aus sehr alten
Zeiten ueberliefert worden sind, aus den Zeiten der aegyptischen
Reiche, des assyrischen, medischen, persischen, der Reiche Indiens,
Kleinasiens, Griechenlands, Roms - Vieles wird noch erst in unsern
Zeiten aus der Erde zu Tage gefoerdert, Vieles harrt noch der
zukuenftigen Enthuellung, wer weiss, ob nicht sogar auch Amerika
Schaetzenswertes verbirgt -, wenn man diese Werke betrachtet und wenn
man die besten Schriften liest, die ueber die Entwicklung der Kunst
geschrieben worden sind: so sieht man, dass die Menschen in der
Erschaffung einer Schoepfung, die der des goettlichen Schoepfers aehnlich
sein soll - und das ist ja die Kunst, sie nimmt Teile, groessere oder
kleinere, der Schoepfung und ahmt sie nach -, immer in Anfaengen
geblieben sind, sie sind gewissermassen Kinder, die nachaeffen. Wer hat
noch erst nur einen Grashalm so treu gemacht, wie sie auf der Wiese
zu Millionen wachsen, wer hat einen Stein, eine Wolke, ein Wasser,
ein Gebirge, die gelenkige Schoenheit der Tiere, die Pracht der
menschlichen Glieder nachgebildet, dass sie nicht hinter den Urbildern
wie schattenhafte Wesen stehen, und wer hat erst die Unendlichkeit des
Geistes darzustellen gewusst, die schon in der Endlichkeit einzelner
Dinge liegt, in einem Sturme, im Gewitter, in der Fruchtbarkeit der
Erde mit ihren Winden, Wolkenzuegen, in dem Erdballe selber und dann in
der Unendlichkeit des Alls? Oder wer hat nur diesen Geist zu fassen
gewusst? Einige Voelker sind sinniger und inniger geworden, andere haben
ins Groessere und Weitere gearbeitet, wieder andere haben den Umriss mit
keuscher und reiner Seele aufgenommen und andere sind schlicht und
einfaeltig gewesen. Nicht ein Einzelnes von diesen ist die Kunst, alles
zusammen ist die Kunst, was da gewesen ist und was noch kommen wird.
Wir gleichen den Kindern auch darin, dass, wenn sie ein Haus, eine
Kirche, einen Berg aus Erde nur entfernt aehnlich ausgefuehrt haben,
sie eine groessere Freude darueber empfinden, als wenn sie das um
Unvergleichliches schoenere Haus, die schoenere Kirche oder den
schoeneren Berg selbst ansehen. Wir haben ein innigeres und suesseres
Gefuehl in unserem Wesen, wenn wir eine durch Kunst gebildete
Landschaft, Blumen oder einen Menschen sehen, als wenn diese
Gegenstaende in Wirklichkeit vor uns sind. Was die Kinder bewundern,
ist der Geist eines Kindes, der doch so viel in der Nachahmung
hervorgebracht hat, und was wir in der Kunst bewundern, ist, dass der
Geist eines Menschen, uns gleichsam sinnlich greifbar, ein Gegenstand
unserer Liebe und Verehrung, wenn auch fehlerhaft, doch dem etwas
nachgeschaffen hat, den wir in unserer Vernunft zu fassen streben, den
wir nicht in den beschraenkten Kreis unserer Liebe ziehen koennen und
vor dem die Schauer der Anbetung und Demuetigung in Anbetracht seiner
Majestaet immer groesser werden, je naeher wir ihn erkennen. Darum ist die
Kunst ein Zweig der Religion, und darum hat sie ihre schoensten Tage
bei allen Voelkern im Dienste der Religion zugebracht. Wie weit sie
es in dem Nachschaffen bringen kann, vermag niemand zu wissen. Wenn
schoene Anfaenge da gewesen sind, wie zum Beispiele im Griechentume,
wenn sie wieder zurueck gesunken sind, so kann man nicht sagen, die
Kunst sei zu Grunde gegangen; andere Anfaenge werden wieder kommen, sie
werden ganz Anderes bilden, wenn ihnen gleich allen das Nehmliche zu
Grunde liegt und liegen wird, das Goettliche; und niemand kann sagen,
was in zehntausend, in hunderttausend Jahren, in Millionen von Jahren
oder in Hunderten von Billionen von Jahren sein wird, da niemand den
Plan des Schoepfers mit dem menschlichen Geschlechte auf der Erde
kennt. Darum ist auch in der Kunst nichts ganz unschoen, so lange es
noch ein Kunstwerk ist, das heisst, so lange es das Goettliche nicht
verneint, sondern es auszudruecken strebt, und darum ist auch nichts in
ihr ohne Moeglichkeit der Uebertreffung schoen, weil es dann schon das
Goettliche selber waere, nicht ein Versuch des menschlichen Ausdruckes
desselben. Aus dem nehmlichen Grunde sind nicht alle Werke aus den
schoensten Zeiten gleich schoen und nicht alle aus den verkommensten
oder rohesten gleich haesslich. Was waere denn die Kunst, wenn die
Erhebung zu dem Goettlichen so leicht waere, wie gross oder klein auch
die Stufe der Erhebung sei, dass sie Vielen, ohne innere Groesse und
ohne Sammlung dieser Groesse bis zum sichtlichen Zeichen, gelaenge? Das
Goettliche musste nicht so gross sein, und die Kunst wuerde uns nicht so
entzuecken. Darum ist auch die Kunst so gross, weil es noch unzaehlige
Erhebungen zum Goettlichen gibt, ohne dass sie den Kunstausdruck finden,
Ergebung, Pflichttreue, das Gebet, Reinheit des Wandels, woran wir uns
auch erfreuen, ja woran die Freude den hoechsten Gipfel erreichen kann,
ohne dass sie doch Kunstgefuehl wird. Sie kann etwas Hoeheres sein, sie
wird als Hoechstes dem Unendlichen gegenueber sogar Anbetung und ist
daher ernster und strenger als das Kunstgefuehl, hat aber nicht das
Holde des Reizes desselben. Daher ist die Kunst nur moeglich in einer
gewissen Beschraenkung, in der die Annaeherung zu dem Goettlichen von dem
Banne der Sinne umringt ist und gerade ihren Ausdruck in den Sinnen
findet. Darum hat nur der Mensch allein die Kunst, und wird sie haben,
so lange er ist, wie sehr die Aeusserungen derselben auch wechseln
moegen. Es waere des hoechsten Wunsches wuerdig, wenn nach Abschluss
des Menschlichen ein Geist die gesammte Kunst des menschlichen
Geschlechtes von ihrem Entstehen bis zu ihrem Vergehen zusammenfassen
und ueberschauen duerfte."
Mathilde antwortete hierauf mit Laecheln: "Das waere ja im Grossen, was
du jetzt im Kleinen tust, und es duerfte hiezu eine ewige Zeit und ein
unendlicher Raum noetig sein."
"Wer weiss, wie es mit diesen Dingen ist", erwiderte mein Gastfreund,
"und es wird hier wie ueberall gut sein: Ergebung, Vertrauen, Warten."
Eustach oeffnete die Mappe, in welcher er die Zeichnung des Altares und
die Zeichnungen von Teilen der Kirche, von der Kirche selber und von
Gegenstaenden hatte, die sich in der Kirche befanden.
Wir verglichen die Zeichnung mit dem Altare, es wurde Manches bemerkt,
Manches gelobt, Manches zur Verbesserung der Zeichnung vorgeschlagen.
Wir betrachteten auch die Kirche, wir betrachteten Teile derselben,
wir besahen Grabmaeler und unter ihnen auch den grossen roten Stein, auf
welchem der Mann mit der hohen, schoenen Stirne abgebildet ist, der die
Kirche und den Altar gegruendet hatte.
Wie blieben an diesem Tage in Kerberg. Wir stiegen auf den Berg, auf
welchem das alte Schloss lag, und sahen das Schloss und den in dem
tiefsten herbstlichen Zustande stehenden Garten an. Wir gingen auf den
Stellen, auf welchen die alten maechtigen und reichen Leute gegangen
waren, die einst hier gewohnt hatten, und auch der Mann, als dessen
Tat die Kirche in dem Tale steht.
"Was alle diese Menschen getan haben", sagte mein Gastfreund, "waere
zum Teile in den Papieren und Pergamenten enthalten, die in den
Schloessern und Haeusern dieses Landes und mitunter auch in entfernten
Staedten liegen. Einige wissen einen Teil dieser Taten, die meisten
sind damit voellig unbekannt, und diejenigen, welche auf den Spuren
herum gehen, die ihre Vorfahren getreten haben, wissen oft nicht, wer
diese gewesen sind. Es waere nicht unziemlich, wenn durch Oeffnung der
Briefgewoelbe in allen Laendern auch Einzelgeschichten von Familien und
Gegenden verfasst wuerden, die unser Herz oft naeher beruehren und uns
greiflicher sind als die grossen Geschichten der grossen Reiche. Man
betritt wohl diesen Weg, aber vielleicht nicht ausreichend und nicht
in der rechten Art."
Von Kerberg aus wendeten wir uns am folgenden Tage den hoeher gelegenen
Teilen des Landes zu, das dichter und ausgebreiteter bewaldet war
als die bisher befahrenen Gegenden und von dem uns durch das Daemmer
des Vormittages die breiten und weithinziehenden Bergesruecken mit
Nadeldunkel und Buchenrot entgegen sahen.
Mein Gastfreund hatte Recht gehabt. Ein Tag wurde immer schoener als
der andere. Nicht der geringste Nebel war auf der Erde, auf welcher
wir reiseten, nicht das geringste Woelkchen am Himmel, der sich ueber
uns spannte. Die Sonne begleitete uns freundlich an jedem Tage,
und wenn sie schied, schien sie zu versprechen, morgen wieder so
freundlich zu erscheinen.
Roland blieb drei Tage bei uns, dann verliess er uns, nachdem er vorher
noch Zeichnungen und andere Papiere in den Wagen meines Gastfreundes
gepackt hatte. Er wollte noch bis zum Eintritte des schlechten Wetters
in dem Lande bleiben und dann in das Rosenhaus zurueckkehren.
Alles war recht lieb und freundlich auf dieser Reise, die Gespraeche
waren traulich und angenehm, und jedes Ding, eine kleine alte Kirche,
in der einst Glaeubige gebetet, eine Mauertruemmer auf einem Berge, wo
einst maechtige und gebietende Menschen gehaust hatten, ein Baum auf
einer Anhoehe, der allein stand, ein Haeuschen an dem Wege, auf das die
Sonne schien, alles gewann einen eigentuemlichen sanften Reiz und eine
Bedeutung.
Am achten Tage wandten wir unsere Waegen wieder gegen Sueden, und am
neunten Abend trafen wir in dem Asperhofe ein.
Ehe ich mich zu meiner Heimreise ruestete, sah ich noch einmal
Manches der herrlichen Bilder meines Gastfreundes, drueckte manches
Ausserordentliche der Buecher in meine Seele, sah die geliebten
Angesichter der Menschen, die mich umgaben, und sah manchen Blick der
Landschaft, die sich zu tiefem Ersterben ruestete.
Mein Herz war gehoben und geschwellt, und es war, als breitete sich
in meinem Geiste die Frage aus, ob nun ein solches Vorgehen, ob
die Kunst, die Dichtung, die Wissenschaft das Leben umschreibe und
vollende, oder ob es noch ein Ferneres gaebe, das es umschliesse und es
mit weit groesserem Glueck erfuelle.
Der Einblick
Ich fuhr bei sehr schlechtem Wetter, welches mit Wind, Regen und
Schnee nach den hellen und sonnigen Tagen, die wir in dem Hochlande
zugebracht hatten, gefolgt war, von dem Rosenhause ab. Die Pferde
meines Gastfreundes brachten mich auf die erste Post, wo schon ein
Platz fuer mich in dem in der Richtung nach meiner Heimat gehenden
Postwagen bestellt war. Mathilde und Natalie waren zwei Tage vor mir
abgereist, da sich schon die Zeichen an dem Himmel zeigten, dass die
milden Tage fuer dieses Jahr zu Ende gehen wuerden. Roland war von
seiner Wanderung in dem Asperhofe eingetroffen. Alles hatte auf
stuermische Aenderung in dem Luftraume hingedeutet. Ich weiss nicht,
warum ich so lange geblieben war. Es erschien mir auch einerlei, ob
das Wetter uebel sei oder nicht. Ich war von meinen Wanderungen her
an jedes Wetter gewohnt, um so mehr konnte mir dasselbe gleichgueltig
sein, wenn ich in einem vollkommen geschuetzten Wagen sass und auf einer
wohlgebauten Hauptstrasse dahin rollte.
Am dritten Tage Mittags nach meiner Abreise von dem Rosenhause traf
ich bei den Meinigen ein. Die zweite Ankunft in diesem Jahre.
Sie hatten aus meinem Briefe die Verspaetung meiner Ankunft entnommen,
den Grund vollstaendig gebilligt und waeren, wie ich ganz richtig
vorausgesehen hatte, unwillig auf mich geworden, wenn ich anders
gehandelt haette. Ich erzaehlte nun alles, was sich nach meiner
schnellen Abreise von Hause begeben hatte. Da bei meiner ersten
Ankunft gleich die eine Ursache zur Wiederabreise vorgekommen war,
so konnte ich auch jetzt erst nach und nach erzaehlen, was sich im
vergangenen Sommer mit mir zugetragen habe. Der Vater kam sehr
haeufig auf die Zeichnungen zurueck, die ihm mein Gastfreund gesendet
hatte, und aus seinen Reden war zu entnehmen, wie sehr er die
Geschicklichkeit des Mannes anerkannte, der die Zeichnungen gemacht
hatte, und wie hoch in seiner Achtung der stehe, auf dessen
Veranlassung sie entstanden waren. Er fuehrte mich neuerdings zu dem
Musikgeraettische, zeigte mir noch einmal, warum er ihn gerade an
diesen Platz gestellt habe, und fragte mich wieder, ob ich mit der
Wahl des Ortes einverstanden sei. Mich wunderte Anfangs die Frage, da
er sonst nicht gewohnt war, mich in solchen Dingen zu Rate zu ziehen.
Nach meiner Ansicht war der Tisch in dem Altertumszimmer an dem
Fensterpfeiler in passender Umgebung sehr gut gestellt und zeigte
seine Eigenschaften in dem besten Lichte. Ich wiederholte daher meine
vollkommene Billigung des Platzes, die ich schon vor meiner Abreise
ausgesprochen hatte. Spaeter aber sah ich wohl recht deutlich, dass es
nur die Freude an diesem Stuecke war, was den Vater zur Wiederholung
der Frage ueber die Zweckmaessigkeit des Platzes und zum wiederholten
Zurueckkommen zu dem Tische veranlasst hatte. Das freudige Wesen,
welches ich bei meiner ersten Ankunft in seiner ganzen Gestalt
ausgedrueckt gesehen zu haben glaubte, erschien mir jetzt auch noch
ueber ihn verbreitet. Selbst die Mutter und die Schwester schienen mir
vergnuegter zu sein als in andern Zeiten - ja mir war es, als liebten
mich alle mehr als sonst, so gut, so freundlich, so hingebend waren
sie. Wie sehr dieses Gefuehl, von den Seinen geliebt zu sein, das Herz
beseligt, ist mit Worten nicht auszusprechen.
Ich erzaehlte meinem Vater von dem Marmorbilde, welches auf der Treppe
im Hause meines Gastfreundes steht, und suchte ihm eine Beschreibung
von diesem Kunstwerke zu machen. Er sah mich sehr aufmerksam an, ja
mir war es einige Male, als saehe er mich gewissermassen betroffen
an. Er fragte um Manches und veranlasste mich neuerdings von dem
Bilderwerke zu sprechen. Es schien ihn sehr angelegentlich zu
beruehren.
Ich erzaehlte ihm dann auch von der Brunnengestalt in dem Sternenhofe,
verglich sie mit der Treppengestalt im Rosenhause, suchte den
Unterschied hervorzuheben, und suchte fuer die Treppengestalt weit den
Vorzug zu gewinnen, obgleich sie der aelteren Zeit angehoere und die
andere etwa erst im vergangenen Jahrhunderte verfertigt worden sei,
und obgleich diese fast blendend reinen Marmor habe, die andere aber
einen, dem man das hohe Alter schon ansehe. Er fragte auch hier noch
um Vergleichungspunkte, und ich sah, dass er die Sache ergriff und
Einsicht von ihr hatte. Ich erzaehlte ihm dann auch von den Gemaelden
meines Gastfreundes, ich nannte ihm die Meister, von denen Werke
vorhanden waeren, und bemuehte mich, Beschreibungen von den Bildern zu
geben, welche mich am meisten in Anspruch genommen haetten. Er tat auch
in dieser Hinsicht zahlreiche Fragen und machte, dass ich mich ueber
den Gegenstand weiter ausbreitete, als ich wohl urspruenglich im Sinne
hatte.
Am zweiten Tage nach meiner Ankunft, da wir wieder von diesen Dingen
gesprochen hatten, nahm er mich bei der Hand und fuehrte mich in
sein Bilderzimmer. Ich war absichtlich seit meiner Ankunft nicht in
demselben gewesen und hatte mir dessen Besuch auf eine ruhigere Zeit
aufgehoben. Ich hatte die zwei Tage in Gespraechen mit meinen Eltern
hingebracht, zum Teile hatte ich sie auch benuetzt, die Dinge, welche
ich ihnen und der Schwester gebracht hatte, zu uebergeben. Darunter
waren auch die kleineren Marmorgegenstaende, welche im Rothmoore fertig
geworden waren. Der Rest der Zeit war mit Auspacken, Einraeumen und
mit einigen Ankunftsbesuchen ausgefuellt worden. Da wir in das Zimmer
getreten waren und die Mitte desselben erreicht hatten, liess er meine
Hand fahren, sagte aber nichts. Ich war im groessten Erstaunen. Die
Bilder, welche vorhanden waren und deren Zahl geringe war, weit
geringer als bei meinem Gastfreunde, ja selbst im Sternenhofe,
erschienen mir als ausserordentlich schoen, als ganz vollendete,
zusammenstimmende Meisterwerke, wie sie, wenn ich dem ersten Eindrucke
trauen durfte, bei meinem Gastfreunde in dieser gleich hohen und
zusammengehoerigen Schoenheit nicht vorhanden waren. Es befand sich, wie
ich bald entdeckte, kein Bild der neueren oder neusten Zeit darunter,
saemmtlich gehoerten sie der aelteren Zeit an, wenigstens, wie ich
wahrzunehmen glaubte, dem sechzehnten Jahrhunderte. Ein ganz tiefes,
eigentuemliches Gefuehl kam in meine Seele. Das ist die grosse und nicht
zu beschreibende Liebe des Vaters. Diese kostbaren Dinge besass er, an
diesen Dingen hing sein Herz, sein Sohn war vorueber gegangen, ohne sie
zu beachten, und der Vater entzog dem Sohne doch kein Teilchen der
Zuneigung, er opferte sich ihm, er opferte ihm fast sein Leben, er
sorgte fuer ihn und suchte ihm nicht einmal zu beweisen, wie schoen die
Sachen waeren. Ich erfuhr, wie sehr ich auch hier geschont worden war.
"Das sind ja herrliche Bilder", rief ich in Ruehrung aus.
"Ich glaube, dass sie nicht unbedeutend sind", erwiderte er mit einer
durch Bewegung ergriffenen Stimme.
Dann gingen wir naeher, um sie zu betrachten. Es waren in der Tat
lauter alte Gemaelde, keines von besonders grossen Abmessungen, keines
von kunstwidriger Kleinheit. Ich tat die Bemerkung, dass er keine neuen
Bilder habe.
"Es hat sich so gefuegt", sagte er, "ich habe schon einige der hier
befindlichen Stuecke von deinem Grossvater, der auch ein Freund von
solchen Dingen war, geerbt, und anderes habe ich gelegentlich
erworben.
Die mittelalterliche Kunst steht wohl hoeher als die neue. In ihr ist
ein groesserer Reichtum schoener Werke vorhanden als in der neuen, es ist
daher leichter moeglich, ein fehlerfreies altes Bild zu erwerben als
ein neues. Wer Bilder unserer Zeiten liebt, gibt solche, die an
Schoenheit keinen Tadel verdienen, nicht zum Kaufe, sie sind daher
nicht leicht zu erhalten. Bilder, die von Anfaengern oder von solchen
herruehren, die schwach in der Kunst sind, stehen leicht und an vielen
Orten, teils von den Kuenstlern, teils von Haendlern, wie es auch in
frueheren Zeiten gewesen sein wird, zum Kaufen. Zu diesen konnte ich
nie eine Neigung fassen, daher ist es gekommen, dass ich lauter alte
Bilder besitze. Es war ein kraeftiges und gewaltiges Geschlecht, das
damals wirkte. Dann kam eine schwaechliche und entartetere Zeit.
Sie meinte es besser zu machen, wenn sie die Gestalten reicher und
verblasener bildete, wenn sie heftiger in der Farbe und weniger tief
im Schatten wuerde. Sie lernte das Alte nach und nach missachten, daher
liess sie dasselbe verfallen, ja die mit der Unkenntnis eintretende
Rohheit zerstoerte Manches, besonders wenn wilde und verworrene
Zeitlaeufe eintraten. Man wendete dann wieder um und achtete
allgemeiner wieder das Alte - von allen Seiten missachtet war es
niemals. - Man suchte sogar nachzuahmen, nicht bloss in der Malerkunst,
sondern auch, und zwar noch mehr in der Baukunst; man konnte aber das
Vorbild weder in der Grundeinheit noch in der Ausfuehrung erreichen, so
gut und treu die neuen Einzelnheiten auch gewesen sein mochten. Es ist
langsam besser geworden, was sich eben in dem Zeichen kund tat, dass
man alte Bauwerke wieder schaetzte - ich selber weiss noch eine Zeit,
in welcher Reisende und Schriftsteller, die man fuer gelehrt und
spruchberechtigt achtete, die gothische Bauweise fuer barbarisch und
veraltet erklaerten -, dass man alte Bilder hervor zog, ja alte Geraete
sammelte und in dem Schnitte der Kleider alte Gebilde und Wendungen
teilweise einfuehrte. Moege man auf diesem Wege zum Besseren fortfahren
und nicht bloss das Alte wieder zu einer Mode machen, die den Geist
nicht kennt, sondern nur die Veraenderung liebt. Du kannst es noch
erleben, wenn wieder eine Hoehe eintritt; denn ein Schwellen von Tiefe
in Hoehe und ein Sinken aus der Hoehe in die Tiefe war immer vorhanden.
Wenn die Erkenntnis des Altertums, nicht bloss des unsern, sondern
des noch schoenern des Griechentums, wie es sich jetzt auszusprechen
scheint, immer fortschreitet und nicht ermattet, so werden wir auch
dahin kommen, dass wir eigene Werke werden ersinnen koennen, in denen
die ernste Schoenheitsmuse steht, nicht Leidenschaft oder Absicht oder
ein aeusserlicher Reiz oder ledigliche planlose Heftigkeit, Werke, die
nicht nachgeahmt sind oder in denen nur ein aelterer Stil ausgedrueckt
ist. Wenn wir dahin gekommen sind, dann duerften wir wohl auch
gesellschaftlich auf einer Stufe stehen, dass nicht bloss Teile unseres
Volkes nach Aussen maechtig sind, sondern das ganze Volk, und dass es
dann mit seinem Leben gelassen kraeftig auf das Leben anderer Voelker
wirkt. Ich denke immer, die sind gluecklich, die die Lerchen dieses
Fruehlings singen hoeren; aber diese werden den Zustand nicht so
empfinden wie der, der andere gesehen hat, so wie der Unschuldige
seine Unschuld nicht empfindet, der rechtliche Mann seine
Rechtschaffenheit nicht hoch anschlaegt und verdorbene Zeiten ihre
Verdorbenheit nicht kennen."
Ich dachte, da mein Vater so sprach, an meinen Gastfreund, der aehnlich
fuehlt und sich aehnlich ausspricht. Aber es ist ja kein Wunder, dass
Maenner, die ein aehnliches Streben haben, also auch aehnlichen Geist
besitzen, auf aehnliche Gedanken kommen, besonders, wenn sie an Alter
nicht zu verschieden sind.
Wie betrachteten nun das Einzelne.
Mein Vater hatte Bilder von Tizian, Guido Reni, Paul Veronese,
Annibale Carracci, Dominichino, Salvator Rosa, Nikolaus Poussin,
Claude Lorrain, Albrecht Duerer, den beiden Holbein, Lucas Cranach, Van
Dyck, Rembrandt, Ostade, Potter, van der Neer, Wouvermann und Jakob
Ruisdael. Wir gingen von dem einen zu dem andern, betrachteten ein
jedes, taten manches Bild auf die Staffelei und redeten ueber ein
jedes. Mein Herz war voll Freude. Es erschien mir jetzt immer
deutlicher, was ich beim ersten Anblicke nur vermutet hatte, dass die
Bilder in dem Gemaeldezimmer meines Vaters lauter vorzuegliche seien,
und dass sie noch dazu an Wert so sehr zusammen stimmten, dass das Ganze
eben den Eindruck eines Ausserordentlichen machte. Ich hatte schon so
viel Urteil gewonnen, dass ich dachte, nicht gar zu weit mehr in die
Irre geraten zu koennen. Ich aeusserte mich in dieser Beziehung gegen
meinen Vater, und er versicherte in der Tat, dass er glaube, dass er
nicht nur gute Meister besitze, sondern auch von diesen Meistern
nach seiner Erfahrung, die er sich in vielen Jahren, in vielen
Gemaeldesammlungen und im Lesen vieler Werke ueber Kunst erworben habe,
bessere von ihren Arbeiten. Ich gab mich den Bildern immer inniger
hin und konnte mich von manchem kaum trennen. Das Koepfchen von einem
jungen Maedchen, das ich mir einmal zu einem Zeichnungsmuster genommen
hatte, stammte von Hans Holbein dem Juengern her. Es war so zart, so
lieb, dass es jetzt auch wieder einen Zauber auf mich ausuebte, wie es
wohl auch damals ausgeuebt haben musste; denn sonst haette ich es ja
nicht zum Vorbilde genommen. Kaum waren hier Mittel zu entdecken, mit
denen der Kuenstler gewirkt hatte. Eine so einfache, so natuerliche
Faerbung mit wenig Glanz und Vortreten der Farben, so gering scheinende
harmlose Linien und doch eine solche Lieblichkeit, Reinheit,
Bescheidenheit, dass man kaum weggehen konnte. Die blonden Haare, die
sich von der Stirn gegen hinten zogen, waren fast mit keinem Aufwande
gemacht, und doch konnte es kaum etwas Schoeneres geben als diese
blonden Locken. Der Vater erlaubte, dass ich mir das Bild zweimal auf
die Staffelei stellen durfte.
Als wir mit dem Anschauen der Bilder fertig waren, zog der Vater eine
flache Lade aus einem Kasten in dem Altertumszimmer, stellte die Lade
auf einen Tisch in der Naehe des Fensters und lud mich ein, hinzu zu
gehen und seine geschnittenen Steine anzusehen.
Ich tat es.
Hier war meine Verwunderung fast noch groesser als bei den Bildern. Ich
fand auf den Steinen die Gestalten wieder, wie die eine war, welche
auf der Treppe des Hauses meines Gastfreundes stand.
"Das sind lauter antike Bildungen", sagte mein Vater.
Es waren verschiedene Steine von verschiedenem Werte und verschiedener
Groesse. Edelsteine, die durch ihren Stoff einen hohen Wort nach unsern
heutigen Begriffen haben, wie Saphire, Rubine, waren nicht dabei;
doch aber mindere, die wohl als Schmuck getragen werden koennen, und,
wie ich mich jetzt deutlich erinnerte, von unserer Mutter auch bei
Gelegenheiten getragen wurden. Es war ein Onyx da, auf welchem eine
Gruppe in der gewoehnlichen halb erhabenen Arbeit geschnitten war.
Ein Mann sass in einem altertuemlichen Stuhle. Er hatte nur geringe
Bekleidung. Seine Arme ruhten sehr schlicht an seiner Seite und sein
feines Angesicht war nur ein wenig gehoben. Er war noch ein sehr
junger Mann. Frauen, Maedchen, Juenglinge standen seitwaerts in
leichterer Arbeit und weniger kraeftig hervorgehoben, eine Goettin hielt
einen Kranz oberhalb des Hauptes des sitzenden Mannes. Mein Vater
sagte, das sei sein bester wie groesster Stein und der sitzende Mann
duerfte Augustus sein. Wenigstens stimme sein Halbangesicht, wie es auf
dem Steine sei, mit jenen Halbangesichtern Augustus' zusammen, die man
auf den gut erhaltenen Muenzen dieses Mannes sehe. Die Gestalt, die
Gliederung, die Haltung dieses Mannes, die Gestalten der Maedchen,
Frauen und Juenglinge, ihre Bekleidung, ihre Stellungen in Ruhe und
Einfachheit, die deutliche und naturgemaesse Ausfuehrung der kleinen
Teile in den Gliedern und Gewaendern machten auf mich wieder jene
ernste, tiefe, fremde, zauberartige Wirkung, welche die Gestalt auf
der Treppe in dem Hause meines Gastfreundes in mir hervorgebracht
hatte, da ich im vergangenen Sommer waehrend des Gewitters zu ihr empor
gestiegen war. Auf den andern Steinen befanden sich Maenner in Helmen,
entweder schoene junge Angesichter oder alte mit ehrwuerdigen Baerten.
Solche, die in mittleren Mannesjahren standen, waren gar nicht
vorhanden. Auch Frauenkoepfe waren auf einigen Steinen zu sehen. Auf
mehreren zeigten sich ganze Gestalten, ein Hermes mit den Fluegeln an
den Fuessen, ein schreitender Juengling oder einer, der mit dem Arme zum
Wurfe mit einem Steine ausholt. Diese Gestalten waren so genau und
richtig, dass sie das Vergroesserungsglas ertrugen. Steine mit andern
Dingen als menschliche Gestalten hatte mein Vater gar nicht. Ich
erinnerte mich, dass ich irgendwo - des Ortes, konnte ich mich nicht
mehr entsinnen - Kaefer auf Steine geschnitten gesehen hatte.
"Ich habe die Steine mit menschlichen Gestalten vorgezogen", sagte
mein Vater, als ich in dieser Hinsicht eine Bemerkung machte, "weil
sie mir doch dasjenige schienen, was zu dem Menschen in der naechsten
Beziehung steht. Ich bin nicht reich genug, eine grosse Sammlung von
geschnittenen Steinen anlegen zu koennen, in welcher alle Gattungen
enthalten sind, so fern man ueberhaupt Gelegenheit hat, sie zu kaufen,
und weil ich das nicht konnte, so habe ich mich lediglich auf
menschliche Gestalten beschraenkt und unter diesen wieder auf jene,
deren Erwerb mir ohne Einfluss auf mein Hauswesen moeglich war; denn
es gibt da Kunstwerke in diesem Fache, welche ein ganzes Vermoegen
in Anspruch nehmen, von dessen Rente manche kleine Familie, deren
Ansprueche nicht zu bedeutend sind, leben koennte."
Die Maenner in den Helmen trugen diese Kopfbedeckung in der
gewoehnlichen Art, wie man sie auf den alten Muenzen sieht und wie ich
sie schon auf Abbildungen von Kunstwerken in halberhabener Arbeit
gesehen habe, die sich auf griechischen oder roemischen Bauten
befanden. Die einfache Art, den Helm zu tragen, wenn er auch eine noch
so kostbare Arbeit ist, habe ich an Abbildungen aus spaeteren Zeiten,
namentlich aus dem Mittelalter, nicht mehr gefunden. Die Angesichter
hatten Zuege, die etwas Fremdes wiesen, das jetzt nicht mehr vorkoemmt
und auf eine entlegene Zeit zurueckdeutet. Die Zuege waren meistens
einfach, ja sogar oft unbegreiflich einfach, und doch waren sie schoen,
schoener und menschlich richtiger - so schien es mir wenigstens -
als sie jetzt vorkommen. Die Stirnen, die Nasen, die Lippen waren
strenger, ungekuenstelter und schienen der Urspruenglichkeit der
menschlichen Gestalt naeher. Dies war selbst bei den Abbildungen der
Greise der Fall und sogar da, wo man vermuten durfte, das abgebildete
Haupt sei das Bildnis eines Menschen, der wirklich gelebt hat. Es
konnte diese Gestaltung nicht Eingebung des Kuenstlers sein, da
offenbar die Steine verschiedenen Zeiten und verschiedenen Meistern
angehoerten; sie musste also Eigentum jener Vergangenheit gewesen sein.
Die Koepfe der Frauen waren auch schoen, oft ueberraschend schoen; sie
hatten aber auch etwas Eigentuemliches, das sich von unsern gewohnten
Vorstellungen entfernte, sei es in der Art, das Haupthaar aufzustecken
und es zu tragen, sei es, wie sich Stirne und Nase zeigten, sei es im
Nacken, im Halse, im Beginne der Brust oder der Arme, wenn diese Teile
noch auf dem Bilde waren, sei es in dem uns fernliegenden Ganzen.
Allgemein aber waren diese Koepfe kraeftiger und erinnerten mehr an die
Maennlichkeit als die unserer heutigen Frauen. Sie erschienen dadurch
reizender und ehrfurchterweckender. Die Ausfuehrung dieser Abbildungen
zeigte sich so rein, so entwickelt und folgerichtig, dass man nirgends,
auch nicht im Kleinsten, versucht wurde, zu denken, dass etwas fehle,
ja dass man im Gegenteile die Gebilde wie Naturnotwendigkeiten ansah
und dass einem in der Erinnerung an spaetere Werke war, diese seien
kindliche Anfaenge und Versuche. Die Kuenstler haben also grosse und
einfache Schoenheitsbegriffe gehabt, sie haben sich diese aus der
Schoenheit ihrer Umgebung genommen und diese Schoenheit der Umgebung
durch ihre Schoenheitsbegriffe wieder verschoenert. So sehr mir die
Bilder des Vaters gefielen, so sehr mir die Bilder meines Gastfreundes
gefallen hatten, so sehr wurde ich, wie ich durch die Marmorgestalt
meines Gastfreundes ernster und hoeher gestimmt worden war als durch
seine Bilder, auch durch die geschnittenen Steine meines Vaters
ernster und hoeher gestimmt als durch seine Bilder. Er musste das
fuehlen. Er sagte nach einer Weile, da wir die Steine angeschaut
hatten, da ich mich in dieselben vertieft und manchen mehrere Male in
meine Haende genommen hatte: "Das, was die Griechen in der Bildnerei
geschaffen haben, ist das Schoenste, welches auf der Welt besteht,
nichts kann ihm in andern Kuensten und in spaeteren Zeiten an
Einfachheit, Groesse und Richtigkeit an die Seite gesetzt werden, es
waere denn in der Musik, in der wir in der Tat einzelne Satzstuecke und
vielleicht ganze Werke haben, die der antiken Schlichtheit und Groesse
verglichen werden koennen. Das haben aber Menschen hervorgebracht,
deren Lebensbildung auch einfach und antik gewesen ist, ich will nur
Bach, Haendel, Haydn, Mozart nennen. Es ist sehr schade, dass von der
griechischen Malerei nichts uebrig geblieben ist als Teile von dem, was
in dieser Kunst immer als ein untergeordneter Zweig betrachtet worden
ist, von der Wandmalerei und Gebaeudeverzierung. Da die griechische
Dichtkunst das Hoechste ist, was in dieser Kunstabteilung besteht,
da ihre Baukunst als Muster einfacher Schoenheit, besonders fuer die
Gestaltung ihres Landes, gilt, da ihre Geschichtschreiber und Redner
kaum ihresgleichen haben, so ist anzunehmen, dass ihre Malerei auch
diesen Dingen gleichgeartet gewesen sein muesse. Sie sprechen in
Schriften, die bis auf unsere Tage gekommen sind, von ihren Bauwerken,
von ihrer Weltweisheit, Geschichtschreibung, Dichtkunst und
Bildnerkunst nicht hoeher als von ihrer Malerei, ja nicht selten
scheint es, als zoegen sie diese noch vor, also muss auch sie vom
hoechsten Belange gewesen sein; denn es ist nicht anzunehmen, dass
Schriftsteller, die doch endlich der Ausdruck, wenn auch der gehobenen
ihrer Zeit und ihres Volkes sind, so feine Kenntnisse und so feines
Gefuehl in andern Kuensten gehabt haben und fuer Fehler der Malerei blind
gewesen waeren. Wahrscheinlich wuerden wir uns an Strenge und Rundung
in ihrer Malerei ergoetzen und sie bewundern, wie wir es mit ihren
Bildsaeulen tun. Ob wir an ihnen fuer unsere Malerei etwas lernen
koennten, weiss ich nicht, so wie ich nicht weiss, wie viel es ist, was
wir an ihrer Bildhauerei gelernt haben.
Diese Steine sind durch viele Jahre mein Vergnuegen gewesen. Oft in
trueben Stunden, wenn Sorgen und Zweifel das Leben seines Duftes
beraubten und es duerr vor mich hinzubreiten schienen, bin ich zu
dieser Sammlung gegangen, habe diese Gestalten angeschaut, bin in
eine andere Zeit und in eine andere Welt versetzt worden und bin ein
anderer Mensch geworden."
Ich sah meinen Vater an. Hatte ich frueher schon oft Gelegenheit
gehabt, ihn hoch zu achten, und hatte ich zu verschiedenen Zeiten
entdeckt, dass er bedeutendere Eigenschaften besitze, als ich geahnt
hatte, so war ich doch nie in der Lage, ihn beurteilen zu koennen, wie
ich ihn jetzt beurteilte. In Geschaefte der eintoenigsten Art gezwungen
oder vielleicht selber und freiwillig in diese Geschaefte gegangen -
denn er fuehrte sie mit einer Ordnung, mit einer Rechtlichkeit, mit
einer Ausdauer, mit einer Anhaenglichkeit an sie, dass man staunen
musste -, hatte er, der unscheinbar seinen buergerlichen Obliegenheiten
nachkam und von dem Viele nur glauben mochten, dass er in seinem Hause
einige Spielereien von alten Geraeten, Bildern und Buechern habe,
vielleicht einen tieferen und einsameren Kreis um sich gezogen, als
ich jetzt noch erkennen konnte, und hatte ohne Anspruch an diesem
Kreise fort gebaut. Ich empfand Ehrfurcht vor ihm und fragte ihn, ob
er die Schriftsteller, von denen er spreche, griechisch gelesen habe.
"Wie koennte ich sie denn anders gelesen haben und noch lesen, wenn ich
sie lieben soll", antwortete er, "die alte vorchristliche Welt hat so
ganz andere Vorstellungen als die unsere, die Voelkerwanderung hat so
sehr einen Abschnitt in der Geschichte gemacht, dass die Werke der
vorher gewesenen Voelker gar nicht uebersetzt werden koennen, weil
unsere Sprachen in ihrem Koerper und in ihrem Geiste auf die alten
Vorstellungen nicht passen. Im Lesen in ihrer Sprache und in ihren
Dichtungen und Geschichten wird man nach und nach einer von ihnen und
lernt ihre Art beurteilen, was man sonst nie mehr kann. In unsern
Schulen lernen wir ja roemisch und griechisch, und wenn man in der
Zeit nach der Schule noch etwas nachhilft und fleissig in den alten
Schriften liest, so fuegt sich die Sache ohne Muehe und gelingt
leichter, als man etwa das Franzoesische, Italienische oder Englische
lernt, wie es ja jetzt die meisten Leute tun."
"Du hast ja aber auch diese Sprachen gelernt", sagte ich.
"Wie sie auch andere lernen", antwortete er, "und wie es mein Stand
forderte."
"Ich habe es bis heute nicht gewusst, dass du in den alten Sprachen
Buecher liesest", sagte ich, "und was noch mehr ist, dass du dich in
die Dichtkunst, in die Geschichte und Weltweisheit der Voelker, deren
Schriften du liesest, vertiefest. Du weisst, dass wir uns nie anmassten,
die Buecher zu untersuchen, in denen du liesest."
"Es war keine Ursache vorhanden, dir zu erzaehlen, was ich lese",
antwortete er, "ich dachte, es wird sich schon geben. Deine Mutter
wusste es wohl."
Die Hochachtung fuer den Vater, der ohne Aufheben mehr war, als der
Sohn geahnt hatte, und der geduldig auf den Sohn gewartet hatte, ob
er auf dem Wege zu ihm stossen werde, war nicht die einzige Frucht
dieses Tages. Ich empfand recht wohl, dass der Vater auch mich hoeher
achtete und dass er eine grosse Freude habe, dass der Sohn nun auch in
Kunstdingen sich ihm naehere. Dass wir in einigen wissenschaftlichen
Sachen zusammen trafen, wusste ich wohl, da wir ueber Gegenstaende der
Geschichte, der Dichtungen und ueber andere in juengster Zeit manchmal
gesprochen hatten.
Ich wusste aber nie, in wie ferne und auf welchen Wegen der Vater zu
diesen Dingen gekommen war. Heute hatte ich einen grossem Einblick
getan, und ich wusste nun auch gar nicht, welch eine geregelte
wissenschaftliche Bildung der Vater aus seinen frueheren Jahren hinter
sich habe und ob es nicht etwa gar aus dieser wissenschaftlichen
Bildung herzuschreiben sei, dass er mich gerade meinen Weg habe gehen
lassen, der mir selber zuweilen abenteuerlich vorgekommen war. Ich
musste jetzt doppelt wuenschen, dass mein Vater einmal mit meinem
Gastfreunde zusammen kaeme, um mit ihm ueber aehnliche Gegenstaende zu
sprechen, wie er heute zu mir gesprochen hatte. Ich konnte doch nicht
hinreichend eingehen und wusste auch nicht, in wie ferne er in seinen
Urteilen ueber altgriechische Bildnerkunst, Dichtkunst, Malerei und
ueber die neuere Musik Recht habe. Allein der Vater arbeitete so
ruhig in seinem Berufsgeschaefte weiter, er war in alle Einzelheiten
desselben so vertieft und sorgte fuer den regelmaessigen Fortgang
desselben, dass es nicht leicht zu erwarten war, dass er sich zu einer
Reise entschliessen wuerde.
Gegen das Ende unseres Gespraeches kam auch die Mutter und Klotilde
herein. Das Angesicht der Mutter wurde sehr heiter, als sie uns bei
den Steinen stehen sah, als sie sah, dass der Vater sie mir zeigte
und erklaerte, und als sie auch erkennen mochte, dass in dem Wesen des
Vaters eine Freude sei, und dass die Annaeherung, die sie geahnt habe,
wirklich eingetreten sei.
Wir gingen noch einige Male bald in das Bilderzimmer, bald in das
Altertumszimmer, in welchem noch immer die Lade mit den Steinen auf
dem Tische stand, und redeten ueber Verschiedenes.
"Diese Kunstwerke", sagte der Vater, da er die Steine wieder
verschlossen hatte und da wir uns aus diesem Zimmer entfernten,
"koennt ihr in euren Besitz bringen. Wenn ihr Sinn und tiefe Liebe fuer
dieselben habet, so werdet ihr sie nach unserem Tode in einer von mir
gemachten und, wie ich glaube, gerechten Teilung empfangen. Sterbe
ich vor eurer Mutter, so bleiben sie als Denkmal unseres friedlichen
Hauses in der Lage, in der sie jetzt sind, und sie werden euch erst
eingehaendigt, wenn mir auch die Mutter gefolgt ist. Will Klotilde dir
ihren Anteil abtreten, so ist die Summe schon bestimmt, welche du ihr
dafuer geben musst, und so auch umgekehrt. Ist bei beiden nach unserm
Absterben eine solche Liebe zu diesen Bildern und Steinen nicht
vorhanden, dass ihr sie unzersplittert bewahret, so ist schon bestimmt,
dass auf eure hierin eingeholte Erklaerung dieselben gegen ein Entgelt,
das nicht unbillig ist, an einen Ort uebergehen, an welchem sie
beisammen bleiben. Ich glaube aber wohl, dass diese Neigung in unserm
Hause fortdauern werde."
Wir antworteten auf diese Rede nichts, weil sie einen Gegenstand
beruehrte, der, wie entfernt wir ihn uns auch denken mussten, doch
schmerzlich auf uns einwirkte.
Ich verlegte mich nach dieser gemachten Erfahrung mit noch groesserem
Eifer auf die Kenntnis der Werke der bildenden Kunst. Ich lernte mich
in die Bilder des Vaters bis in die kleinsten Einzelheiten hinein und
war zu diesem Zwecke sehr oft und zuweilen lange in dem Bilderzimmer,
ich besuchte alle groesseren zugaenglichen Sammlungen und suchte deren
Bilder zu ergruenden, ich besah alle Bildnerwerke, die in unserer
Stadt einen Ruf hatten, und strebte nach einer genauen Kenntnis ihrer
Beschaffenheiten, ich las endlich namhafte Werke ueber die Kunst und
verglich meine Gedanken und Gefuehle mit den in den Buechern gefundenen.
Ich sprach viel mit meinem Vater ueber diese Gegenstaende, wir naeherten
uns immer mehr, meine Empfindungen wurden stets inniger, und ich
versenkte meine Seele in sie. Unsern Erzdom bewunderte ich jetzt in
einem hoeheren Masse als in allen frueheren Zeiten, und ich stand manche
Stunde vor seinem ungeheuren Baue. Selbst die Gebilde der Mathematik,
wenn ich wieder zu Zeiten etwas in ihr zu tun hatte, erschienen
mir zuweilen schoen und zierlich, was mir namentlich bei einigen
franzoesischen Mathematikern geschah. Das Malen schoener Koepfe setzte
ich fort und eben so wurde das Zeichnen und Malen von Landschaften,
welches ich im vorigen Jahre mit der Schwester begonnen hatte, nicht
bei Seite gesetzt. Ich nahm mit ihr die Zeichnungen vor, welche sie im
vergangenen Sommer waehrend meiner Abwesenheit gemacht hatte, und so
wie ich von meinem Gastfreunde, von Eustach und von dem Vater ueber die
Fehler belehrt worden war, die sich in meinen Landschaftsversuchen
befanden, so belehrte ich Klotilden wieder ueber die ihrigen.
Seit ich Mathilden kannte, besonders aber jetzt, nachdem ich oefter in
ihrer Gesellschaft gewesen war und im Spaetherbste die Reise mir ihr
und den andern in das Hochland gemacht hatte, war ich auch auf die
Angesichter aeltlicher und alter Frauen aufmerksam geworden. Man tut
sehr Unrecht, und ich bin mir bewusst, dass ich es auch getan habe, und
gewiss handeln andere Leute in ihrer Jugend ebenfalls so, wenn man die
Angesichter von Frauen und Maedchen, sobald sie ein gewisses Alter
erreicht haben, sofort beseitigt und sie fuer etwas haelt, das die
Betrachtung nicht mehr lohnt. Ich fing jetzt zu denken an, dass es
anders sei. Die grosse Schoenheit und Jugend reisst unsere Aufmerksamkeit
hin und erregt ein tiefstes Gefallen; warum sollten wir aber mit
dem Geiste nicht auch ein Angesicht betrachten, ueber welches Jahre
hingegangen sind? Liegt nicht eine Geschichte darin, oft eine
unbekannte voll Schmerzen oder Schoenheit, die ihren Widerschein auf
die Zuege giesst, dass wir sie mit Ruehrung lesen oder ahnen? Die Jugend
weist auf die Zukunft hin, das Alter erzaehlt von einer Vergangenheit.
Hat diese kein Recht auf unsern Anteil? Als ich Mathilden das erste
Mal sah, fiel mir das Bild der verbluehenden Rose ein, welches mein
Gastfreund von ihr gebraucht hatte, es fiel mir ein, weil ich es
so treffend fand; und spaeter oft, wenn ich Mathilden betrachtete,
gesellte sich das Bild wieder zu meinen Gedanken, es erregten sich
neue und es erzeugte sich eine ganze Folge davon. Ich hatte mir einmal
gedacht, dass Mathilde aussehe wie ein Bild der Vergebung, und spaeter
dachte ich es mir oefter. Ihr Angesicht musste sehr schoen gewesen sein,
vielleicht gar so schoen wie jetzt Nataliens, nun ist es ganz anders;
aber es spricht leise von einer Vergangenheit, dass wir meinen, wir
muessten sie vernehmen koennen, und wir vernaehmen sie auch gerne, weil
sie uns so anziehend scheint. Sie muss manche Neigungen gehabt haben,
sie muss manche Freuden erlebt und manches Gut verloren haben, sie hat
Schmerzen und Kummer ertragen; aber sie hat alles Gott geopfert und
hat gesucht, mit sich in das Gleiche zu kommen, sie ist mit den
Menschen gut gewesen, und jetzt ist sie in tiefem Gluecke, mit manchem
unerfuellten Wunsche und mit mancher kleinern und groessern Sorge, die
sie sinnen macht. Als ich einen Mann sagen gehoert hatte, dass die
Fuerstin, in deren Abendgesellschaften ich zuweilen sein durfte, so
schoene Toene in dem Angesichte habe, dass sie nur Rembrandt zu malen
im Stande waere, wurde ich nicht bloss auf die Fuerstin noch mehr
aufmerksam, die in ihrem hohen Alter noch so schoen war, sondern ich
betrachtete auch Mathilden wieder genauer und lernte die Schoenheit,
wenn schon manche Jahre ueber sie gegangen sind, besser kennen.
Ich fing nun an, Maenner und Frauen, die in hoeherem Alter sind, zu
betrachten und sie um die Bedeutung ihrer Zuege zu erforschen. Dabei
fielen mir die Greisenkoepfe auf den Steinen meines Vaters ein. Ich
betrachtete die Steine oefter, da mir der Zugang zu denselben erlaubt
war, und verglich die Koepfe, die sich auf ihnen befanden, mit
denjenigen, die mir in dem jetzt lebenden Geschlechte aufstiessen.
Beide Arten waren wirklich nicht mit einander vergleichbar und es
zeigten sich in ihnen die Verschiedenheiten menschlicher Geschlechter.
Das Antlitz der Fuerstin erschien mir nun um vieles schoener als in der
frueheren Zeit, dass ich aber nicht auf den Wunsch geriet, es malen zu
wollen, also noch weniger dem Wunsche einen Ausdruck gab, begreift
sich. In den Angesichtern der Manchen, welche ich jetzt eifriger
betrachtete, fand ich freilich oft etwas, das mir nicht gefiel, sei
es Neid, sei es irgend eine Begierlichkeit, sei es blosse Abgelebtheit
oder Geistlosigkeit, sei es etwas Anderes, ich stellte bei solchen
Gelegenheiten meine Betrachtung bald ein und hegte nicht den Wunsch,
das Gesehene zu malen. Seit ich Gustav besser kennen gelernt hatte und
naeher mit ihm befreundet worden war, betrachtete ich auch gerne Koepfe
von Juenglingen, ob sie nicht Gegenstaende zum Malen abgaeben. Wenn
gleich sein Angesicht ebenfalls nicht jenen schoenen und einfachen
Angesichtern auf den Steinen meines Vaters glich, die besonders edel
und merkwuerdig aus den Helmen heraus sahen, so war es ihnen doch naeher
als alle andern, welche ich jetzt zu erblicken Gelegenheit hatte, und
war ueberhaupt so schoen, wie es selten einen Kopf eines Knaben geben
wird, der eben in das Juenglingsalter uebertritt.
Wenn der Ausdruck der Mienen der Juenglinge unserer Stadt oft darauf
hinwies, dass ihr Geist verzogen worden sein mag, wenn sie etwas
Weichliches oder etwas zu sehr Herausforderndes oder etwas hatten, das
schon ueber ihre Jahre hinausging, ohne doch Kraft zu zeigen, so war
Gustavs Antlitz so kraeftig, dass es vor Gesundheit zu schwellen schien,
es war so einfach, dass es gleichsam keinen Wunsch, keine Sorge, kein
Leiden, keine Bewegung aussprach, und doch war es wieder so weich und
guetig, dass man, wenn der feurige Blick nicht gewesen waere, in das
Angesicht eines Maedchens zu blicken geglaubt haben wuerde.
Ich zeichnete und malte meine Koepfe jetzt anders als noch kurz vorher.
Wenn ich frueher, vorzueglich bei Beginne dieser meiner Beschaeftigung,
nur auf Richtigkeit der aeusseren Linien sah, so weit ich dieselbe
darzustellen vermochte, und wenn ich nur die Farben annaeherungsweise
zu erringen im Stande war, so glaubte ich, mein Ziel erreicht zu
haben: jetzt sah ich aber auf den Ausdruck, gleichsam, wenn ich das
Wort gebrauchen darf, auf die Seele, welche durch die Linien und die
Farben dargestellt wird. Seit ich die Marmorgestalt in dem Hause
meines Gastfreundes so lieben gelernt hatte und in die Bilder mich
vertiefte, welche ich in dem Rosenhause getroffen hatte und in dem
Hause meines Vaters vorfand, war alles anders als frueher, ich suchte
und haschte nach irgend einem Innern, nach irgend etwas, das weit
ausser dem Bereiche von Linien und Farben lag, das groesser war als diese
Dinge und doch durch sie darzustellen sein musste. Einen Kopf so zu
zeichnen oder gar zu malen, wie ich jetzt wollte, war viel schwerer
als wie ich frueher anstrebte, es war, ohne einen Vergleich zuzulassen,
schwerer; aber es war nicht zu umgehen, wenn man ueberhaupt die Sache
machen wollte, es war dichten, wenn ein Dichtungswerk geliefert sein
sollte. Ich stellte meine Aufgabe kleiner, ich suchte die Zuege auf
einem bescheidenen Raume zu entwerfen und begnuegte mich mit den
Andeutungen in Zeichnung und Farben, wenn nur ein Inneres zu sprechen
begann, ohne dass ich darauf beharrte, dass aus dem Begonnenen ein
ausgefuehrtes Bild werden sollte, was nicht selten, wenn ich es
versuchte, das Innere wieder vertilgte und das Gemaelde seelenlos
machte. Mein Vater wurde der Richter und war jetzt ein strenger,
waehrend er frueher alles einfach hatte gelten lassen, was ich
unternahm. Er pflegte zu sagen, das, was ich jetzt vor Augen habe, sei
das Kuenstlerische, mein Frueheres sei ein Vergnuegen gewesen. Ich nahm
haeufig, wenn ich nicht in das Reine kommen konnte, zu den Bildern
meine Zuflucht und suchte zu ergruenden, wie es dieser und jener
gemacht habe, um zu dem Ausdrucke zu gelangen, den er darstellte. Mein
Vater sagte, das sei der geschichtliche Weg der Kunst, man koenne ihn
verfolgen, wenn man grosse Bildersammlungen besuche und wenn die Werke
ohne grosse Luecken da sind, um sie vergleichen zu koennen. Das sei auch
ausser der genauesten Betrachtung der Natur und der Liebe zu ihr der
Weg, auf dem die Kunst wachse und auf dem sie bei den verschiedenen
Anfaengen, die sie in verschiedenen Zeiten und Raeumen gehabt habe,
gewachsen ist, bis sie wieder versank oder zerstoert wurde, um wieder
zu beginnen und zu versuchen, ob sie steigen koenne. Wo der bare
Hochmut auftritt, der alles Gewesene verwirft und aus sich schaffen
will, dort ist es mit der Kunst wie auch mit andern Dingen in dieser
Welt aus, und man wirft sich in das blosse Leere.
Ausser dem Zeichnungsunterrichte setzte ich mit der Schwester auch die
Uebungen in der spanischen Sprache und im Zitherspiele fort. Sie war
ohnehin von Kindheit an geneigt gewesen, alles, was ich tat, ein
wenig nachzuahmen, und ich hatte immer die Lust gehabt, ihr Fuehrer zu
werden. Dies blieb jetzt zum Teile auch so fort.
Der Unterricht, welchen mir mein Freund, der Sohn des Juwelenhaendlers,
in der Edelsteinkunde gegeben hatte, wurde wieder aufgenommen
und fortgesetzt. Da wir auch ausserdem in manchen Stunden einen
freundlichen Umgang mit einander pflegten, so nahm ich mir eines
Tages, obwohl es mir stets schwer wird, jemandem ueber seinen ihm
eigentuemlichen Beruf etwas zu sagen, doch den Mut, ihn meine Gedanken
ueber die Fassung der Edelsteine wissen zu lassen, wie ich nehmlich
glaube, dass es nicht richtig sei, wenn die Edelsteine von der Fassung
erdrueckt wuerden; dass ich es aber auch fuer nicht richtig halte, wenn
sie keine andere Fassung haetten, als die sie brauchten, um an dem
Kleidungsstuecke mit dem Halt, den sie benoetigen, befestigt worden zu
koennen; und dass daher der Mittelweg sich darbiete, dass die Schoenheit
des Steines durch die Schoenheit der Gestaltgebung vergroessert werde,
wodurch es sich moeglich mache, dass der an sich so kostbare Stoff das
Kostbarste wuerde, nehmlich ein Kunstwerk. Ich wies hiebei auf die
Gestaltungen hin, welche die Kunst des Mittelalters hege und aus denen
geschoepft und weiter fortgeschritten werden koenne. "Du hast im Grunde
vollkommen Recht", erwiderte mein Freund, "wir fuehlen das alle
mehr oder minder klar, ausser denen, welchen alles gleichgueltig und
unwesentlich ist, was nicht unmittelbar zum Erwerbe fuehrt; darum sind
auch allerlei Versuche gemacht worden und werden noch gemacht, die
Fassung zu vergeistigen. Sie gelingen insoferne mehr oder weniger, je
nachdem es groessere oder kleinere Kuenstler sind, welche die Entwuerfe
machen. Hierin liegt aber eine mehrfache Schwierigkeit. Zuerst sind
die, welche in Juwelen und Perlen arbeiten, sehr selten Kuenstler, sie
koennen es nicht leicht werden, weil die Vorbereitung dazu zu viel Zeit
und Kraefte in Anspruch nehmen wuerde; werden sie es aber, so bleiben
sie gleich Kuenstler, verfertigen Kunstwerke und arbeiten nicht in
Edelsteinen, was ihrem Geiste und ihrem Einkommen abtraeglich waere.
Muessen nun Kuenstler um Entwuerfe angegangen werden, so bietet sich
zweitens der Uebelstand, dass der Kuenstler die Juwelen zu wenig kennt
und die Fassung daher zu wenig auf ihre Natur berechnen kann, wozu
sich noch gesellt, dass die grossen Kuenstler schwer zugaenglich sind,
Entwuerfe fuer Edelsteinfassungen auszuarbeiten, es muesste denn dies eine
besondere Liebhaberei sein; und wenn sie es tun, so koemmt die Fassung
sehr teuer. Deshalb muss man zu geringeren Kuenstlern seine Zuflucht
nehmen, welche dann auch wieder geringere Entwuerfe liefern. Wir haben
die Sache in unserer Handelsstube ganz im Klaren. Wir versuchen auch
von Zeit zu Zeit ein wirkliches Kunstwerk in Perlen und edlen Steinen
darzustellen und warten, ob ein Kenner komme und es uebernehme; denn
der Leute, welche Edelsteine brauchen, sind viel mehr als welche
Kunstdinge suchen. Solche Werke in grosser Zahl ausfuehren zu lassen,
hindert uns der Mangel an zahlreichen trefflichen Entwuerfen und der
Mangel an Kaeufern, da der Juwelenverkauf doch endlich unser Erwerb
ist. Da unsere gewoehnlichen Kunden aber doch so viel Geschmack haben,
dass sie eine unedle Fassung beleidigen wuerde, so waehlen wir den
natuerlichsten Weg, die Fassung im Stoffe edel und in der Gestalt auf
das Einfachste zu machen, so dass die Schoenheit der Steine oder der
Perlen allein es ist, was herrscht, und der Anker, an dem es haftet,
sich verbirgt. Was deinen Gedanken von mittelalterlichen Gestaltungen
anbelangt, so ist er nicht neu; man hat schon solche versucht, und der
Freiherr von Risach hat bei uns nach beigebrachten Zeichnungen Dinge
aehnlicher Art verfertigen lassen." Mir leuchtete die Sache sehr ein,
und ich konnte sie nicht weiter bereden. Ich betrachtete von nun an
mit noch groesserer Sorgfalt und Genauigkeit die Arbeiten, welche mein
Freund in den verschiedenen Werkstaetten der Stadt machen liess. Sie
waren meistens sehr schoen, ja ich glaube, schoener, als man sie
irgendwo zu sehen gewohnt ist. Desungeachtet musste ich behaupten, dass
wenn nur ueberhaupt ein edlerer und hoeherer Sinn fuer Kunst vorhanden
waere, diejenigen Leute, welche grosse Summen fuer Schmuck ausgeben,
dieselben Summen oder vielleicht noch groessere dahin verwenden wuerden,
dass sie gleich wirkliche Kunstwerke in Juwelen bestellten. Dagegen
erwiderte mein Freund, dass, wie hoch der Kunstsinn auch stehe und
wie weit er sich verbreite, doch die Zahl derer immer groesser bleiben
wuerde, welche bloss Schmuck als Schmucksachen kaufe, als derer, welche
Kunstwerke in Kleinodien entwerfen und ausfuehren lassen, was er
allerdings als die hoechste Spitze seines Berufes ansehen wuerde. Dazu
komme noch, dass mancher, der Kunstsinn habe, von der Schoenheit der
Steine sich gefangen nehmen lasse und zuletzt nichts begehre als
diese einzige Schoenheit. In dem letzten Grunde hatte mein Freund ganz
besonders Recht; denn je mehr ich selber die Steine betrachtete, je
mehr ich mit ihnen umging, eine desto groessere Macht uebten sie auf
mich, dass ich begriff, dass es Menschen gibt, welche bloss eine
Edelsteinsammlung ohne Fassung anlegen und sich daran ergoetzen. Es
liegt etwas Zauberhaftes in dem feinen sammtartigen Glanze der Farbe
der Edelsteine. Ich zog die farbigen vor, und so sehr die Diamanten
funkelten, so ergriff mich doch mehr das einfache, reiche, tiefe
Gluehen der farbigen.
Meinen Beruf, den ich im Sommer bei Seite gesetzt hatte, nahm ich
wieder auf. Ich machte mir gleichsam Vorwuerfe, dass ich ihn so
verlassen und mich einem planlosen Leben hatte hingeben koennen. Ich
tat das, wozu der Winter gewoehnlich ausersehen war, und setzte die
Arbeiten der vorigen Zeiten fort. Das Regelmaessige der Beschaeftigung
uebte bald seine sanfte Wirkung auf mich; denn was ich trotz der
freudigen Stimmung, in welcher ich aus meinen Erringungen in der Kunst
und in der Wissenschaft war, doch Schmerzliches in mir hatte, das
wich zurueck und musste erblassen vor der festen, ernsten, strengen
Beschaeftigung, die der Tag forderte und die ihn in seine Zeiten
zerlegte.
Ich besuchte auch, wie im vergangenen Winter, meine Kreise, dann
Musik- und Kunstanstalten.
Dass das alles vereinigt werden konnte, musste eine genaue
Zeiteinteilung gemacht werden, und ich musste die Zeit richtig
verwenden. Dazu war ich wohl von Kindheit an gewoehnt worden, ich stand
sehr frueh auf und hatte Manches fuer den Tag schon an der Lampe fertig
gemacht, wenn die allgemeine Fruehstunde in unserm Hause heran rueckte
und man sich zu dem Fruehmahle versammelte. Dazu brauchte ich nicht
viel Schlaf und konnte manche Stunde von der beginnenden Nacht nehmen.
Die Taetigkeit staerkte, und wenn ein Schwung und eine Erhebung in
meinem Wesen war, so wurde der Schwung und die Erhebung durch die
Taetigkeit noch klarer und fester.
Einer meiner ersten Gaenge war nach meiner Zurueckkunft zu der Fuerstin,
um mich ihr vorzustellen.
Sie war selber erst vor wenigen Tagen von ihrem Lieblingslandsitze
in die Stadt zurueckgekehrt und noch nicht recht heimisch. Sie
empfing mich sehr freundlich wie immer und fragte mich um meine
Beschaeftigungen waehrend des Sommers. Ich konnte ihr nicht viel sagen
und erzaehlte ihr ausser den Messungen, die ich am Lautersee vorgenommen
hatte, von meinen Kunstbestrebungen, meiner Kunstneigung und meiner
Liebe zu den Dichtungen. Von den besonderen Verhaeltnissen zu meinem
Gastfreunde erwaehnte ich nur das Allgemeine, weil ich es fuer anmassend
gehalten haette, einer alten, wuerdigen Frau, deren Beziehungen
ausgebreitet und inhaltsreich waren, unaufgefordert Einzelheiten von
meinem Leben mitzuteilen. Sie ging auch nicht naeher darauf ein, dafuer
verweilte sie desto eifriger bei der Kunst und bei den Dichtern. Sie
fragte mich, was ich gelesen haette, wie ich es aufgefasst haette und
was ich darueber daechte. Sie zeigte sich hierbei mit allen den Werken
bekannt, welche ich ihr nannte, nur hatte sie das Griechische, von
dem ich ihr erzaehlte, bloss in der Uebersetzung gelesen. Sie ging
im Allgemeinen auf die Gegenstaende ein und verweilte bei manchem
Einzelnen ganz besonders. Unsere Ansichten trafen oft zusammen, oft
gingen sie auch auseinander, und sie suchte ihre Meinung zu begruenden,
was mir zum mindesten immer manche neue Gesichtspunkte gab. In Bezug
auf die Kunst verlangte sie, dass ich ihr einige Zeichnungen und
Malereien zeigen moechte, deren Wahl ich selber vornehmen koenne, wenn
ich schon nicht alle vor ihre Augen bringen wollte.
Ich sagte, dass alle wohl zu viel waeren, namentlich, da ich in erster
Zeit so viele bloss naturwissenschaftliche Zeichnungen gemacht
habe, und dass ich selber die Grenze nicht angeben koenne, wo die
naturwissenschaftlichen Zeichnungen in die kuenstlerisch angelegten
uebergingen. Ich wuerde aus allen Zeitabschnitten etwas auswaehlen und es
ihr bringen. Es wurde ein Tag bestimmt, an welchem ich zur Mittagszeit
zu ihr kommen sollte.
Ich kam an dem Tage, es war niemand als die Vorleserin zugegen, und es
wurde der Befehl gegeben, niemanden vorzulassen; denn ihr allein haette
ich ja die Zeichnungen gebracht, nicht jedem fremden Auge, das dazu
kaeme. Sie sah alle Blaetter an und billigte alle, besonders erregten
naturwissenschaftliche Pflanzenzeichnungen ihre Aufmerksamkeit,
weil sie sich viel mit Pflanzenkunde beschaeftigt hatte, noch jetzt
Anteil an dieser Wissenschaft nahm und sie besonders bei ihren
Landaufenthalten pflegte. Sie freute sich an der Genauigkeit der
Abbildungen und sagte mir ganz richtig, welche den Urbildern am
meisten entspraechen. Nach diesen Pflanzenzeichnungen sagten ihr am
meisten die der Koepfe zu. An den landschaftlichen Versuchen mochte
ihr die Einseitigkeit aufgefallen sein, da sie gewiss eine Kennerin
landschaftlicher Bildungen war, weil sie sehr gerne im Sommer einige
Wochen an irgend einer der schoensten Stellen unseres Landes verweilte.
Sie aeusserte sich aber in dieser Richtung nicht. Von den Koepfen sagte
sie, dass man auf diese Weise eine ganze Sammlung merkwuerdiger Menschen
anlegen koennte. Ich erwiderte, darauf sei ich nicht ausgegangen, ich
koennte auch nicht so leicht beurteilen, wer ein merkwuerdiger Mensch
sei. Es habe mir nur, da ich lange Zeit Gegenstaende der Natur
gezeichnet hatte, eingeleuchtet, dass das menschliche Antlitz der
wuerdigste Gegenstand fuer Zeichnungen sei, und da habe ich die Versuche
begonnen, es in solchen auszudruecken. Ich habe anfangs dabei unwissend
fast immer die Richtung von Naturzeichnungen verfolgt, bis sich mir
etwas Hoeheres zeigte, dessen Darstellung darueber hinausgeht, das
uns erst die Zuege und Mienen recht menschlich macht und dessen
Vergegenwaertigung ich nun anstrebe, in Ungewissheit, ob es gelingen
werde oder nicht.
Sie fragte auch nach denjenigen von meinen wissenschaftlichen
Bestrebungen, die ich im Zusammenhange aufgeschrieben habe, und
liess den Wunsch blicken, etwas Zusammengehoeriges zu erfahren. Die
Geschichte, wie unsere Erde entstanden sei und wie sie sich bis auf
die heutigen Tage entwickelt habe, musste den groessten Anteil erwecken.
Ich entgegnete, dass wir nicht so weit seien und dass ich am wenigsten
zu denen gehoere, welche einen ergiebigen Stoff zu neuen Schluessen
geliefert haben, so sehr ich mich auch bestrebe, fuer mich, und wenn
es angeht, auch fuer Andere so viel zu foerdern, als mir nur immer
moeglich ist. Wenn sie davon und auch von dem, was Andere getan haben,
Mitteilungen zu empfangen wuensche, ohne sich eben in die vorhandenen
wissenschaftlichen Werke vertiefen und den Gegenstand als eigenen
Zweck vornehmen zu wollen, so werde sich wohl Zeit und Gelegenheit
finden. Sie zeigte sich zufrieden und entliess mich mit jener Guete und
Anmut, die ihr so eigen war.
Seit dieser Zeit verwandelte sich mein Verhaeltnis zu ihr in ein
anderes. Da ich nun einmal unter Tags in ihrer Wohnung gewesen
war, geschah dies oefter, entweder, wenn wir Werke oder Abbildungen
anzuschauen hatten, wozu das Licht der abendlichen Lampen nicht
ausreichend gewesen waere, oder wenn sie mich zu Gespraechen einladen
liess, die dann gewoehnlich zwischen ihr, ihrer Gesellschafterin und
mir vorfielen - selten geschah es, dass einer ihrer Soehne gelegentlich
anwesend war oder eine Enkelin oder jemand von ihren naeheren
Anverwandten - und bei denen meistens die Geschichte der Erde oder
etwas in die Naturlehre Einschlaegiges der Gegenstand war. Oefter machte
ich auch selber einen kurzen Besuch, um mich um den Zustand ihrer
Gesundheit zu erkundigen. Auch die Abende kamen in Bezug auf mich in
eine andere Gestalt. Da wir einmal von Dichtungen geredet hatten, mit
denen ich mich in der letzten Zeit beschaeftigte und da gerade diese
Dichtungen aus einer vergangenen Zeit stammten, die nichts mit den
Tageserzeugnissen gemein hatte, da die Fuerstin sich in ihren jetzigen
Jahren mit diesen Dingen nicht beschaeftigte und die Zeit schon
ziemlich weit hinter ihr lag, in der sie Kenntnis von solchen Werken
genommen hatte, so wurde beschlossen, wieder das eine oder das andere
vorzunehmen und es gemeinschaftlich zu geniessen. Das geschah an
Abenden, und ich musste oft die Pflicht des Vorlesers uebernehmen,
besonders wenn die Gesellschaft nicht zahlreich war, was sich gerne an
Abenden ereignete, in denen Dichtungen vorgenommen wurden. In diese
Pflicht geriet ich bei Gelegenheit der Vornahme einiger spanischen
Romanzen. Die Fuerstin, die Gesellschafterin, ich und noch ein
Mann, welcher zugegen war, verstanden schlecht spanisch; doch war
beschlossen worden, die Romanzen in spanischer Sprache zu lesen. Das
Vorlesen wurde mir aufgetragen, und wie schlecht oder gut es ging, wir
verstanden doch mit eingemischten Erklaerungen und mit gelegentlichen
Gespraechen in unserer Muttersprache zuletzt die Romanzen. Nach diesem
Vorgange musste ich nun auch oefter in deutscher Sprache vorlesen, und
es geschah nicht selten, dass ich um meine Meinung ueber Teile des
Gelesenen befragt wurde und dass man eine Erklaerung verlangte. Dies
wurde um so mehr der Fall, als wir uns auch ueber Abteilungen aus
Cervantes und Calderon wagten. In andern Sprachen, besonders im
Italienischen des Dante und Tasso, las sehr gerne die Gesellschafterin
der Fuerstin. Das Alte aus dem Griechischen - es wurde nur die Ilias
und Odysseus, dann einiges aus Aeschylos vorgenommen - musste ich ganz
allein in deutscher Uebersetzung vorlesen. Es wurde da auch sehr viel
ueber das uralte gesellschaftliche Leben der Griechen, ueber ihre
haeuslichen Einrichtungen, ueber ihren Staat, ihre Kunst und ueber die
Gestalt und Beschaffenheit ihres Landes und ihrer Meere gesprochen.
Ich wurde zu diesen Beschaeftigungen in diesem Winter weit oefter zu der
Fuerstin eingeladen, als es frueher der Fall gewesen war. Der Fruehling
und die Zeit, in welcher man wieder den Landaufenthalt zu suchen
pflegt, kam uns zu frueh, wir verabredeten noch, was wir in dem
naechsten Winter vorzunehmen gedaechten, und die Fuerstin beurlaubte mich
mit vieler und sehr gewinnender Freundlichkeit.
Die Beschaeftigungen im Kreise unserer Familie bestanden jetzt in sehr
haeufigen Gespraechen zwischen dem Vater und mir ueber die Kunst und ueber
Buecher. Er erzaehlte mir, wie er dazu gekommen waere, Bilder lieb zu
gewinnen und sich Bilder zu sammeln. Er kam hiebei auf seine Jugend,
und da er in einer freudigeren und erregteren Stimmung war, als sonst,
so erzaehlte er mir ausfuehrlich, wie er dieselbe verlebt habe. Er
stellte mir dar, wie er sich die Mittel, um etwas lernen zu koennen,
selber habe verschaffen muessen, und wie ihm sein aelterer Bruder, der
ein sehr begabter Mensch gewesen waere, hierin zwar ein wenig, aber in
der Tat sehr wenig habe beistehen koennen, weil er sich selbst alles
habe herbei schaffen muessen und nur um wenige Jahre aelter gewesen sei.
Nach Anweisung vernuenftiger Menschen habe er zu lesen begonnen, und
manchen freien Tag in seiner Lehrzeit habe er in seiner Kammer bei den
Buechern zugebracht. Er habe, da er frei wurde und teils in unserer
Stadt, teils in den ersten Handelsplaetzen Europas Dienste tat, die
Bekanntschaft von Kuenstlern gemacht, habe sie in ihren Arbeitsstuben
besucht, habe ueber die Art zu malen sich Kenntnisse gesammelt und
sei mit diesen Kenntnissen in die beruehmtesten Bildersammlungen der
groessten Staedte gegangen. Hiebei sei es ihm widerfahren, dass er zweimal
im Lernen habe von vorne anfangen muessen. So sei es ihm in Rom, wohin
er sich von Triest aus begeben hatte, um dort ein halbes Jahr fuer
sich selber zu leben, klar geworden, dass er gar nichts wisse. Er habe
wieder unverdrossen angefangen, und von Rom schreibe sich seine Liebe
fuer alte Bilder her. Sein Bruder habe den Weg durch die Staatsschulen
gemacht, und da er ihn sehr liebte, habe er von ihm auch die Liebe zu
den alten Sprachen angenommen. In seinen Diensten habe er mehr freie
Zeit gehabt als da er noch lernte, und diese Zeit habe er zu seinen
Lieblingsneigungen angewendet. Mit einem alten Abte, der die
Verwaltung seines Klosters abgegeben hatte und seine wuerdevolle Musse,
wie er sich ausdrueckte, im Winter in unserer Stadt genoss, habe er alte
Dichter und Geschichtschreiber gelesen. Der Abt sei ein grosser Freund
der alten Schriften gewesen, habe bei ihm Neigung zu diesen Dingen
entdeckt und sei ihm mit seinen Kenntnissen beigestanden. Er habe sehr
oft im Zimmer des Abtes laut aus den sogenannten Classikern lesen
muessen. Die Bekanntschaft desselben habe er bei seinem Dienstherrn
in unserer Stadt gemacht, in dessen Hause dem Abte, der einst Lehrer
dieses Dienstherrn gewesen sei, jaehrlich ein oder zwei Male ein Fest
gegeben wurde. Der Dienstherr, der letzte, bei dem sich mein Vater
befunden, sei ein Ehrenmann gewesen, der seinen Leuten nicht nur
Gelegenheit verschafft habe, etwas lernen zu koennen, indem er sie zu
den vorkommenden Reisen benuetzte, auf denen sie Geschaeftsfreunde,
Handelsverbindungen, Verkehrswege und dergleichen kennen lernten,
sondern der ihnen auch Zeit goennte, selber, wenn sie nicht die Mittel
zu grossen Geschaeftsanlagen besassen, mit kleinen Anfaengen zu groesseren
Unternehmungen und zu endlicher Selbststaendigkeit schreiten zu koennen.
So habe auch der Vater mit kleinen Ersparnissen begonnen, habe sich
ausgedehnt und sei endlich, da die Anfaenge unter den Fluegeln seines
Herrn geschehen seien, mit dessen Unterstuetzung ein selbststaendiger
Kaufmann geworden. Was er zu Vergnuegungen haette verwenden koennen, habe
er bei Seite gelegt und habe sich entweder ein Buch oder ein Kunstwerk
gekauft oder habe eine Reise zu seiner Belehrung gemacht. Da sich
seine Verbindungen mehrten und stets ergiebiger zu werden versprachen,
habe er meine Mutter kennen gelernt und ihre Hand gewonnen. Sie habe
eine nicht unbetraechtliche Mitgift in das Haus gebracht, und so sei
gemeinschaftlich der Grund gelegt worden, dass wir Kinder nun nicht nur
frei und unabhaengig bei unsern Eltern in ihrem eigenen Hause leben
koennen, sondern auch fuer die Zukunft einen Notpfennig zu erwarten
haetten, und dass er selber sich mit Manchem habe umringen koennen, was
ihm die sanfte Neigung seines Herzens geboten habe und was ihm als
Erheiterung und nach der Liebe seiner Gattin und der Wohlgeratenheit
seiner Kinder auch als Lohn seines Alters dienen werde. Der betagte
Abt habe ihn als seinen letzten Schueler noch getraut und sei bald
darauf gestorben. Mit der jungen Frau habe er dreimal seine alten
Eltern, welche ferne in einem waldigen Lande von einer wenig
ergiebigen Feldwirtschaft lebten, besucht, sie seien dann kurz darauf
eins nach dem andern gestorben.
Sein Dienstherr habe uns noch aus der Taufe gehoben, sei dann von den
Geschaeften zurueck getreten, habe bei seinem einzigen Kinde, einer
Tochter, die an einen angesehenen Gueterbesitzer verheiratet war,
gelebt und sei bei ihr auch endlich gestorben. So haben sich alle
Verhaeltnisse geaendert. Das heimatliche Waldhaus mit der geringen
Feldwirtschaft haben er und sein Bruder einer Schwester geschenkt,
diese sei ohne Kinder gestorben, und da weder er noch der Bruder das
Haus bewirtschaften konnten, so haben sie eingewilligt, dass es an
einen entfernten Verwandten falle. Der Bruder sei waehrend unserer
Unmuendigkeit gestorben, eben so die Grosseltern von muetterlicher Seite
und endlich ein Grossoheim von eben dieser Seite, der uns Kinder zu
Erben eingesetzt, und da die Mutter keine Geschwister gehabt habe,
so seien wir nun allein und so sei keine Verwandtschaft weder von
vaeterlicher noch von muetterlicher Seite uebrig. Er habe die Liebe,
welche ihm durch den Tod seiner Angehoerigen, denen er, besonders dem
Bruder, eine treue Erinnerung weihe, anheimgefallen sei, an die Mutter
und uns uebertragen, sein Haus sei nun sein Alles, und wir zwei, die
Schwester und ich, sollten verbunden bleiben und sollten in Neigung
nicht von einander lassen, besonders wenn auch wir allein sein und er
und die Mutter im Kirchhofe schlummern wuerden.
Diese Ermahnung zur Liebe war nicht noetig; denn dass wir, die Schwester
und ich, uns mehr lieben koennten, als wir taten, schien uns nicht
moeglich, nur die Eltern liebten wir beide noch mehr, und wenn eine
Anspielung darauf gemacht wurde, dass sie uns einst verlassen sollten,
so betruebte uns das ausserordentlich, und wohin wir die Liebe, die uns
dann zurueckfallen sollte, wenden wuerden, wussten wir sehr wohl, wir
wuerden sie an gar nichts wenden, sie wuerde von selber ueber die
Grabhuegel hinaus gegen die verstorbenen Eltern bis an unser Lebensende
fortdauern.
Die andern Vorkommnisse, die zwar auch in unserer Familie, aber nicht
in ihr allein, sondern zugleich in Gesellschaft von geladenen Menschen
vorfielen, waren mir nicht so angenehm als in frueheren Zeiten, ja sie
waren mir eher widerwaertig und duenkten mir Zeitverlust. Sie bestanden
beinahe gleichmaessig wie in frueheren Jahren aus abendlichen Kreisen, in
denen gesprochen wurde, oder aus Gesellschaften, in denen etwas Musik
oder gar Tanz vorkam. An dem letzteren nahm ich gar keinen Teil, und
die Schwester, welche, wie ich schon seit laenger wahrnahm, schier alle
meine Neigungen teilte, tat es sehr wenig und fluechtete an solchen
Abenden sehr gerne zu mir. Ich hatte die Leute, darunter aber
vorzueglich die jungen, welche bei solchen Gelegenheiten zu uns kamen,
schon genau kennen gelernt, und wenn ich in frueherer Zeit eine Scheu,
ja sogar eine gewisse Gattung von Ehrfurcht vor ihnen gehabt hatte,
so war dies jetzt nicht mehr der Fall; ich hatte durch Nachdenken und
durch Erfahrungen im Umgange mit andern Menschen einsehen gelernt, dass
das, wovor ich besonders eine Scheu hatte, nehmlich ihre Sicherheit
und Vornehmheit, nur ein Ding ist welches man lernt, wenn man sehr
viel in solchen Gesellschaften ist, wie sie bei uns waren, und wenn
man in diesen Gesellschaften viel spricht und in den Vordergrund
tritt. Und dass dieses Ding nicht schwer zu erlernen ist, sah ich
daraus, dass es solche inne hatten, deren Geisteskraefte hoch zu achten
ich nicht veranlasst war. Meine Erfahrungen an Menschen hatte ich aber
nicht bloss in hohen Staenden gemacht, sondern auch in niedern, und
in diesen zwar nicht in der Stadt, sondern bei Gebirgsbewohnern und
Landbebauern. In hohen Staenden sah ich junge Leute, namentlich bei
der Fuerstin war das der Fall, welche jenes Benehmen, das mir sonst so
hoch ueber mir schien, nicht hatten, sondern sich einfach und wenig
vortretend gaben, hoeflich und nicht linkisch waren, und an das Wort,
das ich oefter in meiner Jugend gehoert, aber falsch verstanden hatte,
"ein junger Mann von guter Erziehung" erinnerten. In den untern
Staenden habe ich manchen Mann kennen gelernt, der, wenn er vor solchen
stand, die er fuer hoeher erachtete als sich selbst, nicht die Muehe
uebernahm, auch hoeher in seinem Benehmen sein zu wollen, sondern
der ruhig so sprach, wie er die Sache verstand, und ruhig die Rede
anhoerte, die ihm ein Anderer erwiderte. Dieser Mann schien mir auch
von hoeherer Erziehung als die, welche viele Arten des Benehmens wissen
und ersichtlich machen. Ein gueltiges Beispiel gab mein Gastfreund, der
noch einfacher war als jene Maenner, von denen ich sagte, dass ich sie
bei der Fuerstin gesehen habe, und dessen Rede und Tun so klare Achtung
erzeugten. Selbst sein Anzug, der Anfangs auffiel, stimmte zu Allem.
Auch Eustach, Gustav aber ganz gewiss, standen im entschiedenen Vorzuge
vor meinen Gesellschaftsleuten. Weil ich nun diese Menschen sehr gut
kannte und weil sie mir keine hohe Ruecksichtnahme mehr einfloessten, war
es mir unerspriesslich, mit ihnen zu sein, und es erschien mir, dass ich
die Zeit besser wuerde benuetzen koennen. Aber auch die Erfahrungen in
dieser Hinsicht mochte mein Vater fuer nuetzlich gehalten haben. Ich
machte sie nur an jungen Maennern. Ueber Maedchen konnte ich ein Urteil
gar nicht sagen, weil ich sehr wenig mit ihnen sprach und weil mich
natuerlich keine in meiner Zurueckgezogenheit aufsuchen konnte. Wie
aelteren Leuten, Maennern wie Frauen, kam mir oft jemand entgegen, dem
ich Achtung zollen musste; aber auch zu alten Leuten wie zu Maedchen
konnte ich mich nicht draengen. Unter denen, welchen ich mehr zugetan
war, stand der Sohn des Juwelenhaendlers oben an, ich war ihm wirklich
in der eigentlichen Bedeutung ein Freund. Wir brachten ausser unseren
Kleinodienlehrstunden manche Zeit mit einander zu, wir besprachen
verschiedene Dinge und lasen auch mitunter kleine Abschnitte von
Schriften mit einander, die wir gemeinschaftlich achteten. Seine
Eltern waren sehr liebenswuerdig und fein. Der junge Preborn war mir
auch nicht unangenehm. Er sprach noch oefter von der schoenen Tarona
und bedauerte sehr, dass sie auf weite Reisen gegangen und daher gar
nicht in die Stadt gekommen sei, weswegen er mir sie nie habe zeigen
koennen. An den eigentlichen Vergnuegungen, die junge Maenner unter sich
anstellten, nahm ich nur ungemein selten Teil. Dass ich aber auch
ueberhaupt viel weniger mit Maennern meines Alters umging und nicht, wie
es bei vielen jungen Leuten in unserer Stadt der Gebrauch ist, Tage
mit ihnen zubrachte und dies oefter wiederholte, ruehrte daher, dass ich
viele Beschaeftigungen hatte und dass mir daher zu wenig Zeit uebrig
blieb, sie auf Anderes zu verwenden. Am liebsten war es mir, wenn ich
mit meinen Angehoerigen allein war.
Ich ging nach dem Winter ziemlich spaet im Fruehlinge auf das Land. So
erfreulich der letzte Sommer fuer mich gewesen war, so sehr er mein
Herz gehoben hatte, so war doch etwas Unliebes in dem Grunde meines
Innern zurueck geblieben, was nichts anders schien als das Bewusstsein,
dass ich in meinem Berufe nicht weiter gearbeitet habe und einer
planlosen Beschaeftigung anheim gegeben gewesen sei. Ich wollte das
nun einbringen und den groessten Teil des Sommers einer festen und
angestrengten Taetigkeit weihen. Ich nahm alle Geraete und Werke mit,
welche ich zur Fortsetzung meiner Arbeiten brauchte. Freie Stunden,
die nach genauer Zeiteinteilung uebrig blieben, wollte ich dann meinen
Lieblingsdingen widmen.
Ich kam in das Ahornwirtshaus und bestellte mir da hin auch die Leute,
die ich verwenden wollte, wenn sie sich nehmlich bereit erklaerten, mir
in entferntere Teile der Gebirge zu folgen, wohin mich heuer meine
Arbeiten fuehren wuerden. Der alte Kaspar wollte mitgehen, zwei andere
auch, und so hatte ich genug. Ich erkundigte mich nach meinem
Zitherspiellehrer, er war fort und so gut wie verschollen. Kein Mensch
wusste etwas von ihm. Ich ging in das Rothmoor, um nachzusehen, wie
weit die Marmorarbeiten gediehen waren. Sie wurden heuer fertig, und
ich konnte sie im Herbste nach Hause bringen lassen. Da das geschehen
war, verliess ich fuer diesen Sommer das Ahornwirtshaus, in welchem ich
nun so lange gewohnt hatte, um mich in die Bergabteilung zu begeben,
die ich durchforschen wollte. Ich ging mit einem wehmuetigen Gefuehle
von dem Hause fort.
An einer Stelle, wo das Gebirge weit verzweigt und wild verflochten,
aber dessohngeachtet bei Weitem nicht so schoen war wie das, welches
ich verlassen hatte, setzte ich mich wie in einem Mittelpunkte meiner
Bestrebungen fest. Ich vermisste das heitere, fensterschimmernde
Ahornhaus, ich vermisste das ganze Tal, in dem ich beinahe heimisch
geworden war. In einem Hause, das an der Oeffnung dreier Taeler lag
und mir daher den geeignetsten Platz abgab, mietete ich mich ein.
Schwarzer Tannenwald sah auf meine Fenster, schritt an den Baechen,
welche aus den drei Taelern kamen, neben feuchten Wiesen und andern
offenen Stellen in die Talgruende hinein und zog sich auf die Berge.
Die hoeheren Kuppen oder gar die Schneeberge konnte man wegen der
Enge des Tales ueber den finstern Tannen nicht sehen. Das mochte auch
die Ursache sein, dass das Haus und die mehreren in den Waldlehnen
zerstreuten und an den Baechen hingehenden Huetten die Tann hiessen.
Mauern, mit gruenem Moose bewachsen, bildeten mein Haus und grenzten
an ein zerfallenes Gaertchen, in welchem wenig mehr als Schnittlauch
wuchs. Auf der Gasse war der Boden schwarz, und dieselbe Schwaerze zog
sich in das Gras hinein; denn das Einzige, welches haeufig an diesem
Wirtshause ankam und da hielt, damit sich Menschen und Tiere
erquickten, waren Kohlenfuhren. In dem ganzen, bei naeherer
Besichtigung sich als ungeheuer zeigenden Waldgebiete waren die
Kohlenbrennereien zerstreut, und ganze Zuege von den schwarzen
Fuhrwerken und den schwarzen Fuhrmaennern zogen die duestere Strasse
hinaus, um die Kohlen gegen die Ebenen zu bringen, von wo sie sogar
bis in unsere Stadt befoerdert wurden. Nur ein einziges Zimmer mit
kleinen Fenstern und eisernen Kreuzen daran konnte ich haben. In
demselben war ein Tisch, zwei Stuehle, ein Bett und eine bemalte Truhe,
in die ich Kleider und andere Dinge legen konnte. Fuer meine groesseren
Kisten wurde mir ein Verschlag in einem Schuppen eingeraeumt. Kaspar
und die andern schliefen, wenn wir uns in dem Hause befanden, in der
Scheuer im Heu. Ich liess mein Gepaecke groesstenteils in meinen Koffern,
hing nur das Noetige an Naegel, die in dem Zimmer waren, legte meine
Schreibgeraete, meine wissenschaftlichen Buecher und meine Dichter auf
den Tisch, fuellte das Bettgestelle mit meinen von Hause mitgebrachten
Bettstuecken, stellte meine Bergstoecke in eine Ecke und war
eingerichtet. Die Sonne, welche am spaeten Vormittage bei einem Fenster
meines Zimmers hereinkam, streifte am Nachmittage das andere, um bald
die Spitzen der Tannen zu vergolden und zu verschwinden. Ich war in
manchen aehnlichen Herbergen schon gewesen, war daran gewoehnt, fuegte
mich und wurde mit dem Wirte, der Wirtin und einer ruehrigen Tochter,
einfachen, gutmuetigen Leuten, die einen kleinen Gedankenkreis hatten,
bald bekannt. Sonst kam noch manches Mal ein Gebirgsjaeger, ein
seltener Wandersmann oder ein Hausierer in das Tannwirtshaus. Die
groesste Zahl der Gaeste bestand ausser den Kohlenfuehrern in Holzknechten,
welche in den grossen Waeldern zerstreut waren und welche gerne an
Samstagen oder an Tagen vor grossen Festen heraus kamen, um zu den
Ihrigen zu gehen. Da verweilten sie denn nun nicht selten gerne
ein wenig in dem Tannwirtshause, um sich ein Gutes zu tun. Die
Hauptbeschaeftigung aller Bewohner der Tann war die Holzarbeit und ihr
Hauptreichtum waren Kuehe und Ziegen, welche taeglich in die Waelder
gingen und von welchen die juengeren den ganzen Sommer hindurch auf der
Hoehe der Waldungen und der Holzschlaege blieben.
Von diesem Hause aus fingen wir nun an, unsere Beschaeftigungen zu
betreiben. Durch die langen und weithingestreckten Waldungen ging
unser Hammer, und die Leute trugen die Zeugen der verschiedenen
Bodenbeschaffenheiten, auf denen die ausgedehnten Waldbestaende
wuchsen, in der Gestalt der mannigfaltigen Gesteine in die Tann. Wenn
auch von unserem Gasthause aus die Felsenberge oder gar das Eis nicht
zu erblicken waren, so waren sie darum nicht weniger vorhanden. Weil
hier Alles grossartiger war.
Da wir uns tiefer im Gebirge und naeher seinem Urstocke befanden, so
dehnten sich auch die Waelder in maechtigeren Anschwellungen aus, und
wenn man durch eine Reihe von Stunden in dem dunkeln Schatten der
feuchten Tannen und Fichten gegangen war, so wurden endlich ihre
Reihen lichter, ihr Bestand minderte sich, erstorbene Staemme oder
solche, die durch Unfaelle zerstoert worden waren, wurden haeufiger, das
trockene Gestein mehrte sich, und wenn nun freie Plaetze mit kurzem
Grase oder Sandgriess oder Knieholz folgten, so sah man daemmerige
Waende in riesigen Abmessungen vor den Augen stehen, und blitzende
Schneefelder waren in ihnen, oder zwischen auseinanderschreitenden
Felsen schaute ein ganz in Weiss gehuellter Berg hervor. Die Gesteinwelt
folgte nun in noch groesseren Ausdehnungen auf die Waldwelt. Uns fuehrte
unsere Absicht oft aus der Umschliessung der Waelder in das Freie
der Berge hinaus. Wenn die Bestandteile eines ganzen Gesteinzuges
ergruendet waren, wenn alle Waesser, die der Gesteinzug in die Taeler
sendet, untersucht waren, um jedes Geschiebe, das der Bach fuehrt, zu
betrachten und zu verzeichnen, wenn nun nichts Neues nach mehrfacher
und genauer Untersuchung sich mehr ergab, so wurde versucht, sich des
Zuges selbst zu bemaechtigen und seine Glieder, so weit es die Macht
und Gewalt der Natur zuliess, zu begehen. In die wildesten und
abgelegensten Gruende fuehrte uns so unser Plan, auf die schroffsten
Grate kamen wir, wo ein scheuer Geier oder irgend ein unbekanntes
Ding vor uns aufflog und ein einsamer Holzarm hervor wuchs, den in
Jahrhunderten kein menschliches Auge gesehen hatte; auf lichte Hoehen
gelangten wir, welche die ungeheure Wucht der Waelder, in denen unser
Wirtshaus lag, und die angebauteren Gefilde draussen, in denen die
Menschen wohnten, wie ein kleines Bild zu unsern Fuessen legten. Meine
Leute wurden immer eifriger. Wie ueberhaupt der Mensch einen Trieb hat,
die Natur zu besiegen und sich zu ihrem Herrn zu machen, was schon die
Kinder durch kleines Bauen und Zusammenfuegen, noch mehr aber durch
Zerstoeren zeigen und was die Erwachsenen dadurch dartun, dass sie die
Erde nicht nur zur nahrungsprossenden machen, wie der Dichter des
Achilleus so oft sagt, sondern sie auch vielfach zu ihrem Vergnuegen
umgestalten, so sucht auch der Bergbewohner seine Berge, die er lieb
hat, zu zaehmen, er sucht sie zu besteigen, zu ueberwinden und sucht
selbst dort hinan zu klettern, wohin ihn ein weiterer, wichtigerer
Zweck gar nicht treibt. Die Erzaehlung solcher bestandener Zuege bildet
einen Teil der Wuerze des Lebens der Bergbewohner. Meine Leute waren
in einer gesteigerten Freude und Empfindung, wenn wir mit dem Hammer
und Meissel teils Stufen in die glatten Waende schlugen, teils Loecher
machten, unsere vorraetigen Eisen eintrieben, auf solche Weise Leitern
verfertigten und auf einen Standort gelangten, auf den zu gelangen
eine Unmoeglichkeit schien.
Wir kamen oft eine Reihe von Tagen nicht in unser Tannwirtshaus hinab.
Ich suchte auch gerne auf die Gipfel hoher Berge zu gelangen, wenn
mich selbst eben meine Beschaeftigung nicht dahin fuehrte. Ich stand auf
dem Felsen, der das Eis und den Schnee ueberragte, an dessen Fuss sich
der Firnschrund befand, den man hatte ueberspringen muessen oder zu
dessen Ueberwindung wir nicht selten Leitern verfertigten und ueber das
Eis trugen, ich stand auf der zuweilen ganz kleinen Flaeche des letzten
Steines, oberhalb dessen keiner mehr war, und sah auf das Gewimmel der
Berge um mich und unter mir, die entweder noch hoeher mit den weissen
Hoernern in den Himmel ragten und mich besiegten oder die meinen Stand
in anderen Luftebenen fortsetzten oder die einschrumpften und hinab
sanken und kleine Zeichnungen zeigten, ich sah die Taeler wie rauchige
Falten durch die Gebilde ziehen und manchen See wie ein kleines
Taefelchen unten stehen, ich sah die Laender wie eine schwache Mappe vor
mir liegen, ich sah in die Gegend, wo gleichsam wie in einen staubigen
Nebel getaucht die Stadt sein musste, in der alle lebten, die mir
teuer waren, Vater, Mutter und Schwester, ich sah nach den Hoehen, die
von hier aus wie blauliche Laemmerwolken erschienen, auf denen das
Asperhaus sein musste und der Sternenhof, wo mein lieber Gastfreund
hauste, wo die gute, klare Mathilde wohnte, wo Eustach war, wo der
froehliche, feurige Gustav sich befand und wo Nataliens Augen blickten.
Alles schwieg unter mir, als waere die Welt ausgestorben, als waere das,
dass sich Alles von Leben rege und ruehre, ein Traum gewesen. Nicht
einmal ein Rauch war auf die Hoehe hinauf zu sehen, und da wir zu
solchen Besteigungen stets schoene Tage waehlten, so war auch meistens
der Himmel heiter und in der dunkelblauen Finsternis hin eine
endlosere Wueste, als er in der Tiefe und in den mit kleinen
Gegenstaenden angefuellten Laendern erscheint. Wenn wir hinab stiegen,
wenn Kaspar hinter uns die Eisen aus den Steinen zog und in den Sack
tat, den er an einem Stricke um die Schultern haengen hatte, wenn wir
nun die Leiter ueber den Firnschrund zurueckzogen oder im Falle, dass
wir keine Leiter gebraucht hatten, ueber den Spalt gesprungen waren,
so zeigte sich in dem Ernste von Kaspars harten Zuegen oder in
den Angesichtern der Andern, die uns begleiteten, eine gewisse
Veraenderung, so dass ich schloss, dass der Stand, auf dem wir gestanden
waren, einen Eindruck auf sie gemacht haben musste.
Die Stunden oder Tage, die ich mir von meiner Arbeit abdingen konnte,
weil ich Ruhe brauchte oder das Wetter mich hinderte, wendete ich zur
Entwerfung leichter Landschaftsgebilde an, und die Tiefe der Nacht
wurde, ehe sich die Augen schlossen, durch die grossen Worte eines, der
schon laengst gestorben war und der sie uns in einem Buche hinterlassen
hatte, erhellt, und wenn die Kerze ausgeloescht war, wurden die Worte
in jenes Reich mit hinueber genommen, das uns so raetselhaft ist und das
einen Zustand vorbildet, der uns noch unergruendlicher erscheint.
Wie in der juengstvergangenen Zeit konnte ich auch jetzt nicht mehr mit
der blossen Sammlung des Stoffes meiner Wissenschaft mich begnuegen,
ich konnte nicht mehr das Vorgefundene bloss einzeichnen, dass ein Bild
entstehe, wie Alles ueber einander und neben einander gelagert ist -
ich tat dieses zwar jetzt auch sehr genau -, sondern ich musste mich
stets um die Ursache fragen, warum etwas sei, um die Art, wie es
seinen Anfang genommen habe. Ich baute in diesen Gedanken fort und
schrieb, was durch meine Seele ging, auf. Vielleicht wird einmal in
irgend einer Zukunft etwas daraus.
Zur Zeit der Rosenbluete machte ich einen Abschnitt in meinem Beginnen,
ich wollte mir eine Unterbrechung goennen und den Asperhof besuchen.
Ich lohnte meine Leute ab, gab ihnen das Versprechen, dass ich sie in
Zukunft wieder verwenden werde, legte zu ihrem Lohne noch ein kleines
Heimreisegeld und entliess sie. In dem Tannhause verpackte ich Alles
wohl, was mein Eigentum war, berichtigte das, was ich schuldig
geworden, sagte, dass ich wiederkommen werde, dass man mir das
Dagelassene unterdessen gut bewahren moege und fuhr in einem
einspaennigen Gebirgswaeglein durch den tiefen Weg, der von dem
rauschenden Bache des Tannwirtshauses waldaufwaerts fuehrt, davon. Als
ich die Heerstrasse erreicht hatte, sendete ich meinen Fuhrmann zurueck
und waehlte fuer die weitere Fahrt einen Platz im Postwagen. Die Strecke
von der letzten Post zu meinem Freunde legte ich zu Fusse zurueck. Fuer
Nachsendung meines Gepaeckes trug ich Sorge.
Ich war spaeter gekommen, als ich eigentlich beabsichtigt hatte. In der
tiefen Abgeschiedenheit und in der hohen kuehlen Lage der Tann hatte
ich mich ueber das, was draussen geschah, getaeuscht. In dem freieren
Lande war ein warmer Fruehling und ein sehr warmer Fruehsommer gewesen,
was ich in den Bergen nicht so genau hatte ermessen koennen. Darum
bluehten schon die Rosen mit freudiger Fuelle in allen Gaerten, an denen
ich vorueber kam. In schoener Vollkommenheit schauten die untadeligen
Laubkronen meines Gastfreundes ueber das dunkle Dach des Hauses und
standen an den beiden Fluegeln des Gartengitters, als ich den Huegel
hinan stieg. Die Fenstervorhaenge, welche teils ein wenig geoeffnet,
teils der Hitze willen geschlossen waren, luden mich gastlich ein, und
der Schmelz des Gesanges der Voegel und mancher lautere vereinzelte Ruf
gruesste mich wie einen, der hier schon lange bekannt ist.
Da ich die Einrichtung des Gittertores kannte, drueckte ich an der
Vorrichtung, der Fluegel oeffnete sich und ich trat in den Garten.
Mein Gastfreund war bei den Bienen. Ich erfuhr das von dem Gaertner,
welcher der erste war, den ich zu sehen bekam. Er ordnete etwas an
einem Geranienbeete in der Naehe des Einganges. Ich schlug den Weg zu
den Bienen ein. Mein Gastfreund stand vor der Huette und erwartete das
Erscheinen einer jungen Familie, die schwaermen wollte. Er sagte mir
dieses, als ich hinzutrat, ihn zu begruessen. Der Empfang war beinahe
bewegt, wie zwischen einem Vater und einem Sohne, so sehr war meine
Liebe zu ihm schon gewachsen, und eben so mochte auch er schon eine
Zuneigung zu mir gewonnen haben.
Da er doch wohl von seinem Vorhaben nicht weggehen konnte, sagte ich,
ich wolle die andern auch begruessen, und er billigte es. Er hatte mir
erzaehlt, dass Mathilde und Natalie in dem Asperhofe seien.
Ich ging gegen das Haus. Gustav hatte es schon erfahren, dass ich da
sei, er flog die Treppe herunter und auf mich zu. Gruss, Gegengruss,
Fragen, Antworten, Vorwuerfe, dass ich so spaet gekommen sei und dass
ich in dem Fruehlinge doch nicht einige Tage benuetzt habe, um in den
Asperhof zu gehen. Er sagte, dass er mir sehr viel zu erzaehlen habe,
dass er mir alles erzaehlen wolle und dass ich recht lange, lange da
bleiben muesse.
Er fuehrte mich nun zu seiner Mutter. Diese sass an einem Tische im
Gebuesche und las. Sie stand auf, da sie mich nahen sah, und ging mir
entgegen. Sie reichte mir die Hand, die ich, wie es in unserer Stadt
Sitte war, kuessen wollte. Sie liess es nicht zu. Ich hatte wohl schon
frueher bemerkt, dass sie nicht zugab, dass ihr die Hand gekuesst werde;
aber ich hatte in dem Augenblicke nicht daran gedacht. Sie sagte, dass
ich ihr sehr willkommen sei, dass sie mich schon frueher erwartet habe
und dass ich nun eine nicht zu kurze Zeit meinen hiesigen Freunden
schenken muesse. Wir gingen unter diesen Worten wieder zu dem Tische
zurueck, auf den sie ihr Buch gelegt hatte, und sie hiess mich an ihm
Platz nehmen. Ich setzte mich auf einen der dastehenden Stuehle. Gustav
blieb neben uns stehen. Ihr Angesicht war so heiter und freundlich,
dass ich meinte, es nie so gesehen zu haben. Oder es war wohl immer so,
nur in meiner Erinnerung war es ein wenig zurueck getreten. Wirklich,
so oft ich Mathilden nach laengerer Trennung sah, erschien sie mir,
obwohl sie eine alternde Frau war, immer lieblicher und immer
anmutiger. Zwischen den Faeltchen des Alters und auf den Zuegen, welche
auf eine Reihe von Jahren wiesen, wohnte eine Schoenheit, welche ruehrte
und Zutrauen erweckte. Und mehr als diese Schoenheit war es, wie ich
wohl jetzt erkannte, da ich so viele Angesichter so genau betrachtet
hatte, um sie nachzubilden, die Seele, welche guetig und abgeschlossen
sich darstellte und auf die Menschen, die ihr naheten, wirkte. Um die
reine Stirne zog sich das Weiss der Haubenkrause, und aehnliche weisse
Streifen waren um die feinen Haende.
Auf dem Tische stand ein Blumentopf mit einer dunkeln, fast
veilchenblauen Rose. Sie lehnte sich in dem Rohrstuhle, auf dem sie
sass, zurueck, faltete die Haende auf ihrem Schoosse und sagte: "Wir
werden in dem Sternenhofe ein kleines Fest feiern. Ihr wisst, dass wir
begonnen haben, die Tuenche, womit die grossen Steinflaechen, die die
Mauern unsers Hauses bekleiden, in frueheren Jahren ueberstrichen worden
sind, wegzunehmen, weil unser Freund meinte, dass dieselbe das Haus
entstelle und dass es sich weit schoener zeigen wuerde, wenn sie
weggenommen und der blosse Stein sichtbar waere. Heuer ist nun die ganze
vordere Flaeche des Hauses fertig geworden, die Gerueste werden eben
abgebrochen, und da werden, wenn die Spuren auch auf dem Boden vor
dem Hause vertilgt sind, wenn der Sand geebnet ist, wenn der Rasen
gereinigt und gewaschen ist, dass er keine Kalkflecke, sondern das
reine Gruen zeigt, wir alle hinausfahren, um die Sache zu betrachten
und ein Urteil abzugeben, ob das Haus den Gewinn gemacht habe, der
sich uns versprochen hat.
Es werden auch andere Menschen kommen, es werden wahrscheinlich sich
einige Nachbarn einfinden, und da ihr zu unsern Freunden aus dem
Asperhofe gehoert, und da wir alle euer Urteil in Anschlag bringen
moechten, so seid ihr gebeten, auch dabei zu sein und die Gesellschaft
zu vermehren."
"Mein Urteil ist wohl sehr geringe", antwortete ich, "und wenn es
nicht ganz verwerflich ist, und wenn ich mir einige Kenntnisse und
eine bestimmte Empfindung des Schoenen erworben habe, so danke ich
Alles dem Besitzer dieses Hauses, der mich so guetig aufgenommen und
Manches in mir hervor gezogen hat, das wohl sonst nie zu irgend einer
Bedeutung gekommen waere. Ich werde also kaum zur Feststellung der
Sache auf dem Sternenhofe etwas beitragen koennen, und meine Ansicht
wird gewiss die meines Gastfreundes und Eustachs sein; aber da ihr mich
so freundlich einladet und da es mir eine Freude macht, in eurem Hause
sein zu koennen, so nehme ich die Einladung gerne an, vorausgesetzt,
dass die Zeit nicht zu spaet bestimmt ist, da ich doch wohl noch in
diesem Sommer in den Ort meiner jetzigen Taetigkeit zurueckkehren und
Einiges vor mich bringen moechte."
"Die Zeit ist sehr nahe", erwiderte sie, "es ist ohnehin schon seit
laenger her gebraeuchlich, dass nach der Rosenbluete, zu welcher ich immer
in diesem Hause eingeladen bin, unsere hiesigen Freunde auf eine Weile
in den Sternenhof hinueber fahren. Das wird auch heuer so sein.
Waehrend hier die feinen Blaetter dieser Blumen sich vollkommen
entwickeln und endlich welken und abfallen, wird unser Hausverwalter
in dem Sternenhofe Alles in Ordnung bringen, dass keine Verwirrung mehr
zu sehr sichtbar ist, er wird uns hierueber einen Brief schreiben und
wir werden den Tag der Zusammenkunft bestimmen. Von dem Urteile, wenn
irgend eines mit einem ueberwiegenden Gewichte zu Stande koemmt, wird
es abhaengen, ob auch die Kosten zu der Reinigung der andern Teile des
Hauses verwendet werden oder ob der jetzige Zustand, dass eine Seite
von der Tuenche befreit ist, die uebrigen aber damit behaftet sind, der
gewiss weniger schoen ist, als wenn Alles uebertuencht geblieben waere,
fortbestehen oder ob gar das Befreite wieder uebertuencht werden solle.
Dass ihr uebrigens eure Ansichten geringe achtet, daran tut ihr Unrecht.
Wenn in der Naehe unsers Freundes Einiges an euch frueher zur Bluete kam,
so ist dies wohl sehr natuerlich; es ist ja Alles an uns Menschen so,
dass es wieder von andern Menschen gross gezogen wird, und es ist das
glueckliche Vorrecht bedeutender Menschen, dass sie in andern auch das
Bedeutende, das wohl sonst spaeter zum Vorscheine gekommen waere, frueher
entwickeln. Wie sicher in euch die Anlage zu dem Hoeheren und Groesseren
vorhanden war, zeigt schon die Wahl, mit der ihr aus eigenem Antriebe
auf eine wissenschaftliche Beschaeftigung gekommen seid, die sonst
unsere jungen Leute in den Jahren, in denen ihr euch entschieden habt,
nicht zu ergreifen pflegen, und dass euer Herz dem Schoenen zugewendet
war, geht daraus hervor, dass ihr schon bald begannet, die Gegenstaende
eurer Wissenschaft abzubilden, worauf der, dem der bildende Sinn
mangelt, nicht so leicht verfaellt, er macht sich eher schriftliche
Verzeichnisse, und endlich habt ihr ja in Kurzem die Abbildung anderer
Dinge, menschlicher Koepfe, Landschaften, versucht und habt euch auf
die Dichter gewendet. Dass es aber auch nicht ein ungluecklicher Tag
war, an welchem ihr ueber diesen Huegel herauf ginget, zeigt sich in
einer Tatsache: ihr liebt den Besitzer dieses Hauses, und einen
Menschen lieben koennen ist fuer den, der das Gefuehl hat, ein grosser
Gewinn."
Gustav hatte waehrend dieser Rede die Mutter stets freundlich
angesehen.
Ich aber sagte: "Er ist ein ungewoehnlicher, ein ganz ausserordentlicher
Mensch."
Sie erwiderte auf diese Worte nichts, sondern schwieg eine Weile.
Spaeter fing sie wieder an: "Ich habe mir diese Rosenpflanze auf den
Tisch gestellt, gewissermassen als die Gesellschafterin meines Lesens -
gefaellt euch die Blume?"
"Sie gefaellt mir sehr", antwortete ich, "wie mir ueberhaupt alle Rosen
gefallen, die in diesem Hause gezogen werden."
"Sie ist eine neue Art", sagte sie, "ich habe aus England einen Brief
bekommen, in welchem eine Freundin mit Auszeichnung von einer Rose
sprach, die sie in Kew gesehen habe und deren Namen sie hinzu fuegte.
Da ich in dem Verzeichnisse unserer Rosen den Namen nicht fand, dachte
ich, dass dies eine Art sein duerfte, welche unser Freund nicht hat.
Ich schrieb an die Freundin, ob sie mir eine solche Rosenpflanze
verschaffen koenne. Mit Hilfe eines Mannes, der uns beide kennt,
erhielt sie die Pflanze, und in diesem Fruehlinge wurde sie mir in
einem Topfe, sehr wohl und sinnreich verpackt, aus England geschickt.
Ich pflegte sie, und da die Blumen sich entwickeln wollten, brachte
ich sie unserm Freunde. Die Rosen oeffneten sich hier vollends, und
wir sahen - besonders er, der alle Merkmale genau kennt -, dass diese
Blume sich in der Sammlung dieses Hauses noch nicht befindet. Eustach
bildete sie ab, dass wir sie festhalten und ob die, welche in Zukunft
kommen werden, ihr gleichen. Mein Freund schrieb nach England um
Pfropfreiser fuer den naechsten Fruehling, diese Pflanze bleibt indessen
in dem Topfe und wird hier besorgt werden."
Waehrend sie so sprach, regten sich die Zweige neben einem schmalen
Pfade, der aus dem Gebuesche auf den Platz fuehrte, und Natalie trat auf
dem Pfade hervor. Sie war erhitzt und trug einen Strauss von Feldblumen
in der Hand. Sie musste nicht gewusst haben, dass ein Fremder bei der
Mutter sei; denn sie erschrak sehr, und mir schien, als ginge durch
das Rot des erwaermten Angesichtes eine Blaesse, die wieder mit einem
noch staerkeren Rot wechselte. Ich war ebenfalls beinahe erschrocken
und stand auf.
Sie war an der Ecke des Gebuesches stehen geblieben, und ich sagte die
Worte: "Mich freut es sehr, mein Fraeulein, euch so wohl zu sehen."
"Mich freut es auch, dass ihr wohl seid", erwiderte sie.
"Mein Kind, du bist sehr erhitzt", sagte die Mutter, "du musst weit
gewesen sein, es koemmt schon die Mittagsstunde, und in derselben
solltest du nicht so weit gehen. Setze dich ein wenig auf einen dieser
Sessel, aber setze dich in die Sonne, damit du nicht zu schnell
abkuehlest."
Natalie blieb noch ein ganz kleines Weilchen stehen, dann rueckte sie
folgsam einen von den herumstehenden Sesseln so, dass er ganz von der
Sonne beschienen wurde, und setzte sich auf ihn. Sie hatte den runden
Hut mit dem nicht gar grossen Schirme, wie ihn Mathilde und sie
sehr gerne auf Spaziergaengen in der Naehe des Rosenhauses und des
Sternenhofes trugen, als sie aus dem Gebuesche getreten war, in der
Hand gehabt, jetzt, da die Sonne auf ihren Scheitel schien, setzte sie
ihn auf. Sie legte den Strauss von Feldblumen, den sie gebracht hatte,
auf den Tisch und fing an, die einzelnen Gewaechse heraus zu suchen und
gleichsam zu einem neuen Strausse zu ordnen.
"Wo bist du denn gewesen?" fragte die Mutter.
"Ich bin zu mehreren Rosenstellen in dem Garten gegangen", antwortete
Natalie, "ich bin zwischen den Gebueschen neben den Zwergobstbaeumen und
unter den grossen Baeumen, dann zu dem Kirschbaume empor und von da in
das Freie hinaus gegangen. Dort standen die Saaten und es bluehten
Blumen zwischen den Halmen und in dem Grase. Ich ging auf dem schmalen
Wege zwischen den Getreiden fort, ich kam zur Felderrast, sass dort ein
wenig, ging dann auf dem Getreidehuegel auf mehreren Rainen ohne Weg
zwischen den Feldern herum, pflueckte diese Blumen und ging dann wieder
in den Garten zurueck."
"Und hast du dich denn lange auf dem Berge aufgehalten, und hast du
alle Zeit zu dem Aufsuchen und Pfluecken dieser Blumen verwendet?"
fragte Mathilde.
"Ich weiss nicht, wie lange ich mich auf dem Berge aufgehalten habe;
aber ich meine, es wird nicht lange gewesen sein", antwortete Natalie,
"ich habe nicht bloss diese Blumen gepflueckt, sondern auch auf die
Gebirge geschaut, ich habe auf den Himmel gesehen und auf die Gegend,
auf diesen Garten und auf dieses Haus geblickt."
"Mein Kind", sagte Mathilde, "es ist kein Uebel, wenn du in den
Umgebungen dieses Hauses herum gehst; aber es ist nicht gut, wenn du
in der heissen Sonne, die gegen Mittag zwar nicht am heissesten ist,
aber immerhin schon heiss genug, auf dem Huegel herum gehst, welcher ihr
ganz ausgesetzt ist, welcher keinen Baum - ausser bei der Felderrast -
und keinen Strauch hat, der Schatten bieten koennte. Und du weisst auch
nicht, wie lange du in der Hitze verweilest, wenn du dich in das
Herumsehen vertiefest oder wenn du Blumen pflueckest und in dieser
Beschaeftigung die Zeit nicht beachtest."
"Ich habe mich in das Blumenpfluecken nicht vertieft", erwiderte
Natalie, "ich habe die Blumen nur so gelegentlich gelesen, wie sie mir
in meinem Dahingehen aufstiessen. Die Sonne tut mir nicht so weh, liebe
Mutter, wie du meinst, ich empfinde mich in ihr sehr wohl und sehr
frei, ich werde nicht muede, und die Waerme des Koerpers staerkt mich
eher, als dass sie mich drueckt."
"Du hast auch dein Hut an dem Arme getragen", sagte die Mutter.
"Ja, das habe ich getan", antwortete Natalie, "aber du weisst, dass ich
dichte Haare habe, auf dieselben legt sich die Sonnenwaerme wohltaetig,
wohltaetiger als wenn ich den Hut auf dem Haupte trage, der so heiss
macht, und die freie Luft geht angenehm, wenn man das Haupt entbloesst
hat, an der Stirne und an den Haaren dahin."
Ich betrachtete Natalie, da sie so sprach. Ich erkannte erst jetzt,
warum sie mir immer so merkwuerdig gewesen ist, ich erkannte es, seit
ich die geschnittenen Steine meines Vaters gesehen hatte. Mir erschien
es, Natalie sehe einem der Angesichter aehnlich, welche ich auf
den Steinen erblickt hatte, oder vielmehr in ihren Zuegen war das
Nehmliche, was in den Zuegen auf den Angesichtern der geschnittenen
Steine ist. Die Stirne, die Nase, der Mund, die Augen, die Wangen
hatten genau etwas, was die Frauen dieser Steine hatten, das Freie,
das Hohe, das Einfache, das Zarte und doch das Kraeftige, welches auf
einen vollstaendig gebildeten Koerper hinweist, aber auch auf einen
eigentuemlichen Willen und eine eigentuemliche Seele. Ich blickte auf
Gustav, der noch immer neben dem Tische stand, ob ich auch an ihm
etwas Aehnliches entdecken koennte. Er war noch nicht so entwickelt, dass
sich an ihm schon das Wesen der Gestalt aussprechen konnte, die Zuege
waren noch zu rund und zu weich; aber es daeuchte mir, dass er in
wenigen Jahren so aussehen wuerde, wie die Juenglingsangesichter unter
den Helmen auf den Steinen aussehen, und dass er dann Natalien noch
mehr gleichen wuerde. Ich blickte auch Mathilden an; aber ihre Zuege
waren wieder in das Sanftere des Alters uebergegangen; ich glaubte
dessohngeachtet, vor nicht langer Zeit muesste auch sie ausgesehen haben,
wie die aelteren Frauen auf den Steinen aussehen. Natalie stammte also
gleichsam aus einem Geschlechte, das vergangen war und das anders und
selbstaendiger war als das jetzige. Ich sah lange auf die Gestalt,
welche beim Sprechen bald die Augen zu uns aufschlug, bald sie wieder
auf ihre Blumen nieder senkte. Dass ihr Haupt so antik erschien,
wie der Vater mit einem altroemischen Beiworte von seinen Steinen
sagte, mochte zum Teile auch daher kommen - wenigstens gewann ihre
Erscheinung dadurch -, dass es mit einem richtig gebildeten Halse
aus einem ganz einfachen, schmucklosen Kleide hervor sah. Keine
ueberfluessige Zutat von Stoffen und keine Kette oder sonst ein Schmuck
umgab den Hals - dieses macht nur die bloss anmutigen Angesichter noch
anmutiger -, sondern das Kleid mit einer nicht auffallenden Farbe und
mit einem nicht auffallenden Schnitte schloss den reinen Hals und ging
an der uebrigen Gestalt hernieder.
Die Mutter sah Natalien freundlich an, da sie sprach, und sagte dann:
"Der Jugend ist alles gut, der Jugend schlaegt alles zum Gedeihen
aus, sie wird wohl auch empfinden, was ihr not tut, wie das Alter
empfindet, was es bedarf - Ruhe und Stille -, und unser Freund sagt ja
auch, man soll der Natur ihr Wort reden lassen; darum magst du gehen,
wie du fuehlest, dass du es bedarfst, Natalie, du wirst kein Unrecht
begehen, wie du es ja nie tust, du wirst keine Massregel ausser Acht
lassen, die wir dir gesagt haben, und du wirst dich in deine Gedanken
nicht so vertiefen, dass du deinen Koerper vergaessest."
"Das werde ich nicht tun, Mutter", entgegnete Natalie, "aber lasse
mich gehen, es ist ein Wunsch in mir, so zu verfahren. Ich werde ihn
maessigen, wie ich kann; ich tue es um deinetwillen, Mutter, dass du dich
nicht beunruhigest. Ich moechte auf dem Felderhuegel herum gehen, dann
auch in dem Tale und in dem Walde, ich moechte auch in dem Lande gehen
und Alles darin beschauen und betrachten. Und die Ruhe schliesst dann
so schoen das Gemuet und den Willen ab."
Dass Natalie doch durch das Wandeln in der heissen Sonne unmittelbar
vor der Mittagszeit sich erhitzt habe, zeigte ihr Angesicht. Dasselbe
behielt die Roete, welche es nach dem ersten Erblassen erhalten hatte,
und verlor sie nur in geringem Masse, waehrend sie an dem Tische sass,
was doch eine geraume Zeit dauerte. Es bluehte dieses Rot wie ein
sanftes Licht auf ihren Wangen und verschoenerte sie gleichsam wie ein
klarer Schimmer.
Sie fuhr in ihrem Geschaefte mit den Blumen fort, sie legte eine nach
der andern von dem groesseren Strausse zu dem kleineren, bis der kleinere
Strauss der groessere wurde, der groessere aber sich immer verkleinerte.
Sie schied keine einzige Blume aus, sie warf nicht einmal einen
Grashalm weg, der sich eingefunden hatte; es erschien also, dass sie
weniger eine Auslese der Blumen machen, als dem alten Strausse eine
neue, schoenere Gestalt geben wollte. So war es auch, denn der alte
Strauss war endlich verschwunden und der neue lag allein auf dem
Tische.
Mathilde hatte ihr Buch immer vor sich auf dem Tische liegen und sah
nicht wieder hinein. Sie frug mich um meinen letzten Aufenthalt und um
meine letzten Arbeiten. Ich setzte ihr beides auseinander.
Gustav hatte sich indessen auch auf einen Sessel, ganz nahe an mir,
gesetzt, und hoerte aufmerksam zu.
Als die Sonne im Mittage angekommen war und nachgerade unsern ganzen
Tisch erfuellt hatte, erschien Arabella, um uns zum Mittagessen zu
rufen.
Ein Mann, der in dem Garten arbeitete, musste den Blumentopf in das
Haus tragen. Mathilde nahm das Buch und ein Arbeitskoerbchen, das neben
ihr auf dem Tische gestanden war, Natalie nahm ihren Blumenstrauss,
hing ihren Hut wieder an ihren Arm, und so gingen wir in das Haus. Die
Frauen wandelten vor uns, Gustav und ich gingen hinter ihnen.
Dass ich mich gegen meinen Gastfreund, gegen Eustach, gegen Gustav und
selbst gegen die Leute des Hauses verteidigen musste, weil ich heuer so
spaet gekommen sei, nahm mich nicht Wunder, da ich immer so freundlich
hier aufgenommen worden war, und da man sich beinahe daran gewoehnt
hatte, dass ich alle Sommer in das Rosenhaus komme, wie ja auch mir
diese Besuche zur Gewohnheit geworden waren.
Mein Gastfreund und ich sprachen von den Dingen, welche ich im Laufe
des heurigen Sommers unternommen hatte, so wie er mir auch in den
ersten Tagen alles zeigte, was in dem Rosenhause geschah und was sich
in meiner Abwesenheit veraendert hatte.
Ich sah, dass die Zeit der Rosenbluete nicht so lange dauern werde,
weil ich ja auch nicht zu ihrem ersten Anfange, sondern etwas spaeter
gekommen war.
Die Bilder gaben mir wieder eine suesse Empfindung, und die hohe Gestalt
auf der Treppe trat mir immer naeher, seit ich die geschnittenen Steine
gesehen hatte und seit ich wusste, dass etwas unter den Lebenden wandle,
das aehnlich sei. Ich ging mit Gustav oder allein oefter in der Gegend
herum.
Eines Nachmittages waren wir in dem Rosenzimmer. Mathilde sprach
recht freundlich von verschiedenen Gegenstaenden des Lebens, von den
Erscheinungen desselben, wie man sie aufnehmen muesse und wie sie in
dem Laufe der Jahre sich abloesen. Mein Gastfreund antwortete ihr. Bei
dieser Gelegenheit sah ich erst, wie zart und schoen fuer das Zimmer
gesorgt worden war; denn die vier an Groesse wie an Rahmen gleichen
Gemaelde, die in demselben hingen, waren trotz ihrer Kleinheit bei
Weitem das Herrlichste und Ausserordentlichste, was es an Gemaelden im
Rosenhause gab. Ich hatte mein Urteil doch schon so weit gebildet, um
bei dem grossen Unterschiede, der da waltete, das einsehen zu koennen.
Doch leitete ich auch meinen Gastfreund auf den Gegenstand, und er
gab meine Wahrnehmung, freilich in sehr bescheidenen Ausdruecken, weil
Mathilde zugegen war, zu. Wir besahen, nachdem das Gespraech eine
Wendung genommen hatte, die Bilder und machten uns auf das Zarte,
Liebliche und Hohe derselben aufmerksam.
Besuche, wie gewoehnlich zur Rosenzeit, kamen auch heuer; aber ich
mischte mich weniger als etwa in frueheren Jahren unter die Leute.
Natalie ging wirklich, wie ich jetzt selber wahrnahm, in diesem Sommer
mehr als in vergangenen im Garten und in der Gegend herum, sie ging
viel weiter und ging auch oefter allein. Sie ging nicht bloss bei dem
grossen Kirschbaume oefter in das Freie und ging dort zwischen den
Saaten herum, sondern sie ging auch geradewegs ueber den Huegel hinab zu
der Strasse, oder sie ging in den Meierhof oder laengs der Huegel dahin,
oder sie ging ein Stueck auf dem Wege nach dem Inghofe. Wenn sie
zurueckgekehrt war, sass sie in ihrem Lehnstuhle und blickte auf das,
was vor ihr oder in ihrer Umgebung geschah.
Eines Tages, da ich selber einen weiten Weg gemacht hatte und gegen
Abend in das Rosenhaus zurueck kehrte, sah ich, da ich von dem
Erlenbache hinauf eine kuerzere Richtung eingeschlagen hatte, auf
blossem Rasen zwischen den Feldern gegangen, auf der Hoehe angekommen
war und nun gegen die Felderrast zuging, auf dem Baenklein, das unter
der Esche derselben steht, eine Gestalt sitzen. Ich kuemmerte mich
nicht viel um sie und ging meines Weges, welcher gerade auf den Baum
zufuehrte, weiter. Ich konnte, wie nahe ich auch kam, die Gestalt nicht
erkennen; denn sie hatte nicht nur den Ruecken gegen mich gekehrt,
sondern war auch durch den groessten Teil des Baumstammes gedeckt. Ihr
Angesicht blickte nach Sueden. Sie regte sich nicht und wendete sich
nicht. So kam ich fast dicht gegen sie heran. Sie musste nun meinen
Tritt im Grase oder mein Anstreifen an das Getreide gehoert haben; denn
sie erhob sich ploetzlich, wendete sich um, damit sie mich saehe, und
ich stand vor Natalien. Kaum zwei Schritte waren wir von einander
entfernt. Das Baenklein stand zwischen uns. Der Baumstamm war jetzt
etwas seitwaerts. Wir erschraken beide. Ich hatte nehmlich nicht - auch
nicht im Entferntesten - daran gedacht, dass Natalie auf dem Baenklein
sitzen koenne, und sie musste erschrocken sein, weil sie ploetzlich
Schritte hinter sich gehoert hatte, wo doch kein Weg ging, und weil
sie, da sie sich umwendete, einen Mann vor sich stehen gesehen hatte.
Ich musste annehmen, dass sie nicht gleich erkannt habe, dass ich es sei.
Ein Weilchen standen wir stumm gegenueber, dann sagte ich: "Seid
ihr es, Fraeulein, ich hatte nicht gedacht, dass ich euch unter dem
Eschenbaume sitzend finden wuerde."
"Ich war ermuedet", antwortete sie, "und setzte mich auf die Bank, um
zu ruhen. Auch duerfte es wohl an der Zeit spaeter geworden sein, als
man gewohnt ist, mich nach Hause kommen zu sehen."
"Wenn ihr ermuedet seid", sagte ich, "so will ich nicht Ursache sein,
dass ihr steht, ich bitte, setzet euch, ich will, so schnell ich kann,
durch die Felder und den Garten eilen und euch Gustav herauf senden,
dass er euch nach Hause begleite."
"Das wird nicht noetig sein", erwiderte sie, "es ist ja noch nicht
Abend, und selbst wenn es Abend waere, so droht wohl nirgends
ringsherum eine Gefahr. Ich bin schon viel weiter allein gegangen, ich
bin allein nach Hause zurueckgekehrt, meine Mutter und unser Gastfreund
haben deshalb keine Besorgnisse gehabt. Heute bin ich bis auf dem
Raitbuehel bei dem roten Kreuze gewesen und bin von dort zu der Bank
hieher zurueck gegangen."
"Das ist ja fast ueber eine Stunde Weges", sagte ich.
"Ich weiss nicht, wie lange ich gegangen bin", antwortete sie, "ich
ging zwischen den Feldern hin, auf denen die ungeheure Menge des
Getreides steht, ich ging an manchem Strauche hin, den der Rain
enthaelt, ich ging an manchem Baume vorbei, der in dem Getreide steht,
und kam zu dem roten Kreuze, das aus den Saaten empor ragt."
"Wenn ich sehr gut gehe", sagte ich, "so brauche ich von hier bis zu
dem roten Kreuze eine Stunde."
"Ich habe, wie ich sagte, die Zeit nicht gezaehlt", entgegnete sie,
"ich bin von hier zu dem Kreuze gegangen, und bin von dem Kreuze
wieder hieher zurueck gekehrt."
Waehrend dieser Worte war ich aus der ungefuegen Stellung im Grase
hinter dem Baenklein auf den freien Raum herueber getreten, der sich vor
dem Baume ausbreitet, Natalie hatte eine leichte Bewegung gemacht und
sich wieder auf das Baenkchen gesetzt.
"Nach einem solchen Gange beduerft ihr freilich der Ruhe", sprach ich.
"Es ist auch nicht gerade deswillen", antwortete sie, "weshalb ich
diese Bank suchte. So ermuedet ich bin, so koennte ich wohl noch recht
gut den Weg durch die Felder und den Garten nach Hause, ja noch einen
viel weiteren machen; aber es gesellte sich zu dem koerperlichen
Wunsche noch ein anderer."
"Nun?"
"Auf diesem Platze ist es schoen, das Auge kann sich ergehen, ich bin
bei meinen Gedanken, ich brauche diese Gedanken nicht zu unterbrechen,
was ich doch tun muss, wenn ich zu den Meinigen zurueck kehre."
"Und darum ruhet ihr hier?"
"Darum ruhe ich hier."
"Seid ihr von eurer Kindheit an gerne allein in den Feldern gegangen?"
"Ich erinnere mich des Wunsches nicht", antwortete sie, "wie es denn
ueberhaupt einige Zeitabschnitte in meiner Kindheit gibt, an welche
ich mich nicht genau erinnern kann, und da der Wunsch in meinem
Gedaechtnisse nicht gegenwaertig ist, so wird auch die Tatsache nicht
gewesen sein, obwohl es wahr ist, dass ich als Kind lebhafte Bewegungen
sehr geliebt habe."
"Und jetzt fuehrt euch eure Neigung oefter in das Freie?" fragte ich.
"Ich gehe gerne herum, wo ich nicht beengt bin", antwortete sie, "ich
gehe zwischen den Feldern und den wallenden Saaten, ich steige auf die
sanften Huegel empor, ich wandere an den blaetterreichen Baeumen vorueber
und gehe so fort, bis mich eine fremde Gegend ansieht, der Himmel ueber
derselben gleichsam ein anderer ist und andere Wolken hegt. Im Gehen
sinne und denke ich dann. Der Himmel, die Wolken darin, das Getreide,
die Baeume, die Gestraeuche, das Gras, die Blumen stoeren mich nicht.
Wenn ich recht ermuedet bin und auf einem Baenklein wie hier oder auf
einem Sessel in unserem Garten oder selbst auf einem Sitze in unserem
Zimmer ausruhen kann, so denke ich, ich werde nun nicht wieder so weit
gehen. - Und wo seid denn ihr gewesen?" fragte sie, nachdem sie sich
unterbrochen und ein Weilchen geschwiegen hatte.
"Ich bin nach dein Essen von dem Erlenbache zu dem Teiche hinauf
gegangen", antwortete ich, "dann durch das Gehoelze auf den Balkhuegel
empor, von dem man die Gegend von Landegg sieht und den Turm seiner
Pfarrkirche erblicken kann. Von dem Balkhuegel bin ich dann noch auf
den Hoehen fortgegangen, bis ich zu den Rohrhaeusern gekommen bin. Da
ich dort schon zwei starke Wegstunden von dem Asperhofe entfernt
war, schlug ich den Rueckweg ein. Ich hatte im Hingehen viele Zeit
verbraucht, weil ich haeufig stehen geblieben war und verschiedene
Dinge angesehen hatte, deshalb waehlte ich nun einen kuerzeren Rueckgang.
Ich ging auf Feldpfaden und mannigfaltigen Kirchenwegen durch die
Felder, bis ich zwischen Dernhof und Ambach wieder zu dem Seewalde und
zu dem Erlenbache herabkam. Von dort aus waren mir Raine bekannt, die
am kuerzesten auf die Felderrast herueber fuehrten. Obwohl auf ihnen kein
Weg fuehrt, ging ich doch auf ihrem Grase fort und kam so gegen euch
herzu."
"Da muesst ihr ja recht muede sein", sagte sie und machte eine Bewegung
auf dem Baenklein, um mir Platz neben sich zu verschaffen.
Ich wusste nicht recht, wie ich tun sollte, setzte mich aber doch an
ihrer Seite nieder.
"Habt ihr etwa ein Buch mit euch genommen, um auf dieser Bank zu
lesen", fragte ich, "oder habt ihr nicht Blumen gepflueckt?"
"Ich habe kein Buch mitgenommen und habe keine Blumen gepflueckt",
antwortete sie, "ich kann nicht lesen, wenn ich gehe, und kann auch
nicht lesen, wenn ich im freien Felde auf einer Bank oder auf einem
Steine sitze."
Wirklich sah ich auch gar nichts neben ihr, sie hatte kein Koerbchen
oder sonst irgend etwas, das Frauen gerne mit sich zu tragen pflegen,
um Gegenstaende hinein legen zu koennen; sie sass muessig auf dem Baenklein,
und ihr Strohhut, den sie von dem Haupte genommen hatte, lag neben ihr
in dem Grase.
"Die Blumen pfluecke ich", fuhr sie nach einem Weilchen fort, "wenn sie
bei Gelegenheit an dem Wege stehen. Hier herum ist meistens der Mohn,
der aber wenig zu Straeussen passt, weil er gerne die Blaetter fallen
laesst, dann sind die Kornblumen, die Wegnelken, die Glocken und andere.
Oft pfluecke ich auch keine Blumen, wenn sie noch so reichlich vor mir
stehen."
Mir war es seltsam, dass ich mit Natalien allein unter der Esche der
Felderrast sitze. Ihre Fussspitzen ragten in den Staub der vor uns
befindlichen offenen Stelle hinaus, und der Saum ihrer Kleider
beruehrte denselben Staub. In der Krone der Esche ruehrte sich kein
Blaettchen; denn die Luft war still. Weit vor uns hinabgehend und weit
zu unserer Rechten und Linken hin sowie rueckwaerts war das gruene, der
Reife entgegen harrende Getreide. Aus dem Saume desselben, der uns am
naechsten war, sahen uns der rote Mohn und die blauen Kornblumen an.
Die Sonne ging dem Untergange zu und der Himmel glaenzte an der Stelle,
gegen die sie ging, fast weissgluehend ueber die Saatfelder herueber,
keine Wolke war und das Hochgebirge stand rein und scharf geschnitten
an dem suedlichen Himmel.
"Und habt ihr bei dem roten Kreuze auch ein wenig geruht?" fragte ich
nach einer Weile.
"Bei dem roten Kreuze habe ich nicht geruht", antwortete sie,
"man kann dort nicht ruhen, es steht fast unter lauter Halmen des
Getreides, ich lehnte mich mit einem Arme an seinen Stamm und sah
auf die Gegend hinaus, auf die Felder, auf die Obstbaeume und auf die
Haeuser der Menschen, dann wendete ich mich wieder um und schlug den
Rueckweg zu diesem Baenklein ein."
"Wenn heiterer Himmel ist und die Sonne scheint, dann ist es in der
Weite schoen", sagte ich.
"Es ist wohl schoen", erwiderte sie, "die Berge gehen wie eine Kette
mit silbernen Spitzen dahin, die Waelder sind ausgebreitet, die Felder
tragen den Segen fuer die Menschen, und unter all den Dingen liegt das
Haus, in welchem die Mutter und der Bruder und der vaeterliche Freund
sind; aber ich gehe auch an bewoelkten Tagen auf den Huegel oder an
solchen, an denen man nichts deutlich sehen kann. Als Bestes bringt
der Gang, dass man allein ist, ganz allein, sich selber hingegeben. Tut
ihr bei euren Wanderungen nicht auch so, und wie erscheint denn euch
die Welt, die ihr zu erforschen trachtet?"
"Es war zu verschiedenen Zeiten verschieden", antwortete ich; "einmal
war die Welt so klar als schoen, ich suchte Manches zu erkennen,
zeichnete Manches und schrieb mir Manches auf. Dann wurden alle Dinge
schwieriger, die wissenschaftlichen Aufgaben waren nicht so leicht zu
loesen, sie verwickelten sich und wiesen immer wieder auf neue Fragen
ein. Dann kam eine andre Zeit; es war mir, als sei die Wissenschaft
nicht mehr das Letzte, es liege nichts daran, ob man ein Einzelnes
wisse oder nicht, die Welt erglaenzte wie von einer innern Schoenheit,
die man auf ein Mal fassen soll, nicht zerstueckt, ich bewunderte sie,
ich liebte sie, ich suchte sie an mich zu ziehen und sehnte mich nach
etwas Unbekanntem und Grossem, das da sein muesse."
Sie sagte nach diesen Worten eine Zeit hindurch nichts; dann aber
fragte sie: "Und ihr werdet in diesem Sommer noch einmal in euren
Aufenthaltsort zurueck kehren, den ihr euch jetzt zu eurer Arbeit
auserkoren habt?"
"Ich werde in denselben zurueck kehren", antwortete ich.
"Und den Winter bringt ihr bei euren lieben Angehoerigen zu?" fragte
sie weiter.
"Ich werde ihn wie alle bisherigen in dem Hause meiner Eltern
verleben", sagte ich.
"Und seid ihr in dem Winter im Sternenhofe?" fragte ich nach einiger
Zeit.
"Wir haben ihn frueher zuweilen in der Stadt zugebracht", antwortete
sie, "jetzt sind wir schon einige Male in dem Sternenhofe geblieben,
und zwei Mal haben wir eine Reise gemacht."
"Habt ihr ausser Klotilden keine andere Schwester?" fragte sie, nachdem
wir wieder ein Weilchen geschwiegen hatten.
"Ich habe keine andere", erwiderte ich, "wir sind nur zwei Kinder, und
das Glueck, einen Bruder zu besitzen, habe ich gar nie kennen gelernt."
"Und mir ist wieder das Glueck, eine Schwester zu haben, nie zu Teil
geworden", antwortete sie.
Die Sonne war schon untergegangen, die Daemmerung trat ein, und wir
waren immer sitzen geblieben. Endlich stand sie auf und langte nach
ihrem Hute, der in dem Grase lag. Ich hob denselben auf und reichte
ihn ihr dar. Sie setzte ihn auf und schickte sich zum Fortgehen an.
Ich bot ihr meinen Arm. Sie legte ihren Arm in den meinigen, aber
so leicht, dass ich ihn kaum empfand. Wir schlugen nicht den Weg auf
den Anhoehen hin zu dem Gartenpfoertchen ein, das in der Naehe des
Kirschbaumes ist, sondern wir gingen auf dem Pfade, der von der
Felderrast zwischen dem Getreide abwaerts laeuft, gegen den Meierhof
hinab. Wir sprachen nun gar nicht mehr. Ihr Kleid fuehlte ich sich
neben mir regen, ihren Tritt fuehlte ich im Gehen. Ein Waesserlein,
das unter Tags nicht zu vernehmen war, hoerte man rauschen, und der
Abendhimmel, der immer goldener wurde, flammte ueber uns und ueber den
Huegeln der Getreide und um manchen Baum, der beinahe schwarz da stand.
Wir gingen bis zu dem Meierhofe. Von demselben gingen wir ueber die
Wiese, die zu dem Hause meines Gastfreundes fuehrt, und schlugen den
Pfad zu dem Gartenpfoertchen ein, das in jener Richtung in der Gegend
der Bienenhuette angebracht ist. Wir gingen durch das Pfoertchen in den
Garten, gingen an der Bienenhuette hin, gingen zwischen Blumen, die da
standen, zwischen Gestraeuch, das den Weg saeumte, und endlich unter
Baeumen dahin und kamen in das Haus. Wir gingen in den Speisesaal, in
welchem die Andern schon versammelt waren. Natalie zog hier ihren Arm
aus dem meinigen. Man fragte uns nicht, woher wir gekommen waeren und
wie wir uns getroffen haetten. Man ging bald zu dem Abendessen, da die
Zeit desselben schon heran gekommen war.
Waehrend des Essens sprachen Natalie und ich fast nichts.
Als wir uns im Speisesaale getrennt hatten und als jedes in sein
Zimmer gegangen war, loeschte ich die Lichter in dem meinigen sogleich
aus, setzte mich in einen der gepolsterten Lehnstuehle und sah auf
die Lichttafeln, welche der inzwischen heraufgekommene Mond auf die
Fussboeden meiner Zimmer legte. Ich ging sehr spaet schlafen, las aber
nicht mehr, wie ich es sonst in jeder Nacht gewohnt war, sondern blieb
auf meinem Lager liegen und konnte sehr lange den Schlummer nicht
finden.
In den Tagen, die auf jenen Abend folgten, schien es mir, als weiche
mir Natalie aus. Die Zithern hoerte ich wieder in ein paar Naechten, sie
wurden sehr gut gespielt, was ich jetzt mehr empfinden und beurteilen
konnte als frueher. Ich sprach aber nichts darueber, und noch weniger
sagte ich etwas davon, dass ich selber in diesem Spiele nicht mehr
so unerfahren sei. Meine Zither hatte ich nie in das Rosenhaus
mitgenommen.
Endlich nahte die Zeit, in welcher man in den Sternenhof gehen sollte.
Mathilde und Natalie reisten in Begleitung ihrer Dienerin frueher
dahin, um Vorkehrungen zu treffen und die Gaeste zu empfangen. Wir
sollten spaeter folgen.
In der Zeit zwischen der Abreise Mathildens und der unsrigen tat mein
Gastfreund eine Bitte an mich. Sie bestand darin, dass ich ihm in dem
kommenden Winter eine genaue Zeichnung von den Vertaeflungen anfertigen
moechte, welche ich meinem Vater aus dem Lauterthale gebracht hatte
und welche von ihm in die Pfeiler des Glashaeuschens eingesetzt
worden waren. Die Zeichnung moechte ich ihm dann im naechsten Sommer
mitbringen. Ich fuehlte mich sehr vergnuegt darueber, dass ich dem Manne,
zu welchem mich eine solche Neigung zog und dem ich so viel verdankte,
einen Dienst erweisen konnte und versprach, dass ich die Zeichnung so
genau und so gut machen werde, als es meine Kraefte gestatten.
An einem der folgenden Tage fuhren mein Gastfreund, Eustach, Roland,
Gustav und ich in den Sternenhof ab.
Das Fest
Ein Fest in dem Sinne, wie man das Wort gewoehnlich nimmt, war es
nicht, was in dem Sternenhofe vorkommen sollte, sondern es waren
mehrere Menschen zu einem gemeinschaftlichen Besuche eingeladen
worden, und diese Einladungen hatte man auch nicht eigens und
feierlich, sondern nur gelegentlich gemacht. Uebrigens stand es in
Hinsicht des Sternenhofes so wie des Asperhofes jedem Freunde und
jedem Bekannten frei, zu was immer fuer einer Zeit einen Besuch machen
und eine Weile zu bleiben.
Als wir am zweiten Tage nach unserer Abreise von dem Asperhofe - wir
hatten einen kleinen Umweg gemacht - in dem Sternenhofe eintrafen,
waren schon mehrere Menschen versammelt. Fremde Diener, zuweilen
seltsam gekleidet, gingen, wie sich das allemal findet, wenn mehrere
Familien zusammen kommen, in der Naehe des Schlosses herum oder auf dem
Wege zwischen dem Meierhofe und dem Schlosse hin und her. Man hatte
einen Teil der Waegen und Pferde in dem Meierhofe untergebracht. Wir
fuhren bei dem Tore hinein, und unser Wagen hielt im Hofe. Ich hatte
schon, da wir den Huegel hinan fuhren und uns dem Schlosse naeherten,
einen Blick auf dessen vorderste Mauer geworfen, an der jetzt die
blossen Steine ohne Tuenche sichtbar waren, und hatte mein Urteil
schnell gefasst. Mir gefiel die neue Gestalt um Ausserordentliches
besser als die fruehere, an welche ich jetzt kaum zurueck denken mochte.
Meine Begleiter aeusserten sich waehrend des Hinzufahrens nicht, ich
sagte natuerlich auch nichts. Im Hofe naeherten sich Diener, welche
unser Gepaecke in Empfang nehmen und Wagen und Pferde unterbringen
sollten. Der Hausverwalter fuehrte uns die grosse Treppe hinan und
geleitete uns in das Gesellschaftszimmer. Dasselbe war eines von jenen
Zimmern, die in einer Reihe fortlaufen und mit den neuen, im Asperhofe
verfertigten Geraeten versehen sind. Die Tueren aller dieser Zimmer
standen offen. Mathilde sass an einem Tische und eine aeltliche Frau
neben ihr. Mehrere andere Frauen und Maedchen so wie aeltere und juengere
Maenner sassen an verschiedenen Stellen umher. Auf dem unscheinbarsten
Platze sass Natalie. Mathilde so wie Natalie waren gekleidet, wie
die Frauen und Maedchen von den besseren Staenden gekleidet zu sein
pflegten; aber ich konnte doch nicht umhin, zu bemerken, dass ihre
Kleider weit einfacher gemacht und verziert waren als die der anderen
Frauen, dass sie aber viel besser zusammen stimmten und ein edleres
Gepraege trugen, als man dies sonst findet. Mir war, als saehe ich den
Geist meines Gastfreundes daraus hervorblicken, und wenn ich an hoehere
Kreise unserer Stadt, zu denen ich Zutritt hatte, dachte, so schien es
mir auch, dass gerade dieser Anzug derjenige vornehme sei, nach welchem
die Andern strebten. Mathilde stand auf und verbeugte sich freundlich
gegen uns. Das taten die Andern auch, und wir taten es gegen Mathilde
und gegen die Andern. Hierauf setzte man sich wieder, und der
Hausverwalter und zwei Diener sorgten, dass wir Sitze bekamen. Ich
setzte mich an eine Stelle, welche sehr wenig auffaellig war. Die Sitte
des gegenseitigen Vorstellens der Personen, wie sie fast ueberall
vorkoemmt, scheint in dem Rosenhause und in dem Sternenhofe nicht
strenge gebraeuchlich sein; denn ich wusste schon mehrere Faelle, in
denen es unterblieben war; besonders wenn sich mehrere Menschen
zusammen gefunden hatten. Bei der gegenwaertigen Gelegenheit unterblieb
es auch. Man ueberliess es eher den Bemuehungen des Einzelnen, sich die
Kenntnis ueber eine Person zu verschaffen, an der ihm gelegen war, oder
man ueberliess es eher dem Zufalle, miteinander bekannt zu werden, als
dass man bei jedem neuen Ankoemmlinge das Verzeichnis der Anwesenden
gegen ihn wiederholt haette. Zudem schienen sich hier die meisten
Personen zu kennen. Mich wollte man wahrscheinlich aus dem Spiele
lassen, weil ich nie, wenn fremde Menschen in den Asperhof gekommen
waren, gefragt hatte, wer sie seien. Gustav benahm sich hier auch
beinahe wie ein Fremder. Nachdem er sich gegen seine Mutter sehr artig
verbeugt, in die allgemeine Verbeugung gegen die Andern eingestimmt
und Natalien zugelaechelt hatte, setzte er sich bescheiden auf einen
abgelegenen Platz und hoerte aufmerksam zu. Mein Gastfreund und Eustach
so wie auch Roland waren in den gebraeuchlichen Besuchkleidern, ich
ebenfalls. Mir kamen diese Maenner in ihren schwarzen Kleidern fremder
und fast geringer vor als in ihrem gewoehnlichen Hausanzuge.
Mein Gastfreund war bald mit verschiedenen Anwesenden im Gespraeche.
Allgemein wurde von allgemeinen und gewoehnlichen Dingen geredet, und
das Gespraech ging bald zwischen einzelnen, bald zwischen mehreren
Personen hin und wider. Ich sprach wenig und fast ausschliesslich nur,
wenn ich angeredet und gefragt wurde. Ich sah auf die Versammlung vor
mir oder auf manchen Einzelnen oder auf Natalien. Roland rueckte einmal
seinen Stuhl zu mir und knuepfte ein Gespraech ueber Dinge an, die uns
beiden nahe lagen. Wahrscheinlich tat er es, weil er sich ebenso
vereinsamt unter den Menschen empfand wie ich.
Nachdem man den Nachmittagstee, bei dem man eigentlich versammelt war,
verzehrt und sich schon zum groessten Teile erhoben hatte und in Gruppen
zusammen getreten war, wurde der Vorschlag gemacht, sich in den Garten
zu begeben und dort einen Spaziergang zu machen. Der Vorschlag fand
Beifall. Mathilde erhob sich und mit ihr die aelteren Frauen. Die
juengeren waren ohnehin schon gestanden. Ein schoener alter Herr,
wahrscheinlich der Gatte der aeltlichen Frau, welche neben Mathilden
gesessen war, bot der Hausfrau den Arm, um sie ueber die Treppe hinab
zu geleiten, dasselbe tat mein Gastfreund mit der aeltlichen Frau.
Einige Paare entstanden noch auf diese Weise, das Andere ging
gemischt. Ich blieb stehen und liess die Leute an mir vorueber gehen, um
mich nicht vorzudraengen. Natalie ging mit einem schoenen Maedchen an mir
vorueber und sprach mit demselben, als sie an mir vorbei ging. Ich war,
mit Roland und Gustav, der letzte, welcher ueber die Treppe hinab ging.
Im Garten war es so, wie es bei einer groesseren Anzahl von Gaesten
in aehnlichen Faellen immer zu sein pflegt. Man bewegte sich langsam
vorwaerts, man blieb bald hier, bald da stehen, betrachtete dieses oder
jenes, besprach sich, ging wieder weiter, loeste sich in Teile und
vereinigte sich wieder. Ich achtete auf alles, was gesprochen wurde,
gar nicht. Natalie sah ich mit demselben Maedchen gehen, mit dem sie an
mir in dem Gesellschaftszimmer vorueber gegangen war, dann gesellten
sich noch ein paar hinzu. Ich sah sie mit ihrem lichtbraunen
Seidenkleide zwischen andere hervorschimmern, dann sah ich sie wieder
nicht, dann sah ich sie abermals wieder. Gebuesche deckten sie dann
ganz. Die jungen Maenner, welche ich in der Gesellschaft getroffen
hatte, gingen bald mit dem aelteren Teile, bald mit dem juengeren.
Roland und Gustav gesellten sich zu mir, und wenn Gustav fragte, wie
es dort aussehe, wo ich jetzt gearbeitet habe, ob hohe Berge sind,
weite Taeler, und ob es so freundlich ist wie am Lautersee, und ob ich
noch weiter vordringen wolle, und in welche Berge ich dann komme: so
sprach Roland wieder von den Anwesenden und nannte mir manchen und
erzaehlte mir von ihren Verhaeltnissen. Durch seine Reisen in dem Lande,
durch seinen Aufenthalt in Kirchen, Kapellen, verfallenen Schloessern
und allen bedeutenderen Orten erfuhr er mehr, als irgend ein Anderer
erfahren konnte, und durch sein lebhaftes Wesen und sein gutes
Gedaechtnis wurde er zur Erforschung angeleitet und war im Stande, das
Erforschte zu bewahren. Die aeltliche Frau, welche wir bei unserem
Eintritte in das Gesellschaftszimmer neben Mathilden sitzen gesehen
hatten, war die Besitzerin einem grossen Anwesens, etwa eine halbe
Tagereise von dem Sternenhofe entfernt. Ihr Name war Tillburg, wie
auch ihr Schloss hiess. Sie hatte sich mit allen Annehmlichkeiten und
mit allem, was praechtig war, umringt. Ihre Gewaechshaeuser waren die
schoensten im Lande, ihr Garten enthielt alles, was in der Zeit
als vorzueglich auftauchte und wurde von zwei Gaertnern und einem
Obergaertner nebst vielen Gehilfen besorgt, ihre Zimmer wiesen Geraete
und Stoffe von allen Hauptstaedten der Welt auf, und ihre Waegen waren
das Bequemste und Zierlichste, was man in dieser Art hatte. Gemaelde,
Buecher, Zeitschriften, kleine Spielereien waren in ihren Wohnzimmern
zerstreut. Sie machte Besuche in der Umgegend und empfing auch solche
gerne. Im Winter ist sie selten in ihrem Schlosse und immer nur auf
kurze Zeit, sie macht gerne Reisen und haelt sich besonders oft in
suedlichen Gegenden auf, von denen sie Merkwuerdigkeiten zurueckbringt.
Sie war die einzige Tochter und Erbin ihrer Eltern, ein Bruder, den
sie hatte, war in der zartesten Jugend gestorben. Der Mann mit dem
freundlichen Angesichte, welcher Mathilden aus dem Saale gefuehrt
hatte, war ihr Gatte. Er war ebenfalls das einzige Kind reicher
Eltern, die Verbindung hatte sich ergeben, und so waren zwei grosse
Vermoegen in eins zusammen gekommen. Er teilte nicht gerade die
Liebhabereien seiner Gattin, war ihnen aber auch nicht entgegen. Er
hatte keine Leidenschaften, war einfach, machte seiner Gattin, die er
sehr liebte, gerne eine Freude und fand in den Reisen derselben, auf
denen er sie begleitete, halb sein eigenes Vergnuegen, halb eines, weil
er das ihrige teilte. Er verwaltete aber von jeher die Besitzungen
sehr einsichtig. Die Tillburg stammt von ihm. Einer von den jungen
Maennern, die im Gesellschaftszimmer waren, der schlanke Mann mit den
lebhaften dunkeln Augen ist der Sohn, und zwar das einzige Kind dieser
Eheleute, er ist gut erzogen worden, und man kann nicht wissen, ob von
Tillburg her nicht zartere Beziehungen zu dem Sternenhofe gewuenscht
werden.
Gustav machte bei diesen Worten eine leichte Seitenbewegung gegen
Roland, sah ihn an, sagte aber nichts.
Ich erinnerte mich der Tillburg, die ich sehr gut kannte, aber nie
betreten hatte. Ich war oefter in ihrer Naehe vorueber gekommen und hatte
die vier runden Tuerme an ihren vier Ecken, denen man in der neueren
Zeit eine lichte Farbe gegeben hatte, eine Tuenche, wie man sie gerade
jetzt von dem Sternenhofe wieder weg haben will, nicht angenehm
empfunden, wie sie sich so scharf von dem Gruen der nahen Baeume und dem
Blau der fernen Berge und des Himmels abhoben, welchen letzteren sie
beinahe finster machten.
"Der kleinere Mann mit den weissen Haaren, der in der Naehe des
mittleren Fensters gesessen und oefter aufgestanden war", fuhr Roland
fort, "ist der Besitzer von Hassberg. Sein Vater hatte die Besitzung
erst gekauft und sie urspruenglich fuer einen juengeren Sohn bestimmt, da
der aeltere das Stammgut Weissbach erben sollte; allein der juengere Sohn
und der Vater starben, und so hatte der aeltere Weissbach und Hassberg.
Er uebergab nach einiger Zeit seinem Sohne das Stammgut und zog sich
nach Hassberg zurueck. Er ist einer jener Maenner, die immer erfinden und
bauen muessen. In Weissbach hat er schon mehrere Bauten aufgefuehrt.
In Hassberg richtete er eine Musterwirtschaft ein, er verbesserte
die Felder und Wiesen und friedigte sie mit schoenen Hecken ein, er
errichtete einen auserlesenen Viehstand und fuehrte in geschuetzten
Lagen den Hopfenbau ein, der sich unter seine Nachbarn verbreitete
und eine Quelle des Wohlstandes eroeffnete. Er daemmte dem Ritflusse
Wiesen ab, er mauerte die Ufer des Muehlbaches heraus, er baute eine
Flachsroestanstalt, baute neue Staelle, Scheuern. Trockenhaeuser,
Bruecken, Stege, Gartenhaeuser, und aendert im Innern des Schlosses
bestaendig um. Er ist im Laufe des ganzen Tages mit Nachschauen und
Anordnen beschaeftigt, zeichnet und entwirft in der Nacht, und wenn
irgendwo im Lande ueber Fuehrung einer Strasse oder Anlegung eines
Bewirtschaftungsplanes oder Errichtung eines Gebaeudes Rat gepflogen
wird, so wird er gerufen, und er macht bereitwillig die Reisen auf
seine eigenen Kosten. Selbst bei der Regierung des Landes ist sein
Wort nicht ohne Bedeutung. Die Frau mit dem aschgrauen Kleide ist
seine Gattin, und die zwei Maedchen, welche vor Kurzem mit Natalie
gegen die Eichen zugingen, sind seine Toechter. Frau und Toechter reden
ihm zu, er solle sich mehr Ruhe goennen, da er schon alt wird, er sagt
immer: >Das ist das Letzte, was ich baue<; allein ich glaube, den
letzten Plan zu einem Baue wird er auf seinem Totenbette machen. Unser
Freund haelt in diesen Dingen grosse Stuecke auf ihn."
Da wir um die Ecke eines Gebuesches bogen und gegen die Eichen,
welche an der Eppichwand stehen, zugingen, sahen wir wieder eine
Menschengruppe vor uns. Roland, der einmal im Zuge war, sagte: "Der
Mann in dem feinen schwarzen Anzuge, vor dem seine Gattin in dem
nelkenbraunen Seidenkleide geht, ist der Freiherr von Wachten, dessen
Sohn hier ebenfalls zugegen ist, ein Mann von mittelgrosser Gestalt,
der im Gesellschaftszimmer so lange am Eckfenster gestanden war, ein
junger Mann von vielen angenehmen Eigenschaften, der aber zu oft in
den Sternenhof koemmt, als dass es sich durch blossen Zufall erklaeren
liesse.
Der Freiherr verwaltet seine Besitzungen gut, er hat keine besondere
Vorliebe, haelt alles und jedes in der ihm zugehoerigen Ordnung und wird
immer reicher. Da er nur den einzigen Sohn und keine Tochter hat, so
wird die kuenftige Gattin seines Sohnes eine sehr ansehnliche und sehr
reiche Frau. Die Familie lebt im Winter haeufig in der Stadt. Die Gueter
liegen etwas zerstreut. Thondorf mit den schoenen Wiesen und dem grossen
Waldgarten muesst ihr ja kennen."
"Ich kenne es", antwortete ich.
"Auf dem Randek hat er ein zerfallendes Schloss", fuhr Roland fort,
"in welchem wunderschoene Tueren sind, die aus dem sechzehnten
Jahrhunderte stammen duerften. Der Verwalter raet ihm, die Tueren nicht
herzugeben, und so zerfallen sie nach und nach. Sie sind in unsern
Zeichnungsbuechern enthalten und wuerden Gemaecher, im Stile jener Zeit
gebaut und eingerichtet, sehr zieren. Sogar zu Tischen oder anderen
Dingen, falls man sie als Tueren nicht verwenden koennte, wuerden sie
sehr brauchbar sein. Ich habe auch in der sehr zerfallenen Kapelle von
Randek ausserordentlich schoene Tragsteine gezeichnet. Meistens wohnt
der Freiherr im Sommer in Wahlstein, schon ziemlich tief in den
Bergen, wo die Elm hervorstroemt."
"Ich kenne den Sitz", antwortete ich, "und kenne auch die Familie im
Allgemeinen."
"Der Mann mit den schneeweissen Haaren", sprach Roland weiter, "heisst
Sandung, er veredelt die Schafzucht, und der eine von den zwei neben
ihm gehenden Maennern ist der Besitzer des sogenannten Berghofes, ein
allgemein geachteter Mann, und der andere ist der Oberamtmann von
Landegg. Es fehlen noch die vom Inghof, dann sind mehrere Vertreter
der hier herum wohnenden Leute vorhanden. Ich teile sie, wenn ich in
meiner Liebhaberei im Lande herum reise, nach ihren Liebhabereien
in Gruppen ein, und man koennte eine Landmappe so nach diesen
Liebhabereien mit Farben zeichnen, wie ihr die Gebirge mit Farben
zeichnet, um das Vorkommen der verschiedenen Gesteine anzuzeigen."
Da wir wieder eine Wendung machten, ganz nahe an der rechten Seite
der Eppichwand, ging Mathilde mit der Frau von Tillburg auf einem
Nebenwege gegen uns hervor. Sie blieb vor uns stehen und sagte zu mir:
"Ihr habt meiner Brunnennymphe nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt
als ihr solltet; ihr zieht die Gestalt auf der Treppe unsers Freundes
zu sehr vor. Sie verdient es wohl; allein ihr muesst doch die hiesige
auch ein wenig genauer ansehen und sie mir ein wenig schoen heissen."
"Ich habe sie schoen geheissen", erwiderte ich, "und wenn meine ganz
unbedeutende Meinung etwas gilt, so soll ihr die Anerkennung gewiss
nicht entgehen."
"Wir besuchen nun ohnehin alle die Grotte", entgegnete sie.
Nach diesen Worten ging sie mit ihrer Begleiterin auf dem Hauptwege
gegen die Eppichwand vor, wir folgten. Die Anderen kamen in
verschiedenen Richtungen herzu, und man ging zu der Marmorgestalt in
der Brunnenhalle.
Einige gingen hinein, Andere blieben mehr am Eingange stehen, und man
redete ueber die Gestalt. Diese ruhte indessen in ihrer Lage, und die
Quelle rann sanft und stetig fort. Es waren nur allgemeine Dinge,
welche ueber das Bildwerk gesprochen wurden. Mir kam es fremd vor, die
geputzten Menschen in den verschiedenfarbigen Kleidern vor dem reinen,
weissen, weichen Marmor stehen zu sehen. Roland und ich sprachen
nichts.
Man entfernte sich wieder von dem Marmor, ging langsam an der
Eppichwand hin und stieg die Stufen zu der Aussicht empor. Auf dieser
verteilte man eine Zeit und ging dann gegen die Linden zurueck. Nach
Betrachtung der Linden und des schoenen Platzes unter ihnen begab
sich der Zug wieder auf den Rueckweg in das Schloss. Eustach hatte ich
beinahe die ganze Zeit nicht gesehen.
Zugleich mit uns kamen im Schlosse Waegen an, in denen die von Ingheim
und noch einige Gaeste sassen. Nachdem man sich bewillkommt hatte und
nachdem die Angekommenen sich von den ueberfluessigen Reisekleidern
befreit hatten, teilte sich, wie es bei aehnlichen Gelegenheiten stets
vorkoemmt, die Gesellschaft in Gruppen, von denen einige vor dem Hause
standen und plauderten, andere auf den Sandwegen im Rasen herumgingen,
wieder andere gegen den Meierhof wandelten. Als die Abendroete hinter
den Baeumen erschien, die in schoenen Zeilen im Westen des Schlosses die
Felder saeumten, und als ihr Gluehen immer blaesser wurde und dem Gelb
des Spaetabends Platz machte, sammelten sich die Leute wieder. Die
einen kehrten von ihrem Spaziergange, die anderen von ihrem Gespraeche,
die dritten von ihrer Betrachtung verschiedener Gegenstaende zurueck,
und man begab sich in das Speisezimmer. In demselben begann nun
ein Abend, wie sie auf dem Lande, wo man von dem Umgange mit
Seinesgleichen viel ausgeschlossener ist, zu den vergnuegtesten
gehoeren. Ich habe diese Betrachtung, da ich im Sommer immer ferne von
der Stadt war, oefter machen koennen. Da man Menschen, mit denen man
gleiche Gesinnungen und gleiche Meinungen hat, auf dem Lande viel
seltener sieht als in der Stadt, da man mit dem Raume nicht so kargen
muss wie in der Stadt, wo jede Familie nur das mit vielen Kosten
erschwingt, was sie fuer sich und naechste Angehoerige braucht, da die
Lebensmittel auf dem Lande gewoehnlich aus der ersten und unmittelbaren
Quelle bei der Hand sind, auch strenge Anforderungen hierin nicht
gemacht werden: so ist man auf dem Lande viel gastfreundlicher als in
der Stadt, und Gelegenheiten, wo man sich in einem Zimmer und um einen
Tisch versammelt, werden da viel froehlicher, ungezwungener und auch
herzliches begangen, weil man sich freut, sich wieder zu sehen, weil
man um alles fragen will, was sich an den verschiedenen Stellen, woher
die Ankoemmlinge gekommen sind, zugetragen hat, weil man die eigenen
Erlebnisse mitteilen und weil man seine Ansichten austauschen will.
Der Tisch war schon gedeckt, der Hausverwalter wies allen ihre Plaetze
an, die zur Vermeidung von dennoch moeglichen Verwirrungen noch
ueberdies durch von seiner Hand geschriebene Zettel bezeichnet waren,
und man setzte sich. Der Mann hatte gesorgt, dass solche, die sich gut
kannten, nahe zusammen kamen.
Dessohngeachtet schritt man mit der Freimuetigkeit des Landes und alter
Bekannter dazu, die Zettel noch zu verwechseln und sich gegen die
Anordnungen des Mannes zusammen zu setzen. Von der Decke des Zimmers
hing eine sanft brennende Lampe hernieder, und ausser ihr wurde die
Tafel noch durch verteilte strahlende Kerzen erhellt. Mathilde nahm
den Mittelsitz ein und richtete ihre Freundlichkeit und ihr ruhiges
Wesen gegen alle, die in ihrem Bereiche waren, und selbst gegen die
entferntesten Plaetze suchte sie ihre Aufmerksamkeit zu erstrecken.
Die bekannteren und aelteren Gaeste sassen ihr zunaechst, die juengeren
entfernter. Julie, die Tochter Ingheims mit den heiteren braunen
Augen, sass mir fast gegenueber, ihre Schwester, die blauaeugige
Apollonia, etwas weiter unten. Sie hatten sehr geschmackvolle Kleider
an, das Geschmeide, das sie trugen, haette, wie ich meinte, etwas
weniger sein sollen. Neben beiden sassen die jungen Maenner Tillburg und
Wachten. Natalie sass zwischen Eustach und Roland. Ob es so angeordnet,
ob es ihre eigene Wahl war, wusste ich nicht. Man trug ein einfaches
Mahl auf, und froehliche Gespraeche belebten es. Man sprach von den
Begebnissen der Gegend, man neckte sich mit kleinen Erlebnissen, man
teilte sich Erfahrungen mit, die man in seinem Kreise gemacht hatte,
man sprach von Buechern, die in der Gegend neu waren, und beurteilte
sie, man erzaehlte, was man im Bereiche seiner Liebhaberei Neues
erworben, was man fuer Reisen gemacht und was man fuer fernere vorhabe.
Auch auf die Geschichte des Landes kam es, auf seine Verwaltung,
auf Verbesserungen, die zu machen waeren, und auf Schaetze, die
noch ungehoben liegen. Selbst Wissenschaft und Kunst war nicht
ausgeschlossen. Mancher Scherz erheiterte die Anwesenden, und man
schien sehr vergnuegt, sich so in einen Kreis versammelt zu haben, wo
sich Neues ergab und wo man Altes wieder beleben konnte.
Nach ein paar schnell vergangenen Stunden stand man auf, die Lichter
zu dem Gange in die verschiedenen Schlafgemaecher wurden angezuendet,
und man begab sich allmaehlich zur Ruhe.
Am andern Morgen nach dem Fruehmahle, da die hoeher gestiegene Sonne die
Graeser bereits getrocknet hatte, begab man sich in das Freie, um das
Urteil ueber die Arbeiten an der Vorderseite des Hauses zu faellen. Alle
gingen mit. Selbst Dienerschaft stand seitwaerts in der Naehe, als ob
sie wuesste, was geschehe - und sie wusste es wohl auch - und als ob sie
sich dabei beteiligen sollte. Man ging einige hundert Schritte von
der Vorderseite des Hauses weg, wendete sich dann um, blieb im Grase
stehen und betrachtete die von der Tuenche befreite Wand. Hierauf
umging man in einem weiten Bogen eine Ecke des Hauses, um auch eine
Wand zu sehen, auf welcher sich noch die Tuenche befand. Nachdem man
Beides wohl angeschaut hatte, nahm man einen Stand ein, der beide
Ansichten gestattete.
Nach und nach wurden Meinungen laut. Man fragte zuerst die aelteren und
ansehnlicheren Gaeste. Diese gaben fast alle ihr Urteil unbestimmt und
mit Vorsicht ab. Beide Einrichtungen haetten ihr Gutes, an beiden wird
etwas auszustellen sein, und es komme auf Geschmack und Vorliebe an.
Da das Gespraech allgemeiner wurde, traten schon manche Meinungen
abgeschlossener hervor. Einige sagten, es sei etwas Besonderes und
nicht ueberall Vorkommendes, die nackten Steine aus einer Wand stehen
zu lassen. Wenn die Kosten nicht zu scheuen sind, moege man es an dem
ganzen Schlosse so machen, und man habe dann etwas sehr Eigenes.
Andere meinten, es sei doch ueberall Sitte, die Waende selbst gegen
Aussen mit einer Tuenche zu bekleiden, ein licht getuenchtes Haus sei
sehr freundlich, darum haetten auch die Vorbesitzer des Hauses so
getan, um sein Ansehen dem neuen Geschmacke naeher zu bringen. Darauf
sagten wieder Andere, die Gedanken der Menschen seien wechselvoll,
einmal habe man die grossen viereckigen Steine, aus denen das Aeussere
dieser Waende bestehe, nackt hervor sehen lassen, spaeter habe man sie
ueberstrichen, jetzt sei eine Zeit gekommen, wo man wieder auf das
Alte zurueck gehe und es verehre, man koenne also die Steine wieder
nacktlegen.
Mein Gastfreund vernahm die Meinungen, und antwortete in unbestimmten
und nicht auf eine einzelne Ansicht gestellten Worten, da alles, was
gesagt wurde, sich ungefaehr in demselben Kreise bewegte. Mathilde
sprach nur Unbedeutendes, und Eustach und Roland schwiegen ganz. Von
der feurigen Natur des letzten wunderte es mich am meisten. Ich schloss
aus dieser Tatsache, dass meine Freunde ihre Meinung entweder schon
gefasst hatten oder dass sie dieselbe erst fuer sich fassen wollten.
Diese eben abgehaltene Beschau erschien mir also etwas Allgemeines,
Unwesentliches, als eine nachbarliche Artigkeit, als eine Gelegenheit,
zusammen zu kommen, um sich gemeinschaftlich zu sehen und zu sprechen,
wie man es bei andern Anlaessen auch tut.
Mir erschien die Blosslegung der Steine unbedingt als das Natuerlichste.
Wie ich wohl schon erkennen gelernt hatte, ist bei Denkmaelern - und je
groesser und wuerdiger sie sein sollen, um desto mehr ist dies der Fall
- der Stoff nicht gleichgueltig, und dann darf er aber nicht mit
Fremdartigem vermengt werden. Ein Siegesbogen, selbst wenn er unter
Dach steht, darf von Marmor sein, weniger schon von Ziegeln oder Holz,
ganz und gar nicht von gegossenem Eisen oder festgeklebtem Papier.
Eine Bildsaeule kann von Marmor, Metall oder Holz sein, weniger von
groben Steinen, ganz und gar nicht von allerlei zusammengefuegten
Bestandteilen. Unsere neuen Haeuser, die nur bestimmt sind, Menschen
aufzunehmen, um ihnen Obdach zu geben, haben nichts Denkmalartiges,
sei es ein Denkmal fuer den Glanz einer Familie, sei es ein Denkmal
der abgeschlossenen und wohlgenossenen Wohnlichkeit fuer irgend ein
Geschlecht. Darum werden sie fachartig aus Ziegeln gebaut und mit
einer Schicht ueberstrichen, wie man auch lackiertes Geraete macht oder
kuenstliches Gestein malt. Schon die aus blossem Holze zur Wohnung eines
Geschlechtes in unseren Gebirgslaendern (nicht zur Spielerei in Gaerten)
erbauten Haeuser haben Denkmalartiges, noch mehr die Schloesser, die aus
festen Steinen gefuegt sind, die Torbogen, die Pfeiler, die Bruecken
und noch mehr die aus Stein gebauten Kirchen. Daraus ergab sich mir
von selber, dass diejenigen, die dieses Schloss so bauten, dass die
Aussenseiten der Waende fest gefuegte viereckige, unbestrichene Steine
sind, Recht gehabt haben, und dass die, welche die Steine bestrichen,
im Unrechte waren, und dass die, welche sie wieder bloss legen, abermals
im Rechte sind. Ich sah, dass man an saemtlichen Steinen, weil sonst
die Kalktuenche nicht zu vertilgen gewesen waere, die Oberflaeche mit
scharfen Haemmern erneuert hatte. Dies gab wohl den Steinen etwas, das
ein lichteres Grau ist, als die alten Simse und Tragsteine hatten, die
nicht getuencht waren; allein durch Zeit und Wetter werden sich auch
die erneuerten Steinoberflaechen wieder dunkler faerben.
Man ging, da man eine Weile gesprochen hatte, obwohl ein eigentliches
Urteil nicht gefaellt worden war, wieder in das Haus zurueck, und auch
die Dienerschaft, welche zugeschaut hatte, ging auseinander, gleichsam
als ob die Sache jetzt aus waere.
In dem Hause zerstreuten sich die Gaeste, manche begaben sich in
Zimmer, manche gingen in das Freie. Ich nahm in meinem Schlafgemache,
wozu mir das nehmliche Zimmer, welches ich frueher bewohnt hatte,
angewiesen worden war, einen leichteren Hut und einen bequemeren
Rock und ging dann auch in den Garten. Ich ging ganz allein in einem
dunkeln Gange zwischen Gebueschen hin, und es war mir wohl, dass ich
allein war. Ich schlug die abgelegenen, wenig gangbaren und auch
weniger im Stande gehaltenen Wege ein, damit ich niemanden begegne und
damit sich niemand zu mir geselle. Es war auch wirklich kein Mensch in
den Gaengen, und ich sah nur kleine Voegel, welche ungescheut in ihnen
liefen und Futter von der Erde pickten. Ich umging den Lindenplatz
und kam hinter ihm aus dem Gebuesche heraus. Von da ging ich in einem
grossen Umwege der Eppichwand zu und hatte vor, in die Nymphengrotte zu
treten, wenn niemand in ihr waere. Als ich schon nahe an der Grotte war
und schief in dieselbe blicken konnte, sah ich, dass Natalie auf dem
Marmorbaenklein sitze, welches sich seitwaerts von der Nymphengestalt
befand. Sie sass an dem innersten Ende des Baenkleins. Ihr blassgraues
Seidenkleid schimmerte aus der dunkeln Hoehlung heraus. Einen Arm liess
sie an ihrer Gestalt ruhen, den andern hatte sie auf die Lehne des
Baenkleins gestuetzt und barg die Stirn in ihrer Hand. Ich blieb stehen
und wusste nicht, was ich tun sollte. Dass ich nicht in die Grotte gehen
wolle, war mir klar; allein die kleinste Wendung, die ich machte,
konnte ein Geraeusch erregen und sie stoeren. Aber ohne dass ich ein
Geraeusch machte, sah sie auf und sah mich stehen. Sie erhob sich, ging
aus der Grotte, ging mit beeilten Schritten an der Eppichwand hin und
entfernte sich in das Gebuesch. In Kurzem sah ich den Schimmer ihres
Kleides verschwinden. Eine ganz kleine Zeit blieb ich stehen,
dann ging ich in die Grotte hinein. Ich setzte mich auf dieselbe
Marmorbank, auf der sie gesessen war und sah in das Rinnen des
Wassers, sah auf die einsame Alabasterschale, die neben dem Becken
stand, und sah auf den ruhigen, glaenzenden Marmor. Ich sass sehr lange.
Da sich Stimmen naeherten und da ich vermuten musste, dass man die
Brunnengestalt besuchen wuerde, stand ich auf, ging aus der Grotte,
ging in das Gebuesch und begab mich auf denselben Wegen, auf denen ich
gekommen war, in das Schloss zurueck.
Der Mittag vereinigte noch einmal alle Gaeste bei dem Mahle. Mehrere
von ihnen hatten beschlossen, gleich nach demselben fort zu fahren,
um noch vor der Nacht ihre Heimat zu erreichen. Man brachte einen
froehlichen Trinkspruch aus auf die schoene Gestaltung des Schlosses und
einen Dank fuer die herzliche Bewirtung. Der Spruch wurde mit einem
Wunsche fuer das Wohl der Gesellschaft und fuer baldiges Wiedersehen
erwidert. Die heitere Sommersonne verklaerte das Zimmer, und die Blumen
des Gartens schmueckten es.
Nach dem Mahle fuhren mehrere der Gaeste fort, und im Laufe des
Nachmittages entfernten sich alle.
Wir, die nach dem Asperhofe mussten, hatten beschlossen, morgen frueh
abzufahren.
Bei dem Abendessen kam das Gespraech auf das Unternehmen an dem Hause.
Ich sah, dass die Uebriggebliebenen schon einig waren. Es sprach nun
mein Gastfreund, es sprachen Eustach und Roland. Sie hatten alle meine
Ansicht. Ich wurde aufgefordert, auch meine Meinung zu sagen. Ich
sprach sie nach meiner innern Empfindung aus. Alle mochten sie wohl
so erwartet haben. Ueber den Aufwand zur Deckung der kuenftigen Kosten
sprach mein Gastfreund mit Mathilden besonders. Durch das Abschlagen
der Steine mit scharfen Haemmern hatten sich die Auslagen groesser
gezeigt, als man Anfangs vermuten konnte. Mein Gastfreund riet daher,
dass man die Arbeit auf laengere Fristen ausdehnen solle, wodurch die
Kosten weniger empfindlich wuerden und, da doch das Schaffen des
Schoenen das Vergnuegen bilde, dieses Vergnuegen sich verlaengere. Man
billigte den Vorschlag und freute sich auf das Wachsen des Edleren
und freute sich auf den Augenblick, wenn das Haus in einem wuerdigen
Gewande da stehen wuerde und man die Beruhigung haette, es so dem
kuenftigen Besitzer uebergeben zu koennen.
Mit dem Anbruche des naechsten Tages fuhren mein Gastfreund, Eustach,
Roland, Gustav und ich auf dem Wege nach dem Rosenhause dahin.
Als ich in Hinsicht der eben zugebrachten Tage etwas ueber das
Landleben sagte und die Annehmlichkeiten desselben beruehrte, und als
wir eine Zeit ueber diesen Gegenstand gesprochen hatten, sagte mein
Gastfreund: "Das gesellschaftliche Leben in den Staedten, wenn man es
in dem Sinne nimmt, dass man immer mit fremden Personen zusammen ist,
bei denen man entweder mit andern zum Besuche ist, oder die mit andern
bei uns sind, ist nicht erspriesslich. Es ist das nehmliche Einerlei
wie das Leben in Orten, die den grossen Staedten nahe sind. Man sehnt
sich, ein anderes Einerlei aufzusuchen; denn wohl ist jedes Leben
und jede Aeusserung einer Gegend ein Einerlei, und es gewaehrt einen
Abschluss, von dem einen Einerlei in ein anderes ueber zu gehen. Aber es
gibt auch ein Einerlei, welches so erhaben ist, dass es als Fuelle die
ganze Seele ergreift und als Einfachheit das All umschliesst. Es sind
erwaehlte Menschen, die zu diesem kommen und es zur Fassung ihres
Lebens machen koennen."
"In der Weltgeschichte koemmt wohl Aehnliches vor", sagte ich.
"In der Weltgeschichte koemmt es vor", antwortete er, "wo ein Mensch
durch eine grosse Tat, die sein Leben erfuellt, diesem Leben eine
einfache Gestalt geben kann, abgeloest von allem Kleinlichen - in der
Wissenschaft, wo ein grossartiges Feld hoechsten Erringens vor dem
Menschen liegt - oder in der Klarheit und Ruhe der Lebensanschauungen,
die endlich Alles auf einige ausgedehnte, aber einfaeltige Grundlinien
zurueck fuehrt. Jedoch sind auch hier Masse und Abstufungen wie in allen
andern Dingen des Lebens."
"Von den zwei Hauptzeitraeumen, welche das menschliche Geschlecht
betroffen haben", erwiderte ich, "von dem sogenannten antiken und
dem heutigen, duerfte wohl der griechisch-roemische das Meiste von dem
Gesagten aufzuweisen haben."
"Wir wissen zuletzt gar nicht, welche Zeitraeume es in der Geschichte
gegeben hat", antwortete er. "Die Griechen und Roemer sind unserer Zeit
am naechsten, wir sind aus ihnen hervor gegangen und wissen von ihnen
auch das Meiste. Wer weiss, wie viele Voelkerabschnitte es gegeben hat
und wie viele unbekannte Geschichtsquellen noch verborgen sind. Wenn
einmal ganze Reihen solcher Voelkerzustaende wie Griechen- und Roemertum
vorliegen, dann laesst sich eher ueber unsere Frage etwas sagen. Oder
sind etwa solche Reihen nur dagewesen und vergessen worden, und werden
ueberhaupt die hintersten Stuecke der Weltgeschichte vergessen, wenn
sich vorne neue ansetzen und ihrer Entwicklung entgegen eilen? Wer
wird dann nach zehntausend Jahren noch von Hellenen oder von uns
reden? Ganz andere Vorstellungen werden kommen, die Menschen werden
ganz andere Worte haben, mit ihnen in ganz anderen Saetzen reden, und
wir wuerden sie gar nicht verstehen, wie wir nicht verstehen wuerden,
wenn etwas zehntausend Jahre vor uns gesagt worden waere und uns
vorlaege, selbst wenn wir der Sprache maechtig waeren. Was ist dann jeder
Ruhm? Aber kehren wir zu unserem Gegenstande zurueck und sehen wir von
Aegyptern, Assyrern, Indern, Medern, Hebraeern, Persern, von denen Kunde
zu uns herueber gekommen ist, ab und vergleichen wir uns nur allein mit
der griechisch-roemischen Welt, so duerfte in ihr wirklich mehr einfache
Lebensgroesse gelegen sein als in der unsern liegt. Ich verwundere mich
oft, wenn ich in der Lage bin, zu entscheiden, welchen von beiden ich
den Preis geben soll, Caesars Taten oder Caesars Schriften, wie sehr ich
im Schwanken begriffen bin und wie wenig ich es weiss. Beides ist so
klar, so stark, so unbeirrt, dass wir wenig desgleichen haben duerften."
"Jene alten Verhaeltnisse des Handelns und Denkens waren aber, wie ich
glaube, auch weniger verwickelt als die unsrigen", sagte ich.
"Sie hatten einen nicht so ausgedehnten Schauplatz wie wir", erwiderte
er, "obwohl auch der Platz der Taten zu Caesars Zeit - Britannien,
Gallien, Italien, Asien, Afrika -, oder zu Alexanders Zeit -
Griechenland und Orient - nicht ganz klein war. Ihre Verhaeltnisse nach
Aussen gestalteten sich daher leichter; aber im Innern duerften sie bei
der grossen Zahl der mithandelnden Personen, von denen die meisten
Stimme und Gewalt in Staatsdingen hatten, nicht so leicht gewesen
sein, und die Macht, diese Gemueter durch Wort, Erscheinung und
Handlung zu gewinnen und zu leiten, duerfte schwierig zu erwerben
gewesen sein und duerfte eben dem Wesen eines Mannes die feste Gestalt
aufgedrueckt haben, die wir so oft an ihm bewundern. Unsere Zeit ist
eine ganz verschiedene. Sie ist auf den Zusammensturz jener gefolgt
und erscheint mir als eine Uebergangszeit, nach welcher eine kommen
wird, von der das griechische und roemische Altertum weit wird
uebertroffen werden. Wir arbeiten an einem besondern Gewichte der
Weltuhr, das den Alten, deren Sinn vorzueglich auf Staatsdinge, auf das
Recht und mitunter auf die Kunst ging, noch ziemlich unbekannt war,
an den Naturwissenschaften. Wir koennen jetzt noch nicht ahnen, was
die Pflege dieses Gewichtes fuer einen Einfluss haben wird auf die
Umgestaltung der Welt und des Lebens. Wir haben zum Teile die Saetze
dieser Wissenschaften noch als totes Eigentum in den Buechern oder
Lehrzimmern, zum Teile haben wir sie erst auf die Gewerbe, auf den
Handel, auf den Bau von Strassen und aehnlichen Dingen verwendet, wir
stehen noch zu sehr in dem Brausen dieses Anfanges, um die Ergebnisse
beurteilen zu koennen, ja wir stehen erst ganz am Anfange des Anfanges.
Wie wird es sein, wenn wir mit der Schnelligkeit des Blitzes
Nachrichten ueber die ganze Erde werden verbreiten koennen, wenn
wir selber mit grosser Geschwindigkeit und in kurzer Zeit an die
verschiedensten Stellen der Erde werden gelangen, und wenn wir mit
gleicher Schnelligkeit grosse Lasten werden befoerdern koennen? Werden
die Gueter der Erde da nicht durch die Moeglichkeit des leichten
Austauschens gemeinsam werden, dass Allen Alles zugaenglich ist? Jetzt
kann sich eine kleine Landstadt und ihre Umgebung mit dem, was sie
hat, was sie ist und was sie weiss, absperren: bald wird es aber nicht
mehr so sein, sie wird in den allgemeinen Verkehr gerissen werden.
Dann wird, um der Allberuehrung genuegen zu koennen, das, was der
Geringste wissen und koennen muss, um Vieles groesser sein als jetzt. Die
Staaten, die durch Entwicklung des Verstandes und durch Bildung sich
dieses Wissen zuerst erwerben, werden an Reichtum, an Macht und Glanz
vorausschreiten und die andern sogar in Frage stellen koennen. Welche
Umgestaltungen wird aber erst auch der Geist in seinem ganzen Wesen
erlangen? Diese Wirkung ist bei Weitem die wichtigste. Der Kampf in
dieser Richtung wird sich fortkaempfen, er ist entstanden, weil neue
menschliche Verhaeltnisse eintraten, das Brausen, von welchem ich
sprach, wird noch staerker werden, wie lange es dauern wird, welche
Uebel entstehen werden, vermag ich nicht zu sagen; aber es wird eine
Abklaerung folgen, die Uebermacht des Stoffes wird vor dem Geiste, der
endlich doch siegen wird, eine blosse Macht werden, die er gebraucht,
und weil er einen neuen menschlichen Gewinn gemacht hat, wird eine
Zeit der Groesse kommen, die in der Geschichte noch nicht dagewesen
ist. Ich glaube, dass so Stufen nach Stufen in Jahrtausenden erstiegen
werden. Wie weit das geht, wie es werden, wie es enden wird, vermag
ein irdischer Verstand nicht zu ergruenden. Nur das scheint mir sicher,
andere Zeiten und andere Fassungen des Lebens werden kommen, wie sehr
auch das, was dem Geiste und Koerper des Menschen als letzter Grund
inne wohnt, beharren mag."
Wir gingen nun in manches Einzelne dieses Stoffes ein, behandelten
es im Fahren und suchten die moeglichen Folgen anzugeben. Besonders
wurden Zweige der Naturwissenschaften genannt, welche vorzugsweise
vorgeschritten waren und Einfluss zu gewinnen schienen, wie die Chemie
und andere. Roland war entschieden fuer Neuerung, wenn sie auch Alles
umstuerzte, mein Gastfreund und Eustach hegten den Wunsch, dass jenes
Neue, welches bleiben soll, weil es gut ist - denn wie vieles Neue ist
nicht gut -, nur allgemach Platz finden und ohne zu grosse Stoerung sich
einbuergern moechte. So ist der Uebergang ein laengerer, aber er ist ein
ruhigerer und seine Folgen sind dauernder.
Nach dem Mittagsessen kam das Gespraech auf die Brunnennymphe im
Sternenhofe, und mein Gastfreund erzaehlte mir, wie sie erworben worden
war. Ein Mann, der entfernt mit Mathilden verwandt war, hatte zu
seinem grossen Vermoegen noch Erbschaften gemacht. Er verlegte sich
auf Sammlungen. Er hatte Muenzen, er hatte Siegel, er hatte keltische
und roemische Altertuemer, Musikgeraete, Tulpen und Georginen, Buecher,
Gemaelde und Bildsaeulen. Er baute in seinem Garten an sein Haus,
welches etwas erhoeht stand, eine grosse Flaeche, die er mit Steinen
pflasterte und von welcher kuenstliche steinerne Stufen in mehreren
Richtungen nach dem Garten hinab gingen. Auf die Bruestungen dieser
Flaeche und auf die Einfassungen der Treppen wurden Bildsaeulen gesetzt.
Es gehoerte zu den groessten Vergnuegungen des Mannes, auf der Flaeche hin
und her zu gehen. Das tat er auch oft, wenn die heisseste Sonne am
Himmel stand und das Pflaster in die Sohlen brannte. Ausserdem hatte er
auch noch Bildsaeulen auf den Treppen des Hauses und in den Zimmern.
Die Nymphe, welche jetzt Mathilde besitzt, hatte er in einem
Brunnentempel im Garten. Er hatte sie von seinem Grossoheime geerbt.
Sie soll zu den Jugendzeiten desselben von einem italienischen
Bildhauer fuer einen Fuersten verfertigt worden sein, dessen schneller
Todfall das Uebergehen an ihre Bestimmung vereitelte. So kam sie
nach mehreren Zufaellen an den Grossoheim, der Verbindungen mit dem
Kuenstler hatte. Man sagt, diese Bildsaeule sei der Anfang zu der
Bildsaeulenliebhaberei des Vetters Mathildens gewesen. Als dieser
Mann starb, fand sich ein letzter Wille geschrieben vor, dass alle
Kunstwerke an Kunstkenner oder Kunstliebhaber, nicht aber an Haendler
verkauft werden und dass das Geld dafuer und die anderen Dinge, die er
hinterlassen, und zwar letztere nach einem Schaetzungswerte, unter
seine entfernten Verwandten verteilt werden sollten; denn Kinder
oder naehere Verwandte hatte er nicht. Da nun die Nymphe weitaus
das schoenste Kunstwerk war, welches er besass, da Mathilde es immer
bewundert hatte, da sie schon im Besitze des Sternenhofes war und in
demselben schon schoene Gemaelde untergebracht hatte: so war es ihr
nicht schwer, sich als eine Kunstliebhaberin auszuweisen und das
Bildwerk anzukaufen. Man goennte es ihr mehr als einem Fremden, weil
auf diese Weise das Kunstwerk gewissermassen in der Familie blieb und
sie ueberdies auch mehr in die gemeinschaftliche Erbschaft zahlte, als
ein Fremder getan haben wuerde.
Sie brachte das ihr so liebe Werk in den Sternenhof und stellte es
dort in einem Saale auf. Erst lange darnach wurde durch Eustachs und
meines Gastfreundes Bemuehungen zwischen den Eichen, die schon standen,
die Eppichwand und die Quellengrotte gebaut und so der Gestalt ein
wuerdiger und wirkungsvollerer Aufenthaltsort gegeben, da sie fuer den
Saal doch immer zu gross und ihre Stellung und ihre Beschaeftigung
unpassend gewesen war. Den Krug, aus welchem das Wasser rann, hatte
sie schon, das Becken und die Bank sind neu gemacht worden, die
Alabasterschale hat Mathilde aus ihrem Besitztume dazu gegeben.
Wir kamen am Abende im Rosenhause an. Am andern Tage bat ich meinen
Gastfreund, er moege erlauben, dass ich eine Nachzeichnung von der
Zeichnung des Kerberger Altares, die er besitze, mache, und diese
Zeichnung meinem Vater zum Geschenke bringe. Er erlaubte es sehr
gerne. Die Zeichnung war nach dem Vorschlage, welcher auf der Reise in
das Hochland gemacht worden war, von Roland verbessert worden, und so
wurde sie mir uebergeben.
Ich schloss mich in mein Zimmer ein und arbeitete mehrere Tage fleissig
von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, bis ich mit der Zeichnung
fertig war. Ich verpackte sie nun sehr wohl und gab meinem Gastfreunde
die Urzeichnung zurueck.
Nun hielt ich mich nicht mehr laenger in dem Asperhofe auf und eilte in
die Tann.
Ich stieg dort auf Berge, ich arbeitete sehr angestrengt, ich spielte
sehr viel auf meiner Zither und las in meinen Buechern.
Eines Tages gegen den Spaetsommer hin hoerte ich mit Allem auf. Ich
packte meine Kisten, tat die Werkzeuge und die Schriften, die sich auf
meine Arbeiten bezogen, in ihre Faecher und Koffer, entliess fast alle
Leute, versah die Kisten mit Aufschriften, verordnete ihre Versendung
und ging dann in das Lauterthal. Dort nahm ich nur den alten Kaspar
und von den jungen Maennern einen, der mir besonders lieb geworden war,
und beschloss, die Messung des Lautersees zu Ende zu bringen.
Ich mietete mich in dem Seewirtshause ein, richtete alle Geraete,
welche mir zu meinem Vorhaben noetig waren, zurecht, liess diejenigen
neu verfertigen, welche ich nicht hatte, und ging ans Werk. Ich
arbeitete recht fleissig. So lange das Licht des Tages leuchtete, waren
wir auf dem Wasser. Nachts - ausser einigen Stunden Schlafes - war ich
an dem Papiere teils mit Rechnungen, teils mit Schreiben, teils sogar
mit Zeichnen beschaeftigt. Ich wiederholte einige Messungen, welche ich
in frueheren Zeiten vorgenommen hatte, um mich von der Bestaendigkeit
oder Wandelbarkeit des Wasserstandes oder des Seegrundes zu
ueberzeugen. Da ein durchaus gleicher Wasserstand nicht zu denken ist,
so bezog ich meine Messungen auf einen mittleren Stand und stellte
immer die Frage, wie tief unter diesem Stande die bestimmten Stellen
des Seegrundes liegen. Dieser mittlere Stand, der nach demjenigen
genommen wurde, welcher in der meisten Zeit des Jahres herrscht, war
in meiner Abbildung auch der Wasserspiegel. Ihn nahm ich bei den
Nachmessungen zur Richtschnur. In groesseren Entfernungen von dem Ufer
hatte sich der Seegrund seit dem Beginne meiner Messungen nicht
geaendert, oder wenn er sich geaendert hatte, war es so wenig, dass es
durch unsere Messwerkzeuge nicht wahrzunehmen war. An jenen Ufern oder
in der Naehe derselben, wo grosse Tiefen herrschten und steile, ruhige
Waende standen, an denen bei Regenguessen hoechstens schmale Baender oder
seichte Wasserflaechen niederrieseln, war ebenfalls keine Veraenderung.
Aber an seichten Stellen bei flacheren Ufern, wo der Regen Geroelle und
andere Dinge einfuehrt, fanden sich schon Veraenderungen vor. Am meisten
aber waren die Wandlungen und am groessten, wo eine Schlucht sich gegen
das Wasser oeffnete, aus welcher ein Bergbach hervorstroemte, der, je
nachdem er weiter her floss oder bei Guessen heftiger anschwoll, auch
groessere Berge von Geroelle in den See schob und dort liegen liess.
Nach der Wiederholung dieser alten Messungen wurde zu neuen
geschritten, die zur Vollendung der mir zum Ziele gesetzten Kenntnisse
notwendig waren. Ebenso wurden die Zeichnungen der Gebilde, welche
sich ausserhalb des Wassers als Ufer befanden, fleissig fortgesetzt.
Zweimal wurde die Arbeit unterbrochen. Ich ging in das Rothmoor, um
nachzusehen, wie weit die Dinge, die aus meinen Marmoren verfertigt
werden sollten, gediehen waeren und wie gut sie ausgefuehrt wuerden.
Die Fortschritte waren zu loben. Man sagte - und ich selber sah die
Moeglichkeit ein -, dass in diesem Sommer noch alles fertig worden
wuerde. Aber in Hinsicht der Guete hatte ich Ausstellungen zu machen.
Ich ordnete mit Bitten, Vorstellungen und Versprechen an, dass man das,
was ich angab, so genau und so rein mache, wie ich es wollte.
Wenn Regenzeit war, so dass die Wolken an den Bergen herum hingen und
weder diese noch die Gestalt des Sees richtig zu ueberblicken waren,
so blieb ich zu Hause und zeichnete und malte dasjenige in mein
Hauptblatt, was ich im Freien auf viele Nebenblaetter aufgenommen
hatte. So rueckte das Unternehmen der Vollendung immer naeher.
Endlich waren die Arbeiten im Freien beendigt, und es eruebrigte nur
noch, die vielen Angaben, welche in meinen Papieren zerstreut waren
und welche ich bisher nicht hatte bewaeltigen koennen, in die Zeichnung
einzutragen und die Gestalten, welche ich auf einzelnen Blaettern
hatte, teils mit der Hauptzeichnung wegen der Richtigkeit zu
vergleichen, teils diese, wo es nottat, zu ergaenzen. Auch Farben
mussten auf verschiedene Stellen aufgetragen werden.
Nach langer Arbeit und nach vielen Schwierigkeiten, die ich zur
Erzielung einer grossen Genauigkeit zu ueberwinden hatte, war das
Werk eines Tages fertig, und der ganze Entwurf lag in schwermuetiger
Duesterheit und in einer Schoenheit vor meinen Augen, die ich selber
nicht erwartet hatte. Ich betrachtete allein die Abbildung eine Weile,
da niemand war, der das Anschauen mit mir geteilt haette, rollte dann
das Blatt auf eine Walze, verpackte es sehr gut in einen Koffer, nahm
von dem See und von allen Bewohnern des Seewirtshauses Abschied und
begab mich auf den Weg in das Ahornhaus des Lauterthales.
Dort siedelte ich mich an. Ich ging nun taeglich in das Rothmoor,
blieb den ganzen Tag dort und kehrte Abends zurueck, so dass ich in der
Daemmerung im Ahornhause ankam. Ich sah im Rothmoore den Arbeiten an
meinen Marmoren zu, dem Schneiden, Feilen, Reiben, Schleifen und
Glaetten. Ich gab auch an, wie Manches zu behandeln sei und wie es
einer groesseren Vollendung, namentlich aber einer groessern Genauigkeit
entgegen gefuehrt werden koennte.
Das Wasserbecken meines Vaters wurde nach und nach fertig und die
kleineren Dinge, welche gemacht werden sollten, waren ebenfalls
vollendet. Die Sonne schien in die Bauhuette, und das Becken erglaenzte
recht rein und schoen in derselben. Ich liess von starken Balken
Behaeltnisse zimmern. In diese wurden die Teile des Beckens mit Winden,
Hebeln und Stricken gepackt und zur Versendung bereitet. Die Waegen
mussten eigens vorgerichtet werden, damit die Behaeltnisse an den Strom
gebracht werden koennten. Diese Vorrichtung war endlich fertig. Das
Aufladen wurde bewerkstelligt, und die Waegen gingen ab. Ich ging
mit ihnen bis an den Strom und verliess sie keinen Augenblick, um wo
moeglich jeden Unfall zu verhueten. Am Strome wurden die Behaeltnisse auf
ein Schiff verladen und weiter befoerdert. Von dem Landungsplatze vor
unserer Stadt wurden sie endlich wieder durch starke Waegen in unsern
Garten gebracht.
Es wurde nun daran geschritten, das Wasserwerk in diesem Herbste noch
fertig zu machen. Der Vater hatte auf Briefe von mir und auf gesendete
Masse den Dingen bereits vorarbeiten lassen. Es wurden nun noch mehrere
Arbeiter gedungen und ein Wasserbaukundiger genommen, welcher die
Arbeiten zu leiten hatte. Ich war den ganzen Tag bei dem Werke zugegen
und half mit. Der Vater kargte sich ebenfalls alle moegliche Zeit ab,
um zugegen sein und zuschauen zu koennen. Die Roehren wurden gelegt,
die Steigroehre verzapft, der Stengel ueber sie gebaut, mit den noetigen
Eisen gestaerkt und verloetet, und an demselben wurde das Blatt
befestigt. Der Pfropfen, welcher den in das Blatt muendenden Stengel
geschlossen gehalten hatte, wurde gelueftet, und der reine Strahl
fiel auf die im Blatte liegende Einbeere hinunter, fuellte das Becken
und glitt von demselben, als es gefuellt war, auf den sanften gelb
marmornen Fussboden nieder und rieselte in dessen Rinne weiter. Die
Farben stimmten sehr gut zusammen, das Dunkel des Stengels hob sich
von dem Rosenrot des Blattes ab, und das Gelb des Fussbodens gab dem
Rosenrot eine schoenere Farbe und einen feineren Glanz. Es waren
mehrere Gaeste zur Eroeffnung des Werkes geladen worden, und diese sowie
Vater, Mutter und Schwester freuten sich des Gelingens.
Der Vater reichte mir als Gegengeschenk, sehr schoen gebunden und auf
den Deckeln mit halberhabener Arbeit versehen, das Nibelungenlied. Ich
dankte ihm sehr dafuer.
Es wurde beschlossen, fuer den Winter ein Bretterhaeuschen ueber das
Wasserwerk machen zu lassen und dasselbe gut zu verwahren, dass keine
Kaelte eindringen koenne. Fuer den Fruehling wurden Plaene entworfen, wie
man die Gartenumgebungen des Beckens einrichten solle, dass der ganze
Anblick ein desto wuerdigerer und schoenerer sei. Man hoffte, bis zum
Eintritte der besseren Jahreszeit mit den Entwuerfen im Reinen zu sein
und beginnen zu koennen.
Ich uebergab ausser dem Becken auch die andern Marmorgegenstaende, welche
in dem Rothmoore waren verfertiget worden. Darunter befanden sich
Saeulen und Simse, welche an einer Stelle verwendet werden sollten,
die am Ende des Gartens lag, eine Aussicht auf die Berge und auf die
Umgebung bot und auf welcher der Vater etwas zu errichten vorhatte,
das der Aussicht wuerdig waere und sie besser geniessen lasse. Ich
meinte, es duerfte eine schoene Fassung anzulegen sein, die den Platz
begrenzt, die breite Flaechen hat, dass man sich auf dieselben lehnen
und Dinge auf sie legen koenne und an der sich Sitze befaenden, auf
welchen man ausruhen koenne. Wenn in der Naehe dieser Fassung ein
Tisch waere, wuerde es noch besser sein. Ausserdem hatte ich Schalen
zu beliebigem Gebrauche gebracht, Ringe, die einen Vorhang fassen,
Tischplatten, Pfeilerverzierungen, Steine von verschiedener Farbe, die
im Vierecke geschliffen waren und die man der Reihe nach auf Papier
oder Aehnliches legen konnte, und noch mehrere Dinge dieser Art. Dem
Vater zeigte ich die Zeichnung von dem Kerberger Altare und sagte, dass
ich sie eigens fuer ihn gemacht habe und sie ihm hiemit uebergebe. Er
war sehr erfreut darueber und dankte mir dafuer. Der Altar war ihm zwar
nicht neu, er hatte ihn in frueherer Zeit, ehe er wieder hergestellt
worden war, gesehen, und die Zeichnung des wiederhergestellten Altares
war unter den von meinem Gastfreunde dem Vater im vorigen Jahre
gesendeten Zeichnungen gewesen. Dessohngeachtet war es ihm sehr
angenehm, die Zeichnung zu besitzen und sie oefter und nach Musse
betrachten zu koennen. Er machte mich auf mehrere Dinge aufmerksam, die
er nach wiederholter Betrachtung entdeckt hatte. Zuerst sah er, dass
der Altar viel reicher und mannigfaltiger sei, als da er ihn in noch
unverbessertem Zustande vor vielen Jahren in Wirklichkeit gesehen
hatte; dann machte er mich darauf aufmerksam, dass dieses Werk schon
die Rundlinie habe, dass die Tuermchen durch gewundene Staebe in
Gestalten von Pyramiden gebildet und dass die menschlichen Gestalten
schon sehr durchgearbeitet seien, was alles darauf hindeuten dass das
Werk nicht mehr der Zeit der strengen gothischen Bauart angehoere,
sondern derjenigen, wo diese Art sich schon zu verwandeln begonnen
hatte. Auch zeigte er mir, dass Teile der Verzierungen im Laufe der
Zeiten an andere Orte gestellt worden seien als an die sie gehoeren,
dass die Buesten sich nicht an dem rechten Platze befinden und dass
menschliche Gestalten verloren gegangen sein muessen. Er holte Buecher
aus seinem Buecherschreine herbei, in denen Abbildungen waren und aus
denen er mir die Wahrheit dessen bewies, was er behauptete. Ich sagte
ihm, dass mein Gastfreund und Eustach der nehmlichen Meinung sind, dass
aber die Wiederherstellungen, welche man an dem Altare gemacht hat,
im strengen Wortverstande nicht Wiederherstellungen gewesen seien,
sondern dass man sich zuerst nur zum Zwecke gesetzt habe, den Stoff
zu erhalten und weitere Umaenderungen oder groessere Ergaenzungen einer
ferneren Zeit aufzubewahren, wenn sich ueberhaupt die Mittel und Wege
dazu faenden. Nur solche Ergaenzungen sind gemacht worden, bei denen die
Gestalt des Gegenstandes unzweifelhaft gegeben war.
Die Buecher des Vaters machten mich auf die Sache, die sie behandelten,
mehr aufmerksam, ich bat ihn, dass er sie mir in meine Wohnung leihe,
und begann sie durchzugehen. Sie fuehrten mich dahin, dass ich die
Baukunst und ihre Geschichte vom Anfange an genauer kennen zu lernen
wuenschte und mir alle Buecher, die hiezu noetig wagen, nach dem Rate
meines Vaters und Anderer ankaufte.
Der Bund
Der Winter verging wie gewoehnlich. Ich richtete meine mitgebrachten
Dinge in Ordnung und holte an Schreibgeschaeften nach, was im Sommer
wegen der Taetigkeit im Freien und der anderweitig verlorenen Zeit im
Rueckstande geblieben war. Der Umgang mit den Meinigen in dem engsten
Kreise des Hauses war mir das Liebste, er war mein groesstes Vergnuegen,
er war meine hoechste Freude. Der Vater bezeigte mir von Tag zu Tag
mehr Achtung. Liebe konnte er mir nicht in groesserem Masse bezeigen,
denn diese hatte er mir immer hoechstmoeglich bewiesen; aber so wie
er frueher bei der zaertlichsten Sorgfalt fuer mein Wohl und bei der
Herbeischaffung alles dessen, was zu meinem Unterhalte und meiner
Ausbildung notwendig gewesen ist, mich meine Wege gehen liess, immer
freundlich und liebevoll war und nicht begehrte, dass ich mich in
andere Richtungen begebe, die ihm etwa bequemer sein mochten: so war
er zwar dies jetzt alles auch; aber er fragte mich doch haeufiger
um meine Bestrebungen und liess sich die Dinge, welche darauf Bezug
hatten, auseinandersetzen, er holte meinen Rat und meine Meinung
in Angelegenheiten seiner Sammlungen oder in denen des Hauses
ein und handelte darnach, er sprach ueber Werke der Dichter, der
Geschichtschreiber, der Kunst mit mir, und tat dies oefter, als
es in frueheren Zeiten der Fall gewesen war. Er brachte in meiner
Gesellschaft manche Zeit bei seinen Bildern, bei seinen Buechern
und bei seinen andern Dingen zu und versammelte uns gerne in dem
Glashaeuschen, das eine erwaermte Luft durchwehte, die sich traulich um
die alten Waffen, die alten Schnitzwerke und die Pfeilerverkleidungen
ergoss. Er sprach von verschiedenen Dingen und schien sich wohl zu
fuehlen, den Abend in dem engsten Kreise seiner Familie zubringen zu
koennen. Mir schien es, dass er zu der jetzigen Zeit nicht nur frueher
aus seiner Schreibstube nach Hause komme als sonst, sondern dass er
sich auch mehr innerhalb der Mauern desselben aufhalte als in frueheren
Jahren. Die Mutter war sehr freudig ueber die Heiterkeit dem Vaters,
sie ging gerne in seine Plaene ein und befoerderte alles, was sie in
ihrem Kreise zu der Erfuellung derselben tun konnte. Sie schien uns
Kinder mehr zu lieben als in jeder vergangenen Zeit. Klotilde wendete
sich immer mehr und mehr zu mir, sie war gleichsam mein Bruder, ich
war ihr Freund, ihr Ratgeber, ihr Gesellschafter. Sie schien gar keine
andere Empfindung als fuer unser Haus zu haben. Wir setzten unsere
Uebungen im Spanischen, im Zitherspielen, im Zeichnen und Malen fort.
Trotz dieser Dinge war sie auch im Hauswesen eifrig, um der Mutter
Folge zu leisten und ihren Beifall zu gewinnen. Wenn etwas in dieser
Art, das eine groessere Sorgfalt und Geschicklichkeit erheischte,
besonders gelang und dies erkannt wurde, so war ihre Befriedigung
groesser, als wenn sie bei einer ernsten und wichtigen Bewerbung vor
einer ansehnlichen Versammlung den Preis davon getragen haette.
In den Gesellschaften, die in kleineren oder groesseren Kreisen, nur
seltener als in frueheren Jahren, in unserem Hause statt fanden, wurden
jetzt auch mehr Gespraeche gefuehrt als da wir auch juenger waren. Es
wurden ernsthafte Dinge in Untersuchung gezogen, Angelegenheiten des
Staates, allgemeine oeffentliche Unternehmungen oder Erscheinungen, die
von sich reden machten. Man sprach auch von seinen Beschaeftigungen,
von seinen Liebhabereien oder von dem gewoehnlichen Tagesstoffe, wie
etwa das Theater ist oder wie Begebenheiten sind, die sich in den
naechsten Umgebungen zutragen. Im Uebrigen wurde auch zu den bekannten
Vergnuegungen gegriffen, Musik, Tanz, Liedersingen. Manche juengere
Leute lernten sich da neu kennen, aeltere setzten die frueher bestandene
Bekanntschaft fort.
Ich besuchte meine Freunde. besprach mich mit ihnen und erzaehlte ihnen
im Allgemeinen, womit ich mich eben beschaeftige. Sie teilten mir
aus dem Kreise ihrer Erlebnisse mit und machten mich auf manche
Persoenlichkeiten aufmerksam.
Ich setzte meine Malerei fort, ich betrieb die Edelsteinkunde und
besuchte manches Theater. Das Lesen der Buecher ueber Baukunst vergnuegte
mich sehr, und es eroeffnete sich mir da ein neues Feld, das manches
Erspriessliche und manche Foerderung versprach.
Die Abende bei der Fuerstin erschienen mir immer wichtiger. Es hatte
sich nach und nach eine Gesellschaft zusammen gefunden, deren
Mitglieder sich haeufig und gerne in dem Zimmer der Fuerstin
versammelten. Es wurden die anziehendsten Stoffe verhandelt, und
man schrak nicht zurueck, wenn jemand die Fragen der allerneuesten
Weltweisheit auf die Bahn brachte. Man legte sich die Dinge zurecht,
wie man konnte, man kleidete die eigentuemliche Redeweise der
sogenannten Fachmaenner in die gewoehnliche Sprache und wendete den
gewoehnlichen Verstand darauf an. Was durch diese Mittel und durch die
der Gesellschaft herausgebracht werden konnte, das besass man, und wenn
es von der Gesellschaft als ein Gewinn betrachtet wurde, so behielt
man es als einen Gewinn. Wenn aber nur Worte da zu sein schienen, von
denen man eine greifbare Bedeutung nicht ermitteln konnte, so liess man
die Sache dahin gestellt sein, ohne ihr eine Folge zu geben und ohne
ueber sie aburteilen zu wollen. Die Dichter und das Spanische wurden
lebhaft fortgesetzt.
Wenn sehr klare Tage waren und eine heitere Sonne ein erhellendes
Licht in den Zimmern vermittelte, so war ich in dem Glashaeuschen und
arbeitete an den Abbildungen der Pfeilerverkleidungen fuer meinen
Gastfreund. Ich wollte sie so gut machen, als es mir nur moeglich waere,
um dem Manne, dem ich so viel verdankte und den ich so hoch achtete,
Zufriedenheit abzugewinnen oder ihm gar etwa ein Vergnuegen zu
bereiten. Ich wollte zuerst Zeichnungen von den Verkleidungen
entwerfen und nach ihnen Bilder in Oelfarben ausfuehren. Ich machte die
Zeichnungen auf lichtbraunes Papier, tiefte die Schatten in Schwarz
ab, erhoehte die Lichter in einem helleren Braun und setzte die
hoechsten Glanzstellen mit Weiss auf. Als ich die Zeichnungen in dieser
Art fertig hatte und durch vielfache Vergleichungen und Abmessungen
ueberzeugt war, dass sie in allen Verhaeltnissen richtig seien, setzte
ich noch den Massstab hinzu, nach dem sie ausgefuehrt waren. Ich schritt
nun zur Verfertigung der Bilder.
Sie wurden etwas kleiner als die Entwuerfe gemacht, aber im genauen
Verhaeltnisse zu denselben. Ich benutzte zum Malen immer die nehmlichen
Vormittagsstunden, um die Glanzpunkte, die Lichter und die Schatten in
ihrer vollen Richtigkeit zu erfassen und auch der Farbe im Allgemeinen
ihre Treue geben zu koennen. Es zeigte sich mir da eine Erfahrung in
den Farben wieder bestaetigt, die ich schon frueher gemacht hatte. Auf
die mit schwachem Firnisse ueberzogenen Holzschnitzwerke nahmen die
umgebenden Gegenstaende einen solchen Einfluss, dass sich Schwerter,
Morgensterne, dunkelrotes Faltenwerk, die Fuehrung der Waende, des
Fussbodens, die Fenstervorhaenge und die Zimmerdecke in unbestimmten
Ausdehnungen und unklaren Umrissen in ihnen spiegelten. Ich merkte
bald, dass, wenn alle diese Dinge in die Farbe der Abbildungen
aufgenommen werden sollten, die dargestellten Gegenstaende wohl an
Reichtum und Reiz gewinnen, aber an Verstaendlichkeit verlieren wuerden,
so lange man nicht das Zimmer mit allem, was es enthaelt, mit malt, und
dadurch die Begruendung aufzeigt. Da ich dies nicht konnte und mein
Zweck es auch nicht erheischte, so entfernte ich alles Zufaellige und
stark Einwirkende aus dem Zimmer und malte dann die Schnitzereien,
wie sie sich sammt den uebergebliebenen Einwirkungen mir zeigten, um
einerseits wahr zu sein und um andererseits, wenn ich jede Einwirkung
der Umgebung weg liesse, nicht etwas geradezu Unmoegliches an ihre
Stelle zu setzen und den Gegenstand seines Lebens zu berauben, weil er
dadurch aus jeder Umgebung gerueckt wuerde, keinen Platz seines Daseins
und also ueberhaupt kein Dasein haette. Was die wirkliche Ortsfarbe der
Schnitzereien sei, wuerde sich aus dem Ganzen schon ergeben und muesste
aus ihm erkannt worden. Ich wendete bei der Arbeit sehr viele Muehe auf
und suchte sie so genau, als es meiner Kraft und meinen Kenntnissen
moeglich war, zu verrichten. Ich erhoehte und vertiefte die Farben so
lange und suchte nach dem richtigen Tone und dem erforderlichen Feuer
so lange, bis das Bild, neben die Gegenstaende gestellt, aus der Ferne
von ihnen nicht zu unterscheiden war. Die Zeichnung des Bildes musste
richtig sein, weil sie vollkommen genau nach dem urspruenglichen
Entwurfe gemacht worden war, den ich nach mathematischen Weisungen
zusammen gestellt hatte. Als die Sache nach meiner Meinung fertig war,
zeigte ich sie dem Vater, welcher sie auch mit Ausnahme von kleinen
Anstaenden, die er erhob, billigte. Die Anstaende beseitigte ich zu
seiner Zufriedenheit. Hierauf wurde alles in taugliche Faecher gebracht
und zur Vorfuehrung bereit gehalten.
Es waren fast die Tage des Vorfruehlings herangekommen, ehe ich mit
diesem Werke fertig war. Dies hatte seinen Grund auch vorzueglich
darin, dass ich die spaeteren hellen Wintertage mehr als die frueheren
trueben hatte benuetzen koennen.
Im Fruehlinge trat ich meine Reise wieder an.
Ich machte zuerst einen Besuch bei meinem Gastfreunde, brachte ihm die
Faecher, in denen die Abbildungen der Pfeilerverkleidungen enthalten
waren, und haendigte ihm sowohl den Entwurf als auch das Farbenbild der
Schnitzereien ein. Er berief Eustach in seine Stube, in welcher die
Dinge ausgepackt wurden, herueber. Beide sprachen sich sehr guenstig
ueber die Arbeit aus, und zwar guenstiger als ueber jede fruehere, die ich
ihnen vorgelegt hatte. Ich war darueber sehr erfreut. Eustach sagte,
dass man sehr gut die Ortsfarben und die, welche durch fremde
Einwirkungen entstanden waren, unterscheiden koenne, und dass man aus
den letzten die Beschaffenheit der Umgebungen zu ahnen vermoege. Sie
stellten das Bild in die noetige Entfernung und betrachteten es mit
Gefallen. Besonders anerkennend sprach Eustach ueber die Richtigkeit
und Brauchbarkeit des unfarbigen Entwurfes.
Ich reiste nach dem kurzen Besuche in dem Rosenhause in die Gegend der
Tann, blieb auch dort nur kurz und drang tiefer in das Gebirge ein,
um eine Mittelstelle zu finden, von der aus ich meine neuen Arbeiten
unternehmen koennte. Als ich eine solche gefunden hatte, ging ich in
das Lauterthal und dort in das Ahornwirtshaus, um meinen Kaspar und
die Andern, welche mir im vorigen Jahre geholfen hatten, auch fuer
das heutige zu dingen. Als dies, wie ich glaube zu gegenseitiger
Zufriedenheit, abgetan war, blieb ich noch einige Tage in dem
Ahornhause, teils damit sich meine Leute zu der Abreise ruesten
konnten, teils um das mir liebgewordene Haus, das liebgewordene Tal
und die Umgebung wieder ein wenig zu geniessen. Ich ging bei dieser
Gelegenheit mehrere Male in das Rothmoor, um dort nachzusehen, was man
eben fuer Gegenstaende aus Marmor mache. Mir schien es, als waere die
Anstalt seit einem Jahre sehr gediehen. Ich besprach mich auch dort
ueber Arbeiten, die fuer mich auszufuehren waeren, falls ich den hiezu
noetigen Marmor faende. Erkundigungen, um auf Spuren der Ergaenzungen der
Pfeilerverkleidungen meines Vaters, die ich in dieser Gegend gekauft
hatte, zu kommen, waren auch heuer wie in frueherer Zeit fruchtlos.
Ein Ereignis trat in dem Lauterthale ein, das mich sehr erheiterte.
Mein Zitherspiellehrer, der einige Zeit gleichsam verschollen war, war
wieder da. Er zeigte viele Freude, mich zu sehen, und sagte, er wolle
mir in das Kargrat folgen, welches jetzt der Mittelpunkt meiner
Arbeiten war, ein Doerfchen auf grasigen, baum- und buschlosen Anhoehen,
ganz nahe dem ewigen Eise, mit armen Bewohnern und einem vielleicht
noch aermeren, genuegsamen Pfarrer. Er sagte, er wolle diejenigen
Arbeiten, die ich ihm auftragen werde, gegen Lohn verrichten, und in
freier Zeit wollen wir auf der Zither spielen. Er habe noch keinen
Schueler gehabt, mit dem ihm die Uebungen auf der Zither so viele Freude
gemacht haetten. Ich beschloss, einen Versuch zu wagen, und wir wurden
ueber die gegenseitigem Bedingungen einig.
Als alles in Bereitschaft war, gingen wir aus dem Ahornhause in das
Kargrat ab. Ich ging mit den Leuten auf abgelegenen und schneller zum
Ziele fuehrenden Gebirgspfaden. Nur einmal hatten wir eine Strecke
gebahnter Strasse, auf welcher ich zwei leichte Waegen mietete. Im
Kargrat fand ich ein kleines Zimmerchen. Fuer meine Leute wurde eine
Scheune zurecht gerichtet, und zur Aufbewahrung meiner Gegenstaende
wurde aus Brettern ein ganz kleines Haeuschen eigens erbaut. Wir waren
nun in der Naehe der hoechsten Hoehen. In mein winziges Fenster sahen die
drei Schneehaeupter der Leiterkoepfe, hinter denen die steile, ziemlich
schlanke, blendend weisse Nadel der Karspitze hervorragte, und neben
denen die edelsteinglaenzenden Baenke der Stimmen oder des Simmieises
sich dehnten. Um den sehr spitzen Kirchturm des Doerfchens wehte die
scharfe, fast harte Gebirgsluft und senkte sich auf unsere Haeupter und
Angesichter nieder. Weit ab gegen die Tiefe zu lagen die anderen Berge
und die dichter bewohnten und bevoelkerten Laender.
Ueber das Zitherspiel meines wiedergefundenen Lehrers war ich wirklich
sehr erfreut. Ich hatte in der Zeit, waehrend welcher ich ihn nicht
gesehen hatte, schon beinahe vergessen, wie vortrefflich er spiele.
Alles, was ich seit dem gehoert hatte, erblasste zur Unbedeutenheit
gegen sein Spiel, von dem ich den Ausdruck "hoechste Herrlichkeit"
gebrauchen muss. Er scheint von diesem seinem Musikgeraete auch
ergriffen und beherrscht zu sein; wenn er spielt, ist er ein anderer
Mensch und greift in seine und in die Tiefen anderer Menschen, und
zwar in gute. Auf diesen Berghoehen war das schoene Spiel fast noch
schoener, noch ruehrender und einsamer.
Wie uns im vorigen Jahre Waelder und Waende eingeschlossen hatten und
nur wenige Stellen uns freien Umblick verschafften, so waren wir heuer
fast immer auf freien Hoehen, und nur ausnahmsweise umschlossen uns
Waende oder Waelder. Der haeufigste Begleiter unserer Bestrebungen war
das Eis.
Als die Kalendertage sagten, dass die Rosenbluete schon beinahe vorueber
sein muesse, beschloss ich, meine Freunde zu besuchen. Ich ordnete im
Kargrat alles fuer meine Abwesenheit und Wiederkunft an und begab mich
auf den Weg.
Als ich in dem Asperhofe ankam, sagten mir der Gaertner und die
Dienstleute, dass Mathilde, Natalie, mein Gastfreund, Eustach, Roland
und Gustav in den Sternenhof fort seien. Die Rosen waren schon
verblueht, und man hatte mich nicht mehr erwartet. Mein Gastfreund
hatte gesagt, dass ich, weil ich ihm im Fruehlinge mitgeteilt hatte, dass
ich heuer ganz nahe an dem Simmieise wohnen werde, wahrscheinlich im
Sommer von dorther den weiten Weg nicht werde haben machen wollen, und
dass zu vermuten sei, dass ich im Herbst meine Arbeit abkuerzen und auf
eine Zeit bei meinen Freunden einsprechen werde. Sollte ich aber
dennoch kommen, so hatten die Leute den Auftrag, zu sagen, dass man
mich bitte, in den Sternenhof nachzukommen.
Ich mietete also des andern Tages auf der Post einen leichten Wagen
und schlug die Richtung nach dem Sternenhofe ein.
Als ich in der Umgebung desselben angekommen war, sah ich an Zaeunen
und in Gaerten noch manche Rose frisch bluehen, obwohl im Asperhofe
weder auf dem Gitter noch im Garten eine zu erblicken gewesen war,
ausser mancher welken und gerunzelten Blume, die man abzunehmen
vergessen hatte. Auch auf der Anhoehe, die zu dem Schlosse empor
leitete, waren an Rosenbueschen, die gelegentlich den Rasen saeumten,
weil man im Sternenhofe die Rosen nicht eigens pflegte, sondern sie
nur wie gewoehnlich als schoenen Gartenschmuck zog, noch Knospen, die
ihres Aufbrechens harrten. Diese Tatsache mag daher kommen, weil der
Sternenhof naeher an den Gebirgen und hoeher liegt als das Rosenhaus
meines Freundes.
In dem Hofe des Hauses nahmen die Leute mein Gepaeck und die Pferde in
Empfang und wiesen mich die grosse Treppe hinan. Da ich gemeldet worden
war, wurde ich in Mathildens Zimmer gefuehrt und fand sie in demselben
allein. Sie ging mir fast bis zu der Tuer entgegen und empfing mich
mit derselben offenen Herzlichkeit und Freundlichkeit, die ihr immer
eigen war. Sie fuehrte mich zu dem Tische, der an einem mit Blumen
geschmueckten Fenster stand, wo sie gerne sass, und wies mir ihr
gegenueber einen Stuhl an dem Tische an. Als wir uns gesetzt hatten,
sagte sie: "Es freut mich sehr, dass ihr noch gekommen seid, wir haben
geglaubt, dass ihr heuer den weiten Weg nicht machen wuerdet."
"Wo man mich so freundlich aufnimmt", antwortete ich, "und wo man
mich so guetig behandelt, dahin mache ich gerne einen Weg, ich mache
ihn jedes Jahr, wenn er auch weit ist, und wenn ich auch meine
Beschaeftigung unterbrechen muss."
"Und jetzt findet ihr mich und Natalien nur allein in diesem Hause",
erwiderte sie, "die Maenner, da sie sahen, dass ihr nach dem Abbluehen
der Rosen noch nicht gekommen waret, meinten, ihr wuerdet im Sommer nun
gar nicht mehr kommen, und haben eine kleine Reise angetreten, die
auch Gustav mitmacht, weil er das Reisen so liebt. Sie besuchen eine
kleine Kirche in einem abgelegenen Gebirgstale, deren Zeichnung Roland
gebracht hat. Die Kirche wurde in der Zeichnung sehr schoen befunden,
und zu ihr sind sie nun unter Rolands Fuehrung auf dem Wege. Wo sie
nach der Besichtigung derselben hinfahren werden, weiss ich nicht; aber
das weiss ich, dass sie nur einige Tage ausbleiben und in den Sternenhof
zurueckkehren werden. Ihr muesst sie hier erwarten, sie werden eine
Freude haben, euch zu sehen, und ich werde mich bemuehen, alles
Erforderliche einzuleiten, dass ihr indessen hier die beste
Bequemlichkeit haben koennet."
"Der Bequemlichkeit", erwiderte ich, "bin ich weder gewohnt, noch
schlage ich sie hoch an. Ich moechte nur nicht eine Stoerung in euer
jetziges einsames Hauswesen bringen. Das Hoechste, was mir zu Teil
werden kann, habe ich empfangen, eine freundliche Aufnahme."
"Wenn auch gewiss eine freundliche Aufnahme das Hoechste ist, und wenn
ihr auch eine Bequemlichkeit nicht begehret", antwortete sie, "so ist
die Freundlichkeit in den Mienen bei der Aufnahme eines Gastes nicht
das Einzige, so schaetzenswert sie dort ist, sondern sie muss sich auch
in der Tat aeussern, und es muss uns erlaubt sein, unsere Pflicht, die
uns lieb ist, zu erfuellen, und dem Gaste eine so gute Wohnlichkeit zu
bereiten, als es die Umstaende erlauben, er mag sie nun benutzen oder
nicht."
"Was ihr fuer eine Pflicht haltet, will ich nicht bestreiten",
antwortete ich, "ich will es nicht beirren, nur wuenschen muss ich, dass
es mit so wenig eigener Aufopferung als moeglich verbunden ist."
"Diese wird nicht gross sein", sagte sie, "auf einige Aufmerksamkeit
in Hinsicht der Genauigkeit und Willigkeit der Leute koemmt es an, und
diese muesset ihr mir schon erlauben."
Sie zog mit diesen Worten an einer Glockenschnur und bedeutete den
hereinkommenden Diener, dass er ihr den Hausverwalter rufe.
Da dieser erschienen war, sagte sie ihm mit sehr einfachen und kurzen
Worten, dass fuer einen laengeren Aufenthalt fuer mich in dem Hause auf
das Beste gesorgt werden moege. Als er sich entfernen wollte, trug sie
ihm noch auf, vorerst dem Fraeulein zu sagen, wer gekommen sei, sie
wuerde es spaeter auch selber melden, und zum Abendessen wuerden wir in
dem Speisezimmer zusammen kommen.
Der Hausverwalter entfernte sich, und Mathilde sagte, jetzt waere das
Hauptsaechlichste getan, und es eruebrige spaeter nur noch, sich einen
Bericht ueber die Mittel und die Art der Ausfuehrung geben zu lassen.
Wir gingen nun auf andere Gespraeche ueber. Mathilde fragte mich um mein
Befinden und um das Allgemeine meiner Beschaeftigungen, denen ich mich
in diesem Sommer hingegeben habe.
Ich antwortete ihr, dass mein koerperliches Befinden immer gleich wohl
geblieben sei. Man habe mich von Kindheit an zu einem einfachen Leben
angeleitet, und dieses, verbunden mit viel Aufenthalt im Freien, habe
mir eine dauernde und heitere Gesundheit gegeben. Mein geistiges
Befinden haenge von meinen Beschaeftigungen ab. Ich suche dieselben
nach meiner Einsicht zu regeln, und wenn sie geordnet und nach meiner
Meinung mit Aussicht auf einen Erfolg vor sich gehen, so geben sie
mir Ruhe und Haltung. Sie sind aber in den letzten Jahren, was meine
Hauptrichtung anbelangt, fast immer dieselben geblieben, nur der
Schauplatz habe sich geaendert. Die Nebenrichtungen sind freilich
andere geworden, und dies werde wohl fortdauern, so lange das Leben
daure.
Hierauf fragte ich nach dem Wohlbefinden aller unserer Freunde.
Mathilde antwortete, man koenne hierueber sehr befriedigt sein. Mein
Gastfreund fahre in seinem einfachen Leben fort, er bestrebe sich, dass
sein kleiner Fleck Landes seine Schuldigkeit, die jedem Landbesitze
zum Zwecke des Bestehenden obliege, bestmoeglich erfuelle, er tue seinen
Nachbarn und andern Leuten viel Gutes, er tue es ohne Gepraenge und
suche hauptsaechlich, dass es in ganzer Stille geschehe, er schmuecke
sich sein Leben mit der Kunst, mit der Wissenschaft und mit
andern Dingen, die halb in dieses Gebiet, halb beinahe in das der
Liebhabereien schlagen, und er suche endlich sein Dasein mit jener
Ruhe der Anbetung der hoechsten Macht zu erfuellen, die alles Bestehende
ordnet. Was zuletzt auch noch zum Gluecke gehoert, das Wohlwollen der
Menschen, komme ihm von selber entgegen. Eustach und der ziemlich
selbstaendige Roland haben sich zum Teile an dieses Gewebe von
Taetigkeiten angeschlossen, zum Teile folgen sie eigenen Antrieben und
Verhaeltnissen. Gustav strebe erst auf der Leiter seiner Jugend empor,
und sie glaube, er strebe nicht unrichtig. Wenn dieses sei, so werde
dann die letzte Sprosse an jede Hoehe dieses Lebens anzulegen sein, auf
der ihm einmal zu wandeln bestimmt sein duerfte. Was endlich sie selber
und Natalie betreffe, so sei das Leben der Frauen immer ein abhaengiges
und ergaenzendes, und darin fuehle es sich beruhigt und befestigt. Sie
beide haetten den Halt von Verwandten und nahen Angehoerigen, dem sie
zur Festigung von Natur aus zugewiesen waeren, verloren, sie leben
unsicher auf ihrem Besitztume, sie muessten Manches aus sich schoepfen
wie ein Mann und geniessen der weiblichen Rechte nur in dem
Widerscheine des Lebens ihrer Freunde, mit dem der Lauf der Jahre sie
verbunden habe. Das sei die Lage, sie daure ihrer Natur nach so fort
und gebe ihrer Entwicklung entgegen. Mich hatte diese Darstellung
Mathildens beinahe ernst gemacht. Die Stimmung milderte sich wieder,
da wir auf die Erzaehlung von Dingen kamen, die sich in diesem Sommer
zugetragen hatten. Mathilde berichtete mir ueber die Rosenbluete, ueber
die Besuche in derselben, ueber ihr Leben auf dem Sternenhofe und ueber
das Gedeihen alles dessen, was der Jahresernte entgegen sehe. Ich
beschrieb ihr ein wenig meinen jetzigen Aufenthaltsort, erklaerte ihr,
was ich anstrebe, und erzaehlte ihr, auf welchen Wegen und mit welchen
Mitteln wir es auszufuehren versuchen.
Nachdem das Gespraech auf diese Art eine Zeit gedauert hatte, empfahl
ich mich und begab mich in mein Zimmer.
Es war mir dieselbe Wohnung eingeraeumt und hergerichtet worden, welche
ich jedes Mal, so oft ich in dem Sternenhofe gewesen war, inne gehabt
hatte. Ein Diener hatte mich von dem Vorzimmer Mathildens in dieselbe
gefuehrt. Sie hatte beinahe genau dasselbe Ansehen wie frueher, wenn ich
ein Bewohner dieses Hauses gewesen war. Sogar die Buecher, welche der
Hausverwalter jedes Mal zu meiner Beschaeftigung herbeigeschafft hatte,
waren nicht vergessen worden. Nachdem ich mich eine Weile allein
befunden hatte, trat dieser Hausverwalter herein und fragte mich, ob
alles in der Wohnung in gehoeriger Ordnung sei oder ob ich einen Wunsch
habe. Als ich ihm die Versicherung gegeben hatte, dass alles ueber meine
Beduerfnisse trefflich sei, und nachdem ich ihm fuer seine Muehe und
Sorgfalt gedankt hatte, entfernte er sich wieder.
Ich ueberliess mich eine Zeit der Ruhe, dann ging ich in den Raeumen
herum, sah bald bei dem einen, bald bei dem andern Fenster auf die
bekannten Gegenstaende, auf die nahen Felder und auf die entfernten
Gebirge hinaus und kleidete mich dann zu dem Abendessen anders an.
Zu diesem Abendessen wurde ich bald, da ich spaet am Tage in dem
Schlosse angekommen war, gerufen.
Ich begab mich in den Speisesaal und fand dort bereits Mathilden und
Natalien. Mathilde hatte sich anders angekleidet, als ich sie bei
meiner Ankunft in ihrem Zimmer getroffen hatte. Von Natalien wusste ich
dies nicht; aber da sie ein aehnliches Kleid anhatte wie Mathilde, so
vermutete ich es und musste ueberzeugt sein, dass man ihr meine Ankunft
gemeldet habe. Wir begruessten uns sehr einfach und setzten uns zu dem
Tische.
Mir war es aeusserst seltsam und befremdend, dass ich mit Mathilden und
Natalien allein in ihrem Hause bei dem Abendtische sitze.
Die Gespraeche bewegten sich um gewoehnliche Dinge.
Nach dem Speisen entfernte ich mich bald, um die Frauen nicht zu
belaestigen, und zog mich in meine Wohnung zurueck.
Dort beschaeftigte ich mich eine Zeit mit Papieren und Buechern, die
ich aus meinem Koffer hervorgesucht hatte, geriet dann in Sinnen und
Denken und begab mich endlich zur Ruhe.
Der folgende Tag wurde zu einem einsamen Morgenspaziergange benuetzt,
dann fruehstueckten wir mit einander, dann gingen wir in den Garten,
dann beschaeftigte ich mich bei den Bildern in den Zimmern. Der
Nachmittag wurde zu einem Gange in Teile des Meierhofes und auf die
Felder verwendet, und der Abend war wie der vorhergegangene.
Mit Natalien war ich, da sie jetzt mit ihrer Mutter allein in dem
Schlosse wohnte, beinahe fremder als ich es sonst unter vielen Leuten
gewesen war.
Wir hatten an diesem Tage nicht viel mit einander gesprochen und nur
die allergewoehnlichsten Dinge.
Der zweite Tag verging wie der erste. Ich hatte die Bilder wieder
angesehen, ich war in den Zimmern mit den altertuemlichen Geraeten
gewesen und hatte den Gaengen, Gemaechern und Abbildungen des oberen
Stockwerkes einen Besuch gemacht.
Am dritten Tage meines Aufenthaltes in dem Sternenhofe, nachmittags,
da ich eine Weile in die Zeilen des alten Homer geblickt hatte, wollte
ich meine Wohnung, in der ich mich befand, verlassen und in den Garten
gehen. Ich legte die Worte Homers auf den Tisch, begab mich in das
Vorzimmer, schloss die Tuer meiner Wohnung hinter mir ab und ging ueber
die kleinere Treppe im hinteren Teile des Hauses in den Garten.
Es war ein sehr schoener Tag, keine einzige Wolke stand an dem Himmel,
die Sonne schien warm auf die Blumen, daher es stille von Arbeiten
und selbst vom Gesange der Voegel war. Nur das einfache Scharren und
leise Haemmern der Arbeiter hoerte ich, welche mit der Hinwegschaffung
der Tuenche des Hauses in der Naehe meines Ausganges auf Geruesten
beschaeftigt waren. Ich ging neben Gebueschen und verspaeteten Blumen
einem Schatten zu, welcher sich mir auf einem Sandwege bot, der mit
ziemlich hohen Hecken gesaeumt war. Der Sandweg fuehrte mich zu den
Linden, und von diesen ging ich durch eine Ueberlaubung der Eppichwand
zu. Ich ging an ihr entlang und trat in die Grotte des Brunnens. Ich
war von der linken Seite der Wand gekommen, von welcher man beim
Herannahen den schoeneren Anblick der Quellennymphe hat, dafuer aber das
Baenkchen nicht gewahr wird, welches in der Grotte der Nymphe gegenueber
angebracht ist. Als ich eingetreten war, sah ich Natalien auf dem
Baenklein sitzen. Sie war sehr erschrocken und stand auf. Ich war
auch erschrocken; dennoch sah ich in ihr Angesicht. In demselben war
ein Schwanken zwischen Rot und Blass, und ihre Augen waren auf mich
gerichtet.
Ich sagte: "Mein Fraeulein, ihr werdet mir es glauben, wenn ich euch
sage, dass ich von dem Laubgange an der linken Seite dieser Wand gegen
die Grotte gekommen bin und euch habe nicht sehen koennen, sonst waere
ich nicht eingetreten und haette euch nicht gestoert."
Sie antwortete nichts und sah mich noch immer an.
Ich sagte wieder: "Da ich euch nun einmal beunruhigt habe, wenn auch
gegen meinen Willen, so werdet ihr mir es wohl guetig verzeihen, und
ich werde mich sogleich entfernen."
"Ach nein, nein", sagte sie.
Da ich schwankte und die Bedeutung der Worte nicht erkannte, fragte
ich: "Zuernet ihr mir, Natalie?"
"Nein, ich zuerne euch nicht", antwortete sie, und richtete die Augen,
die sie eben niedergeschlagen hatte, wieder auf mich.
"Ihr seid auf diesen Platz gegangen, um allein zu sein", sagte ich,
"also muss ich euch verlassen."
"Wenn ihr mich nicht aus Absicht meidet, so ist es nicht ein Muessen,
dass ihr mich verlasset", antwortete sie.
"Wenn es nicht eine Pflicht ist, euch zu verlassen", erwiderte
ich, "so muesst ihr euren Platz wieder einnehmen, von dem ich euch
verscheucht habe. Tut es, Natalie, setzt euch auf eure fruehere Stelle
nieder."
Sie liess sich auf das Baenkchen nieder, ganz vorn gegen den Ausgang,
und stuetzte sich auf die Marmorlehne.
Ich kam nun auf diese Weise zwischen sie und die Gestalt zu stehen.
Da ich dieses fuer unschicklich hielt, so trat ich ein wenig gegen den
Hintergrund. Allein jetzt stand ich wieder aufrecht vor dem leeren
Teile der Bank in der nicht sehr hohen Halle, und da mir auch dieses
eher unziemend als ziemend erschien, so setzte ich mich auf den
andern Teil der Bank und sagte: "Liebt ihr wohl diesen Platz mehr als
andere?"
"Ich liebe ihn", antwortete sie, "weil er abgeschlossen ist und weil
die Gestalt schoen ist. Liebt ihr ihn nicht auch?"
"Ich habe die Gestalt immer mehr lieben gelernt, je laenger ich sie
kannte", antwortete ich.
"Ihr ginget frueher oefter her?" fragte sie.
"Als ich durch die Guete eurer Mutter manche Geraete in dem Sternenhofe
zeichnete und fast allein in demselben wohnte, habe ich oft diese
Halle besucht", erwiderte ich. "Und spaeter auch, wenn ich durch
freundliche Einladung hieher kam, habe ich nie versaeumt, an diese
Stelle zu gehen."
"Ich habe euch hier gesehen", sagte sie.
"Die Anlage ist gemacht, dass sie das Gemuet und den Verstand erfuellet",
antwortete ich, "die gruene Wand des Eppichs schliesst ruhig ab, die
zwei Eichen stehen wie Waechter und das Weiss des Steins geht sanft von
dem Dunkel der Blaetter und des Gartens weg."
"Es ist alles nach und nach entstanden, wie die Mutter erzaehlt",
erwiderte sie, "der Eppich ist erzogen worden, die Wand vergroessert,
erweitert und bis an die Eichen gefuehrt. Selbst in der Halle war
es einmal anders. Die Bank war nicht da. Aber da der Marmor so oft
betrachtet wurde, da die Menschen vor ihm standen oder selbst in der
Halle neben ihm, da die Mutter ebenfalls die Gestalt gerne betrachtete
und lange betrachtete: so liess sie aus dem gleichen Stoffe, aus dem
die Nymphe gearbeitet ist, diese Bank machen, und liess dieselbe mit
der kunstreichen, vorchristlich ausgefuehrten Lehne versehen, damit sie
einerseits zu dem vorhandenen Werke stimme und damit andererseits das
Werk mit Ruhe und Erquickung angesehen werden koenne. Mit der Zeit ist
auch die Alabasterschale hieher gekommen."
"Die Menschen werden von solchen Werken gezogen", antwortete ich, "und
die Lust des Schauens findet sich."
"Ich habe diese Gestalt von meiner Kindheit an gesehen und habe mich
an sie gewoehnt", sagte sie, "haltet ihr nicht auch den blossen Stein
schon fuer sehr schoen?"
"Ich halte ihn fuer ganz besonders schoen", erwiderte ich.
"Mir ist immer, wenn ich ihn lange betrachte", sagte sie, "als haette
er eine sehr grosse Tiefe, als sollte man in ihn eindringen koennen und
als waere er durchsichtig, was er nicht ist. Er haelt eine reine Flaeche
den Augen entgegen, die so zart ist, dass sie kaum Widerstand leistet
und in der man als Anhaltspunkte nur die vielen feinen Splitter
funkeln sieht."
"Der Stein ist auch durchsichtig", antwortete ich, "nur muss man eine
duenne Schichte haben, durch die man sehen will. Dann scheint die Welt
fast goldartig, wenn man sie durch ihn ansieht. Wenn mehrere Schichten
uebereinander liegen, so werden sie in ihrem Anblicke von Aussen weiss,
wie der Schnee, der auch aus lauter durchsichtigen kleinen Eisnadeln
besteht, weiss wird, wenn Millionen solcher Nadeln auf einander
liegen."
"So habe ich nicht unrecht empfunden", sagte sie.
"Nein", erwiderte ich, "ihr habt recht geahnt."
"Wenn die Edelsteine nicht nach dem geachtet werden, was sie kosten",
sagte sie, "sondern nach dem, wie sie edel sind, so gehoert der Marmor
gewiss unter die Edelsteine."
"Er gehoert unter dieselben, er gehoert gewisslich unter dieselben",
erwiderte ich. "Wenn er auch als blosser Stoff nicht so hoch im Preise
steht wie die gesuchten Steine, die nur in kleinen Stuecken vorkommen,
so ist er doch so auserlesen und so wunderbar, dass er nicht bloss in
der weissen, sondern auch in jeder andern Farbe begehrt wird, dass man
die verschiedensten Dinge aus ihm macht, und dass das Hoechste, was
menschliche bildende Kunst darzustellen vermag, in der Reinheit des
weissen Marmors ausgefuehrt wird."
"Das ist es, was mich auch immer sehr ergriff, wenn ich hier sass und
betrachtete", sagte sie, "dass in dem harten Steine das Weiche und
Runde der Gestaltung ausgedrueckt ist, und dass man zu der Darstellung
des Schoensten in der Welt den Stoff nimmt, der keine Makel hat. Dies
sehe ich sogar immer an der Gestalt auf der Treppe unsers Freundes,
welche noch schoener und ehrfurchterweckender als dieses Bildwerk
hier ist, wenngleich ihr Stoff in der Laenge der vielen Jahre, die er
gedauert hat, verunreinigt worden war."
"Es ist gewiss nicht ohne Bedeutung", entgegnete ich, "dass die Menschen
in den edelsten und selbst hie und da aeltesten Voelkern zu diesem
Stoffe griffen, wenn sie hohes Goettliches oder Menschliches bilden
wollten, waehrend sie Ausschmueckungen in Laubwerk, Simsen, Saeulen,
Tiergestalten und selbst untergeordnete Menschen- und Goetterbilder
aus farbigem Marmor, aus Sandstein, aus Holz, Ton, Gold oder Silber
verfertigten. Es waere zugaenglicherer, behandelbarerer Stoff gewesen:
Holz, Erde, weicher Stein, manche Metalle; sie aber gruben weissen
Marmor aus der Erde und bildeten aus ihm. Aber auch die andern
Edelsteine, aus denen man verschiedene Dinge macht, geschnittene
Steine, allerlei Gestalten, Blumen- und Zierwerk, so wie endlich
diejenigen, die man besonders Edelsteine nennt und zum Schmucke der
menschlichen Gestalt und hoher Dinge anwendet, haben in ihrem Stoffe
etwas, das anzieht und den menschlichen Geist zu sich leitet, es ist
nicht bloss die Seltenheit oder das Schimmern, das sie wertvoll macht."
"Habt ihr auch die Edelsteine kennen zu lernen gesucht?" fragte sie.
"Ein Freund hat mir Vieles von ihnen gezeigt und erklaert", antwortete
ich.
"Sie sind freilich fuer die Menschen sehr merkwuerdig", sagte sie.
"Es ist etwas Tiefes und Ergreifendes in ihnen", antwortete ich,
"gleichsam ein Geist in ihrem Wesen, der zu uns spricht, wie zum
Beispiele in der Ruhe des Smaragdes, dessen Schimmerpunkten kein
Gruen der Natur gleicht, es muesste nur auf Vogelgefiedern, wie das des
Colibri, oder auf den Fluegeldecken von Kaefern sein - wie in der Fuelle
des Rubins, der mit dem rosensammtnen Lichtblicke gleichsam als der
vornehmste unter den gefaerbten Steinen zu uns aufsieht - wie in dem
Raetsel des Opals, der unergruendlich ist - und wie in der Kraft des
Diamantes, der wegen seines grossen Lichtbrechungsvermoegens in einer
Schnelligkeit wie der Blitz den Wechsel des Feuers und der Farben
gibt, den kaum die Schneesterne noch der Spruehregen des Wasserfalles
haben. Alles, was den edlen Steinen nachgemacht wird, ist der Koerper
ohne diesen Geist, es ist der inhaltleere, sproede, harte Glanz statt
der reichen Tiefe und Milde."
"Ihr habt von der Perle nicht gesprochen."
"Sie ist kein Edelstein, gesellt sich aber im Gebrauche gerne zu ihm.
In ihrem aeussern Ansehen ist sie wohl das Bescheidenste; aber nichts
schmueckt mit dem so sanft umflorten Seidenglanze die menschliche
Schoenheit schoener als die Perle. Selbst an dem Kleide eines Mannes, wo
sie etwas haelt, wie die Schleife des Halstuches oder wie die Falte des
Brustlinnens, duenkt sie mich das Wuerdigste und Ernsteste."
"Und liebt ihr die Edelsteine als Schmuck?" fragte sie.
"Wenn die schoensten Steine ihrer Art ausgewaehlt werden", antwortete
ich, "wenn sie in einer Fassung sind, welche richtigen Kunstgesetzen
entspricht, und wenn diese Fassung an der Stelle, wo sie ist, einen
Zweck erfuellt, also notwendig erscheint: dann ist wohl kein Schmuck
des menschlichen Koerpers feierlicher als der der Edelsteine."
Wir schwiegen nach diesen Worten, und ich konnte Natalien jetzt erst
ein wenig betrachten. Sie hatte ein mattes hellgraues Seidenkleid an,
wie sie es ueberhaupt gerne trug. Das Kleid reichte, wie es bei ihr
immer der Fall war, bis zum Halse und bis zu den Knoecheln der Hand.
Von Schmuck hatte sie gar nichts an sich, nicht das Geringste, waehrend
ihr Koerper doch so stimmend zu Edelsteinen gewesen waere. Ohrgehaenge,
welche damals alle Frauen und Maedchen trugen, hatte weder Mathilde je,
seit ich sie kannte, getragen, noch trug sie Natalie.
In unserem Schweigen sahen wir gleichsam wie durch Verabredung gegen
das rieselnde Wasser.
Endlich sagte sie: "Wir haben von dem Angenehmen dieses Ortes
gesprochen und sind von dem edlen Steine des Marmors auf die
Edelsteine gekommen; aber eines Dinges waere noch Erwaehnung zu tun, das
diesen Ort ganz besonders auszeichnet."
"Welches Dinges?"
"Des Wassers. Nicht bloss, dass dieses Wasser vor vielen, die ich kenne,
gut zur Erquickung gegen den Durst ist, so hat sein Spielen und sein
Fliessen gerade an dieser Stelle und durch diese Vorrichtungen etwas
Besaenftigendes und etwas Beachtungswertes."
"Ich fuehle wie ihr", antwortete ich, "und wie oft habe ich dem schoenen
Glaenzen und dem schattenden Dunkel dieses lebendigen fluechtigen
Koerpers an dieser Stelle zugesehen, eines Koerpers, der wie die Luft
wohl viel bewunderungswuerdiger waere als es die Menschen zu erkennen
scheinen."
"Ich halte auch das Wasser und die Luft fuer bewunderungswuerdig",
entgegnete sie, "die Menschen achten nur so wenig auf Beides, weil
sie ueberall von ihnen umgeben sind. Das Wasser erscheint mir als das
bewegte Leben des Erdkoerpers, wie die Luft sein ungeheurer Odem ist."
"Wie richtig sprecht ihr", sagte ich, "und es sind auch Menschen
gewesen, die das Wasser sehr geachtet haben; wie hoch haben die
Griechen ihr Meer gehalten, und wie riesenhafte Werke haben die Roemer
aufgefuehrt, um sich das Labsal eines guten Wassers zuzuleiten. Sie
haben freilich nur auf den Koerper Ruecksicht genommen und haben
nicht, wie die Griechen die Schoenheit ihres Meeres betrachteten, die
Schoenheit des Wassers vor Augen gehabt; sondern sie haben sich nur
dieses Kleinod der Gesundheit in bester Art verschaffen wollen. Und
ist wohl etwas ausser der Luft, das mit groesserem Adel in unser Wesen
eingeht als das Wasser? Soll nicht nur das reinste und edelste
sich mit uns vereinigen? Sollte dies nicht gerade in den
gesundheitverderbenden Staedten sein, wo sie aber nur Vertiefungen
machen und das Wasser trinken, das aus ihnen koemmt? Ich bin in den
Bergen gewesen, in Taelern, in Ebenen, in der grossen Stadt und habe
in der Hitze, im Durste, in der Bewegung den kostbaren Kristall des
Wassers und seine Unterschiede kennen gelernt. Wie erquickt der Quell
in den Bergen und selbst in den Huegeln, vorzueglich wenn er am reinsten
aus dem reinen Granit fliesst, und, Natalie, wie schoen ist ausserdem der
Quell!"
Hatte nun Natalie schon frueher einen Durst empfunden und hatte
derselbe ihr Gespraech auf das Wasser gelenkt, oder war durch das
Gespraech ein leichter Durst in ihr hervorgerufen worden: sie stand
nun auf, nahm die Alabasterschale in die Hand, liess sie sich in dem
sanften Strahle fuellen, setzte sie an ihre schoenen Lippen, trank einen
Teil des Wassers, liess das uebrige in das tiefere Becken fliessen,
stellte die leere Schale an ihren Platz und setzte sich wieder zu mir
auf die Bank.
Mir war das Herz ein wenig gedrueckt, und ich sagte: "Wenn wir beide
das Schoene dieses Ortes betrachtet und wenn wir von ihm und von andern
Dingen, auf die er uns fuehrte, gerne gesprochen haben, so ist doch
etwas in ihm, was mir Schmerz erregt."
"Was kann euch denn an diesem Orte Schmerz erregen?" fragte sie.
"Natalie", antwortete ich, "es ist jetzt ein Jahr, dass ihr mich an
dieser Halle absichtlich gemieden habt. Ihr sasset auf derselben Bank,
auf welcher ihr jetzt sitzet, ich stand im Garten, ihr tratet heraus
und ginget von mir mit beeiligten Schritten in das Gebuesch."
Sie wendete ihr Angesicht gegen mich, sah mich mit den dunklen Augen
an und sagte: "Dessen erinnert euch, und das macht euch Schmerz?"
"Es macht mir jetzt im Rueckblicke Schmerz und hat ihn mir damals
gemacht", antwortete ich.
"Ihr habt mich ja aber auch gemieden", sagte sie.
"Ich hielt mich ferne, um nicht den Schein zu haben, als draenge ich
mich zu euch", entgegnete ich.
"War ich euch denn von einer Bedeutung?" fragte sie.
"Natalie", antwortete ich, "ich habe eine Schwester, die ich im
hoechsten Masse liebe, ich habe viele Maedchen in unserer Stadt und in
dem Lande kennen gelernt; aber keines, selbst nicht meine Schwester,
achte ich so hoch wie euch, keines ist mir stets so gegenwaertig und
erfuellt mein ganzes Wesen wie ihr."
Bei diesen Worten traten die Traenen aus ihren Augen und flossen ueber
ihre Wangen herab.
Ich erstaunte, ich blickte sie an und sagte: "Wenn diese schoenen
Tropfen sprechen, Natalie, sagen sie, dass ihr mir auch ein wenig gut
seid?"
"Wie meinem Leben", antwortete sie.
Ich erstaunte noch mehr und sprach: "Wie kann es denn sein, ich habe
es nicht geglaubt."
"Ich habe es auch von euch nicht geglaubt", erwiderte sie.
"Ihr konntet es leicht wissen", sagte ich. "Ihr seid so gut, so rein,
so einfach. So seid ihr vor mir gewandelt, ihr waret mir begreiflich
wie das Blau des Himmels, und eure Seele erschien mir so tief wie das
Blau des Himmels tief ist. Ich habe euch mehrere Jahre gekannt, ihr
waret stets bedeutend vor der herrlichen Gestalt eurer Mutter und der
eures ehrwuerdigen Freundes, ihr waret heute, wie ihr gestern gewesen
waret und morgen wie heute, und so habe ich euch in meine Seele
genommen zu denen, die ich dort liebe, zu Vater, Mutter, Schwester -
nein, Natalie, noch tiefer, tiefer -"
Sie sah mich bei diesen Worten sehr freundlich an, ihre Traenen flossen
noch haeufiger, und sie reichte mir ihre Hand herueber.
Ich fasste ihre Hand, ich konnte nichts sagen und blickte sie nur an.
Nach mehreren Augenblicken liess ich ihre Hand los und sagte: "Natalie,
es ist mir nicht begreiflich, wie ist es denn moeglich, dass ihr mir gut
seid, mir, der gar nichts ist und nichts bedeutet?"
"Ihr wisst nicht, wer ihr seid", antwortete sie. "Es ist gekommen, wie
es kommen musste. Wir haben viele Zeit in der Stadt zugebracht, wir
sind oft den ganzen Winter in derselben gewesen, wir haben Reisen
gemacht, haben verschiedene Laender und Staedte gesehen, wir sind in
London, Paris und Rom gewesen. Ich habe viele junge Maenner kennen
gelernt. Darunter sind wichtige und bedeutende gewesen. Ich
habe gesehen, dass mancher Anteil an mir nahm; aber es hat mich
eingeschuechtert, und wenn einer durch sprechende Blicke oder durch
andere Merkmale es mir naeher legte, so entstand eine Angst in mir, und
ich musste mich nur noch ferner halten. Wir gingen wieder in die Heimat
zurueck. Da kamet ihr eines Sommers in den Asperhof, und ich sah euch.
Ihr kamet im naechsten Sommer wieder. Ihr waret ohne Anspruch, ich sah,
wie ihr die Dinge dieser Erde liebtet, wie ihr ihnen nach ginget und
wie ihr sie in eurer Wissenschaft hegtet - ich sah, wie ihr meine
Mutter verehrtet, unsern Freund hochachtetet, den Knaben Gustav
beinahe liebtet, von eurem Vater, eurer Mutter und eurer Schwester nur
mit Ehrerbietung sprachet, und da - - da -"
"Da, Natalie?"
"Da liebte ich euch, weil ihr so einfach, so gut und doch so ernst
seid."
"Und ich liebte euch mehr, als ich je irgend ein Ding dieser Erde zu
lieben vermochte."
"Ich habe manchen Schmerz um euch empfunden, wenn ich in den Feldern
herumging."
"Ich habe es ja nicht gewusst, Natalie, und weil ich es nicht wusste, so
musste ich mein Inneres verbergen und gegen jedermann schweigen, gegen
den Vater, gegen die Mutter, gegen die Schwester und sogar gegen mich.
Ich bin fortgefahren, das zu tun, was ich fuer meine Pflicht erachtete,
ich bin in die Berge gegangen, habe mir ihre Zusammensetzung
aufgeschrieben, habe Gesteine gesammelt und Seen gemessen, ich bin auf
den Rat eures Freundes einen Sommer beschaeftigungslos in dem Asperhofe
gewesen, bin dann wieder in die Wildnis gegangen und zu der Grenze des
Eises emporgestiegen. Ich konnte nur eure Mutter, euren Freund und
euren Bruder immer waermer lieben: aber, Natalie, wenn ich auf den
Hoehen der Berge war, habe ich euer Bild in dem heitern Himmel gesehen,
der ueber mir ausgespannt war, wenn ich auf die festen, starren Felsen
blickte, so erblickte ich es auch in dem Dufte, der vor denselben
webte, wenn ich auf die Laender der Menschen hinausschaute, so war es
in der Stille, die ueber der Welt gelagert war, und wenn ich zu Hause
in die Zuege der Meinigen blickte, so schwebte es auch in denen."
"Und nun hat sich alles recht geloeset."
"Es hat sich wohl geloeset, meine liebe, liebe Natalie."
"Mein teurer Freund!"
Wir reichten uns bei diesen Worten die Haende wieder und sassen
schweigend da.
Wie hatte seit einigen Augenblicken alles sich um mich veraendert, und
wie hatten die Dinge eine Gestalt gewonnen, die ihnen sonst nicht
eigen war. Nataliens Augen, in welche ich schauen konnte, standen in
einem Schimmer, wie ich sie nie, seit ich sie kenne, gesehen hatte.
Das unermuedlich fliessende Wasser, die Alabasterschale, der Marmor
waren verjuengt; die weissen Flimmer auf der Gestalt und die wunderbar
im Schatten bluehenden Lichter waren anders; die Fluessigkeit rann,
plaetscherte oder pippte oder toente im einzelnen Falle anders; das
sonnenglaenzende Gruen von draussen sah als ein neues freundlich herein,
und selbst das Haemmern, mit welchem man die Tuenche von den Mauern des
Hauses herabschlug, toente jetzt als ein ganz verschiedenes in die
Grotte von dem, das ich gehoert hatte, als ich aus dem Hause gegangen
war.
Nach einer geraumen Weile sagte Natalie: "Und von dem Abende im
Hoftheater habt ihr auch nie etwas gesprochen."
"Von welchem Abende, Natalie?"
"Als Koenig Lear aufgefuehrt wurde."
"Ihr seid doch nicht das Maedchen in der Loge gewesen?"
"Ich bin es gewesen."
"Nein, ihr seid so bluehend wie eine Rose, und jenes Maedchen war blass
wie eine weisse Lilie."
"Es musste mich der Schmerz entfaerbt haben. Ich war kindisch, und es
hat mir damals wohlgetan, in euren Augen allein unter allen denen, die
die Loge umgaben, ein Mitgefuehl mit meiner Empfindung zu lesen. Diese
Empfindung wurde durch euer Mitgefuehl zwar noch staerker, so dass
sie beinahe zu maechtig wurde; aber es war gut. Ich habe nie einer
Vorstellung beigewohnt, die so ergreifend gewesen waere. Ich sah es
als einen guenstigen Zufall an, dass mir eure Augen, die bei dem Leiden
des alten Koenigs uebergeflossen waren, bei dem Fortgehen aus dem
Schauspielhause so nahe kamen. Ich glaubte ihnen mit meinen Blicken
dafuer danken zu muessen, dass sie mir beigestimmt hatten, wo ich sonst
vereinsamt gewesen waere. Habt ihr das nicht erkannt?"
"Ich habe es erkannt und habe gedacht, dass der Blick des Maedchens
wohlwollend sei, und dass er ein Einverstaendnis ueber unsere
gemeinschaftliche Empfindung bei der Vorstellung bedeuten koenne."
"Und ihr habt mich also nicht wieder erkannt?"
"Nein, Natalie."
"Ich habe euch gleich erkannt, als ich euch in dem Asperhofe sah."
"Es ist mir lieb, dass es eure Augen gewesen sind, die mir den Dank
gesagt haben; der Dank ist tief in mein Gemuet gedrungen. Aber wie
konnte es auch anders sein, da eure Augen das Liebste und Holdeste
sind, was fuer mich die Erde hat."
"Ich habe euch schon damals in meinem Herzen hoeher gestellt als die
andern, obwohl ihr ein Fremder waret und obwohl ich denken konnte, dass
ihr mir in meinem ganzen Leben fremd bleiben werdet."
"Natalie, was mir heute begegnet ist, bildet eine Wendung in meinem
Leben, und ein so tiefes Ereignis, dass ich es kaum denken kann. Ich
muss suchen, alles zurecht zu legen und mich an den Gedanken der
Zukunft zu gewoehnen."
"Es ist ein Glueck, das uns ohne Verdienst vom Himmel gefallen, weil es
groesser ist als jedes Verdienst."
"Drum lasset uns es dankbar aufnehmen."
"Und ewig bewahren."
"Wie war es gut, Natalie, dass ich die Worte Homers, die ich heute
nachmittag las, nicht in mein Herz aufnehmen konnte, dass ich das Buch
weglegte, in den Garten ging und dass das Schicksal meine Schritte zu
dem Marmor des Brunnens lenkte."
"Wenn unsere Wesen zu einander neigten, obgleich wir es nicht
gegenseitig wussten, so wuerden sie sich doch zugefuehrt worden sein,
wann und wo es immer geschehen waere, das weiss ich nun mit Sicherheit."
"Aber sagt, warum habt ihr mich denn gemieden, Natalie?"
"Ich habe euch nicht gemieden, ich konnte mit euch nicht sprechen, wie
es mir in meinem Innern war, und ich konnte auch nicht so sein, als
ob ihr ein Fremder waeret. Doch war mir eure Gegenwart sehr lieb. Aber
warum habt denn auch ihr euch ferne von mir gehalten?"
"Mir war wie euch. Da ihr so weit von mir waret, konnte ich mich nicht
nahen. Eure Gegenwart verherrlichte mir Alles, was uns umgab, aber das
dunkle kuenftige Glueck schien mir unerreichbar."
"Nun ist doch erfuellet, was sich vorbereitete."
"Ja, es ist erfuellt."
Nach einem kleinen Schweigen fuhr ich fort: "Ihr habt gesagt, Natalie,
dass wir das Glueck, das uns vom Himmel gefallen ist, ewig aufbewahren
sollen. Wir sollen es auch ewig aufbewahren. Schliessen wir den Bund,
dass wir uns lieben wollen, so lange das Leben waehrt, und dass wir treu
sein wollen, was auch immer komme und was die Zukunft bringe, ob es
uns aufbewahrt ist, dass wir in Vereinigung die Sonne und den Himmel
geniessen, oder ob jedes allein zu beiden emporblickt und nur des
andern mit Schmerzen gedenken kann."
"Ja, mein Freund, Liebe, unveraenderliche Liebe, so lange das Leben
waehrt, und Treue, was auch die Zukunft von Gunst oder Ungunst bringen
mag."
"O Natalie, wie wallt mein Herz in Freude! Ich habe es nicht geahnt,
dass es so entzueckend ist, euch zu besitzen,- die mir unerreichbar
schien."
"Ich habe auch nicht gedacht, dass ihr euer Herz von den grossen Dingen,
denen ihr ergeben waret, wegkehren und mir zuwenden werdet."
"O meine geliebte, meine teure, ewig mir gehoerende Natalie!"
"Mein einziger, mein unvergesslicher Freund!"
Ich war von Empfindung ueberwaeltigt, ich zog sie naeher an mich und
neigte mein Angesicht zu ihrem. Sie wendete ihr Haupt herueber und gab
mit Guete ihre schoenen Lippen meinem Munde, um den Kuss zu empfangen,
den ich bot.
"Ewig fuer dich allein", sagte ich.
"Ewig fuer dich allein", sagte sie leise.
Schon als ich die suessen Lippen an meinen fuehlte, war mir, als sei ein
Zittern in ihr und als fliessen ihre Traenen wieder.
Da ich mein Haupt wegwendete und in ihr Angesicht schaute, sah ich die
Traenen in ihren Augen.
Ich fuehlte die Tropfen auch in den meinen hervorquellen, die ich nicht
mehr zurueckhalten konnte. Ich zog Natalien wieder naeher an mich, legte
ihr Angesicht an meine Brust, neigte meine Wange auf ihre schoenen
Haare, legte die eine Hand auf ihr Haupt und hielt sie so sanft umfasst
und an mein Herz gedrueckt. Sie regte sich nicht, und ich fuehlte
ihr Weinen. Da diese Stellung sich wieder loeste, da sie mir in das
Angesicht schaute, drueckte ich noch einmal einen heissen Kuss auf ihre
Lippen zum Zeichen der ewigen Vereinigung und der unbegrenzten Liebe.
Sie schlang auch ihre Arme um meinen Hals und erwiderte den Kuss
zu gleichem Zeichen der Einheit und der Liebe. Mir war in diesem
Augenblicke, dass Natalie nun meiner Treue und Guete hingegeben, dass sie
ein Leben eins mit meinem Leben sei. Ich schwor mir, mit allem, was
gross, gut, schoen und stark in mir ist, zu streben, ihre Zukunft zu
schmuecken und sie so gluecklich zu machen, als es nur in meiner Macht
ist und erreicht werden kann.
Wir sassen nun schweigend neben einander, wir konnten nicht sprechen
und drueckten uns nur die Haende als Bestaetigung des geschlossnen Bundes
und des innigsten Verstaendnisses.
Da eine Zeit vergangen war, sagte endlich Natalie: "Mein Freund, wir
haben uns der Fortdauer und der Unaufhoerlichkeit unserer Neigung
versichert, und diese Neigung wird auch dauern; aber was nun geschehen
und wie sich alles Andere gestalten wird, das haengt von unsern
Angehoerigen ab, von meiner Mutter, und von euren Eltern."
"Sie werden unser Glueck mit Wohlwollen ansehen."
"Ich hoffe es auch; aber wenn ich das vollste Recht haette, meine
Handlungen selber zu bestimmen, so wurde ich nie auch nicht ein
Teilchen meines Lebens so einrichten, dass es meiner Mutter nicht
gefiele; es waere kein Glueck fuer mich. Ich werde so handeln, so lange
wir beisammen auf der Erde sind. Ihr tut wohl auch so?"
"Ich tue es; weil ich meine Eltern liebe und weil mir eine Freude nur
als solche gilt, wenn sie auch die ihre ist."
"Und noch jemand muss gefragt werden."
"Wer?"
"Unser edler Freund. Er ist so gut, so weise, so uneigennuetzig. Er
hat unserm Leben einen Halt gegeben, als wir ratlos waren, er ist uns
beigestanden, als wir es bedurften, und jetzt ist er der zweite Vater
Gustavs geworden."
"Ja, Natalie, er soll und muss gefragt werden; aber sprecht, wenn eins
von diesen nein sagt?"
"Wenn eines nein sagt, und wir es nicht ueberzeugen koennen, so wird es
Recht haben, und wir werden uns dann lieben, so lange wir leben, wir
werden einander treu sein in dieser und jener Welt; aber wir duerften
uns dann nicht mehr sehen."
"Wenn wir ihnen die Entscheidung ueber uns anheim gegeben haben,
so musste es wohl so sein; aber es wird gewiss nicht, gewiss nicht
geschehen."
"Ich glaube mit Zuversicht, dass es nicht geschehen wird."
"Mein Vater wird sich freuen, wenn ich ihm sage, wie ihr seid, er wird
euch lieben, wenn er euch sieht, die Mutter wird euch eine zweite
Mutter sein und Klotilde wird sich euch mit ganzer Seele zuwenden."
"Ich verehre eure Eltern und liebe Klotilde schon so lange, als ich
euch von ihnen reden und erzaehlen hoerte. Mit meiner Mutter werde ich
noch heute sprechen, ich koennte die Nacht nicht ueber das Geheimnis
herauf gehen lassen. Wenn ihr zu euren Eltern reiset, sagt ihnen, was
geschehen ist, und sendet bald Nachricht hieher."
"Ja, Natalie."
"Geht ihr von hier wieder in die Berge?"
"Ich wollte es; nun aber hat sich Wichtigeres ereignet, und ich muss
gleich zu meinen Eltern. Nur auf Kurzes will ich, so schnell es geht,
in meinen jetzigen Standort reisen, um die Arbeiten abzubestellen, die
Leute zu entlassen und Alles in Ordnung zu bringen."
"Das muss wohl so sein."
"Die Antwort meiner Eltern bringt dann nicht eine Nachricht, sondern
ich selber."
"Das ist noch erfreulicher. Mit unserm Freunde wird wohl hier geredet
werden."
"Natalie, dann habt ihr eine Schwester an Klotilden und ich einen
Bruder an Gustav."
"Ihr habt ihn ja immer sehr geliebt. Alles ist so schoen dass es fast zu
schoen ist."
Dann sprachen wir von der Zurueckkunft der Maenner, was sie sagen wuerden
und wie unser Gastfreund die schnelle Wendung der Dinge aufnehmen
werde.
Zuletzt, als die Gemueter zu einer sanfteren Ruhe zurueckgekehrt waren,
erhoben wir uns, um in das Haus zu gehen. Ich bot Natalien meinen Arm,
den sie annahm. Ich fuehrte sie der Eppichwand entlang, ich fuehrte
sie durch einen schoenen Gang des Gartens, und wir gelangten dann in
offnere, freie Stellen, in denen wir eine Umsicht hatten.
Als wir da eine Strecke vorwaerts gekommen waren, sahen wir Mathilden
ausserhalb des Gartens gegen den Meierhof gehen. Das Pfoertchen, welches
von dem Garten gegen den Meierhof fuehrt, war in der Naehe und stand
offen.
"Ich werde meiner Mutter folgen und werde gleich jetzt mit ihr
sprechen", sagte Natalie.
"Wenn ihr es fuer gut haltet, so tut es", erwiderte ich.
"Ja, ich tue es, mein Freund. Lebt wohl."
"Lebt wohl."
Sie zog ihren Arm aus dem meinigen, wir reichten uns die Haende,
drueckten sie uns, und Natalie schlug den Weg zu dem Pfoertchen ein.
Ich sah ihr nach, sie blickte noch einmal gegen mich um, ging dann
durch das Pfoertchen, und das graue Seidenkleid verschwand unter den
gruenen Hecken des Grundes.
Ich ging in das Haus und begab mich in meine Wohnung.
Da lag das Buch, in welchem die Worte Homers waren, die heute die
Gewalt ueber mein Herz verloren hatten - es lag, wie ich es auf den
Tisch gelegt hatte. Was war indessen geschehen! Die schoenste Jungfrau
dieser Erde hatte ich an mein Herz gedrueckt. Aber was will das sagen?
Das edelste, waermste, herrlichste Gemuet ist mein, es ist mir in Liebe
und Neigung zugetan. Wie habe ich das verdient, wie kann ich es
verdienen?!
Ich setzte mich nieder und sah gegen die Ruhe der heitern Luft hinaus.
Ich verliess an diesem Tage gar nicht mehr das Haus. Gegen Abend ging
ich in den Gang, der im Norden des Hauses hinlaeuft, und sah auf den
Garten hinaus. Auf einer freien Stelle, in welcher ein weisser Pfad
durch Wiesengruen hingeht, sah ich Mathilden mit Natalien wandeln.
Ich ging wieder in mein Zimmer zurueck.
Als es dunkelte, wurde ich zu dem Abendessen gerufen.
Da Mathilde und Natalie in den Speisesaal getreten waren, lud mich
Mathilde mit einem sanften Laecheln und mit der Freundlichkeit, die ihr
immer eigen war, ein, an ihrer Seite Platz zu nehmen.
Die Entfaltung
Wir waren in dem nehmlichen Zimmer zum Speisen zusammen gekommen, in
dem wir die Zeit her, die ich im Schlosse gewesen war, unser Mahl am
Morgen, Mittag und Abend, wie es die Tageszeit brachte, eingenommen
hatten, der Tisch war mit dem klaren, weissen, feinen Linnen gedeckt,
in das schoenere und altertuemlichere Blumen als jetzt gebraeuchlich
sind, gleichsam wie Silber in Silber eingewebt waren, der Diener stand
mit den weissen Handschuhen hinter uns, der Hausverwalter ging in
dem Zimmer hin und her, und es war an der Wand der Schrein mit den
Faecherabteilungen, in denen die mannigfaltigen Dinge sich befanden,
die in einem Speisezimmer stets noetig sind: aber heute war mir alles
wie feenhaft, Mathilde hatte ein veilchenblaues Seidenkleid mit
dunkleren Streifen an, und um die Schultern war ein Gewebe von
schwarzen Spitzen. Sie kleidete sich jedes Mal, wenn ein Gast da war,
zum Speisen neu an, hatte es bisher meinetwillen auch getan und hatte
es an diesem Abende nicht unterlassen. Mit dem feinen, lieben und
freundlichen Angesichte, das durch die dunkle Seide fast noch feiner
und schoener wurde, liess sie sich in ihren Armstuhl zwischen uns
nieder. Natalie war rechts und ich links. Natalie hatte nicht Zeit
gefunden, ihr Kleid zu wechseln, sie hatte dasselbe lichtgraue
Seidenkleid an, das sie am Nachmittage getragen hatte und das mir so
lieb geworden war. Ich getraute mir fast nicht, sie anzusehen, und
auch sie hatte die grossen, schoenen, unbeschreiblich edlen Augen
groesstenteils auf die Mutter gerichtet. So vergingen einige
Augenblicke. Es wurde das Gebet gesprochen, das Mathilde immer in
ihrem Armstuhle sitzend stille mit gefalteten Haenden verrichtete und
das daher die Anderen ebenfalls sitzend und stille vollbrachten. Als
dieses geschehen war, wurden, wie es der Gebrauch in diesem Hause
eingefuehrt hatte, die Fluegeltueren geoeffnet, ein Diener trat mit einem
Topfe herein, setzte ihn auf den Tisch, der Hausverwalter nahm den
Deckel desselben ab und sagte, wie er immer tat: "Ich wuensche sehr
wohl zu speisen."
Mathilde streckte den Arm mit dem dunkeln Seidenkleide aus, nahm den
grossen silbernen Loeffel und schoepfte, wie sie es sich nie nehmen liess
zu tun, Suppe fuer uns auf die Teller, welche der Diener darreichte.
Der Hausverwalter hatte, da er alles in Ordnung sah, das Zimmer nach
seiner Gepflogenheit verlassen. Das Abendessen war nun wie alle Tage.
Mathilde sprach freundlich und heiter von verschiedenen Gegenstaenden,
die sich eben darboten, und vergass nicht, der abwesenden Freunde
zu erwaehnen und des Vergnuegens zu gedenken, das ihre Rueckkunft
veranlassen werde. Sie sprach von der Ernte, von dem Segen, der heuer
ueberall so reichlich verbreitet sei, und wie sich alles, was sich auf
der Erde befinde, doch zuletzt immer wieder in das Rechte wende. Als
die Zeit des Abendessens vorueber war, erhob sie sich, und es wurden
die Anstalten gemacht, dass sich jedes in seine Wohnung begebe. Mit
derselben sanften Guete, mit der sie mich vor dem Abendessen begruesst
hatte, verabschiedete sie sich nun, wir wuenschten uns wechselseitig
eine glueckliche Ruhe und trennten uns.
Als ich in meinem Zimmer angekommen war, trat ich in der Nacht dieses
Tages, der fuer mich in meinem bisherigen Leben am merkwuerdigsten
geworden war, an das Fenster und blickte gegen den Himmel. Es stand
kein Mond an demselben und keine Wolke, aber in der milden Nacht
brannten so viele Sterne, als waere der Himmel mit ihnen angefuellt und
als beruehrten sie sich gleichsam mit ihren Spitzen. Die Feierlichkeit
traf mich erhebender, und die Pracht des Himmels war mir eindringender
als sonst, wenn ich sie auch mit grosser Aufmerksamkeit betrachtet
hatte. Ich musste mich in der neuen Welt erst zurecht finden. Ich sah
lange mit einem sehr tiefen Gefuehle zu dem sternbedeckten Gewoelbe
hinauf. Mein Gemuet war so ernst, wie es nie in meinem ganzen Leben
gewesen war. Es lag ein fernes, unbekanntes Land vor mir. Ich ging
zu dem Lichte, das auf meinem Tische brannte und stellte meinen
undurchsichtigen Schirm vor dasselbe, dass seine Helle nur in die
hinteren Teile des Zimmers falle und mir den Schein des Sternenhimmels
nicht beirre. Dann ging ich wieder zu dem Fenster und blieb vor
demselben. Die Zeit verfloss, und die Nachtfeier ging indessen fort.
Wie es sonderbar ist, dachte ich, dass in der Zeit, in der die kleinen,
wenn auch vieltausendfaeltigen Schoenheiten der Erde verschwinden und
sich erst die unermessliche Schoenheit des Weltraums in der fernen,
stillen Lichtpracht auftut, der Mensch und die groesste Zahl der andern
Geschoepfe zum Schlummer bestimmt ist! Ruehrt es daher, dass wir nur auf
kurze Augenblicke und nur in der raetselhaften Zeit der Traumwelt zu
jenen Groessen hinan sehen duerfen, von denen wir eine Ahnung haben, und
die wir vielleicht einmal immer naeher und naeher werden schauen duerfen?
Sollen wir hienieden nie mehr als eine Ahnung haben? Oder ist es der
grossen Zahl der Menschen nur darum bloss in kurzen schlummerlosen
Augenblicken gestattet, zu dem Sternenhimmel zu schauen, damit die
Herrlichkeit desselben uns nicht gewoehnlich werde und die Groesse sich
nicht dadurch verliere? Aber ich bin ja wiederholt in ganzen Naechten
allein gefahren, die Sternbilder haben sich an dem Himmel sachte
bewegt, ich habe meine Augen auf sie gerichtet gehalten, sie sind
dunkelschwarzen, gestaltlosen Waeldern oder Erdraendern zugesunken,
andere sind im Osten aufgestiegen, so hat es fortgedauert,
die Stellungen haben sich sanft geaendert und das Leuchten hat
fortgelaechelt, bis der Himmel von der nahenden Sonne lichter wurde,
das Morgenrot im Osten erschien und die Sterne wie ein ausgebranntes
Feuerwerksgerueste erloschen waren. Haben da meine vom Nachtwachen
brennenden Augen die verschwundene stille Groesse nicht fuer hoeher
erkannt als den klaren Tag, der alles deutlich macht? Wer kann wissen,
wie dies ist. Wie wird es jenen Geschoepfen sein, denen nur die Nacht
zugewiesen ist, die den Tag nicht kennen? Jenen grossen, wunderbaren
Blumen ferner Laender, die ihr Auge oeffnen, wenn die Sonne
untergegangen ist, und die ihr meistens weisses Kleid schlaff und
verblueht herabhaengen lassen, wenn die Sonne wieder aufgeht? Oder
den Tieren, denen die Nacht ihr Tag ist? Es war eine Weihe und eine
Verehrung des Unendlichen in mir.
Traeumend, ehe ich entschlief, begab ich mich auf mein Lager, nachdem
ich vorher das Licht ausgeloescht und die Vorhaenge der Fenster
absichtlich nicht zugezogen hatte, damit ich die Sterne hereinscheinen
saehe.
Des anderen Morgens sammelte ich mich, um mir bewusst zu werden, was
geschehen ist und welche tiefe Pflichten ich eingegangen war. Ich
kleidete mich an, um in das Freie zu gehen und mein Angesicht und
meinen Koerper der kuehlen Morgenluft zu geben.
Als ich mein Zimmer verlassen hatte, suchte ich einen Gang zu
gewinnen, der im suedlichen Teile des Schlosses in der Laenge desselben
dahin laeuft. Seine Fenster muenden in den Hof und von ihm gehen Tueren
in die, gegen Mittag liegenden Zimmer Mathildens und Nataliens. Diese
Tueren, einst vielleicht zum Gebrauche fuer Gaeste bestimmt, waren
jetzt meistens geschlossen, weil die Verbindung im Innern der Zimmer
hergestellt war. Ich hatte den Gang darum aufgesucht, weil er an der
Westseite des Schlosses zu einer kleinen Treppe fuehrt, die abwaerts
geht und in ein Pfoertchen endet, das gewoehnlich des Morgens geoeffnet
wurde und durch das man unmittelbar in die Felder auf breite, trockene
Wege gelangen konnte, die den Wanderer unbemerkter ins Weite fuehren,
als es durch den Hauptausgang des Schlosses moeglich gewesen waere. Die
Bewohnerinnen der Zimmer, die an den Gang stiessen, glaubte ich darum
nicht stoeren zu koennen, weil das Steinpflaster des Ganges seiner
ganzen Laenge nach mit einem weichen Teppiche belegt war, der keine
Tritte hoeren liess.
Ausserdem hatte die Sonne auch bereits einen so hohen Morgenbogen
zurueckgelegt, dass zu vermuten war, dass alle im Schlosse schon laengst
aufgestanden sein wuerden.
Da ich gegen das Ende des Ganges und in die Naehe der Treppe gekommen
war, sah ich eine Tuer offen stehen, von der ich vermutete, dass sie
zu den Zimmern der Frauen fuehren muesse. War die Tuer offen, weil man
fortgehen wollte oder weil man eben gekommen war? Oder hatte eine
Dienerin in der Eile offen gelassen, oder war irgend ein anderer
Grund? Ich zauderte, ob ich vorbeigehen sollte; allein, da ich wusste,
dass die Tuer doch nur in einen Vorsaal ging und da die Treppe schon so
nahe war, die mich ins Freie fuehren sollte, so beschloss ich, vorbei
zu gehen und meine Schritte zu beschleunigen. Ich schritt auf dem
weichen Teppiche fort und trat nur behutsamer auf. Da ich an der Tuer
angekommen war, sah ich hinein. Was ich vermutet hatte, bestaetigte
sich, die Tuer ging in einen Vorsaal. Derselbe war nur klein und mit
gewoehnlichen Geraeten versehen. Aber nicht bloss in den Vorsaal konnte
ich blicken, sondern auch in ein weiteres Zimmer, das mit einer grossen
Glastuer an den Vorsaal stiess, welche Glastuer noch ueberdies halb
geoeffnet war. In diesem Zimmer aber stand Natalie. An den Waenden
hinter ihr erhoben sich edle mittelalterliche Schreine. Sie stand fast
mitten in dem Gemache vor einem Tische, auf welchem zwei Zithern lagen
und von welchem ein sehr reicher altertuemlicher Teppich nieder hing.
Sie war vollstaendig, gleichsam wie zum Ausgehen gekleidet, nur hatte
sie keinen Hut auf dem Haupte. Ihre schoenen Locken waren auf dem
Hinterhaupte geordnet und wurden von einem Bande oder etwas Aehnlichem
getragen. Das Kleid reichte wie gewoehnlich bis zu dem Halse und schloss
dort ohne irgend einer fremden Zutat. Es war wieder von lichtem,
grauem Seidenstoffe, hatte aber sehr feine, stark rote Streifen. Es
schloss die Hueften sehr genau und ging dann in reichen Falten bis
auf den Fussboden nieder. Die Aermel waren enge, reichten bis zum
Handgelenke und hatten an diesem wie am Oberarme dunkle Querstreifen,
die wie ein Armband schlossen. Natalie stand ganz aufrecht, ja der
Oberkoerper war sogar ein wenig zurueckgebogen. Der linke Arm war
ausgestreckt und stuetzte sich mittelst eines aufrecht stehenden
Buches, auf das sie die Hand legte, auf das Tischchen. Die rechte
Hand lag leicht auf dem linken Unterarm. Das unbeschreiblich schoene
Angesicht war in Ruhe, als haetten die Augen, die jetzt von den Lidern
bedeckt waren, sich gesenkt und sie daechte nach. Eine solche reine,
feine Geistigkeit war in ihren Zuegen, wie ich sie an ihr, die immer
die tiefste Seele aussprach, doch nie gesehen hatte. Ich verstand
auch, was die Gestalt sprach, ich hoerte gleichsam ihre inneren Worte:
"Es ist nun eingetreten!" Sie hatte mich nicht kommen gehoert, weil der
Teppich den Fussboden des Ganges bedeckte und sie konnte mich nicht
sehen, weil ihr Angesicht gegen Sueden gerichtet war. Ich beobachtete
nur zwei Augenblicke ihre sinnende Stellung und ging dann leise
vorueber und die Treppe hinunter. Es erfuellte mich gleichsam mit einem
Meere von Wonne, Natalien von der nehmlichen Empfindung beseelt zu
sehen, die ich hatte, von der Empfindung, sich das errungene, kaum
gehoffte und so hoch gehaltene Gut geistig zu sichern, sich klar zu
machen, was man erhalten hat und in welche neue, unermesslich wichtige
Wendung des Lebens man eingetreten sei. Ich konnte es kaum fassen, dass
ich es sei, um den eine Gestalt, die das Schoenste ausdrueckt, was mir
bis jetzt bekannt geworden ist, eine Gestalt, die man wohl auch stolz
geheissen, die sich bisher von jeder Neigung abgewendet hatte, in diese
tiefe sinnende Empfindung gesunken sei. Ich dachte mir, dass ich, so
lange ich lebe, und sollte mein Leben bis an die aeusserste Grenze des
menschlichen Alters oder darueber hinaus gehen, mit jedem Tropfen
meines Blutes, mit jeder Faser meines Herzens sie lieben werde, sie
moege leben oder tot sein, und dass ich sie fort und fort durch alle
Zeiten in der tiefsten Seele meiner Seele tragen werde. Es erschien
mir als das suesseste Gefuehl, sie nicht nur in diesem Leben, sondern in
tausend Leben, die nach tausend Toden folgen moegen, immer lieben zu
koennen. Wie viel hatte ich in der Welt gesehen, wie viel hatte mich
erfreut, an wie Vielem hatte ich Wohlgefallen gehabt: und wie ist
jetzt alles nichts, und wie ist es das hoechste Glueck, eine reine,
tiefe, schoene menschliche Seele ganz sein eigen nennen zu koennen, ganz
sein eigen!
Ich ging durch das Pfoertchen hinaus, das ich nur angelehnt fand, und
ging auf dem Wege fort, der an dieser Seite vor dem Schlosse vorbei
fuehrt und dann in die Felder hinaus geht. Er ist breit, mit feinem
Sande belegt und eignet sich daher seiner Trockenheit willen ganz
besonders zu Morgenspaziergaengen. Er ist von dem vorigen Besitzer des
Schlosses angelegt und von Mathilden verbessert worden. Er geht von
dem Pfoertchen nach beiden Richtungen, nach Norden und nach Sueden,
ziemlich weit fort und bildet auf diese Weise zu dem Schlosse eine
Beruehrungslinie. Roland hatte ihn scherzweise auch immer den Beruehrweg
genannt. Die Obstbaeume, die ihn jetzt haeufig saeumen, hat Mathilde
meistens schon erwachsen an ihn versetzt. Frueher war der ganze Weg
eine Allee von Pappeln gewesen; allein, da er ganz gerade durch die
Gegend geht und mit den geraden Baeumen bepflanzt war, so erschien
er sehr unschoen und fuer einen Lustweg, was er sein sollte, wenig
geeignet. Nach Beratungen mit ihren Freunden hatte Mathilde die
Pappeln, welche ausserdem auch den Feldern sehr schaedlich waren, nach
und nach beseitigt. Sie waren gefaellt und ihre Wurzeln ausgegraben
worden. Da man die Obstbaeume an ihre Stelle setzte, vermied man es
absichtlich, an allen Plaetzen, an welchen Pappeln gestanden waren,
Obstbaeume zu pflanzen, damit nicht wieder statt der Pappelallee eine
Obstbaumallee wuerde, was zwar minder unschoen als frueher gewesen waere,
aber doch immer noch nicht schoen. Durch diese Unterbrechung der
Baumpflanzung erhielt der Weg, dessen gerade Richtung schwer zu
beseitigen gewesen waere und die doch sonst zu eigentuemlich war,
als dass man sie haette abaendern sollen, wenn man nicht Alles nach
ganz neuen Gedanken einrichten wollte, die noetige Abwechslung.
Mitternachtwaerts von dem Schlosse fuehrt er durch Wiesen und Felder an
Gebueschen hin, steigt dann zu einem Walde hinan, in welchen er eine
Strecke eindringt. Suedwaerts geht er durch Felder, hat dort besonders
schoene Apfelbaeume an seinen Seiten, woelbt sich sanft ueber einen
Ackerruecken und gewaehrt von ihm eine schoene Aussicht in die Gebirge.
Ich schlug die Richtung nach Sueden ein, wie ich ueberhaupt sehr gerne
bei dem Beginne eines Spazierganges so gehe, dass ich leicht nach
Mittag sehe, das Licht vor mir habe und in den schoeneren Glanz und
die lieblichere Faerbung der Wolken blicken kann. Der Himmel war wie
gestern ganz heiter, die Sonne stand in seinem oestlichen Teile und
begann die Tropfen, welche an allen Graesern und an dem Laube der Baeume
hingen, aufzusaugen. Die Morgenkuehle war noch nicht vergangen, obwohl
der Einfluss der Sonne immer mehr und mehr bemerkbar wurde. Ich sah mit
neuen Augen auf alle Dinge um mich, es schien, als haetten sie sich
verjuengt und als muesste ich mich wieder allmaehlich an ihren Anblick
gewoehnen. Ich kam auf die Anhoehe und sah auf den langen Zug der
Gebirge. Die blauen Spitzen blickten auf mich herueber, und die
vielen Schneefelder zeigten mir ihren feinen Glanz. Ich sah auch die
Berghaeupter an dem Kargrat, wo ich zuletzt gearbeitet hatte. Mir
war, als waere es schon viele Jahre, seit ich in jenen Eisfeldern und
Schneegruenden gewesen war. Ich liess, waehrend ich so dastand, die milde
Luft, den Glanz der Sonne und das Prangen der Dinge auf mich wirken.
Sonst hatte ich immer irgend ein Buch in meine Tasche gesteckt, wenn
ich in der Gegend herum gehen wollte; heute hatte ich es nicht getan.
Mir war jetzt nicht, als sollte ich irgend ein Buch lesen. Ich ging
nach einer Weile wieder an den Baeumen dahin, an denen schon die
mannigfaltigen Aepfel hingen, die jeder nach seiner Art brachte und die
schon hie und da ihre eigentuemliche Farbe zu erhalten begannen. Ich
ging so lange auf der Anhoehe des Felderrueckens fort, bis sie sich
leicht zu senken anfing, ueber welche Senkung der Weg noch hinabgeht,
um in dem Tale an der Grenze eines fremden Gutes zu enden oder
vielmehr in einen anderen Weg ueberzugehen, der die Eigenschaften
aller jener Fusswege hat, die in unzaehligen Richtungen unser Land
durchziehen und auf deren taugliche Beschaffenheit, Verbesserung oder
Verschoenerung niemand denkt. Ich ging auf der Senkung des Weges nicht
mehr hinunter, weil ich nicht talwaerts kommen wollte, wo die Blicke
beengt sind.
Ich wendete mich um und hatte den Anblick des Schlosses vor mir,
welches jetzt von solcher Bedeutung fuer mich geworden war. Die Fenster
schimmerten in dem Glanze der Sonne, das Grau der von der Tuenche
befreiten suedlichen Mauer schaute sanft zu mir herueber, das dunkle
Dach hob sich von der Blaeue der noerdlichen Luft ab, und ein leichter
Rauch stieg von einigen seiner Schornsteine auf.
Ich ging langsam auf dem Ruecken des Feldes an den Obstbaeumen vorueber
meines Weges zurueck, bis er sachte gegen das Schloss abwaerts zu gehen
begann.
An dieser Stelle sah ich jetzt, dass mir eine Gestalt, welche mir
frueher durch Baumkronen verdeckt gewesen sein mochte, entgegen kam,
welche die Gestalt Nataliens war. Wir gingen beide schneller, als
wir uns erblickten, um uns frueher zu erreichen. Da wir nun zusammen
trafen, blickte mich Natalie mit ihren grossen dunkeln Augen freundlich
an und reichte mir die Hand. Ich empfing sie, drueckte sie herzlich und
sagte einen innigen Gruss.
"Es ist recht schoen", sprach sie, "dass wir gleichzeitig einen Weg
gehen, den ich heute schon einmal gehen wollte, und den ich jetzt
wirklich gehe."
"Wie habt ihr denn die Nacht zugebracht, Natalie?" fragte ich.
"Ich habe sehr lange den Schlummer nicht gefunden", antwortete sie,
"dann kam er doch in sehr leichter, fluechtiger Gestalt. Ich erwachte
bald und stand auf. Am Morgen wollte ich auf diesen Weg heraus gehen
und ihn bis ueber die Felderanhoehe fortsetzen; aber ich hatte ein Kleid
angezogen, welches zu einem Gange ausser dem Hause nicht tauglich war.
Ich musste mich daher spaeter umkleiden und ging jetzt heraus, um die
Morgenluft zu geniessen."
Ich sah wirklich, dass sie das lichte graue Kleid mit den feinen
tiefroten Streifen nicht mehr an habe, sondern ein einfacheres,
kuerzeres, mattbraunes trage. Jenes Kleid waere freilich zu einem
Morgenspaziergange nicht tauglich gewesen, weil es in reichen Falten
fast bis auf den Fussboden nieder ging. Sie hatte jetzt einen leichten
Strohhut auf dem Haupte, welchen sie immer bei ihren Wanderungen durch
die Felder trug. Ich fragte sie, ob sie glaube, dass noch so viel Zeit
vor dem Fruehmahle sei, dass sie ueber die Felderanhoehe hinaus und wieder
in das Schloss zurueckkommen koenne.
"Wohl ist noch so viel Zeit", erwiderte sie, "ich waere ja sonst
nicht fortgegangen, weil ich eine Stoerung in der Hausordnung nicht
verursachen moechte."
"Dann erlaubt ihr wohl, dass ich euch begleite?" sagte ich.
"Es wird mir sehr lieb sein", antwortete sie.
Ich begab mich an ihre Seite, und wir wandelten den Weg, den ich
gekommen war, zurueck.
Ich haette ihr sehr gerne meinen Arm angeboten; aber ich hatte nicht
den Mut dazu,
Wir gingen langsam auf dem feinen Sandwege dahin, an einem Baumstamme
nach dem andern vorueber, und die Schatten, welche die Baeume auf den
Weg warfen, und die Lichter, welche die Sonne dazwischen legte, wichen
hinter uns zurueck. Anfangs sprachen wir gar nicht, dann aber sagte
Natalie: "Und habt ihr die Nacht in Ruhe und Wohlsein zugebracht?"
"Ich habe sehr wenig Schlaf gefunden; aber ich habe es nicht
unangenehm empfunden", entgegnete ich, "die Fenster meiner Wohnung,
welche mir eure Mutter so freundlich hatte einrichten lassen, gehen in
das Freie, ein grosser Teil des Sternenhimmels sah zu mir herein. Ich
habe sehr lange die Sterne betrachtet. Am Morgen stand ich fruehe auf,
und da ich glaubte, dass ich niemand in dem Schlosse mehr stoeren wuerde,
ging ich in das Freie, um die milde Luft zu geniessen."
"Es ist ein eigenes erquickendes Labsal, die reine Luft des heiteren
Sommers zu atmen", erwiderte sie.
"Es ist die erhebendste Nahrung, die uns der Himmel gegeben hat",
antwortete ich. "Das weiss ich, wenn ich auf einem hohen Berge stehe
und die Luft in ihrer Weite wie ein unausmessbares Meer um mich herum
ist. Aber nicht bloss die Luft des Sommers ist erquickend, auch die des
Winters ist es, jede ist es, welche rein ist und in welcher sich nicht
Teile finden, die unserm Wesen widerstreben."
"Ich gehe oft mit der Mutter an stillen Wintertagen gerade diesen Weg,
auf dem wir jetzt wandeln. Er ist wohl und breit ausgefahren, weil die
Bewohner von Erltal und die der umliegenden Haeuser im Winter von ihrem
tief gelegenen Fahrwege eine kleine Abbeugung ueber die Felder machen
und dann unseren Spazierweg seiner ganzen Laenge nach befahren. Da ist
es oft recht schoen, wenn die Zweige der Baeume voll von Kristallen
haengen oder wenn sie bereift sind und ein feines Gitterwerk ueber ihren
Staemmen und Aesten tragen.
Oft ist es sogar, als wenn sich der Reif in der Luft befaende und sie
mit ihm erfuellt waere. Ein feiner Duft schwebt in ihr, dass man die
naechsten Dinge nur wie in einen Rauch gehuellt sehen kann. Ein anderes
Mal ist der Himmel wieder so klar, dass man alles deutlich erblickt. Er
spannt sich dunkelblau ueber die Gefilde, die in der Sonne glaenzen, und
wenn wir auf die Hoehe der Felder kommen, koennen wir von ihr den ganzen
Zug der Gebirge sehen. Im Winter ist die Landschaft sehr still, weil
die Menschen sich in ihren Haeusern halten, so viel sie koennen, weil
die Singvoegel Abschied genommen haben, weil das Wild in die tieferen
Waelder zurueck gegangen ist, und weil selbst ein Gespann nicht den
toenenden Rufschlag und das Rollen der Raeder hoeren laesst, sondern nur
der einfache Klang der Pferdeglocke, die man hier hat, anzeigt, dass
irgend wo jemand durch die Stille des Winters faehrt. Wir gehen auf der
klaren Bahn dahin, die Mutter leitet die Gespraeche auf verschiedene
Dinge, und das Ziel unserer Wanderung ist gewoehnlich die Stelle, wo
der Weg in das Tal hinabzugehen anfaengt. In der Stadt habt ihr die
schoenen Winterspaziergaenge nicht, welche uns das Land gewaehrt."
"Nein, Natalie, die haben wir nicht. Wir haben von der dem Winter als
Winter eigentuemlichen Wesenheit nichts als die Kaelte; denn der Schnee
wird auch aus der Stadt fortgeschafft", erwiderte ich, "und nicht bloss
im Winter, auch im Sommer hat die Stadt nichts, was sich nur entfernt
mit der Freiheit und Weite des offenen Landes vergleichen liesse.
Eine erweiterte Pflege der Kunst und der Wissenschaft, eine erhoehte
Geselligkeit und die Regierung des menschlichen Geschlechts sind in
der Stadt, und diese Dinge begreifen auch das, was man in der Stadt
sucht. Einen Teil von Wissenschaft und Kunst aber kann man wohl auch
auf dem Lande hegen, und ob groessere Zweige der allgemeinen Leitung der
Menschen auch auf das Land gelegt werden koennten, als jetzt geschieht,
weiss ich nicht, da ich hierin zu wenig Kenntnisse habe. Ich trage
schon lange den Gedanken in mir, einmal auch im Winter in das
Hochgebirge zu gehen und dort eine Zeit zuzubringen, um Erfahrungen zu
sammeln. Es ist seltsam und reizt zur Nachahmung, was uns die Buecher
melden, die von Leuten verfasst wurden, welche im Winter hochgelegene
Gegenden besucht oder gar die Spitzen bedeutender Berge erstiegen
haben."
"Wenn es fuer Leben und Gesundheit keine Gefahr hat, solltet ihr es
tun", antwortete sie. "Es ist wohl ein Vorrecht der Maenner, das
Groessere wagen und erfahren zu koennen. Wenn wir zuweilen im Winter
in grossen Staedten gewesen sind und dort das Leben der verschiedenen
Menschen gesehen haben, dann sind wir gerne in den Sternenhof
zurueckgegangen. Wir haben hier in manchen groesseren Zeitraeumen alle
Jahreszeiten genossen und haben jeden Wechsel derselben im Freien
kennen gelernt. Wir sind mit Freunden verbunden, deren Umgang uns
veredelt, erhebt, und zu denen wir kleine Reisen machen. Wir haben
einige Ergebnisse der Kunst und in einem gewissen Masse auch der
Wissenschaft, so weit es sich fuer Frauen ziemt, in unsere Einsamkeit
gezogen."
"Der Sternenhof ist ein edler und ein wuerdevoller Sitz", entgegnete
ich, "er hat sich ein schoenes Teil des Menschlichen gesammelt und muss
nicht das Widerwaertige desselben hinnehmen. Aber es mussten auch viele
Umstaende zusammentreffen, da es somit werden konnte, wie es ward."
"Das sagt die Mutter auch", erwiderte sie, "und sie sagt, sie muesse
der Vorsehung sehr danken, dass sie ihre Bestrebungen so unterstuetzt
und geleitet habe, weil wohl sonst das Wenigste zu Stande gekommen
waere."
Wir hatten in der Zeit dieses Gespraeches nach und nach die hoechste
Stelle des Weges erreicht. Vor uns ging es wieder abwaerts. Wir blieben
eine Weile stehen.
"Sagt mir doch", begann Natalie wieder, "wo liegt denn das Kargrat, in
welchem ihr euch in diesem Teile des Sommers aufgehalten habt? Man muss
es ja von hier aus sehen koennen."
"Freilich kann man es sehen", antwortete ich, "es liegt fast im
aeussersten Westen des Teiles der Kette, der von hier aus sichtbar ist.
Wenn ihr von jenen Schneefeldern, die rechts von der sanftblauen
Kuppe, welche gerade ueber der Grenzeiche eures Weizenfeldes sichtbar
ist, liegen, und die fast wie zwei gleiche, mit der Spitze nach
aufwaerts gerichtete Dreiecke aussehen, wieder nach rechts geht, so
werdet ihr lichte, fast wagrecht gehende Stellen in dem greulichen
Daemmer des Gebirges sehen, das sind die Eisfelder des Kargrats."
"Ich sehe sie sehr deutlich", erwiderte sie, "ich sehe auch die
Spitzen, die ueber das Eis empor ragen. Und auf diesem Eise seid ihr
gewesen?"
"An seinen Grenzen, die es in allen Richtungen umgeben", antwortete
ich, "und auf ihm selber".
"Da muesst ihr ja auch deutlich hieher gesehen haben", sagte sie.
"Die Berggestaltungen des Kargrates, die wir hier sehen", erwiderte
ich, "sind so gross, dass wir seine Teile wohl von hier aus
unterscheiden koennen; aber die Abteilungen der hiesigen Gegend sind
so klein, dass ihre Gliederungen von dort aus nicht erblickt werden
koennen. Das Land liegt wie eine mit Duft ueberschwebte einfache Flaeche
unten. Mit dem Fernrohre konnte ich mir einzelne bekannte Stellen
suchen, und ich habe mir die Bildungen der Huegel und Waelder des
Sternenhofes gesucht."
"Ach nennt mir doch einige von den Spitzen, die wir von hier aus sehen
koennen", sagte sie.
"Das ist die Kargratspitze, die ihr ueber dem Eise als hoechste seht",
erwiderte ich, "und rechts ist die Glommspitze und dann der Ethern und
das Krummhorn. Links sind nur zwei, der Aschkogel und die Sente."
"Ich sehe sie", sagte sie, "ich sehe sie."
"Und dann sind noch geringere Erhoehungen", fuhr ich fort, "die sich
gegen die weiteren Berghaenge senken, die keinen Namen haben und die
man hier nicht sieht."
Da wir noch eine Weile gestanden waren, die Berge betrachtet und
gesprochen hatten, wendeten wir uns um und wandelten dem Schlosse zu.
"Es ist doch sonderbar", sagte Natalie, "dass diese Berge keinen weissen
Marmor hervorbringen, da sie doch so viel verschiedenfarbigen haben."
"Da tut ihr unseren Bergen ein kleines Unrecht", antwortete ich, "sie
haben schon Lager von weissem Marmor, aus denen man bereits Stuecke
zu mannigfaltigen Zwecken bricht, und gewiss werden sie in ihren
Verzweigungen noch Stellen bergen, wo vielleicht der feinste und
ungetruebteste weisse Marmor ist."
"Ich wuerde es lieben, mir Dinge aus solchem Marmor machen zu lassen",
sagte sie.
"Das koennt ihr ja tun", erwiderte ich, "kein Stoff ist geeigneter
dazu."
"Ich koennte aber nach meinen Kraeften nur kleine Gegenstaende anfertigen
lassen, Verzierungen und dergleichen", sagte sie, "wenn ich die
rechten Stuecke bekommen koennte, und wenn meine Freunde mir mit ihrem
Rate beistanden."
"Ihr koennt sie bekommen", antwortete ich, "und ich selber koennte euch
hierin helfen, wenn ihr es wuenscht."
"Es wird mir sehr lieb sein", erwiderte sie, "unser Freund hat edle
Werke aus farbigem Marmor in seinem Hause ausfuehren lassen, und ihr
habt ja auch schoene Dinge aus solchem fuer eure Eltern veranlasst."
"Ja, und ich suche noch immer schoene Stuecke Marmor zu erwerben, um sie
gelegentlich zu kuenftigen Werken zu verwenden", antwortete ich.
"Meine Vorliebe fuer den weissen Marmor habe ich wohl aus den reichen,
schoenen und grossartigen Dingen gezogen", entgegnete sie, "die ich in
Italien aus ihm ausgefuehrt gesehen habe. Besonders wird mir Florenz
und Rom unvergesslich sein. Das sind Dinge, die unsere hoechste
Bewunderung erregen, und doch, habe ich immer gedacht, ist es
menschlicher Sinn und menschlicher Geist, der sie entworfen und
ausgefuehrt hat. Euch werden auch Gegenstaende bei eurem Aufenthalte im
Freien erschienen sein, die das Gemuet maechtig in Anspruch nehmen."
"Die Kunstgebilde leiten die Augen auf sich, und mit Recht",
antwortete ich, "sie erfuellen mit Bewunderung und Liebe. Die
natuerlichen Dinge sind das Werk einer anderen Hand, und wenn sie
auf dem rechten Wege betrachtet werden, regen sie auch das hoechste
Erstaunen an."
"So habe ich wohl immer gefuehlt", sagte sie.
"Ich habe auf meinem Lebenswege durch viele Jahre Werke der Schoepfung
betrachtet", erwiderte ich, "und dann auch, so weit es mir moeglich
war, Werke der Kunst kennen gelernt, und beide entzueckten meine
Seele."
Mit diesen Gespraechen waren wir allmaehlich dem Schlosse naeher gekommen
und waren jetzt bei dem Pfoertchen.
An demselben blieb Natalie stehen und sagte die Worte: "Ich habe
gestern sehr lange mit der Mutter gesprochen, sie hat von ihrer Seite
eine Einwendung gegen unseren Bund nicht zu machen."
Ihre feinen Zuege ueberzog ein sanftes Rot, als sie diese Worte zu mir
sprach. Sie wollte nun sogleich durch das Pfoertchen hinein gehen, ich
hielt sie aber zurueck und sagte: "Fraeulein, ich hielte es nicht fuer
Recht, wenn ich euch etwas verhehlte. Ich habe euch heute schon einmal
gesehen, ehe wir zusammentrafen. Als ich am Morgen ueber den Gang
hinter euren Zimmern ins Freie gehen wollte, standen die Tueren in
einen Vorsaal und in ein Zimmer offen, und ich sah euch in diesem
letztern an einem mit einem altertuemlichen Teppiche behaengten
Tischchen, die Hand auf ein Buch gestuetzt, stehen."
"Ich dachte an mein neues Schicksal", sagte sie.
"Ich wusste es, ich wusste es", antwortete ich, "und moegen die
himmlischen Maechte es so guenstig gestalten, als es der Wille derer
ist, die euch wohlwollen."
Ich reichte ihr beide Haende, sie fasste sie, und wir drueckten uns
dieselben.
Darauf ging sie in das Pfoertchen ein und ueber die Treppe empor.
Ich wartete noch ein wenig.
Da sie oben war und die Tuer hinter sich geschlossen hatte, stieg ich
auch die Treppe empor.
Das ganze Wesen Nataliens schien mir an diesem Morgen glaenzender, als
es die ganze Zeit her gewesen war, und ich ging mit einem tief, tief
geschwellten Herzen in mein Zimmer.
Dort kleidete ich mich insoweit um, als es noetig war, die Spuren des
Morgenspazierganges zu beseitigen und anstaendig zu erscheinen, dann
ging ich, da die Stunde des Fruehmahles schon heran nahte, in das
Speisezimmer.
Ich war in demselben allein. Der Tisch war schon gedeckt und Alles zum
Morgenmahle in Bereitschaft gesetzt. Nachdem ich eine Weile gewartet
hatte, kam Mathilde mit Natalie zugleich in das Zimmer. Natalie hatte
sich umgekleidet, sie hatte jetzt ein festlicheres Kleid an als sie
beim Morgenspaziergange getragen hatte, weil sie gleich Mathilden bei
Tische einen Gast durch ein besseres Kleid ehrte. Mit der gewoehnlichen
Ruhe und Heiterkeit, aber mit einer fast noch groesseren Freundlichkeit
als sonst begruesste mich Mathilde und wies mir meinen Platz an. Wir
setzten uns. Wir waren nun bei dem Fruehmahle, wie wir es die mehreren
Tage her gewohnt waren. Dieselben Gegenstaende befanden sich auf dem
Tische und derselbe Vorgang wurde befolgt wie immer. Obgleich nur ein
Dienstmaedchen ab und zu ging und wir in den Zwischenzeiten allein
waren, indem Mathilde nach ihrer Gepflogenheit manche Handlungen,
die bei einem solchen Fruehmahle noetig sind, an dem Tische selbst
verrichtete, so wurde doch ueber unsere besonderen Angelegenheiten
auch jetzt nicht gesprochen. Gewoehnliche Dinge, wie sie sich an
gewoehnlichen Tagen darbieten, bildeten den Inhalt der Gespraeche. Teils
Kunst, teils die schoenen Tage der Jahreszeit, die eben war, und teils
ein Abschnitt des Aufenthaltes waehrend der Rosenzeit im Asperhofe
wurden abgehandelt. Dann standen wir auf und trennten uns.
Und so wurde auch am ganzen Tage von dem Verhaeltnisse, in welches ich
zu Natalien getreten war, nichts gesprochen.
Wir fanden uns noch im Laufe des Vormittags im Garten zusammen.
Mathilde zeigte mir einige Veraenderungen, welche sie vorgenommen
hatte. Mehrere zu sehr in geraden Linien gezogene geschorne Hecken,
die sich noch in einem abgelegenen Teile des Gartens befunden hatten,
waren beseitigt worden und hatten einer leichteren und gefaelligeren
Anlage Platz gemacht. Blumenbeete waren gezogen worden und mehrere
Pflanzen, welche man erst kennen gelernt hatte, welche mein Gastfreund
sehr liebte und unter denen sich ausserordentlich schoene befanden,
waren in eine Gruppe gestellt worden. Mathilde nannte ihre Namen,
Natalie hoerte aufmerksam zu. Am Nachmittage wurde ein Spaziergang
gemacht. Zuerst besuchten wir die Arbeiter, welche mit der
Hinwegschaffung der Tuenche von der Steinbekleidung des Hauses
beschaeftigt waren, und sahen eine Zeit hindurch zu. Mathilde tat
mehrere Fragen und liess sich in Eroerterungen ueber Dinge ein, die diese
Angelegenheit betrafen. Dann gingen wir in einem grossen Bogen laengs
des Rueckens der Anhoehen herum, die zu einem Teile das Tal beherrschen,
in dem das Schloss liegt. Wir kamen an dem Saume eines Waeldchens
vorueber, von dem man das Schloss, den Garten und die Wirtschaftsgebaeude
sehen konnte, und gingen endlich durch den noerdlichen Arm desselben
Spazierweges in das Schloss zurueck, in dessen suedlichem Teile ich heute
Morgens mit Natalien gewandelt war.
Gegen Abend kam der Wagen mit den Wanderern an.
Mein Gastfreund stieg zuerst heraus, dann folgten fast gleichzeitig
die uebrigen, juengeren Maenner. Ich wurde von allen gegruesst und von
allen getadelt, dass ich so spaet gekommen sei. Man begab sich in das
gemeinschaftliche Gesellschaftszimmer und besprach sich dort eine
Weile, ehe man sich in die Gemaecher verfuegen wollte, die fuer einen
jeden bestimmt waren.
Mein Gastfreund fragte mich, wo ich mich heuer aufgehalten und welche
Teile des Gebirges ich durchstreift habe. Ich antwortete ihm, dass ich
ihm schon im Allgemeinen gesagt habe, dass ich an den Simmigletscher
gehen werde, dass ich aber meinen besonderen Wohnort im Kargrat
aufgeschlagen habe, in dem mit dem Gebirgsstocke gleichnamigen kleinen
Doerflein. Von da aus habe ich meine Streifereien gemacht. Ich nannte
ihm die einzelnen Richtungen, weil er besonders in der Gegend der
Simmen sehr bekannt war. Eustach sprach ueber die schoenen Naturbilder,
die in jenen Gestaltungen vorkommen. Roland sagte, ich moechte doch
auch einmal die Klamkirche, in der sie gewesen seien, besuchen;
die Zeichnungen werde mir Eustach schon zeigen, damit ich einen
vorlaeufigen Ueberblick davon zu erlangen vermoege. Gustav gruesste mich
einfach mit seiner Liebe und Freundschaft, wie er es immer getan
hatte. Auf die gelegentliche Frage meines Gastfreundes, ob ich nun
lange in der Gesellschaft meiner Freunde zu bleiben gesonnen sei,
antwortete ich, dass mich eine wichtige Angelegenheit vielleicht schon
in sehr kurzer Zeit fortfuehren koennte.
Nach diesen allgemeinen Gespraechen begaben sich die Reisenden in
ihre Zimmer, um die Spuren der Reise zu beseitigen, staubige Kleider
abzulegen, sich sonst zu erfrischen oder Mitgebrachtes in eine Ordnung
zu richten.
Wir sahen uns erst bei dem Abendessen wieder.
Dasselbe war so heiter und freundlich, wie es immer gewesen war.
Am anderen Morgen nach dem Fruehmahle ging mein Gastfreund eine Zeit
mit Mathilden im Garten spazieren, dann kam er in mein Zimmer und
sagte zu mir: "Ihr habt Recht, und es ist sehr gut von euch, dass ihr
das, was euren hiesigen Freunden lieb und angenehm ist, euren Eltern
und euren Angehoerigen sagen wollt."
Ich erwiderte nichts, erroetete und verneigte mich sehr ehrerbietig.
Ich erklaerte im Laufe des Vormittages, dass ich, sobald es nur immer
moeglich waere, abreisen muesste. Man stellte mir Pferde bis zur naechsten
Post zur Verfuegung, und nachdem ich mein kleines Gepaeck geordnet
hatte, beschloss ich, noch vor dem Mittage die Reise anzutreten. Man
liess es zu. Ich nahm Abschied. Die klaren, heiteren Augen meines
Gastfreundes begleiteten mich, als ich von ihm hinwegging. Mathilde
war sanft und guetig, Natalie stand in der Vertiefung eines Fensters,
ich ging zu ihr hin und sagte leise: "Liebe, liebe Natalie, lebet
wohl."
"Mein lieber, teurer Freund, lebet wohl", antwortete sie ebenfalls
leise, und wir reichten uns die Haende.
Nach einem Augenblicke verabschiedete ich mich auch von den anderen,
die, da sie wussten, dass ich abreisen werde, in das Gesellschaftszimmer
gekommen waren. Ich schuettelte Eustach und Roland die Haende und
empfing Gustavs Kuss, welche innigere Art des Bewillkommens und
Scheidens schon seit laengerer Zeit zwischen uns ueblich geworden war
und welche mir heute so besonders wichtig wurde.
Hierauf ging ich die Treppe hinab und bestieg den Wagen.
Mathildens Pferde brachten mich auf die naechste Post. Dort sendete
ich sie zurueck und nahm andere in der Richtung nach dem Kargrat. Ich
goennte mir wenig Ruhe. Als ich dort angekommen war, erklaerte ich
meinen Leuten, dass Umstaende eingetreten waeren, welche die Fortsetzung
der heurigen Arbeiten nicht erlaubten. Ich entliess sie also, haendigte
ihnen aber den Lohn ein, den sie bekommen haetten, wenn sie mir in
der ganzen vertragsmaessigen Zeit gedient haetten. Sie waren hierueber
zufrieden. Der Jaeger und Zitherspieler war frueher, ehe ich gekommen
war, fortgegangen. Wohin er sich begeben habe, wussten die Leute
selber nicht. Das Verhaeltnis mit meinen Arbeitern zu ordnen, war mir
das Wichtigste auf meinem Arbeitsplatze gewesen; deshalb war ich
hingereist. Ich hatte ihnen vor meinem Besuche im Asperhofe gesagt,
dass ich bald wieder kommen werde, hatte ihnen waehrend meiner
Abwesenheit Arbeit aufgetragen und hatte ihnen Arbeit nach meiner
Wiederkunft in Aussicht gestellt. Dieses musste nun umgeaendert werden.
Da es geschehen war, gab ich meine Sachen im Kargrat so in Verwahrung,
dass sie gesichert waren, und reiste sogleich wieder ab. Ich hatte
die Pferde, die ich von dem letzten groesseren Orte in das Kargrat
mitgenommen hatte, bei mir behalten und fuhr jetzt mit ihnen wieder
fort. Auf dem ersten Postamte verlangte ich eigene Postpferde und
schlug die Richtung zu meinen Eltern ein.
Als ich dort angekommen war, machte mein unvermutetes Erscheinen
beinahe den Eindruck des Erstaunens. Alle Ereignisse waren so schnell
gekommen, dass, da einmal meine Abreise zu meinen Eltern festgesetzt
war, ein Brief, der sie von meiner Ankunft benachrichtigt haette,
wahrscheinlich nicht frueher zu ihnen gekommen waere als ich selbst.
Sie konnten sich daher nicht erklaeren, warum ich ohne vorhergegangene
Benachrichtigung nun im Sommer statt im Herbste komme. Ich sagte ihnen
auf ihre Frage, dass allerdings ein Grund zu meiner jetzigen Heimreise
vorhanden sei, aber keineswegs ein unangenehmer, dass ich in Ungeduld
so schnell abgereist sei und dass ich ihnen eine fruehere Nachricht von
meiner Ankunft nicht habe zugeben lassen koennen. Hierauf waren sie
beruhigt und, wie es ihre Art war, fragten sie mich nun nicht nach
meinem Grunde.
Am andern Morgen, ehe der Vater in die Stadt ging, begab ich mich
zu ihm in das Buecherzimmer und sagte ihm, dass ich zu Natalien, der
Tochter der Freundin meines Gastfreundes, schon seit langer Zeit
her eine Zuneigung gefasst habe, dass diese Neigung in mir verborgen
geblieben und dass es mein Vorsatz gewesen sei, sie, wenn sie ohne
Aussicht waere, zu unterdruecken, ohne dass ich je zu irgend jemandem
ein Wort darueber sagte. Nun habe aber Natalie auch mich ihres Anteils
nicht fuer unwert gehalten, ich habe davon nichts gewusst, bis ein
Zufall, da wir von anderen, weit entlegenen Dingen sprachen, die
gegenseitig unbekannte Stimmung zu Tage brachte. Da haben wir nun
einen Bund geschlossen, dass wir uns unsere Neigung bewahren wollen, so
lange wir leben, und dass wir sie in dieser Art nie einem anderen Wesen
schenken wuerden. Natalie habe verlangt, und mein Sinn stimmte diesem
Verlangen vollkommen bei, dass wir unseren Angehoerigen diese Tatsache
mitteilen sollten, damit wir uns unseres Gutes durch ihre Zustimmung
erfreuen oder, wenn von einem Teile die Billigung versagt wuerde,
die Neigung zwar unveraendert erhalten, aber den persoenlichen Umgang
aufheben. Da nun Nataliens Angehoerige nichts eingewendet haben, so sei
ich hier, um die Sache meinen Eltern zu sagen, und ihm sage ich sie
zuerst, der Mutter wuerde ich sie spaeter mitteilen.
"Mein Sohn", antwortete er, "du bist muendig, du hast das Recht,
Vertraege abzuschliessen und hast einen sehr wichtigen abgeschlossen. Da
ich dich genau kenne, da ich dich seit einiger Zeit noch viel genauer
kennen zu lernen Gelegenheit hatte als ich dich frueher kannte, so weiss
ich, dass deine Wahl einen Gegenstand getroffen hat, der, wenn ihm
auch gewiss wie allen Menschen Fehler eigen sind, an Wert und Guete
entsprechen wird. Wahrscheinlich hat er beide Dinge in einem hoeheren
Masse als die Menschen, wie sie in groesserer Menge jetzt ueberall sind.
In dieser Meinung bestaerken mich noch mehrere Umstaende. Eure Neigung
ist nicht schnell entstanden, sondern hat sich vorbereitet, du hast
sie ueberwinden wollen, du hast nichts gesagt, du hast uns von Natalien
wenig erzaehlt, also ist es kein hastiges, fortreissendes Verlangen,
welches dich erfasst hat, sondern eine auf dem Grunde der Hochachtung
beruhende Zuneigung. Bei Natalien ist es wahrscheinlich auch so,
weil, wie du gesagt hast, ihre Gegenneigung vorhanden war, ehe du sie
erkennen konntest. Ferner hat bei deinem Gastfreunde die Gesammtheit
deines Wesens eine so entschiedene Foerderung erhalten, du hast
nach manchem Besuche bei ihm auch so hervorragende Einzelheiten
zurueckgebracht, dass ihm eine grosse Guete und Bildung eigen sein muss,
die auf seine Umgebung uebergeht. Ich habe nichts einzuwenden."
Obgleich ich mir vorgestellt hatte, dass mein Vater dem geschlossenen
Bunde kein Hindernis entgegenstellen werde, so war ich doch bei dieser
Unterredung beklommen und ernst gewesen, so wie in der Haltung meines
Vaters eine tiefe Ergriffenheit nicht zu verkennen gewesen war. Jetzt,
da er geredet hatte, kam in mein Herz eine Freudigkeit, die sich auch
in meinen Augen und in meinen Mienen ausgedrueckt haben musste. Mein
Vater blickte mich guetig und freundlich an und sagte: "Du wirst mit
der Mutter von diesem Gegenstande nicht so leicht sprechen, ich werde
deine Stelle vertreten und ihr von dem geschlossenen Bunde erzaehlen,
dass du schneller ueber die Mitteilung hinwegkoemmst. Lasse den Vormittag
vergehen, nach dem Mittagessen werde ich die Mutter in dieses Zimmer
bitten. Klotilde wird dann gelegentlich auch Kenntnis von deinem
Schritte erhalten."
Wir verliessen nun das Buecherzimmer. Mein Vater ruestete sich, in
seine Geschaeftsstube in die Stadt zu gehen, wie er sich jeden Morgen
geruestet hatte. Als er fertig war, nahm er von der Mutter Abschied und
ging fort. Der Vormittag verfloss, wie gewoehnlich die Zeit nach meiner
Ankunft verflossen war. Die Mutter und Klotilde fragten nicht nach dem
Grunde meines ungewoehnlichen Zurueckkommens und gingen ihren Geschaeften
nach. Als das Mittagmahl vorueber war, nahm der Vater die Mutter in das
Buecherzimmer und blieb eine Weile mit ihr dort. Als sie wieder zu mir
und Klotilden herauskamen, blickte sie mich freundlich an, sagte aber
nichts.
Sie setzten sich wieder zu uns, und wir blieben noch eine Zeit an dem
Tische sitzen.
Als wir aufgestanden waren, gingen wir in den Garten, welchen ich
jetzt durch eine Reihe von Jahren nicht im Sommer gesehen hatte. Die
Rosen, welche hie und da zerstreut waren, glichen nicht denen meines
Gastfreundes, waren aber auch nicht schlechter als die, welche sich in
dem Sternenhofe befanden. Der Garten, welcher mir in meiner Kindheit
immer so lieb und traulich gewesen war, erschien mir jetzt klein und
unbedeutend, obwohl seine Blumen, die gerade in dieser Sommerzeit noch
bluehten, seine Obstbaeume, seine Gemuese, Weinreben und Pfirsichgitter
nicht zu den geringsten der Stadt gehoerten. Es zeigte sich nur eben
der Unterschied eines Stadtgartens und des Gartens eines reichen
Landbesitzers. Man wies mir alles, was man fuer wichtig erachtete,
und machte mich auf alle Veraenderungen aufmerksam. Man schien sich
gleichsam zu freuen, dass man mich doch einmal zu Anfang der heisseren
Jahreszeit hier habe, waehrend ich sonst nur immer am Beginne der
kaelteren gekommen war, wenn die Blaetter abfielen und der Garten sich
seines Schmuckes entaeusserte. Gegen den Abend ging der Vater wieder in
die Stadt. Wir blieben in dem Garten. Da sich in einem Augenblicke die
Schwester mit dem Aufbinden eines Rebenzweiges beschaeftigte und ich
mit der Mutter allein an dem Marmorbrunnen der Einbeere stand, in
welchen das koestliche helle Wasser nieder rieselte, sagte sie zu mir:
"Ich wuensche, dass jedes Glueck und jeder Segen vom Himmel dich auf dem
sehr wichtigen Schritte begleiten moege, den du getan hast, mein Sohn.
Wenn du auch sorgsam gewaehlt hast, und wenn auch alle Bedingungen zum
Gedeihen vorhanden sind, so bleibt der Schritt doch ein schwerer und
wichtiger, noch steht das Zusammenfinden und das Einleben in einander
bevor."
"Moege es uns Gott so gewaehren, wie wir glauben, es erwarten zu
duerfen", antwortete ich, "ich wollte auch kein Glueck gruenden, ohne dass
ich meine Eltern darum fragte und ohne dass ihr Wille mit dem meinigen
uebereinstimmte. Zuerst musste wohl Gewissheit gesucht werden, ob sich
die Neigungen zusammen gefunden haetten. Als dieses erkannt war, musste
der Sinn und die Zustimmung der Angehoerigen erforscht werden, und
deshalb bin ich hier."
"Der Vater sagt", erwiderte sie, "dass alles recht ist, dass der Weg
sich ebnen wird und dass jene Dinge, die in jeder Verbindung und also
auch in dieser im Anfange ungefuegig sind, hier eher ihre Gleichung
finden werden als irgendwo. Wenn er es aber auch nicht gesagt haette,
so wuesste ich es doch. Du bist unter so vortrefflichen Leuten gewesen,
du wuerdest auch ohne dem nicht unwuerdig gewaehlt haben, und hast du
gewaehlt, so ist dein Herz gut und wird sich in Kuerze in ein Frauenherz
finden, wie auch sie ihr Leben in dem deinigen finden wird. Es sind
nicht alle, es sind nicht viele Verbindungen dieser Art gluecklich; ich
kenne einen grossen Teil der Stadt und habe auch einen nicht zu kleinen
Teil des Lebens beobachtet. Du hast im Grunde nur unsere Ehe gesehen:
moege die deinige so gluecklich sein, als es die meine mit deinem
ehrwuerdigen Vater ist."
Ich antwortete nicht, es wurden mir die Augen nass.
"Klotilde wird jetzt einsam sein", fuhr die Mutter fort, "sie hat
keine andere Neigung als unser Haus, als Vater und Mutter und als
dich."
"Mutter", antwortete ich, "wenn du Natalien sehen wirst, wenn du
erfahren wirst, wie sie einfach und gerecht ist, wie ihr Sinn nach dem
Gueltigen und Hohen strebt, wie sie schlicht vor uns allen wandelt und
wie sie viel, viel besser ist als ich, so wirst du nicht mehr von
einer Vereinsamung sprechen, sondern von einer Verbindung, Klotilde
wird um eines mehr haben als jetzt, und du und der Vater werdet um
eines mehr haben. Aber auch Mathilde, mein Gastfreund und der Kreis
jener trefflichen Menschen wird in eure Verbindung gezogen werden, ihr
werdet zu ihnen hingezogen werden, und was bis jetzt getrennt war,
wird Einigung sein."
"Ich habe mir es so gedacht, mein Sohn", antwortete die Mutter, "und
ich glaube wohl, dass es so kommen wird; aber Klotilde wird die Art
ihrer Neigung zu dir umwandeln muessen, und moege das alles mit gelindem
Kelche voruebergehen."
Zu dem Ende dieser Worte war auch Klotilde herzu gekommen. Sie brachte
mir eine Rose und sagte mit heiteren Mienen, dass sie mir dieselbe bloss
darum gebe, um mir einen kleinen Ersatz fuer alle die Rosen zu bieten,
welche ich heuer im Asperhofe durch meine Hieherreise versaeumt habe.
Mir fiel es bei diesen Worten erst auf, dass im vaeterlichen Garten
die Rosen bluehten, waehrend sie doch in dem hoeher gelegenen und einer
rauheren Luft ausgesetzten Asperhofe schon verblueht waren. Ich sprach
davon. Man fand den Grund bald heraus. Die Asperhofrosen waren den
ganzen Tag der Sonne ausgesetzt, mochten auch besser gepflegt werden
und einen besseren Boden haben, waehrend hier teils durch Baeume, die
man des kleineren Raumes wegen enger setzen musste, teils durch die
Mauern naeherer und entfernterer Haeuser vielfaeltig Schatten entstand.
Ich nahm die Rose und sagte, Klotilde wuerde meinem Gastfreunde einen
schlechten Dienst tun, wenn sie in seinem Garten eine Rose pflueckte.
"Dort wuerde ich nicht den Mut dazu haben", antwortete sie.
Wir blieben nun eine Weile bei dem Marmorwasserwerke stehen. Klotilde
zeigte mir, was der Vater im Fruehlinge habe machen lassen, zum Teile,
um den Wasserzug noch mehr zu sichern, zum Teile, um Verschoenerungen
anzubringen. Ich sah, wie trefflich und zweckmaessig er die Dinge hatte
zubereiten lassen und wie sehr ich von ihm lernen koenne. Ich freute
mich schon auf die Zeit, die nicht mehr ferne sein konnte, in welcher
der Vater mit meinem Gastfreunde zusammen kommen wuerde.
Als wir von dem Wasserwerke weg gingen, fuehrte mich Klotilde nun
zu dem Platze, von welchem eine Aussicht in die Gegend geboten ist
und den man mit einer Brustwehr zu versehen beschlossen hatte. Die
Brustwehr war schon zum Teile fertig. Sie war aufgemauert, war mit den
von mir gebrachten Marmorplatten belegt und war seitwaerts mit Marmor
bekleidet, den sich der Vater verschafft hatte. Auch meine Simse und
Tragsteine waren verwendet. Ich sah aber, dass noch Vieles an Marmor
fehlte und versprach, dass ich suchen werde, zu Stande zu bringen, dass
die ganze Brustwehr aus gleichartigen Stuecken und in gleicher Weise
koenne hergestellt werden.
"Du siehst, dass wir auch in der Ferne deiner denken und dir etwas
Angenehmes zu bereiten streben", sagte Klotilde.
"Ich habe ja nie daran gezweifelt", antwortete ich, "und denke auch
eurer, wie meine Briefe beweisen."
"Du solltest doch wieder einmal einen ganzen Sommer hier bleiben",
sagte sie.
"Wer weiss, was geschieht", erwiderte ich.
Als die Dunkelheit bereits mit ihrer vollen Macht hereinzubrechen
anfing, kam der Vater wieder aus der Stadt, und wir nahmen unser
Abendessen in dem Waffenhaeuschen. Da sehr lange Tage waren und da es
nach dem Eintreten der voelligen Finsternis schon ziemlich spaet war,
so konnten wir nach dem Speisen nicht mehr so lange in dem Haeuschen
mit den glaesernen Waenden beim Brennen der traulichen Lichter sitzen
bleiben, wie in dem Herbste, wenn ich nach einer langen Sommerarbeit
wieder zu den Meinigen zurueckgekehrt war. Auch hatte man heute in
dem lauen Abende mehrere der Glasabteilungen geoeffnet, der Eppich
fluesterte in einem gelegentlichen Luftzuge, und die Flamme im Innern
der Lampe wankte unerfreulich. Wir trennten uns und suchten unsere
Ruhe.
Am anderen Tage am fruehesten Morgen kam Klotilde zu mir. Als ich auf
ihr Pochen geoeffnet hatte und sie eingetreten war, verkuendigte ihr
Angesicht, dass die Mutter ueber meine Angelegenheit mit ihr gesprochen
habe. Sie sah mich an, ging naeher, fiel mir um den Hals und brach in
einen Strom von Traenen aus. Ich liess ihr ein Weilchen freien Lauf und
sagte dann sanft: "Klotilde, wie ist dir denn?"
"Wohl und wehe", antwortete sie, indem sie sich von mir zu einem Sitze
fuehren liess, auf den ich mich neben ihr niederliess.
"Du weisst nun also alles?"
"Ich weiss alles. Warum hast du mir es denn nicht frueher gesagt?"
"Ich musste doch vorher mit den Eltern sprechen, und dann, Klotilde,
hatte ich gegen dich gerade den wenigsten Mut."
"Und warum hast du nicht in frueheren Sommern etwas gesagt?"
"Weil nichts zu sagen war. Es ist erst jetzt zu gegenseitiger Kenntnis
gekommen, und da bin ich hergeeilt, mich den Meinigen zu offenbaren.
Als das Gefuehl nur das meine war und die Zukunft sich noch verhuellte,
durfte ich nicht reden, weil es mir nicht maennlich schien und weil die
Empfindung, die vielleicht in Kurzem gaenzlich weggetan werden musste,
durch Worte nicht gesteigert werden durfte."
"Ich habe es immer geahnt", sagte Klotilde, "und habe dir immer das
hoechste und groesste Glueck gewuenscht. Sie muss sehr gut, sehr lieb, sehr
treu sein. Ich habe nur das Verlangen, dass sie dich so liebt wie ich."
"Klotilde", antwortete ich, "du wirst sie sehen, du wirst sie kennen
lernen, du wirst sie lieben; und wenn sie mich dann auch nicht mit der
in der Geburt gegruendeten schwesterlichen Liebe liebt, so liebt sie
mich mit einer anderen, die auch mein Glueck, dein Glueck, das Glueck der
Eltern vermehren wird."
"Ich habe oft gedacht, wenn du von ihr erzaehltest, wie wenig du auch
sagtest, und gerade, weil du wenig sagtest", fuhr sie fort, "dass sich
etwa da ein Band entwickeln koennte, dass es sehr zu wuenschen waere,
dass du ihre Neigung gewaennest und dass daraus eine bessere Einigung
entstehen koennte als durch die Verbindung mit einem Maedchen unserer
Stadt oder mit einem anderen."
"Und nun ist es so", erwiderte ich.
"Warum hast du denn nie ein Bild von ihr gemalt?" fragte sie.
"Weil ich sie eben so wenig oder noch weniger darum bitten konnte als
dich oder die Mutter oder den Vater. Ich hatte nicht das Herz dazu",
antwortete ich.
"Nun sei recht gluecklich, sei zufrieden bis in dein hoechstes Alter,
und bereue nie, auch nicht im geringsten den Schritt, den du getan
hast", sagte sie.
"Ich glaube, dass ich ihn nie bereuen werde, und ich danke dir innig
fuer deine Wuensche, meine teure, meine geliebte Klotilde", erwiderte
ich.
Sie trocknete ihre Traenen mit dem Tuche, ordnete gleichsam ihr ganzes
Wesen und sah mich freundlich an.
"Wer wird jetzt mit mir zeichnen, spanische Buecher lesen, Zither
spielen, wem werde ich alles sagen, was mir in das Herz koemmt?" sprach
sie nach einer Weile.
"Mir, Klotilde", erwiderte ich, "alles, was ich frueher war, werde ich
dir bleiben. Lesen, Zeichnen, Zitherspielen wirst du mit Natalien;
auch mitteilen wirst du dich ihr, und mit ihr wirst du das alles
vollfuehren, was du bisher mit mir vollfuehrt hast. Lerne sie nur erst
kennen, und du wirst begreifen, dass es wahr ist, was ich sage."
"Ich moechte sie gerne sehr bald sehen", sagte sie.
"Du wirst sie bald sehen", antwortete ich, "es muss sich jetzt eine
Verbindung unserer Familie mit jenen Menschen, bei denen ich bisher so
haeufig gewesen bin, anknuepfen; ich wuensche selber, dass du sie bald,
sehr bald sehest."
"Bis dahin aber musst du mir sehr viel von ihr erzaehlen, und wenn es
moeglich ist, musst du mir ein Bild von ihr bringen", sagte sie.
"Ich werde dir erzaehlen", antwortete ich, "jetzt, da wir einmal von
der Sache gesprochen haben, werde ich dir sehr gerne erzaehlen, ich
werde mit dir leichter von dem Bunde reden als mit ihr selber. Ob
ich dir ein Bild werde bringen oder schicken koennen, weiss ich nicht;
wenn es moeglich ist, werde ich es tun. Aber es wird nur in dem Falle
sein koennen, wenn ein Bild von ihr da ist und man es mir, oder eine
Abbildung davon ueberlaesst. Behalte es dann, bis du mit ihr selber
zusammen koemmst und wir in freundlicher Verbindung mit einander leben.
Endlich aber, Klotilde..."
"Endlich?"
"Endlich wird doch auch die Zeit kommen, in welcher du von uns
ausscheiden wirst, zwar nicht mit deinem Geiste, wohl aber mit
einem Teile deiner Beziehungen, wenn nehmlich auch du eine tiefere
Verbindung eingehst."
"Nie, nie werde ich das tun", rief sie beinahe heftig, "nein, ich
koennte ihm zuernen, ihm, der mein Herz hier wegfuehren wuerde. Ich liebe
nur den Vater, die Mutter und dich. Ich liebe dieses stille Haus und
alle, die berechtigt in demselben aus und ein gehen, ich liebe das,
was es enthaelt, und die Dinge, die sich in ihm allmaehlich gestalten,
ich werde Natalien und ihre Angehoerigen lieben, aber nie einen
Fremden, der mich von euch ziehen wollte."
"Er wird dich aber von uns ziehen, Klotilde", sagte ich, "und du wirst
doch da bleiben, er wird berechtigt sein, hier aus und ein zu gehen,
er wird ein Ding sein, das sich in dem Hause allmaehlich gestaltet, und
du wirst vielleicht nicht von Vater und Mutter gehen duerfen, gewiss
aber wird kein Zwang sein, dass du sie oder mich weniger lieben
muessest."
"Nein, nein, rede mir nicht von diesen Dingen", erwiderte sie, "es
peinigt mich und zerstoert mir das Herz, das ich dir mit grosser
Teilnahme in der Morgenstunde habe bringen wollen."
"Nun, so reden wir nicht mehr davon, Klotilde", sagte ich, "sei nur
beruhigt und bleibe bei mir."
"Ich bleibe ja bei dir", antwortete sie, "und sprich freundlich zu
mir."
Sie hatte die letzte Spur der Traenen von ihrem Angesichte vertilgt,
sie setzte sich auf dem Sitze neben mir noch mehr zurecht, und ich
musste mit ihr sprechen. Sie fragte mich von neuem um Natalien, wie sie
aussehe, was sie tue, wie sie sich zu ihrer Mutter, ihrem Bruder und
zu meinem Gastfreunde verhalte. Ich musste ihr erzaehlen, wann ich sie
zum ersten Male gesehen habe, wann ich in dem Sternenhofe gewesen sei,
wann sie den Asperhof besucht habe, wann ein Ahnungsgefuehl in mein
Herz gekommen, wie es dort gewachsen sei, wie ich mit mir gekaempft
habe, was dann gekommen sei und wie es sich gefuegt habe, dass wir
endlich die Worte zu einander gefunden haben.
Ich erzaehlte ihr gerne, ich erzaehlte ihr immer leichter, und je mehr
sich die Worte von dem Herzen loeseten, desto suesser wurde mein Gefuehl.
Ich hatte nicht geglaubt, dass ich von diesem meinem innersten Wesen zu
irgend jemandem sprechen koennte; aber Klotildens Seele war der einzige
liebe Schrein, in welchem ich das Teure niederlegen konnte.
Wir blieben sehr lange sitzen, immer fragte mich Klotilde wieder um
Neues und wieder um Altes. Da kam die Mutter in meine Stube. Da sie
uns in vertraulichem Gespraeche sitzen fand, setzte sie sich auch zu
dem Tische, der vor mir und Klotilden stand, und sagte nach einer
kurzen Weile, dass sie gekommen sei, uns zum Fruehmahle zu holen. Sie
haette Klotilden nirgends gesehen und haette gemeint, dass sie an diesem
Morgen bei mir sein muesse.
"Meine geliebten Kinder", fuhr sie fort, "bewahrt euch eure Liebe,
entfremdet euch nie eure Herzen und bleibt euch in allen Lagen
zugewandt, wie ihr euch jetzt und wie ihr den Eltern zugewandt seid;
dann werdet ihr einen Schatz haben, der einer der schoensten im Leben
ist, und der so oft verkannt wird. Ihr werdet in eurer Vereinigung
sittlich stark sein, ihr werdet die Freude eures Vaters bilden, und
mir werdet ihr das Glueck meines Alters sein."
Wir antworteten nichts auf diese Rede, weil uns ihr Inhalt so
natuerlich war, und folgten der Mutter aus dem Zimmer.
Der Vater harrte schon unser in dem Speisegemache, und da jetzt die
Ursache meiner unvermuteten Nachhausekunft allen bekannt war und
keines sich dagegen erklaerte, so sprachen wir nun unverhohlen
gemeinschaftlich von der Angelegenheit. Die Eltern hegten die besten
Erwartungen von dem neuen Bunde und freuten sich der Uebereinstimmung
zwischen mir und der Schwester. Ich musste ihnen nun, wie ich es schon
gegen Klotilde getan hatte, noch Mehreres von Natalien erzaehlen, wie
sie sei, was sie tue, wohin sich ihre Bildung neige und wie sie ihre
Jugend koenne zugebracht haben. Auch von Mathilden und dem Sternenhofe
so wie von dem Asperhofe und meinem Gastfreunde musste ich noch Manches
nachholen, was das Bild ergaenzen sollte, welches sich die Meinigen
von den dortigen Verhaeltnissen machten. Ich sagte ihnen auch, dass ein
guenstiges Geschick hier walte, da gerade Natalie jenes Maedchen gewesen
sei, welches einmal bei der Auffuehrung des Koenig Lear in einer
Loge neben mir so ergriffen gewesen sei, welches mir grossen Anteil
eingefloesst, und mich, der ich den Schmerz im Trauerspiele geteilt
haette, im Herausgehen gleichsam zum Danke freundlich angeblickt habe.
Erst in letzter Zeit sei das aufgeklaert worden.
Der Vater sagte, dass die Familien, die durch laengere Zeit gleichsam
durch ein unsichtbares Band verbunden gewesen waren, durch das Band
der geistigen Entwicklung seines Sohnes und des Verkehrs desselben
mit beiden Teilen, auch in der Wirklichkeit sich naehern, sich kennen
lernen und in eine Verbindung treten werden.
Die Mutter entgegnete, das sei jetzt die dringendste Veranlassung,
ja es sei nicht nur eine gesellschaftliche, sondern sogar eine
Familienpflicht, dass der Vater, welcher, je aelter er werde, mit einer
desto waermeren Ausdauer, welche unbegreiflich ist, sich an seine
Arbeitsstube kette, nun endlich einmal sich den Geschaeften entreisse,
eine Reise mache und sich in derselben nur mit heiteren und schoenen
Dingen beschaeftige.
"Nicht nur ich werde eine Reise machen", antwortete er, "sondern auch
du und Klotilde. Wir werden die Menschen dort, welche meinen Sohn so
freundlich aufgenommen haben, besuchen. Aber auch sie werden eine
Reise machen; denn auch sie werden zu uns in die Stadt kommen und in
diesen Zimmern verweilen. Wann aber diese Reisen stattfinden werden,
laesst sich jetzt noch gar nicht beurteilen. Jedenfalls muss unser Sohn
zuerst allein wieder hinreisen und muss die Einwilligung seiner Familie
ueberbringen. Seinem Ermessen und hauptsaechlich den Ratschlaegen seines
aelteren Freundes wird es dann anheimgegeben sein, wie die Sachen im
weiteren Verlaufe sich entwickeln sollen. Die Reise unseres Sohnes muss
aber sogleich geschehen; denn so fordert es die neue Pflicht, die er
eingegangen ist. Wir werden abwarten, welche Nachrichten er uns von
seiner Ankunft im Sternenhofe zusenden oder welche Meinung er uns
selber ueberbringen wird."
"Die Reise, mein Vater", entgegnete ich, "wuensche ich, so bald es nur
moeglich ist, anzutreten, am liebsten sogleich morgen oder wenn ein
Aufschub sein muss, doch uebermorgen."
"Es wird nicht verspaetet sein, wenn du uebermorgen reisest, da sich
noch Einiges zum Besprechen ergeben kann", antwortete er.
Klotilde aeusserte ihre Freude, dass einmal alle eine Reise antreten
wuerden.
"Und fuer den guten Vater koennte nun oefter der Anlass gegeben sein",
sagte die Mutter, "dass er in das Freiere und Weitere komme, dass er
reine Luft atme und Berg und Wald und Feld betrachte."
"Ich werde doch einmal, meine liebe Therese, mein Buch abschliessen",
erwiderte der Vater, "und es wird fuer mich der Stillstand der
Geschaefte eintreten. Sie moegen in andere Haende uebergehen oder sich
ganz aufloesen. Dann wird es Zeit sein, im Anblicke von Berg, Wald und
Feld ein Haus zu mieten oder zu bauen, dass wir im Sommer dort und im
Winter hier wohnen, wenn wir nicht gar lieber auch manchen Winter
draussen bleiben wollen."
"So hast du oft gesagt", antwortete die Mutter, "aber es ist nicht
geschehen."
"Wenn Zeit und Ort darnach angetan sind, wird es geschehen", erwiderte
er.
"Wenn dann noch deine Gesundheit und dein geistiges Wesen davon den
gewuenschten Nutzen ziehen", sagte die Mutter, "werde ich jeden Winter
preisen, welchen wir mitten in irgend einem Lande zubringen."
"Es wird sich Vieles ereignen, woran wir jetzt nicht denken",
antwortete der Vater.
Wir standen von dem Fruehmahle auf, und jedes ging an seine Geschaefte.
Im Laufe des Vormittages liess mich die Mutter wieder zu sich bitten
und fragte mich, wie ich es denn zu halten gedenke, wo ich mit
Natalien wohnen wolle. Es sei in dem Hause Platz genug, nur muesste
alles gerichtet werden. Auch seien viele andere Dinge zu ordnen,
besonders meine Kleider, in denen ich doch nun anders sein muesse. Sie
wuensche meine Meinung zu hoeren, damit man zu rechter Zeit beginnen
koenne, um noch fertig zu werden.
Ich sagte, dass ich in der Tat auf diese Angelegenheit nicht gedacht
habe, dass ihre Erwaegung wohl noch Zeit habe, und dass wir vor Allem den
Vater um Rat fragen sollten.
Sie war damit einverstanden.
Als wir nach dem Mittagsessen den Vater fragten, war er meiner
Meinung, dass es noch zu fruehe sei, an diese Dinge zu denken. Es wuerde
schon zu rechter Zeit geschehen, dass alles, was not tue, in Ordnung
gesetzt werden koenne. Jetzt seien andere Dinge zu besprechen und zu
bedenken. Wenn es an der Zeit sei, werde es die Mutter erfahren, dass
sie alle ihre Massregeln ausreichend treffen koenne.
Sie war damit zufrieden.
Nachmittags fragte ich in der Stadt im Hause der Fuerstin an und
erfuhr, dass dieselbe zufaellig auf mehrere Tage anwesend sei. Sie
habe die Absicht, nach Riva zu gehen, um dort einige Wochen an den
Ufern des blauen Gardasees zu verleben. Sie sei jetzt eben damit
beschaeftigt, die Vorbereitungen zu dieser Reise zu machen. Ich liess
anfragen, wann ich sie sprechen koennte, und wurde auf den naechsten Tag
um zwoelf Uhr bestellt.
Ich nahm zu dieser Zeit eine Mappe mit einigen meiner Arbeiten
zu mir und verfuegte mich in ihre Wohnung. Nach den freundlichen
Empfangsworten drueckte sie ihre Verwunderung aus, mich jetzt hier zu
finden. Ich gab die Verwunderung fuer ihre Person zurueck. Sie fuehrte
mir als Grund ihre beabsichtigte Reise an, und ich sagte, dass
ploetzlich gekommene Angelegenheiten meinen Sommeraufenthalt
unterbrochen und mich in die Stadt geleitet haetten.
Sie fragte mich um meine Arbeiten waehrend der Zeit meiner Abwesenheit.
Ich erklaerte ihr dieselben. Als ich von dem Simmigletscher sprach,
nahm sie besonderen Anteil, weil ihr dieses Gebirge aus frueherer Zeit
her bekannt war. Ich musste ihr genau beschreiben und zeigen, wo wir
gewesen und was wir getan haben. Ich zog die Zeichnungen, die ich in
Farben von den Eisfeldern, ihren Einraenderungen, ihrer Einbuchtung,
ihrer Abgleitung und ihrem oberen Ursprunge gemacht hatte und in
meiner Mappe mit mir trug, hervor und breitete sie vor ihr aus. Sie
liess sich jedes, auch das Kleinste an diesen Zeichnungen beschreiben
und erklaeren. Ich musste ihr auch versprechen, bei naechster guenstiger
Gelegenheit meine Zeichnung von dem Grunde des Lautersees ihr
vorzulegen und auf das Genaueste zu eroertern. Es sei ihr dies
doppelt wuenschenswert, weil sie jetzt selber zu einem See reise, der
einer der merkwuerdigsten des suedlichen Alpenabhanges sei. Hierauf
befragte sie mich um meine anderen Bestrebungen auf dem Gebiete
der bildenden Kunst, worauf ich erwiderte, dass ich heuer ausser den
Gletscherzeichnungen, die doch wieder fast nur wissenschaftlicher
Natur seien, nichts hatte machen koennen, weder in Landschaften noch in
Abbildung menschlicher Koepfe.
"Wenn ihr ein sehr schoenes jugendliches Angesicht abbilden wollt",
sagte sie, "so muesset ihr suchen, das Angesicht der jenen Tarona
abbilden zu duerfen. Ich bin alt, habe viel erfahren, habe sehr viele
Menschen gesehen und betrachtet, aber es ist mir wenig vorgekommen,
das edler, einnehmender und liebenswuerdiger gewesen waere als die Zuege
der Tarona."
Ich erroetete sehr tief bei diesen Worten.
Sie richtete die klaren, lieben Augen auf mich, laechelte sehr fein und
sagte: "Haltet ihr etwa schon Jemanden fuer das Schoenste?"
Ich antwortete nicht, und sie schien auch eine Antwort nicht zu
erwarten. Von Natalien konnte ich ihr nichts sagen, da die Sache nicht
so weit gediehen war, um sie Andern verkuendigen zu koennen.
Wir brachen ab, ich verabschiedete mich bald, sie reichte mir guetig
die Hand, welche ich kuesste, und lud mich ein, ja im kuenftigen Winter
sehr bald von dem Gebirge zurueck zu kommen, da auch sie sehr bald in
der Stadt einzutreffen gedenke.
Ich antwortete, dass ich ueber jenen Zeitpunkt jetzt durchaus nicht zu
verfuegen im Stande sei.
Am zweiten Tage Morgens stand ich reisefertig in meinem Zimmer.
Der Wagen war vor das Haus bestellt worden. Ich hatte mir es nicht
versagen koennen, in einem besonderen Wagen so schnell als moeglich in
den Sternenhof zu fahren. Vater, Mutter und Schwester waren in dem
Speisezimmer, um von mir Abschied zu nehmen. Ich begab mich auch in
dasselbe, und wir nahmen ein kleines Fruehmahl ein. Nach demselben
sagte ich Lebewohl.
"Gott segne dich, mein Sohn", sprach die Mutter, "Gott segne dich auf
deinem Wege, er ist der entscheidende, du bist nie einen so wichtigen
gegangen. Wenn mein Gebet und meine Wuensche etwas vermoegen, wirst du
ihn nicht bereuen."
Sie kuesste mich auf den Mund und machte mir das Zeichen des Kreuzes auf
die Stirn.
Der Vater sagte: "Du hast von deiner fruehen Jugend an erfahren, dass
ich mich nicht in deine Angelegenheiten menge; handle selbststaendig
und trage die Folgen. Wenn du mich fraegst, wie du jetzt getan hast, so
werde ich dir immer beistehen, in so weit es meine groessere Erfahrung
vermag. Aber einen Rat moechte ich dir doch in dieser wichtigen
Angelegenheit geben oder vielmehr nicht einen Rat geben, sondern
deine Aufmerksamkeit moechte ich auf einen Umstand leiten, auf den du
vielleicht in der Befangenheit dieser Tage nicht gedacht hast. Ehe
du das ernste Band schliessest, ist noch Manches fuer dich notwendig,
deinen Geist und dein Gemuet zu staerken und zu festigen. Eine Reise in
die wichtigsten Staedte Europas und zu den bedeutendsten Voelkern ist
ein sehr gutes Mittel dazu. Du kannst es, deine Vermoegenslage hat sich
sehr gebessert, und ich lege wohl auch etwas dazu, wie ich ueberhaupt
mit dir Abrechnung halten muss."
Ich war sehr bewegt und konnte nicht sprechen. Ich nahm den Vater nur
bei der Hand und dankte ihm stumm.
Klotilde nahm mit Traenen Abschied und sagte leise, als ich sie an mich
drueckte: "Gehe mit Gott, es wird Alles recht sein, was du tust, weil
du gut bist und weil du auch klug bist."
Ich sprach die Hoffnung aus, dass ich bald wieder kommen werde, und
ging die Treppe hinab.
Meine Reise war sehr schnell, weil ueberall die Pferde schon bestellt
waren, weil ich nirgends schlief und zum Essen nur die kuerzeste Zeit
verwendete.
Als ich im Sternenhofe in das Zimmer Mathildens trat, kam sie mir
entgegen und sagte: "Seid willkommen, es ist Alles, wie ich gedacht
habe; denn sonst waeret ihr nicht zu mir, sondern zu unserem Freunde
gekommen."
"Meine Angehoerigen ehren euch, ehren unseren Freund und glauben an
unser Glueck und an unsere Zukunft", erwiderte ich.
"Seid willkommen, Natalie", sagte ich, als diese gerufen worden und
in das Zimmer getreten war, "ich bringe freundliche Gruesse von den
Meinigen."
"Seid willkommen", antwortete sie, "ich habe immer gehofft, dass es so
geschehen und dass eure Abwesenheit so kurz sein wird."
"Meine Hoffnung war wohl auch dieselbe", erwiderte ich, "aber jetzt
ist alles klar, und jetzt ist voellige Beruhigung vorhanden."
Wir blieben bei Mathilden und sprachen einige Zeit miteinander.
Am zweiten Tage nach meiner Ankunft reiste ich zu meinem Gastfreunde.
Mathilde hatte mir einen Wagen und Pferde mit gegeben.
Als ich in das Schreinerhaus gekommen war, in welchem sich mein
Gastfreund bei meiner Ankunft befand, reichte er mir die Hand und
sagte: "Ich bin von eurer Rueckkunft bereits benachrichtigt; man hat
mir von dem Sternenhofe gleich nach eurem Eintreffen in demselben
geschrieben."
Eustach sah mich seltsam an, so dass ich vermutete, er wisse auch
bereits von der Sache.
Wir gingen nun in das Haus, und man oeffnete mir meine gewoehnliche
Wohnung. Gustav kam nach einer Weile zu mir herauf und konnte seiner
Freude beinahe kein Ende machen, dass alles sei, wie es ist. Mein
Gastfreund hatte ihm die Tatsache erst heute eroeffnet. Er sprach ohne
Rueckhalt aus, dass ihm die Sache so weit, weit lieber sei, als wenn
Tillburg seine Schwester aus dem Hause gefuehrt haette, dessen Wille
wohl immer dahin gerichtet gewesen waere.
Das Vertrauen
Ich blieb einige Zeit bei meinem Gastfreunde, teils, weil er es selber
verlangte, teils, um jene Ruhe zu gewinnen, die ich sonst immer hatte
und die ich brauchte, um in meinen Bestrebungen klar zu sehen und sie
nach gemachter Einsicht zu ordnen.
Die Leute blickten mich fragend oder verwundert an. Vermutlich hatte
es sich ausgebreitet, in welche Beziehung ich zu Personen getreten
bin, welche Freunde des Hauses sind und welche oft in dasselbe als
Besuchende kommen. Nirgends aber trat mir der Anschein entgegen, als
ob man mir das Verhaeltnis missgoennte oder es mit unguenstigen Augen
ansaehe. Im Gegenteile, die Leute waren fast freundlicher und
dienstwilliger als vorher. Ich kam in das Gartenhaus. Der Gaertner
Simon trat mir mit einer Art Ehrerbietung entgegen und rief seine
Gattin Clara herbei, um ihr zu sagen, dass ich da sei, und um sie zu
veranlassen, dass sie mir ihre Verbeugung mache. Er hatte dies sonst
nie getan. Als diese Art von Vorstellung vorueber war, fuehrte er
mich erst in den Garten, wie er mit kurzem Ausdrucke bloss seine
Gewaechshaeuser nannte. Er zeigte mir wieder seine Pflanzen, erklaerte
mir, was neu erworben worden war, was sich besonders schoen entwickelt
habe und was in gutem Stande geblieben sei; er erzaehlte mir auch,
welche Verluste man erlitten habe, wie die Pflanzen im schoensten
Gedeihen gewesen seien, die man verloren habe und welchen besonderen
Ursachen man ihren Verlust zuschreiben muesse. Er bedachte hiebei
nicht, dass etwa meine Gedanken anderswo sein koennten, wie er bei einer
frueheren Gelegenheit auch nicht geahnt hatte, dass mein Gemuet abwesend
sei, da er mir ebenfalls mit vieler Lust und grosser Umsicht seine
Gewaechse erklaert hatte. Besonders eifrig war er in der Darlegung der
Vorzuege und Schoenheiten der Rose, welche die Frau des Sternenhofes fuer
den Herrn des Hauses aus England verschrieben habe. Er fuehrte mich zu
ihr und zeigte mir alle Vortrefflichkeiten derselben. Dann musste ich
auch mit ihm in das Cactushaus gehen, wo er mir sogleich den Cereus
Peruvianus wies, der durch meine Guete, wie er sich ausdrueckte, in
den Asperhof gekommen sei. Er wachse bereits steilrecht in seinem
Glasfache empor, was durch viele Muehe und Kunst bewirkt worden sei.
Die gelbliche Farbe vom Inghofe sei in die dunkelblau-gruene, gleichsam
mit einem Dufte ueberflogene uebergegangen, welche die voellige
Gesundheit der Pflanze beweise. Wenn es so fortgehe, so koenne auch
noch die Freude der fabelhaften weissen Blumen der lebendigen Saeule in
dieses Haus kommen. Er fuehrte mich dann zu einigen Cactusgestalten,
die eben im Bluehen begriffen waren. Es lag eine ziemlich grosse
Sammellinse in der Naehe, um die Blumen und nebstbei auch die Waffen
und die Gestaltungen der Pflanzenkoerper unter dem Einflusse des
vollen Sonnenlichtes betrachten zu koennen. Er bat mich, die Linse
zu gebrauchen. Es war eine farblos zeigende und zugleich eine, bei
welcher die Abweichung wegen der Kugelgestalt auf ein Kleinstes
gebracht war. Ueberhaupt wies sie sich als vortrefflich aus. Er
erzaehlte mir, dass der Herr das Vergroesserungsglas eigens zum Betrachten
der Cacteen habe machen, es in das schoene Elfenbein fassen und in das
reine Sammetfach habe legen lassen. Heute erst sei er noch in dem
Cactushause gewesen und habe mit dem Glase die Blueten und viele
Stacheln angeschaut. Ich bediente mich des Glases und sah in den von
den seidenartigen Blumenblaettern umstandenen gelben, weissen oder
rosenfarbigen Kelch hinein, wie sie eben vorhanden waren. Dass der
Glanz dieser Blumenfarben besonders schoen, weit schoener als die
feinste Seide und als der der meisten Blumen sei, wusste ich ohnehin,
musste es mir aber doch von dem Gaertner Simon zeigen lassen, so wie er
auch der schoenen, gruen oder rosig oder dunkelrotbraun daemmernden Tiefe
des Kelches erwaehnte, aus der die Wucht der schlanken Staubfaeden
aufsteige, die keine Bluete so zierlich habe. Ueberhaupt seien die
Cactusblumen die schoensten auf der Welt, wenn man etwa einige
Schmarotzergewaechse und ganz wenige andere, vereinzelte Blumen
ausnehme. Er machte mich auch auf einen Umstand aufmerksam, den ich
nicht wusste, oder den ich nicht beobachtet hatte, dass nehmlich bei
einigen Kugelcactus sich die Blumen stets aus neuen Stachelaugen,
meistens mit ganz kurzem Stengel, entwickeln, waehrend sie bei andern
auf einem mehr oder minder hohen Stiele aus vorjaehrigen oder noch
aelteren Stachelaugen sich erheben. Er sagte, das werde gewiss einmal
einen Grund zu einer neuen Einteilung dieser Cactusgestalt geben. Er
zeigte mir an vorhandenen Gewaechsen den Unterschied, und ich musste
ihn erkennen. Er sagte, dass dies nicht zufaellig sei und dass er die
Tatsache schon dreissig Jahre beobachte. Damals, als er jung gewesen,
seien kaum einige dieser Gestaltungen bekannt gewesen, jetzt vermehre
sich die Kenntnis derselben bedeutend, seit die Menschen zur Einsicht
ihrer Schoenheit gekommen sind und Reisende Pflanzen aus Amerika
senden, wie jener Reisende, der von deutschen Landen aus fast
in der ganzen Welt gewesen sei. Es koenne nur Unverstand oder
Oberflaechlichkeit oder Kurzsichtigkeit diese Pflanzengattung
ungestaltig nennen, da doch nichts regelmaessiger und mannigfaltiger und
dabei reizender sei als eben sie. Nur eine erste genaue Betrachtung
und Vergleichung derselben sei noetig, und nur ein sehr kurzes
Fortsetzen dieser Betrachtung, damit die Gegner dieser Pflanzen in
warme Verehrer derselben uebergehen - es muesste nur ein Mensch ueberhaupt
kein Freund der Pflanzen sein, welche Gattung es vielleicht in der
Welt nicht gibt. Als ich das Pflanzenhaus verliess, begleitete er mich
bis an die Grenze der Gewaechshaeuser, und auch seine Gattin trat aus
der Tuer ihrer Wohnung, um sich von mir zu verabschieden.
In dem Blumengarten und in der Abteilung der Gemuese blieben die
Arbeitsleute vor mir stehen, nahmen den Hut ab und gruessten mich artig.
Eustach war mild und freundlich wie gewoehnlich; aber er war noch weit
inniger, als er es in frueheren Zeiten gewesen war. Mich freute die
Billigung gerade von diesem Menschen ungemein. Er zeigte mir alles,
was in der Arbeit war und was sich an wirklichen Dingen, was an
Zeichnungen, was an Nachrichten in der juengsten Zeit zu dem bereits
Vorhandenen hinzugefunden hatte. Er sagte, dass mein Gastfreund in
Kurzem eine ziemlich weit entfernte Kirche besuchen werde, in welcher
man auf seine Kosten Wiederherstellungen mache, und dass er mich zu
dieser Reise einladen wolle. Ich sah unter allen vorhandenen Dingen
und Stoffen den sehr schoenen Marmor nicht, den ich meinem Gastfreunde
zum Geschenke gemacht hatte, und war auch nie in Kenntnis gekommen,
dass daraus etwas verfertigt worden sei. Es sprach niemand davon, und
ich fragte auch nicht. In mancher Stunde sah ich den Arbeiten zu,
welche in dem Schreinerhause ausgefuehrt wurden.
Roland war wie gewoehnlich im Sommer nicht in dem Asperhofe anwesend.
Mit Eustach besuchte ich auch die Bilder meines Gastfreundes, seine
Kupferstiche, seine Schnitzereien und seine Geraete. Wir sprachen ueber
die Dinge, und ich suchte mir ihren Wort und ihre Bedeutung immer mehr
eigen zu machen. Auch in das Buecherzimmer, den Marmorsaal und das
Treppenhaus meines Gastfreundes ging ich. Wie war die Gestalt auf
der Treppe erhaben, edel und rein gegen die Nymphe in der Grotte des
Gartens im Sternenhofe, die mir in der letzten Zeit so lieb geworden
war. Durch meine Bitte liess sich mein Freund bewegen, mir die
Zimmer aufzuschliessen, in denen Mathilde und Natalie waehrend ihres
Aufenthaltes in dem Asperhofe wohnen. Ich blieb laenger als in den
anderen in dem letzten kleinen Gemache mit der Tapetentuer, welches ich
die Rose genannt hatte. Mich umwehte die Ruhe und Klarheit, die in
dem ganzen Wesen Mathildens ausgepraegt ist, die in den Farben und
Gestalten des Zimmers sich zeigte und die in den unvergleichlichen
Bildern lag, die hier aufgehaengt waren.
Wir gingen auch in den Meierhof. Die Leute begegneten mir
achtungsvoll, sie zeigten mir alle Raeume und wiesen, was sich in ihnen
befinde, was dort gearbeitet werde, wozu sie dienen und was sich in
neuerer Zeit geaendert habe. Der Meier hatte seine besondere Freude an
der neuen, von ihm selbst verbesserten Zucht der Fuellen und an dem
Volke aller von meinem Gastfreunde eingefuehrten Gattungen von Huehnern.
Als wir uns von dem Meierhofe entfernten und uns der vielstimmige
Gesang der Voegel aus dem Garten des Hauses entgegen schallte, sah ich
im Rueckblicke, dass sich unter dem Torwege eine Gruppe von Maegden mit
ihren blauen Schuerzen und weissen Hemdaermeln gesammelt habe und uns
nachschaue.
Wenn ich auch erkannte, dass ich der Gegenstand der Aufmerksamkeit
geworden war, so entschluepfte doch Niemandem ein Wort, welches einen
Grund dieser Aufmerksamkeit angedeutet haette.
Gustav, welcher wohl Anfangs seine Freude gegen mich ausgesprochen
hatte, dass es sei, wie es ist, und dass keiner von denen, die es
gewollt hatten, seine Schwester fortgefuehrt, sprach nun von dem
Gegenstande nicht mehr und schloss sich nur noch herzlicher, wenn
dieses moeglich war, an mich an.
Mein Gastfreund sagte mir endlich auch von der Reise nach der Kirche,
von welcher Eustach gesprochen hatte, und lud mich zu derselben ein.
Ich nahm die Einladung an.
Wir fuhren eines Morgens von dem Asperhofe fort, mein Gastfreund,
Eustach, Gustav und ich. Gustav wird, wie mir mein Gastfreund
sagte, auf jede kleinere Reise von ihm mitgenommen. Wenn dies bei
ausgedehnteren Reisen nicht der Fall sein kann, so wird er zu seiner
Mutter in den Sternenhof gebracht. Wir kamen erst am zweiten Tage
bei der Kirche an. Roland, welcher von unserer Ankunft unterrichtet
gewesen war, erwartete uns dort. Die Kirche war ein Gebaeude im
altdeutschen Sinn. Sie stammte, wie meine Freunde versicherten, aus
dem vierzehnten Jahrhunderte her. Die Gemeinde war nicht gross und
nicht besonders wohlhabend. Die letztvergangenen Jahrhunderte hatten
an dieser Kirche viel verschuldet. Man hatte Fenster zumauern lassen,
entweder ganz oder zum Teile, man hatte aus den Nischen der Saeulen
die Steinbilder entfernt und hatte hoelzerne, die vergoldet und gemalt
waren, an ihre Stelle gebracht. Weil aber diese groesser waren als ihre
Vorgaenger, so hat man die Stellen, an die sie kommen sollten, haeufig
ausgebrochen, und die frueheren Ueberdaecher mit ihren Verzierungen
weggeschlagen. Auch ist das Innere der ganzen Kirche mit bunten Farben
bemalt worden. Als dieses in dem Laufe der Jahre auch wieder schadhaft
wurde und sich Ausbesserungsarbeiten an der Kirche als dringlich
notwendig erwiesen, gab sich auch kund, dass die Mittel dazu schwer
aufzubringen sein wuerden. Die Gemeinde geriet beinahe ueber den Umfang
der Arbeiten, die vorzunehmen waeren, in grossen Hader. Offenbar waren
in frueheren Zeiten reiche und maechtige Wohltaeter gewesen, welche die
Kirche hervorgerufen und erhalten hatten. In der Naehe stehen noch die
Truemmer der Schloesser, in denen jene wohlhabenden Geschlechter gehaust
hatten. Jetzt steht die Kirche allein als erhaltenes Denkmal jener
Zeit auf dem Huegel, einige in neuerer Zeit erbaute Haeuser stehen um
sie herum, und rings liegt die Gemeinde in den in dem Huegellande
zerstreuten Gehoeften. Die Besitzer der Schlossrainen wohnen in weit
entfernten Gegenden und haben, da sie ganz anderen Geschlechtern
angehoeren, entweder nie eine Liebe zu der einsamen Kirche gehabt oder
haben sie verloren. Der Pfarrer, ein schlichter, frommer Mann, der
zwar keine tiefen Kenntnisse der Kunst hatte, aber seit Jahren an den
Anblick seiner Kirche gewoehnt war und sie, da sie zu verfallen begann,
wieder gerne in einem so guten Zustande gesehen haette, als nur moeglich
ist, schlug alle Wege ein, zu seinem Ziele zu gelangen, die ihm nur
immer in den Sinn kamen. Er sammelte auch Gaben. Auf letztem Wege kam
er zu meinem Gastfreunde. Dieser nahm Anteil an der Kirche, die er
unter seinen Zeichnungen hatte, reiste selber hin und besah sie. Er
versprach, dass er, wenn man seinen Plan zur Wiederherstellung der
Kirche billige und annehme, alle Kosten der Arbeit, die ueber den
bereits vorhandenen Vorrat hinausreichen, tragen und die Arbeit
in einer gewissen Zahl von Jahren beendigen werde. Der Plan wurde
ausgearbeitet und von allen, welche in der Angelegenheit etwas zu
sprechen hatten, genehmigt, nachdem der Pfarrer schon vorher, ohne
ihn gesehen zu haben, sehr fuer ihn gedankt und sich ueberall eifrig
fuer seine Annahme verwendet hatte. Es wurde dann zur Ausfuehrung
geschritten, und in dieser Ausfuehrung war mein Gastfreund begriffen.
Die Fuellmauern in den Fenstern wurden vorsichtig weggebrochen, dass
man keine der Verzierungen, welche in Moertel und Ziegeln begraben
waren, beschaedige, und dann wurden Glasscheiben in der Art der noch
erhaltenen in die ausgebrochenen Fenster eingesetzt. Die hoelzernen
Bilder von Heiligen wurden aus der Kirche entfernt, die Nischen wurden
in ihrer urspruenglichen Gestalt wieder hergestellt. Wo man unter dem
Dache der Kirche oder in anderen Raeumen die alten schlanken Gestalten
der Heiligenbilder wieder finden konnte, wurden sie, wenn sie
beschaedigt waren, ergaenzt, und an ihre mutmasslichen Stellen gesetzt.
Fuer welche Nischen man keine Standbilder auffinden konnte, die wurden
leer gelassen. Man hielt es fuer besser, dass sie in diesem Zustande
verharren, als dass man eins der hoelzernen Bilder, welche zu der Bauart
der Kirche nicht passten, in ihnen zurueckgelassen haette. Freilich waere
die Verfertigung von neuen Standbildern das Zweckmaessigste gewesen;
allein das war nicht in den Plan der Wiederherstellung aufgenommen
worden, weil es ueber die zu diesem Werke verfuegbaren Kraefte meines
Gastfreundes ging. Alle Nischen aber, auch die leeren, wurden,
wenn Beschaedigungen an ihnen vorkamen, in guten Stand gesetzt.
Die Ueberdaecher ueber ihnen wurden mit ihren Verzierungen wieder
hergestellt. Zu der Uebertuenchung des Innern der Kirche war ein Plan
entworfen worden, nach welchem die Farbe jener Teile, die nicht Stein
waren, so unbestimmt gehalten werden sollte, dass ihr Anblick dem eines
blossen Stoffes am aehnlichsten waere. Die Gewoelberippen, deren Stein
nicht mit Farbe bestrichen war, so wie alles Andere von Stein wurde
unberuehrt gelassen, und sollte mit seiner bloss stofflichen Oberflaeche
wirken. Die Gerueste zu der Uebertuenchung waren bereits dort geschlagen,
wo man mit Leitern nicht auslangen konnte. Freilich waere in der Kirche
noch vieles Andere zu verbessern gewesen. Man hatte den alten Chor
verkleidet und ganz neue Mauern zu einer Emporkirche aufgefuehrt, man
hatte ein Seitenkapellchen im neuesten Sinne hinzugefuegt, und es
war ein Teil der Wand des Nebenschiffes ausgenommen worden, um eine
Vertiefung zu mauern, in welche ein neuer Seitenaltar zu stehen kam.
Alle diese Fehler konnten wegen Unzulaenglichkeit der Mittel nicht
verbessert werden. Der Hauptaltar in altdeutscher Art war geblieben.
Roland sagte, es sei ein Glueck gewesen, dass man im vorigen
Jahrhunderte nicht mehr so viel Geld gehabt habe als zur Zeit der
Erbauung der Kirche, denn sonst haette man gewiss den urspruenglichen
Altar weggenommen und haette einen in dem abscheulichen Sinne des
vergangenen Jahrhunderts an seine Stelle gesetzt. Mein Gastfreund
besah alles, was da gearbeitet wurde, und es ward ein Rat mit Eustach
und Roland gehalten, dem auch ich beigezogen wurde, um zu eroertern,
ob alles dem gefassten Plane getreu gehalten werde, und ob man nicht
Manches mit Aufwendung einer maessigen Summe noch zu dem urspruenglich
Beabsichtigten hinzu tun koennte, was der Kirche not taete und was ihr
zur Zierde gereichte. Die Ansichten vereinigten sich sehr bald, da die
Maenner nach der nehmlichen Richtung hin strebten und da ihre Bildungen
in dieser Hinsicht sich wechselweise zu dem gleichen Ergebnisse
durchdrungen hatten. Ich konnte sehr wenig mitreden, obgleich ich
gefragt wurde, weil ich einerseits zu wenig mit den vorhandenen
Grundlagen vertraut war und weil andererseits meine Kenntnisse in dem
Einzelnen der Kunst, um welche es sich hier handelte, mit denen meiner
Freunde nicht Schritt halten konnten. Der Pfarrer hatte uns sehr
freundlich aufgenommen und wollte uns saemmtlich in seinem kleinen
Hause beherbergen. Mein Gastfreund lehnte es ab, und wir richteten
uns, so gut es ging, in dem Gasthofe ein. Der Ehrerbietung und des
Dankes aber konnte der bescheidene Pfarrer gegen meinen Gastfreund
kein Ende finden. Auch kam eine Abordnung mehrerer Gemeindeglieder,
um, wie sie sagten, ihre Aufwartung zu machen und ihren Dank
darzubringen. Wirklich, wenn man die schlanken, edlen Gestaltungen der
Kirche ansah, welche da einsam auf ihrem Huegel in einem abgelegenen
Teile des Landes stand, in dem man sie gar nicht gesucht haette, und
die schon geschehenen Verbesserungen betrachtete, welche ihre feinen
Glieder wieder zu Ansehen und Geltung brachten, so konnte man nicht
umhin, sich zu freuen, dass die reinen blauen Luefte wieder den reinen,
einfachen Bau umfaechelten, wie sie ihn umfaechelt hatten, als er
nach dem Haupte des laengst verstorbenen Meisters aus den Haenden der
Arbeitsleute hervor gegangen war. Und wirklich musste man sich auch zum
Danke verpflichtet fuehlen, dass es einen Mann gab, wie mein Gastfreund
war, der aus Liebe zu schoenen Dingen, und ich muss wohl auch
hinzufuegen, aus Liebe zur Menschheit, einen Teil seines Einkommens,
seiner Zeit und seiner Einsicht opferte, um manch Edles dem Verfalle
zu entreissen und vor die Augen der Menschen wohlgebildete und hohe
Gestaltungen zu bringen, dass sie sich daran, wenn sie dessen faehig
sind und den Willen haben, erheben und erbauen koennen.
Das alles wussten aber die Gemeindeglieder nicht, sie dankten nur, weil
sie meinten, dass es ihre Schuldigkeit sei.
Nachdem mein Gastfreund den Bau gut befunden und mit Eustach, dem
eigentlichen Werkmeister, das Naehere angeordnet hatte, und nachdem
auch Roland die Zusicherung gegeben hatte, dass er dem Wunsche meines
Gastfreundes gemaess oefter nachsehen und Bericht erstatten werde,
ruesteten wir uns, unsere verschiedenen Wege zu gehen. Roland wollte
wieder in das nahe liegende Gebirge zurueckkehren, von dem er zu der
Kirche heraus gekommen war, und wir wollten den Weg nach dem Asperhofe
antreten. Roland entfernte sich zuerst. Wir besuchten noch den Inhaber
eines Glaswerkes in der Naehe, der von grossem Einflusse war, und
begaben uns dann auf den Weg nach dem Hause meines Freundes.
Auf dem Rueckwege kamen wir ueber die Bildung des Schoenen zu sprechen,
wie es gut sei, dass Menschen aufstehen, die es darstellen, dass ueber
ihre Mitbrueder auch dieses sanfte Licht sich verbreite und sie immer
zu hellerer Klarheit fort fuehre; dass es aber auch gut sei, dass
Menschen bestehen, welche geeignet sind, das Schoene in sich
aufzunehmen und es durch Umgang auf Andere zu uebertragen, besonders,
wenn sie noch, wie mein Gastfreund, das Schoene ueberall aufsuchen, es
erhalten und es durch Muehe und Kraft wieder herzustellen suchen, wo es
Schaden gelitten hatte. Es sei ein ganz eigenes Ding um die Befaehigung
und den Drang hiezu.
"Wir haben schon einmal ueber Aehnliches gesprochen", sagte mein
Gastfreund, "meine Erfahrungen in der Zeit meines Lebens haben mich
gelehrt, dass es ganz bestimmte Anlagen zu ganz bestimmten Dingen gibt,
mit denen die Menschen geboren werden. Nur in der Groesse unterscheiden
sich diese Anlagen, in der Moeglichkeit, sich auszusprechen, und in der
Gelegenheit, kraeftig zur Wirksamkeit kommen zu koennen. Dadurch scheint
Gott die Mannigfaltigkeit der Taten mit ihrem nachdruecklichsten
Erfolge, wie es auf der Erde notwendig ist, vermitteln zu wollen.
Es erschien mir immer merkwuerdig, wo ich Gelegenheit hatte, es zu
beobachten, wie bei Menschen, die bestimmt sind, ganz Ungewoehnliches
in einer Richtung zu leisten, sich ihre Anlage bis in die feinsten
Faeden ihres Gegenstandes ausspricht und zu ihm hindraengt, waehrend sie
in Anderm bis zum Kindlichen unwissend bleiben koennen. Einer, der
ueber Kunstdinge trotz aller Belehrung, trotz alles Umganges, trotz
langjaehriger taeglicher Beruehrung mit auserlesenen Kunstwerken nie
Anderes als Ungereimtes sagen konnte, war ein Staatsmann, der die
feinsten Abschattungen seines Gegenstandes durchdrang, der die
Gedanken der Voelker und die Absichten der Menschen und Regierungen,
mit denen er verkehrte, erriet und es verstand, alle Dinge seinen
Zwecken dienstbar machen zu koennen, so dass das Anderen wie ein
Zauberwerk eines Geistes erschien, was gleichsam ein Naturgesetz war.
In meiner Jugend kannte ich einen Mann, der mit einem Verstande, ueber
den wir uns vor Bewunderung kaum zu fassen wussten, in die Tiefen eines
Kunstwesens, das er besprechen wollte, einging, und Gedanken zu Tage
brachte, von denen wir nicht begriffen, wie sie in das Herz eines
Menschen haben kommen koennen; waehrend er die Meinungen und Absichten
ganz gewoehnlicher Menschen und gerade solcher, die tief unter ihm
standen, nicht durchschaute und den notwendigen Gang der Staaten nicht
sah, weil ihm das Auge dafuer versagt war oder weil er im Drange seiner
Gegenstaende darauf nicht achtete. Ich koennte noch mehrere Beispiele
anfuehren: den zum Feldherrn Geborenen im Richtersaale um Mein und
Dein, oder den, der wissenschaftliche Stoffe foerdert, in der Bildung
eines Heeres. So hat Gott es auch Manchen gegeben, dass sie dem Schoenen
nachgehen muessen und sich zu ihm wie zu einer Sonne wenden, von der
sie nicht lassen koennen. Es ist aber immer nur eine bestimmte Zahl von
solchen, deren einzelne Anlage zu einer besonderen grossen Wirksamkeit
ausgepraegt ist. Ihrer koennen nicht viele sein, und neben ihnen werden
die geboren, bei denen sich eine gewisse Richtung nicht ausspricht,
die das Alltaegliche tun und deren eigentuemliche Anlage darin besteht,
dass sie gerade keine hervorragende Anlage zu einem hervorragenden
Gegenstande haben. Sie muessen in grosser Menge sein, dass die Welt in
ihren Angeln bleibt, dass das Stoffliche gefoerdert werde und alle Wege
im Betriebe sind. Sehr haeufig aber koemmt es nun leider auf den Umstand
an, dass der rechten Anlage der rechte Gegenstand zugefuehrt wird, was
so oft nicht der Fall ist."
"Koennte denn nicht die Anlage den Gegenstand suchen, und sucht sie ihn
nicht auch oft?" fragte Eustach.
"Wenn sie in grosser Macht und Fuelle vorhanden ist, sucht sie ihn",
entgegnete mein Gastfreund, "zuweilen aber geht sie in dem Suchen zu
Grunde."
"Das ist ja traurig, und dann wird ihr Zweck verfehlt", antwortete
Eustach.
"Ich glaube nicht, dass ihr Zweck deshalb ganz verfehlt wird", sagte
mein Gastfreund, "das Suchen und das, was sie in diesem Suchen foerdert
und in sich und Anderen erzeugt, war ihr Zweck. Es muessen eben
verschiedene, und zwar verschieden hohe und verschieden geartete
Stufen erstiegen werden. Wenn jede Anlage mit voelliger Blindheit ihrem
Gegenstande zugefuehrt wuerde und ihn ergreifen und erschoepfen muesste,
so waere eine viel schoenere und reichere Blume dahin, die Freiheit der
Seele, die ihre Anlage einem Gegenstande zuwenden kann oder sich von
ihm fern halten, die ihr Paradies sehen, sich von ihm abwenden und
dann trauern kann, dass sie sich von ihm abgewendet hat, oder die
endlich in das Paradies eingeht und sich gluecklich fuehlt, dass sie
eingegangen ist."
"Oft habe ich schon gedacht", sagte ich, "da die Kunst so sehr auf die
Menschen wirkt, wie ich an mir selber, wenn auch nur erst kurze Zeit,
zu beobachten Gelegenheit hatte, ob denn der Kuenstler bei der Anlage
seines Werkes seine Mitmenschen vor Augen habe und dahin rechne, wie
er es einrichten muesse, dass auf sie die Wirkung gemacht werde, die er
beabsichtiget."
"Ich hege keine Zweifel, dass es nicht so ist", erwiderte mein
Gastfreund, "wenn der Mensch ueberhaupt seine ihm angeborne Anlage
nicht kennt, selbst wenn sie eine sehr bedeutende sein sollte und wenn
er mannigfaltige Handlungen vornehmen muss, ehe seine Umgebung ihn oder
er sich selber inne wird, ja wenn er zuletzt sich seiner Freiheit
gemaess seiner Anlage hingeben oder sich von ihr abwenden kann: so wird
er wohl im Wirken dieser Anlage nicht so zu rechnen im Stande sein,
dass sie an einem gewissen Punkte anlanden muesse; sondern je groesser
die Kraft ist, um so mehr, glaube ich, wirkt sie nach den ihr
eigentuemlichen Gesetzen, und das dem Menschen inwohnende Grosse strebt,
unbewusst der Aeusserlichkeiten, seinem Ziele zu und erreicht desto
Wirkungsvolleres, je tiefer und unbeirrter es strebt. Das Goettliche
scheint immer nur von dem Himmel zu fallen. Es hat wohl Menschen
gegeben, welche berechnet haben, wie ein Erzeugnis auf die Mitmenschen
wirken soll, die Wirkung ist auch gekommen, sie ist oft eine grosse
gewesen, aber keine kuenstlerische und keine tiefe; sie haben etwas
Anderes erreicht, das ein Zufaelliges und Aeusseres war, das die, welche
nach ihnen kamen, nicht teilten und von dem sie nicht begriffen,
wie es auf die Vorgaenger hatte wirken koennen. Diese Menschen bauten
vergaengliche Werke und waren nicht Kuenstler, waehrend das durch die
wirkliche Macht der Kunst Geschaffene, weil es die reine Bluete der
Menschheit ist, nach allen Zeiten wirkt und entzueckt, so lange die
Menschen nicht ihr Koestlichstes, die Menschheit, weggeworfen haben."
"Es ist einmal in der Stadt die Frage gestellt worden", sagte ich, "ob
ein Kuenstler, wenn er wuesste, dass sein Werk, das er beabsichtigt, zwar
ein unuebertroffenes Meisterwerk sein wird, dass es aber die Mitwelt
nicht versteht und dass es auch keine Nachwelt verstehen wird, es doch
schaffen muesse oder nicht. Einige meinten, es sei gross, wenn er es
taete, er tue es fuer sich, er sei seine Mit- und Nachwelt. Andere
sagten, wenn er etwas schaffe, von dem er wisse, dass es die Mitwelt
nicht verstehe, so sei er schon toericht und vollends, wenn er es
schaffe und weiss, dass auch keine Nachwelt es begreifen wird."
"Dieser Fall wird wohl kaum sein", antwortete mein Gastfreund, "der
Kuenstler macht sein Werk, wie die Blume blueht, sie blueht, wenn sie
auch in der Wueste ist und nie ein Auge auf sie faellt. Der wahre
Kuenstler stellt sich die Frage gar nicht, ob sein Werk verstanden
werden wird oder nicht. Ihm ist klar und schoen vor Augen, was er
bildet, wie sollte er meinen, dass reine, unbeschaedigte Augen es nicht
sehen? Was rot ist, ist es nicht allen rot? Was selbst der gemeine
Mann fuer schoen haelt, glaubt er das nicht fuer alle schoen? Und sollte
der Kuenstler das wirklich Schoene nicht fuer die Geweihten schoen halten?
Woher kaeme denn sonst die Erscheinung, dass einer ein herrliches Werk
macht, das seine Mitwelt nicht ergreift? Er wundert sich, weil er
eines andern Glaubens war. Es sind dies die Groessten, welche ihrem
Volke voran gehen und auf einer Hoehe der Gefuehle und Gedanken stehen,
zu der sie ihre Welt erst durch ihre Werke fuehren muessen. Nach
Jahrzehnten denkt und fuehlt man wie jene Kuenstler, und man begreift
nicht, wie sie konnten missverstanden werden. Aber man hat durch diese
Kuenstler erst so denken und fuehlen gelernt. Daher die Erscheinung, dass
gerade die groessten Menschen die naivsten sind.
Wenn nun der frueher angegebene Fall moeglich waere, wenn es einen wahren
Kuenstler gaebe, der zugleich wuesste, dass sein beabsichtigtes Werk nie
verstanden werden wuerde, so wuerde er es doch machen, und wenn er es
unterlaesst, so ist er schon gar kein Kuenstler mehr, sondern ein Mensch,
der an Dingen haengt, die ausser der Kunst liegen. Hieher gehoert auch
jene ruehrende Erscheinung, die von manchen Menschen so bitter getadelt
wird, dass einer, dem recht leicht gangbare Wege zur Verfuegung staenden,
sich reichlich und angenehm zu naehren, ja zu Wohlstand zu gelangen,
lieber in Armut, Not, Entbehrung, Hunger und Elend lebt und immer
Kunstbestrebungen macht, die ihm keinen aeusseren Erfolg bringen und
oft auch wirklich kein Erzeugnis von nur einigem Kunstwerte sind. Er
stirbt dann im Armenhause oder als Bettler oder in einem Hause, wo er
aus Gnaden gehalten wurde."
Wir waren unseres Freundes Meinung. Eustach ohnehin schon, weil er
die Kunstdinge als das Hoechste dem irdischen Lebens ansah und ein
Kunststreben als blosses Bestreben schon fuer hoch hielt, wie er auch
zu sagen pflegte, das Gute sei gut, weil es gut sei. Ich stimmte bei,
weil mich das, was mein Gastfreund sagte, ueberzeugte, und Gustav
mochte es geglaubt haben - Erfahrungen hatte er nicht -, weil ihm
alles Wahrheit war, was sein Pflegevater sagte.
Von einem Streben, das gewissermassen sein eigener Zweck sei, vom
Vertiefen der Menschen in einen Gegenstand, dem scheinbar kein aeusserer
Erfolg entspricht und dem der damit Behaftete doch alles Andere
opfert, kamen wir ueberhaupt auf Verschiedenes, an das der Mensch sein
Herz haengt, das ihn erfuellt und das sein Dasein oder Teile seines
Daseins umschreibt. Nachdem wir wirklich eine groessere Zahl von Dingen
durchsprochen hatten, die zu dem Menschen in das von uns angefuehrte
Verhaeltnis treten koennen, als ich je vermutet haette, machte mein
Gastfreund folgenden Ausspruch: "Wenn wir hier alle die Dinge
ausschliessen, die nur den Koerper oder das Tierische des Menschen
betreffen und befriedigen und deren andauerndes Begehren mit
Hinwegsetzung alles Andern wir mit dem Namen Leidenschaft bezeichnen,
weshalb es denn nichts Falscheres geben kann, als wenn man von edlen
Leidenschaften spricht, und wenn wir als Gegenstaende hoechsten Strebens
nur das Edelste des Menschen nennen: so duerfte alles Draengen nach
solchen Gegenstaenden vielleicht nicht mit Unrecht nur mit einem Namen
zu benennen sein, mit Liebe. Lieben als unbedingte Werthaltung mit
unbedingter Hinneigung kann man nur das Goettliche oder eigentlich nur
Gott; aber da uns Gott fuer irdisches Fuehlen zu unerreichbar ist, kann
Liebe zu ihm nur Anbetung sein, und er gab uns fuer die Liebe auf
Erden Teile des Goettlichen in verschiedenen Gestalten, denen wir uns
zuneigen koennen: so ist die Liebe der Eltern zu den Kindern, die
Liebe des Vaters zur Mutter, der Mutter zum Vater, die Liebe der
Geschwister, die Liebe des Braeutigams zur Braut, der Braut zum
Braeutigam, die Liebe des Freundes zum Freunde, die Liebe zum
Vaterlande, zur Kunst, zur Wissenschaft, zur Natur, und endlich
gleichsam kleine Rinnsale, die sich von dem grossen Strome abzweigen,
Beschaeftigungen mit einzelnen, gleichsam kleinlichen Gegenstaenden,
denen sich oft der Mensch am Abende seines Lebens wie kindlichen
Notbehelfen hingibt, Blumenpflege, Zucht einer einzigen Gewaechsart,
einer Tierart und so weiter, was wir mit dem Namen Liebhaberei
belegen. Wen die groesseren Gegenstaende der Liebe verlassen haben, oder
wer sie nie gehabt hat, und wer endlich auch gar keine Liebhaberei
besitzt, der lebt kaum und betet auch kaum Gott an, er ist nur da.
So fasst es sich, glaube ich, zusammen, was wir mit der Richtung
grosser Kraefte nach grossen Zielen bezeichnen, und so findet es seine
Berechtigung."
"Jene Zeit", sagte er nach einer Weile, "in welcher die Kirchen gebaut
worden sind, wie wir eben eine besucht haben, war in dieser Hinsicht
weit groesser als die unsrige, ihr Streben war ein hoeheres, es war
die Verherrlichung Gottes in seinen Tempeln, waehrend wir jetzt
hauptsaechlich auf den stofflichen Verkehr sehen, auf die
Hervorbringung des Stoffes und auf die Verwendung des Stoffes,
was nicht einmal ein an sich gueltiges Streben ist, sondern nur
beziehungsweise, in so fern ihm ein hoeherer Gedanke zu Grunde
gelegt werden kann. Das Streben unserer aelteren Vorgaenger war auch
insbesondere darum ein hoeheres, weil ihm immer Erfolge zur Seite
standen, die Hervorbringung eines wahrhaft Schoenen. Jene Tempel waren
die Bewunderung ihrer Zeit, Jahrhunderte bauten daran, sie liebten sie
also, und jene Tempel sind auch jetzt in ihrer Unvollendung oder in
ihren Truemmern die Bewunderung einer wieder erwachenden Zeit, die ihre
Verduesterung abgeschuettelt hat, aber zum allseitigen Handeln noch
nicht durchgedrungen ist. Sogar das Streben unserer unmittelbaren
Vorgaenger, welche sehr viele Kirchen nach ihrer Schoenheitsvorstellung
gebaut, noch mehr Kirchen aber durch zahllose Zubauten, durch
Aufstellung von Altaeren, durch Umaenderungen entstellt und uns eine
sehr grosse Zahl solcher Denkmale hinterlassen haben, ist in so
ferne noch hoeher als das unsere, indem es auch auf Erbauung von
Gotteshaeusern ausging, auf Darstellung eines Schoenen und Kirchlichen,
wenn es sich auch in dem Wesen des Schoenen von den Vorbildern
der frueheren Jahrhunderte entfernt hat. Wenn unsere Zeit von dem
Stofflichen wieder in das Hoehere uebergeht, wie es den Anschein
hat, werden wir in Baugegenstaenden nicht auch gleich das Schoene
verwirklichen koennen. Wir werden Anfangs in der blossen Nachahmung
des als schoen Erkannten aus aelteren Zeiten befangen sein, dann wird
durch den Eigenwillen der unmittelbar Betrauten manches Ungereimte
entstehen, bis nach und nach die Zahl der heller Blickenden groesser
wird, bis man nach einer allgemeineren und begruendeteren Einsicht
vorgeht und aus den alten Bauarten neue, der Zeit eigentuemlich
zugehoerige, entspriessen."
"In der Kirche, welche wir eben gesehen haben", sagte ich, "liegt nach
meiner Meinung eine eigentuemliche Schoenheit, dass es nicht begreiflich
ist, wie eine Zeit gekommen ist, in welcher man es verkennen und so
Manches hinzufuegen konnte, was vielleicht schon an sich unschoen ist,
gewiss aber nicht passt."
"Es waren rauhe Zeiten ueber unser Vaterland gekommen", erwiderte er,
"welche nur in Streit und Verwuestung die Kraefte uebten und die tieferen
Richtungen der menschlichen Seele ausrotteten. Als diese Zeiten
vorueber waren, hatte man die Vorstellung des Schoenen verloren, an
seine Stelle trat die blosse Zeitrichtung, die nichts als schoen
erkannte als sich selber und daher auch sich selber ueberall
hinstellte, es mochte passen oder nicht. So kam es, dass roemische oder
korinthische Simse zwischen altdeutsche Saeulen gefuegt wurden."
"Aber auch unter den altdeutschen Kirchen ist diese, welche wir
verlassen haben, wenn ich nach den Kirchen, die ich gesehen habe,
urteilen darf, eine der schoensten und edelsten", sagte ich.
"Sie ist klein", erwiderte mein Gastfreund, "aber sie uebertrifft
manche grosse. Sie strebt schlank empor wie Halme, die sich wiegen, und
gleicht auch den Halmen darin, dass ihre Boegen so natuerlich und leicht
aufspringen wie Halme, die da nicken. Die Rosen in den Fensterboegen,
die Verzierungen an den Saeulenknaeufen, an den Bogenrippen, so wie die
Rose der Turmspitze sind so leicht wie die verschiedenen Gewaechse, die
in dem Halmenfelde sich entwickeln."
"Darum ueberkam mich auch wieder ein Gedanke", antwortete ich, "den ich
schon oefter hatte, dass man nehmlich die Fassung von Edelsteinen im
Sinne altdeutscher Baudenkmale einrichten sollte, und dass man dadurch
zu schoeneren Gestaltungen kaeme."
"Wenn ihr den Gedanken so nehmet", erwiderte er, "dass sich die, welche
Edelsteine fassen, im Sinne der alten Baumeister bilden sollen, welche
Wuerdiges und Schoenes auf einfache und erhebende Art darstellten,
so duerftet ihr, glaube ich, recht haben. Wenn ihr aber meint, dass
Gestaltungen, welche an mittelalterlichen Gebaeuden vorkommen, im
verkleinerten Massstabe sofort als Schmuckdinge zu gebrauchen seien, so
duerftet ihr euch irren."
"So habe ich es gemeint", sagte ich.
"Wir haben schon einmal ueber diesen Gegenstand gesprochen", erwiderte
er, "und ich habe damals selber auf die altertuemliche Kunst als die
Grundlage von Schmuck hingewiesen; aber ich habe damit nicht bloss
die Baukunst gemeint, sondern jede Kunst, auch die der Geraete,
der Kirchenstoffe, der weltlichen Stoffe, die Malerkunst, die
Bildhauerkunst, die Holzschneidekunst und Aehnliches. Auch habe ich
nicht die unmittelbare Nachahmung der Gestaltungen gemeint, sondern
die Erkennung des Geistes, der in diesen Gestaltungen wohnt, das
Erfuellen des Gemuetes mit diesem Geiste, und dann das Schaffen in
dieser Erkenntnis und in diesem Erfuelltsein. Es steht der Uebertragung
der baulichen Gestaltungen auf Schmuck auch ein stoffliches Hindernis
entgegen. Die Gebaeude, an denen der Schoenheitssinn besonders zur
Auspraegung kam, waren immer mehr oder weniger ernste Gegenstaende:
Kirchen, Pallaeste, Bruecken und im Altertume Saeulen und Boegen. Im
Mittelalter sind die Kirchen weit das Ueberwiegende; bleiben wir also
bei ihnen. Um den Ernst und die Wuerde der Kirche darzustellen, ist der
Stoff nicht gleichgueltig, aus dem man sie verfertiget. Man waehlte den
Stein als den Stoff, aus dem das Grossartigste und Gewaltigste von dem,
was sich erhebt, besteht, die Gebirge. Er leiht ihnen dort, wo er
nicht von Wald oder Rasen ueberkleidet ist, sondern nackt zu Tage
steht, das erhabenste Ansehen. Daher gibt er auch der Kirche die
Gewalt ihres Eindruckes. Er muss dabei mit seiner einfachen Oberflaeche
wirken und darf nicht bemalt oder getuencht sein. Das Naechste unter dem
Emporstrebenden, was sich an das Gebirge anschliesst, ist der Wald. Ein
Baum uebt nach dem Felsen die groesste Macht. Daher ist die Kirche in
Wuerde und kuenstlerischem Ansehen auch noch von Holz denkbar, sobald es
nicht bemalt und nicht bestrichen ist. Eine eiserne Kirche oder gar
eine von Silber koennte nicht anders als widrig wirken, sie wuerde nur
wie roher Prunk aussehen, und von einer Kirche aus Papier, gesetzt,
man koennte den Waenden auf die Dauer Widerstand gegen Wetter und den
Verzierungen durch Pressen oder dergleichen die schoensten Gestalten
geben, wendet sich das Herz mit Widerwillen und Verachtung ab. Mit dem
Stoffe haengt die Gestaltung zusammen. Der Stein ist ernst, er strebt
auf und laesst sich nicht in die weichsten, feinsten und gewundensten
Erscheinungen biegen. Ich rede von dem Bausteine, nicht von dem
Marmor. Daher hat man die Gestalten der Kirche aus ihm emporstrebend,
einfach und stark gemacht, und wo Biegungen vorkommen, sind sie mit
Mass und mit einem gewissen Adel ausgefuehrt und ueberladen nicht die
Waende und die andern Bildungen. In der Zeit, als sie das Uebergewicht
zu bekommen anfingen, hoerte auch die strenge Schoenheit der Kirchen auf
und die Niedlichkeit begann. Zu den Fassungen unseres Schmuckes nehmen
wir Metall, und zwar meistens Gold. Das Metall aber hat wesentlich
andere Merkmale als der Stein. Es ist schwerer; darf also, ohne uns zu
druecken, nicht in groesseren Stuecken angewendet worden, sondern muss in
zarte Gestaltungen auseinander laufen.
Dabei hat es unter allen Stoffen die groesste Biegsamkeit und
Dehnbarkeit, wir glauben ihm daher die kuehnsten Windungen und
Verschlingungen und fordern sie von ihm. Die Bildungen, besonders
Zieraten aus Gold, koennen daher nicht genau dieselben sein wie die aus
Stein, wenn beide schoen sein sollen. Aber aus dem inneren Geiste des
einen, glaube ich, kann man recht gut und soll man den innern Geist
des andern kennen, und es duerfte Treffliches heraus kommen."
Ich vermochte gegen diese Ansicht nichts Wesentliches einzuwenden.
Eustach fuehrte sie noch genauer durch Beispiele aus, die er von
bekannten Steingestaltungen an Kirchen hernahm. Er zeigte, wie eine
gelaeufige, leichte, kirchliche Steinbildung, wenn man sie etwa aus
Gold machen lasse, sogleich schwer, traeg und unbeholfen werde, und
er zeigte auch, wie man nach und nach die Steingestaltung umwandeln
muesse, dass sie zu einer fuer Gold tauge, und da lebendig und
eigentuemlich werde. Er versprach mir, dass er mir ueber diese
Angelegenheit, wenn wir nach Hause gekommen sein wuerden, Zeichnungen
zeigen wuerde. Ich sah hieraus, wie sehr meine Freunde ueber diesen
Gegenstand nachgedacht haben und wie sie tatsaechlich in ihn
eingegangen seien.
"Es sind aber nicht bloss die Aeusserlichkeiten an unserer Kirche sehr
schoen", fuhr mein Gastfreund fort, "sondern die Gestalten der Heiligen
auf dem Altare und in den Nischen sind schoener, als man sie sonst
meistens aus dem Zeitalter, aus welchem die Kirche stammt, zu sehen
gewohnt ist. Wenn ich sagte, dass die griechischen Bildergestalten eine
groessere sinnliche Schoenheit haben als die aus dem Mittelalter, so ist
dieses nicht ausnahmslos so. Es gibt auch hoechst liebliche Gestalten
aus dem Mittelalter, und wo keine Verzeichnung ist und wo sich
Sinnlichkeit zeigt, sind sie meistens waermer als die griechischen. In
der kleinen Kirche ist Aehnliches vorhanden, deshalb habe ich so gerne
ihre Wiederherstellung uebernommen, deshalb bedaure ich, dass meine
Mittel nicht so gross sind, die gaenzliche Vollendung herbeifuehren zu
koennen, und deshalb habe ich so sehr nach den Gestalten, die in den
Nischen fehlen, suchen lassen, um so viel als moeglich die Kirche zu
bevoelkern, wenn auch der Gedanke Raum hatte, dass vielleicht nicht
einmal alle Gestalten fertig geworden und alle Plaetze besetzt gewesen
seien. Vielleicht steht einmal eine hoehere und allgemeinere Kraft
auf, die diese und noch wichtigere Kirchen wieder in ihrer Reinheit
darstellt."
Wir kamen am zweiten Tage in dem Asperhofe an, und ich sagte, dass ich
nun nicht mehr lange da verweilen koenne. Mein Gastfreund erwiderte,
dass er in einigen Tagen in den Sternenhof fahren werde, dass er mich
einlade, ihn zu begleiten und dass ich bis dahin noch bei ihm bleiben
moege.
Ich erklaerte, dass bei mir wohl einige Tage keinen wesentlichen
Unterschied machten, dass ich aber doch wuensche, bald zu meinen Eltern
zurueckkehren zu koennen.
So war der Abend vor der Abreise in den Sternenhof gekommen, und
mein Gastfreund sagte an demselben in einem gelegenen Augenblicke zu
mir: "Ihr tretet nun zu jemandem, der mir nahe ist, in ein inniges
Verhaeltnis; es ist billig, dass ihr alles wisset, wie es in dem
Sternenhofe ist und in welchen Beziehungen ich zu demselben stehe. Ich
werde euch alles darlegen. Damit ihr aber in noch viel groesserer Ruhe
seid und mit Klarheit das Mitgeteilte aufnehmen koennet, so werde ich
es euch erzaehlen, wenn ihr wieder in den Asperhof kommt. Ihr werdet
jetzt zu euren Eltern gehen, wie ihr sagt, um ihnen zu berichten, wie
ihr aufgenommen worden seid und wie die Angelegenheit steht. Wenn ihr
dann nach eurem beliebigen Willen wieder zu mir kommt, sei es zu was
immer fuer einer Zeit, so werdet ihr willkommen sein und bereitwilligen
Empfang finden."
Am anderen Morgen sass ich nebst Gustav mit ihm in dem Wagen, und wir
fuhren dem Sternenhofe zu.
Wir wurden dort so freundlich und heiter aufgenommen wie immer, ja
noch freundlicher und heiterer als sonst. Die Zimmer, welche wir immer
bewohnt hatten, standen fuer uns, wie fuer Personen, welche zu der
Familie gehoerten, in Bereitschaft. Natalie stand mit lieblichen Mienen
neben ihrer Mutter und sah ihren aelteren Freund und mich an. Ich
gruesste mit Ehrerbietung die Mutter und fast mit gleicher Ehrerbietung
die Tochter. Gustav war etwas schuechterner als sonst und blickte
bald mich, bald Natalien an. Wir sprachen die gewoehnlichen
Bewillkommungsworte und andere unbedeutende Dinge. Dann verfuegten wir
uns in unsere Zimmer.
Noch an demselben Tage und am naechsten besah mein Gastfreund
verschiedene Dinge, welche zur Bewirtschaftung des Gutes gehoerten,
besprach sich mit Mathilden darueber, besuchte selbst ziemlich
entfernte Stellen und ordnete im Namen Mathildens an. Auch die
Arbeiten in der Hinwegschaffung der Tuenche von der Aussenseite des
Schlosses besah er. Er stieg selber auf die Gerueste, untersuchte die
Genauigkeit der Hinwegschaffung der aufgetragenen Kruste und die
Reinheit der Steine. Er pruefte die Groesse der in einer gewoehnlichen
Zeit vollbrachten Arbeit und gab Auftraege fuer die Zukunft. Wir waren
bei den meisten dieser Beschaeftigungen gemeinschaftlich zugegen.
Man behandelte mich auf eine ausgezeichnete Art. Mathilde war so
sanft, so gelassen und milde wie immer. Wer nicht genauer geblickt
haette, wuerde keinen Unterschied zwischen sonst und jetzt gewahr
geworden sein. Sie war immer guetig und konnte daher nicht guetiger
sein. Ich empfand aber doch einen Unterschied. Sie richtete das Wort
so offen an mich wie frueher; aber es war doch jetzt anders. Sie fragte
mich oft, wenn es sich um Dinge des Schlosses, des Gartens, der
Felder, der Wirtschaft handelte, um meine Meinung, wie einen, der
ein Recht habe und der fast wie ein Eigentuemer sei. Sie fragte gewiss
nicht, um meine Meinung so gruendlich zu wissen; denn mein Gastfreund
gab die besten Urteile ueber alle diese Gegenstaende ab, sondern sie
fragte so, weil ich einer der ihrigen war. Sie hob aber diese Fragen
nicht hervor und betonte sie nicht, wie jemand getan haette, bei dem
sie Absicht gewesen waeren, sondern sie empfand das Zusammengehoerige
unseres Wesens und gab es so. Mir ging diese Behandlung ungemein lieb
in die Seele. Mein Gastfreund war wohl beinahe gar nicht anders; denn
sein Wesen war immer ein ganzes und geschlossenes; aber auch er schien
herzlicher als sonst.
Gustav verlor sein anfaengliches schuechternes Wesen. Obwohl er auch
jetzt noch kein Wort sagte, welches auf unser Verhaeltnis anspielte -
das taten auch die anderen nicht, und er hatte eine zu gute Erziehung
erhalten, um, obgleich er noch so jung war, hierin eine Ausnahme zu
machen -, so ging er doch zuweilen ploetzlich an meine Seite, nahm mich
bei einem Arme, drueckte ihn oder nahm mich bei der Hand und drueckte
sie mit der seinen. Nur mit Natalie war es ganz anders. Wir waren
beinahe scheuer und fremder, als wir es vor jenem Hervorleuchten des
Gefuehles in der Grotte der Brunnennymphe gewesen waren. Ich durfte
sie am Arme fuehren, wir durften mit einander sprechen; aber wenn
dies geschah, so redeten wir von gleichgueltigen Dingen, welche weit
entfernt von unseren jetzigen Beziehungen lagen. Und dennoch fuehlte
ich ein Glueck, wenn ich an ihrer Seite ging, dass ich es kaum mit
Worten haette sagen koennen. Alles, die Wolken, die Sterne, die Baeume,
die Felder schwebten in einem Glanze, und selbst die Personen ihrer
Mutter und ihres alten Freundes waren verklaerter. Dass in Natalien
Aehnliches war, wusste ich, ohne dass sie es sagte.
Wenn wir an dem Scheunentore des Meierhofes vorbeigingen oder an
einer anderen Tuer oder an einem Felde oder sonst an einem Platze, auf
welchem gearbeitet wurde, so traten die Menschen zusammen, blickten
uns nach und sahen uns mit denselben bedeutungsvollen Augen an, mit
denen man mich in dem Asperhofe angeschaut hatte. Es war mir also
klar, dass man auch hier wusste, in welchen Beziehungen ich zu der
Tochter des Hauses stehe. Ich haette es auch aus der groesseren
Ehrerbietung der Diener heraus lesen koennen, wenn es mir nicht schon
sonst deutlich gewesen waere. Aber auch hier wie in dem Asperhofe
bemerkte ich, dass es etwas Freundliches war, etwas, das wie Freude
aussah, was sich in den Mienen der Leute spiegelte. Sie mussten also
auch hier mit dem, was sich vorbereitete, zufrieden sein. Ich war
darueber tief vergnuegt; denn auf welchem Stande der Entwickelung die
Leute immer stehen moegen, so ist es doch gewiss, wie ich aus dem
Umgange mit vielen Menschen reichlich erfahren habe, dass Geringere die
Hoeheren oft sehr richtig beurteilen und namentlich, wenn Verbindungen
geschlossen werden, seien es Freundschaften, seien es Ehen, mit
richtiger Kraft erkennen, was zusammen gehoert und was nicht. Dass sie
mich also zu Natalien gehoerig ansahen, erfuellte mich mit nachhaltender
inniger Freude.
Wie Natalie ueber diese Kundgebungen der Leute dachte, konnte ich nicht
erkennen.
Nachdem so drei Tage vergangen waren, nachdem wir die verschiedensten
Stellen des Schlosses, des Gartens, der Felder und der Waelder
gemeinschaftlich besucht hatten, nachdem wir auch manchen Augenblick
in den Gemaeldezimmern und in denen mit den altertuemlichen Geraeten
zugebracht und an Verschiedenem uns erfreut hatten, nachdem endlich
auch alles, was in Angelegenheiten des Gutes zu besprechen und zu
ordnen war, zwischen Mathilden und meinem Gastfreunde besprochen
und geordnet worden war, wurde auf den naechsten Tag die Abreise
beschlossen. Wir verabschiedeten uns auf eine aehnliche Weise, wie wir
uns bewillkommt hatten, der Wagen war vorgefahren, und wir schlugen
die Richtung zurueck ein, in der wir vor vier Tagen gekommen waren.
Ich fuhr mit meinem Gastfreunde nur bis an die Poststrasse und auf
derselben bis zur ersten Post. Dort trennten wir uns. Er fuhr auf
Nebenwegen dem Asperhofe zu, weil er mir zu lieb einen Umweg gemacht
hatte, ich aber schlug mit Postpferden die Richtung gegen das Kargrat
ein. Ich war entschlossen, im Kargrat fuer jetzt ganz abzubrechen und
also die Gegenstaende, die ich noch dort hatte, fortschaffen zu lassen.
Als ich in dem kleinen Orte eingetroffen war, richtete ich meine
Verhaeltnisse zurecht, liess meine Dinge einpacken und schickte sie
fort. Ich nahm von dem Pfarrer, welchen ich kennen gelernt hatte,
Abschied, verabschiedete mich auch von meinen Wirtsleuten und von den
anderen Menschen, die mir bekannt geworden waren, sagte, dass ich nicht
weiss, wann ich in das Kargrat zurueckkehren werde, um meine Arbeiten,
welche ich wegen eines schnell eingetretenen Umstandes hatte abbrechen
muessen, fortzusetzen, und reiste wieder ab.
Ich ging jetzt in das Lauterthal, um es zu besuchen. Es war in der
Richtung nach meiner Heimat ein geringer Umweg, und ich wollte das
Tal, das mir lieb geworden war, wieder sehen. Besonders aber fuehrte
mich ein Zweck dahin. Obwohl ich wenig Hoffnung hatte, dass mein
Auftrag, den ich in dem Tale gegeben hatte, zu forschen, ob sich nicht
doch noch die Ergaenzungen zu den Vertaeflungen meines Vaters faenden,
einen Erfolg haben werde, so wollte ich doch nicht nach Hause reisen,
ohne in dieser Hinsicht Nachfrage gehalten zu haben. Die gewuenschten
Ergaenzungen hatten sie zwar nicht gefunden, auch keine Spur zu
denselben war entdeckt worden; aber manche Leute hatte ich gesehen,
denen ich in frueheren Tagen geneigt worden war, Gegenstaende hatte ich
erblickt, von denen ich in vergangenen Jahren zu meinem Vergnuegen
umringt gewesen war.
Ich ging auch in das Rothmoor. Dort fand ich die Arbeiten noch in
einem hoeheren Masse entwickelt und im Gange, als sie es bei meiner
letzten Anwesenheit gewesen waren. Von mehreren Orten hatte man
Bestellungen eingesendet, selbst von unserer Stadt, wo das Becken der
Einbeere bekannt geworden war und manchen Beifall gefunden hatte,
waren Briefe geschickt worden. Fremde kamen zu Zeiten in diese
abgelegene Gegend, machten Kaeufe und hinterliessen Auftraege. Ich sah
also, dass sich Manches hier gebessert habe, betrachtete die Arbeiten
und bestellte auch wieder einige neue, weil ich teils noch Stuecke
schoenen Marmors hatte, aus denen irgend etwas gemacht werden konnte
und weil anderen Teils in dem Garten des Vaters zur Bruestung oder zu
anderen Stellen noch Gegenstaende fehlten. Die Leute hatten mich recht
freundlich und zuvorkommend empfangen, sie zeigten mir, was im Gange
war, welche Verbesserungen sie eingefuehrt hatten und welche sie noch
beabsichtigen. Sie liessen hiebei nicht unerwaehnt, dass ich der kleinen
Anstalt immer zugetan gewesen sei und dass ich zu den Verbesserungen
manchen Anlass und manchen Fingerzeig gegeben habe. Ich drueckte meine
Freude ueber alles das aus und versprach, dass ich, wenn ich in die Naehe
kaeme, jederzeit recht gerne einen kurzen Besuch in dem Rothmoor machen
wuerde.
Nach diesem unbedeutenden Aufenthalte im Lauterthale und im Rothmoor
setzte ich meine Reise zu meinen Eltern ohne weitere Verzoegerung fort.
Die Mitteilung
Zu Hause hatten sie mich noch nicht erwartet, weil ich ihnen durch
meinen Brief angezeigt hatte, dass ich mit meinem Gastfreunde eine
kleine Reise zu einer altertuemlichen Kirche machen wuerde. Auch hatten
sie sich vorgestellt, dass ich noch einmal in meinen Aufenthaltsort
in das Hochgebirge gehen und mich auf der Rueckreise eine Zeit in dem
Sternenhofe aufhalten werde. Sie irrten aber; denn obwohl ich in
beiden Orten war, war ich doch nicht lange dort, und es draengte mein
Herz, den Meinigen zu eroeffnen, wie meine Angelegenheiten stehen. Als
ich dieses getan hatte, waren sie bei Weitem weniger ergriffen, als
ich erwartet hatte. Sie freuten sich, aber sie sagten, sie haetten
gewusst, dass es so sein werde, ja sie haetten seit Jahren die jetzige
Entwicklung schon geahnt. Im Rosenhause und im Sternenhofe, meinten
sie, wuerde man mich nicht so freundschaftlich und guetig behandelt
haben, wenn man mich nicht lieb gehabt und wenn man nicht selbst das,
was sich jetzt ereignet hat, als etwas Angenehmes betrachtet haette,
dessen Spuren man ja doch habe entstehen sehen muessen. So lieb mir
diese Ansicht war, weil sie die Gesinnungen meiner Angehoerigen gegen
mich ausdrueckte, so konnte ich doch nicht umhin, zu denken, dass nur
die Meinigen die Sache so betrachten, weil sie eben die Meinigen sind,
und dass sie mich auch darum des Empfangenen fuer wuerdig erachteten. Ich
aber wusste es anders, weil ich Natalien und ihre Umgebung kannte und
ihren Wert zu ahnen vermochte. Ich konnte das, was mir begegnete, nur
als ein Glueck ansehen, welches mir ein guenstiges Schicksal entgegen
gefuehrt hatte und dessen immer wuerdiger zu werden ich mich bestreben
muesse.
Mein Vater sagte, es sei alles gut, die Mutter liess in wehmuetiger und
freudiger Stimmung immer wieder die Worte fallen, dass denn so gar
nichts fuer ein so wichtiges Verhaeltnis vorbereitet sei; die Schwester
sah mich oefter sinnend und betrachtend an.
Ich sprach die Bitte aus, dass die Eltern mir nun beistehen muessten,
das, was in den gegenwaertigen Verhaeltnissen zu tun sei, auf das
Schicklichste zu tun, und ich legte auch den Wunsch dar, dass ich nach
des Vaters Ansicht eine groessere Reise unternehmen moechte.
"Es sind mehrere Dinge noetig", sagte der Vater. "Zuerst, glaube ich,
erwartet man von deinen Eltern eine Annaeherung an sie; denn die
Angehoerigen der Braut koennen sich nicht schicklich zuerst den
Angehoerigen des Braeutigams vorstellen. Ausserdem hat mir dein
Gastfreund Liebes erwiesen, was ich ihm noch nicht habe vergelten
koennen. Ferner hat dir dein Gastfreund Mitteilungen zu machen, die
er fuer notwendig haelt; und endlich solltest du wirklich, wie du
auch selber wuenschest, eine groessere Reise machen, um wenigstens im
Allgemeinen Menschen und Welt naeher kennen zu lernen. Was deine
Gegenleute tun werden, ist ihre Sache, und wir muessen es erwarten.
Unsere Angelegenheit ist jetzt, das, was uns obliegt, auf solche Weise
zu tun, dass wir uns weder vordraengen noch dass etwas geschehe, was
wie geringere Achtung dessen aussaehe, was uns durch diese Verbindung
geboten wird. Ich glaube, die natuerlichste Ordnung waere folgende. Du
musst zuerst die Mitteilungen deines Freundes anhoeren, weil sie dir
zuerst ohne Bedingung angetragen worden sind. Dann werde ich mit
deiner Mutter eine Reise zur Mutter deiner Braut machen und bei dieser
Gelegenheit deinen Gastfreund besuchen. Endlich magst du den Vorschlag
tun, dass du eine Reise zu hoeherer Ausbildung zu unternehmen wuenschest.
Weil aber dein Gastfreund selber gesagt hat, dass du, ehe er dir seine
Mitteilungen macht, zu groesserer Ruhe kommen sollst, und weil es
andererseits unziemend waere, zu sehr zu draengen, so kannst du nicht
jetzt sogleich zu ihm gehen und ihn um seine Eroeffnungen bitten,
sondern du musst eine Zeit verfliessen lassen und ihn spaeter, vielleicht
im Winter, besuchen. Dadurch sieht er auch, dass du einerseits nicht
zudringlich bist und dass du andererseits, da du in ungewohnter
Jahreszeit zu ihm koemmst, doch die Sehnsucht zu erkennen gibst, deine
Sache zu foerdern. Und damit du gewisser zu der erforderlichen Ruhe
gelangest, schlage ich dir vor, mich auf einer kleinen Reise in meine
Geburtsgegend zu begleiten, die wir in Kuerze antreten koennen.
Wenn du dann im Winter zu deinem Gastfreunde koemmst, so kannst du ihm
unsere Gruesse bringen und ihm sagen, dass wir mit Beginn der schoeneren
Jahreszeit kommen und fuer dich um die Hand der Tochter seiner Freundin
werben werden."
Alle waren mit diesem Vorschlage vollkommen einverstanden. Besonders
freute sich die Mutter, als sie hoerte, dass der Vater von freien
Stuecken auf einen Reiseplan gekommen sei, dessen Richtung sie gar
nicht erraten haette.
"Ich muss mich ja ueben", erwiderte er, "wenn ich im Fruehlinge eine
Reise in das Oberland bis in die Naehe der Gebirge antreten soll, die
uns auch in den Rosenhof bringt und weiss Gott wie weit noch fuehren
kann; denn wenn Leute, die immer zu Hause sind, einmal von der
Wanderungslust ergriffen werden, dann koennen sie auch ihres Reisens
kein Ende finden und besuchen Gegend um Gegend."
Ich aber sagte hierauf: "Weil Klotilde nie die Gebirge gesehen hat,
weil sie in dieser ganzen Angelegenheit am weitesten zurueckgesetzt
ist, weil ich ihr immer versprochen habe, sie in die Berge zu fuehren,
und weil die Erfuellung dieses Versprechens durch meine groessere
Reise wieder hinaus geschoben werden koennte: so mache ich ihr den
Vorschlag, mit mir, wenn ich mit dem Vater von unserer kleinen Reise
zurueckgekommen bin, einen Teil des Herbstes in dem Hochgebirge
zuzubringen. Die Tage des Herbstes, selbst die des Spaetherbstes,
sind in den Gebirgen meistens sehr schoen, und wir koennen in den
klaren Lueften weiter herum sehen, als es oft in dem schwuelen und
gewitterreichen Dunstkreise der Monate Juni oder Juli moeglich ist."
Klotilde nahm diesen Vorschlag mit Freude an, und ich versprach ihr,
in den Tagen, die noch bis zu meiner Abreise mit dem Vater verfliessen
werden, alles anzugeben, was sie an Kleidern und sonstigen Dingen zu
der Gebirgsreise beduerfe, welche Gegenstaende sie dann waehrend meiner
Abreise vorrichten lassen koenne.
"Wenn ich zu den Mitteilungen meines Freundes an Ruhe gewinnen muss",
setzte ich hinzu, "so koennten diese Reisen das beste Mittel dazu
abgeben."
Der Vater und die Mutter waren mit meinem Vorschlage sehr zufrieden.
Die Mutter sagte nur, sie werde an den Vorbereitungen Klotildens
mitarbeiten und besonders darauf sehen, dass alles vorhanden sei, was
zu dem Schutze der Gesundheit gehoere.
Ich erwiderte, dass das sehr gut sei und dass ich auch bei der Reise
selber alle Massregeln ergreifen werde, dass Klotildens Gesundheit
keinen Schaden leide.
Wir fingen wirklich am andern Tage an, die Dinge zu bereden, welche
Klotilde zur Reise brauche. Sie ging ruestig an die Anschaffung. Ich
entwarf ein Verzeichnis der Notwendigkeiten, welches ich nach und
nach ergaenzte. Als einige Zeit verflossen war, glaubte ich es so
vervollstaendigt zu haben, dass nun nicht leicht mehr etwas Wesentliches
vergessen werden konnte.
Indessen rueckte auch der Tag heran, an welchem ich mit dem Vater
abreisen sollte.
Am fruehen Morgen desselben setzten wir uns in den leichten Reisewagen,
dessen sich der Vater immer bedient hatte, wenn er groessere
Entfernungen zuruecklegen musste. Jetzt war er lange nicht mehr aus dem
Wagenbehaeltnis gekommen. Auf Anordnung der Mutter wurde er einige
Tage vorher von Sachkundigen genau untersucht, ob er nicht heimliche
Gebrechen habe, welche uns in Schaden bringen koennten. Als dies
einstimmig verneint worden war, gab sie sich zufrieden. Wir hatten
Postpferde, wechselten dieselben an gehoerigen Orten und hielten uns in
ihnen so lange auf, als es uns beliebte. Gegen jeden Abend liess der
Vater noch bei Tageslicht halten, es wurde das Nachtlager bestellt und
wir machten vor dem Abendessen einen Spaziergang. In diesen Tagen, an
denen ich mehr Stunden hintereinander ununterbrochen mit dem Vater
zubrachte, als dies je vorher der Fall gewesen war, sprach ich
auch mehr mit ihm als je zu einer anderen Zeit. Wir sprachen von
Kunstdingen: er erzaehlte mir von seinen Bildern, sagte mir Manches
ueber ihre Erwerbung, was ich noch nicht wusste, und verbreitete sich in
guter Rede ueber ihren Kunstwert, er kam auf seine Steine und erklaerte
mir Manches; wir ergingen uns in Buechern, die uns beiden gelaeufig
waren, setzten ihren Wert, wenn er dichterisch oder wissenschaftlich
war, auseinander und erinnerten uns gegenseitig an Teile des Inhaltes;
wir sprachen auch von Zeitereignissen und von der Lage unsers Staates.
Er erzaehlte mir endlich von seinem kaufmaennischen Geschaefte und machte
mich mit dessen Grundlagen und Stellungen bekannt. Er zeigte mir Teile
der Gegend, durch die wir fuhren, und unterrichtete mich von dem
Schicksale mancher Familie, die in diesem oder jenem Abschnitte der
Landschaft wohnte. Unter diesen Verhaeltnissen kamen wir am vierten
Tage an dem Orte unserer Bestimmung an. Die Gegend war mir voellig
unbekannt, weil mich meine Wanderungen nie hieher getragen hatten.
Am Saume des Waldes, der den Norden unseres Landes begrenzt, ging ein
Tal hin, das einst Wald gewesen war und das jetzt zerstreute Haeuser,
einzelne Felder, Wiesen, Felsen, Schluchten und rinnende Wasser in
seinem Bereiche hegte. Eines der Haeuser, halb aus Holz gezimmert und
halb gemauert, war das Geburtshaus meines Vaters. Es stand am Rande
eines Waeldchens, das von dem grossen Walde herstammte, der einst diese
ganzen Gegenden bedeckt hatte. Es war gegen West durch eine Gruppe
sehr grosser und dicht stehender Buchen gedeckt. dass ihm die Winde
von dorther wenig anhaben konnten, hatte gegen Ost den Schutz eines
Felsens, im Norden den des grossen Waldbandes und schaute gegen Sueden
auf seine nicht unbetraechtlichen Wiesen und Felder, deren Ergiebigkeit
in Getreide gering, in Futterkraeutern ausserordentlich war, weshalb der
groessere Reichtum auch in Herden bestand. Wir fuhren in das Gasthaus
des Tales, liessen unsere Reisedinge abpacken, bestellten uns auf
einige Tage Wohnung und besuchten dann die sehr entfernten Verwandten,
welche jetzt des Vaters Stammhaus bewohnten. Es war gegen Mittag.
Sie nahmen uns, da wir uns entdeckt hatten, sehr freundlich auf und
verlangten, dass wir unser Gepaecke holen lassen und bei ihnen wohnen
sollten. Nur auf die dringenden Vorstellungen des Vaters, dass wir
ihnen die Bequemlichkeit naehmen und selber keine gewaennen, gaben sie
nach und verlangten nur noch, dass wir zum bevorstehenden Mittagessen
bei ihnen bleiben sollten, was wir annahmen.
Da wir nun in der grossen Wohnstube sassen, zeigte mir der Vater den
geraeumigen Ahorntisch, bei dem er und seine Geschwister ihre Nahrung
eingenommen hatten. Der Tisch war alt geworden, aber der Vater sagte,
dass er noch in derselben Ecke stehe, von den zwei Fenstern beglaenzt
und von der hereinscheinenden Sonne beleuchtet wie einst. Er zeigte
mir seine gewesene, neben der Stube befindliche Schlafkammer.
Dann gingen wir hinaus, er wies mir die Treppe, die auf den hoelzernen
Gang fuehrte, welcher rings um den Hof lief, und den Quell, der sich
noch immer mit hellem Wasser in den Granittrog ergoss, welchen schon
sein Urgrossvater hatte hauen lassen, er wies mir den Stall, die
Scheune und hinter ihr den Waldweg, auf dem er, noch ein halbes Kind,
mit einem Stabe in der Hand die Heimat verlassen habe, um in der
Fremde sein Glueck zu suchen. Wir gingen sogar in das Freie und dort
herum. Der Vater blieb haeufig stehen und erinnerte sich noch der
Fruchtgattungen, welche auf verschiedenen Stellen gestanden waren,
als er mit einem Taefelchen, darauf sich rote und schwarze Buchstaben
befanden, in das eine Viertelstunde entlegene hoelzerne Haus ging, das
an der Strasse stand, von Buchen umgeben war und die Schule fuer alle
Kinder des Tales vorstellte. Er sagte, es sei alles noch wie zur Zeit
seiner Kindheit, die nehmlichen Begrenzungen, die nehmlichen kleinen
Feldwege und dieselben Wassergraeben und Quellrinnsale. Er sagte, es
sei ihm, als staenden sogar dieselben Arnicablumen auf der Wiese, die
er als Knabe angeschaut habe, und da er mich zu dem Steinbuehl gefuehrt
hatte, der am Rande der Felder lag, so ragten die Himbeerzweige
empor, rankten sich die dornenreichen Brombeerreben um die Steine und
wucherten die Erdbeerblaetter, gerade wie die, von denen er als Knabe
gepflueckt hatte. Vom Steinbuehl gingen wir zu dem einfachen Essen, das
wir mit unsern Verwandten verzehrten. Nach demselben besuchten wir mit
dem jetzigen Eigentuemer alle Besitzungen. Der Vater sagte, dort habe
sein Vater gepfluegt, geeggt, gegraben, hier habe seine Mutter mit der
Schwester, der Magd und den Tageloehnern Heu gemacht, dort seien die
Kuehe und Ziegen gegen den Wald hinan gegangen wie sie jetzt gehen, und
die Seinigen haben ausgesehen wie die Leute jetzt aussehen.
Als wir zurueckgekehrt waren, verabschiedeten wir uns, der Vater dankte
fuer die Bewirtung und sagte, dass er gegen den Abend noch einmal in das
Haus kommen werde.
Da wir uns in dem Zimmer unseres Gasthofes befanden, oeffnete der Vater
seinen Koffer und nahm allerlei Dinge aus demselben hervor, welche
zu Geschenken fuer die Bewohner des Hauses bestimmt waren, in dem wir
gespeist hatten. Ich war von ihm nie in die Kenntnis gesetzt worden,
welche Bewohner wir in seinem Vaterhause treffen wuerden, er musste sie
wohl auch selber nicht genau gekannt haben. Ich war also nicht mit
Geschenken versehen. Der Vater hatte aber auch fuer diesen Fall
gesorgt, er gab mir mehrere Dinge, besonders Stoffe, kleine
Schmucksachen und Aehnliches, um es bei unserem Abendbesuche in dem
Hause auszuteilen. Er hatte nicht gleich bei seiner Ankunft die
Geschenke mitnehmen wollen, weil er es, obwohl die Leute nur die
gewoehnlichen Talbewohner dieser Gegend waren, fuer unschicklich hielt,
mit Gaben belastet das Haus zu betreten und ihnen gleichsam sagen zu
wollen: >Ich glaube, dass ihr das fuer das Wichtigste haltet.< Jetzt
aber war er ihnen etwas schuldig geworden und konnte den Dank fuer die
gute Aufnahme abstatten.
Als wir die Geschenke in dem Hause verteilt und dafuer die Freude
und den Dank der Empfaenger geerntet hatten, die in zwei Eheleuten
mittlerer Jahre, in deren zwei Soehnen, einer Tochter und in einer
alten Grossmutter bestanden - den Knecht und die zwei Maegde nicht
gerechnet -, war es mittlerweile Nacht geworden, und wir kehrten
wieder in unsere Herberge zurueck.
Wir blieben noch vier Tage in der Gegend. Der Vater besuchte in meiner
Begleitung viele Stellen, die ihm einst lieb gewesen waren, einen
kleinen See, einen Felsblock, von dem eine schoene Aussicht war, eine
Gartenanlage in einem nicht sehr entfernten schlossaehnlichen Gebaeude,
die hoelzerne Schule und vor allem die eine und eine halbe Wegestunde
entfernte Kirche, welche das Gotteshaus des Tales war und um welche
der Kirchhof bog, in welchem sein Vater und seine Mutter ruhten. Eine
weisse Marmortafel, die er und sein Bruder hatten setzen lassen, ehrte
ihr Angedenken. Sonst ging der Vater auch fast in allen Zeiten des
Tages auf den Wegen der Felder und des Waldes herum.
Am fuenften Tage traten wir die Rueckreise zu den Unsrigen an.
Wir waren am fruehen Morgen noch zu unsern Verwandten gegangen. Sie
waren, wie es bei Landleuten in solchen Faellen gebraeuchlich ist,
schoener angekleidet als sonst und erwarteten uns. Wir nahmen in
herzlicher Weise Abschied. Ich versprach, da ich ohnehin das Wandern
gewohnt sei und viele Gegenden besuche, auch hieher wieder zu kommen
und noch oefter in dem kleinen Hause vorzusprechen. Der Vater sagte,
es koenne sein, dass er wieder komme oder auch nicht, wie es sich eben
beim Alter fuege. Man muesse erwarten, was Gott gewaehre. Die Leute
begleiteten uns in das Gasthaus und blieben da, bis wir den Wagen
bestiegen hatten. Aus den Worten ihres Abschiedes und ihrer
Danksagungen erkannte ich, dass der Vater ihnen auch eine Summe Geldes
gegeben haben muesse. Sie sahen uns sehr lange nach.
Im Fortfahren war der Vater anfangs ernst und wortkarg, es mochte ihm
das Herz schwer gewesen sein. Spaeter entwickelte sich bei uns wieder
ein Verkehr der Rede, wie er auf der Herreise gewesen war.
Am Abende des dritten Tages nach unserer Abfahrt waren wir wieder in
dem Hause in der Vaterstadt.
Die Mutter war sehr erfreut, dass der Aufenthalt von elf Tagen in der
freien Luft fuer den Vater von so wohltaetigen Folgen gewesen sei. Seine
Wangen haben sich nicht nur schoen rot gefaerbt, sie seien auch voller
geworden, und das Auge sei weit klarer, als wenn es immer auf das
Papier seiner Schreibstube geblickt haette.
"Das ist nur die Wirkung des Anfangs und eine Folge des Reizes des
Wechsels auf die koerperlichen Gebilde", sagte der Vater, "im Verlaufe
der Zeit gewoehnt sich Blut, Muskel und Nerv an die freie Luft und
Bewegung und das erste roetet sich nicht mehr so, und die letzten
schwellen. Allerdings aber wirkt viel Aufenthalt in freier Luft und
gehoerige Bewegung, in welche sich keine Sorgen mischen, weit guenstiger
auf die Gesundheit, als ein stetiges Sitzen in Stuben und ein Hingeben
an Gedanken fuer die Zukunft. Wir werden schon einmal, und wer weiss wie
nahe die Zeit ist, auch dieses Glueck geniessen und uns recht darueber
freuen."
"Wir werden uns freuen, wenn du es geniessest", erwiderte die Mutter,
"du entbehrst es am meisten und dir ist es am noetigsten. Wir Andern
koennen in unsern Garten und in die Umgebung der Stadt gehen, du suchst
immer die duestere Stube. Weil du es aber schon so oft gesagt hast, so
wird es doch einmal wahr werden."
"Es wird wahr werden, Mutter", antwortete der Vater, "es wird wahr
werden."
Sie wendete sich an uns, wir sollen bestaetigen, dass der Vater nie so
gesund und so heiter ausgesehen habe als nach dieser kurzen Reise.
Wir gaben es zu.
Nun musste aber auch noch auf eine andere Reise gedacht werden, weil
heuer einmal der Sommer der Reisen war, und wir mussten dieselbe ins
Werk setzen, meine und Klotildens Fahrt ins Gebirge. Der Herbst war
schon da, wie ich an den Buchenblaettern um das Geburtshaus meines
Vaters hatte wahrnehmen koennen, die bereits im Begriffe waren, die
rote Farbe vor ihrem Abfallen zu gewinnen. Es war keine Zeit mehr zu
verlieren.
Fuer Klotilden waren die Vorbereitungen fertig, ich brauchte keine,
weil ich immer in Bereitschaft war, und so konnten wir ungesaeumt
unsere verabredete Fahrt beginnen.
Die Mutter legte mir das Wohl der Schwester sehr an das Herz, der
Vater sagte, wir sollen die Musse nach unserer besten Einsicht
geniessen, und so fuhren wir bei dem Aufgange einer klaren Herbstsonne
aus dem Tore unseres Hauses.
Ich wollte die Schwester, welche ihre erste groessere Reise machte,
nicht der Beruehrung mit anderen Menschen in einem gemeinschaftlichen
Wagen aussetzen, da man deren Wesen und Benehmen nicht voraus wissen
konnte; deshalb zog ich es vor, mit Postpferden so lange zu fahren,
als es mir gut erscheinen werde, und dann die Art unsers Weiterkommens
im Gebirge je nach der Sachlage zu bestimmen. Es hatte diese Art zu
reisen noch den Vorteil, dass ich anhalten konnte, wo ich wollte, und
dass ich der Schwester Manches erklaeren durfte, ohne dabei auf jemand
Ruecksicht nehmen zu muessen, der als Zeuge gegenwaertig waere. Auch
konnten wir uns in unseren geschwisterlichen Gespraechen ueber unsere
Angehoerigen, unser Haus und andere Dinge nach der freien Stimmung
unserer Seele bewegen. Auf diese Art fuhren wir zwei Tage. Ich goennte
ihr oefter Ruhe, da sie ein fortwaehrendes Fahren nicht gewohnt war, und
endete immer noch lange vor Abend unsere Tagreise. Wir sahen die Berge
schon immer in der Naehe von einigen Meilen mit unserem Wege gleich
laufen; aber ihre Teile waren hier weniger wichtig. Es war mir aeusserst
lieblich, die Gestalt der Schwester neben mir in dem Wagen zu wissen,
ihr schoenes Angesicht zu sehen und ihren Atem zu empfinden. Ihre
schwesterliche Rede und die frische Weise, alles, was ihr neu war,
in die vollkommen klare Seele aufzunehmen, war mir unaussprechlich
wohltaetig.
Am Vormittage des dritten Tages liess ich sie ruhen. Fuer den Nachmittag
mietete ich einen Wagen, und wir fuhren von der Poststrasse weg gerade
dem Gebirge zu. Unsere Fahrt war von angenehmer und heiterer Stimmung
begleitet, und wir ergingen uns in mannigfaltigen Gespraechen. Als die
blauen Berge in der klaren Luft, die einen milchig gruenlichen Schimmer
hatte, uns entgegen traten, leuchtete ihr Auge immer freundlicher
und ihre Mienen waren teilnehmend der Gegend, in die wir fuhren,
zugekehrt. Gleich wie bei dem Vater roeteten sich nach dieser
dreitaegigen Reise auch ihre zarten Wangen, und ihre Augen wurden
glaenzender. So kamen wir endlich an dem Orte an, den ich fuer unsere
Nachtruhe bestimmt hatte. An demselben rauschte die gruene Afel mit
ihren Gebirgswaessern vorueber, welches Rauschen durch ein schief ueber
das Flussbett gezogenes Wehr noch vermehrt wurde. Waldhaenge in langen
Ruecken begannen schon sich zu erheben, und oberhalb des dunkeln Randes
eines bedeutend hohen Buchenwaldes blickte bereits das rote Haupt
eines im Abende gluehenden Berges herein, auf welchem schon einzelne
Strecken von Schnee lagen.
Des andern Tages mietete ich ein Gebirgswaegelchen, wie sie zum
Fortkommen auf Wegen, die nicht Poststrassen sind, in den Gebirgen am
besten dienen und deren Pferde an die Gegenstaende des Gebirges und an
die Beschaffenheit seiner Wege gewoehnt und daher am zuverlaessigsten
sind. Wir brachten unsere Sachen in demselben, so gut es ging, unter
und fuhren der glaenzenden Afel entgegen, immer tiefer in die Berge
hinein. Ich nannte jeden Namen eines vorzueglichen Berges, machte auf
die Bildungen aufmerksam und suchte die Farben, die Lichter und die
Schatten zu eroertern. Ueberall begannen schon die Laubwaelder die
roetliche und gelbliche Faerbung anzunehmen, was den Hauch ueber all den
Gestaltungen noch lieblicher machte.
Da ich in eine gewisse Tiefe des Gebirges gekommen war, aenderte ich
die Richtung und fuhr nun nach der Laenge desselben hin. Als zwei Tage
vergangen waren und der dritte auch schon dem Nachmittag zuneigte,
blickte uns aus der Tiefe des Tales das Gewaesser des Lautersees
entgegen. Wir kamen um den Ruecken eines breiten Waldberges herum, und
die Glanzstellen entwickelten sich immer mehr. Endlich lag der groesste
Teil des Spiegels unter dem Gezweige der Tannen, der Buchen und
der Ahorne zu unsern Fuessen. Wir sanken mit unserem Waeglein auf dem
schmalen Wege immer tiefer und tiefer, bis wir nach etwa zwei Stunden
an dem Ufer des Sees anlangten und die Steinchen in seinen seichten
Buchten haetten zaehlen koennen. Wir fuhren an dem Ufer dahin, umfuhren
eine kleine Strecke des Sees und kamen in dem Seewirtshause an. Dort
lohnte ich unsern Fuhrmann ab und mietete uns fuer mehrere Tage ein.
Klotilde musste dasselbe Zimmer bekommen, welches ich waehrend der
Zeiten meiner Vermessungen des Lautersees innegehabt hatte. Ich
begnuegte mich mit einem kleineren Stuebchen in ihrer Naehe. Man staunte
das schoene, und wie man sich ausdrueckte, vornehme Maedchen an, und ich
gewann sichtbar an Ansehen, da ich eine solche Schwester hatte.
Alle, die ein Ruder fuehren konnten oder die geuebt waren, Steigeisen
anzulegen und einen Alpenstock zu gebrauchen, kamen herzu und boten
ihre Dienste an. Ich sagte, dass ich sie rufen werde, wenn wir sie
beduerfen und dass wir uns dann ihrer Gesellschaft sehr erfreuen wuerden.
Zuerst machte ich Klotilden ein wenig in ihrem Zimmerchen wohnhaft.
Ich zeigte ihr bedeutsam Stellen, die sie aus ihren Fenstern sehen
konnte, und nannte ihr dieselben. Ich zeigte ihr, wie ich in
verschiedenen Richtungen auf dem See gefahren war, um seine Tiefe
zu messen, und wie wir uns bald auf dieser, bald auf jener Stelle
des Wassers festsetzen mussten. Sie richtete sich Farben und
Zeichnungsgeraete zurechte, um zu versuchen, ob sie nicht auch nach der
unmittelbaren Anschauung von den Raeumen ihres Zimmerchens aus etwas
von den Gestaltungen, die sie hier sehen konnte, auf das Papier zu
uebertragen vermoechte.
Die folgenden Tage brachten wir damit zu, in den Umgebungen des
Seehauses Spaziergaenge zu machen, damit Klotilde sich ein wenig
in diese Bildungen einlebe. Das vorausgesagte schoene Wetter war
eingetroffen, es dauerte fort, und so konnten wir uns der Freude und
dem Vergnuegen, welche diese Gaenge uns gewaehrten, um so ungestoerter
hingeben, als auch der Stand unserer Gesundheit ein vortrefflicher war
und die Befuerchtungen, welche die Mutter und zum Teile auch ich in
Hinsicht Klotildens gehegt hatten, nicht in Erfuellung gingen. Wir
schickten von hier aus Briefe nach Hause.
In der Folge der Tage fuehrte ich sie auf den See hinaus. Ich fuehrte
sie auf die verschiedenen Teile, die entweder an sich schoen und
bedeutend waren oder von denen man schoene und merkwuerdige Anblicke
gewinnen konnte. Ich unterstuetzte sie mit allen meinen Erfahrungen,
die ich mir durch meine mehrfaeltigen Aufenthalte in dem Gebirge
gesammelt hatte. Sie nahm alles mit einer tiefen Seele auf, und durch
meine Hilfe waren ihr manche Umwege erspart, welche diejenigen, die
zum ersten Male die Berge besuchen, machen muessen, ehe es ihnen
gelingt, sich die Groesse und Erhabenheit der Gebirge aufschliessen zu
koennen. Auf den Seefahrten unterstuetzten uns zwei junge Schiffer, die
meine steten Begleiter bei meinen Messungen gewesen waren. Wir gingen
auch bergan. Ich hatte Klotilden Fussbekleidungen machen lassen,
welche nach Innen weich, nach Aussen aber hart und dem rauhen Geroelle
Widerstand leistend waren. Auf dem Haupte trug sie einen bequemen
Schirmhut und in der Hand einen eigens fuer sie gemachten Alpenstock.
Wenn wir auf die Hoehen kamen, wurde mit Freude die Aussicht genossen.
Klotilde versuchte auch nach der Anschauung etwas zu zeichnen und zu
malen; aber die Ergebnisse waren noch weit mangelhafter als bei mir,
da sie einen geringeren Vorrat von Erfahrung zu dem Versuche brachte.
Nachdem ueber eine Woche vergangen war, fuehrte ich Klotilden mittelst
eines gleichen Fuhrwerkes, wie wir sie bisher im Gebirge gehabt
hatten, in das Lauterthal und in das Ahornhaus. Dort fanden wir ein
besseres Unterkommen als in dem Seehause, und wir erhielten zwei
nebeneinander befindliche geraeumige und freundliche Zimmer, deren
Fenster auf die Ahorne vor dem Hause hinausgingen und durch die gelben
Blaetter derselben auf die blauduftigen Hoehen sahen, die vom Hause
gegen den Sueden standen. Ich zeigte meine Schwester der Wirtin, ich
zeigte sie dem alten Kaspar, der auf die Kunde meiner Ankunft sogleich
herbei gekommen war, und ich zeigte sie den andern, welche sich
gleichfalls reichlich eingefunden hatten. Es war hier ein noch
groesserer Jubel als in dem Seehause, es freute sie, dass eine solche
Jungfrau in die Berge gekommen und dass sie meine Schwester sei. Sie
boten ihre Dienste an und naeherten sich mit einiger Scheu.
Klotilde betrachtete alle diese Menschen, die ich ihr als meine
Begleiter und Gehilfen bei meinen Arbeiten vorstellte, mit Vergnuegen,
sie sprach mit ihnen und liess sich wieder erzaehlen. Sie lernte
sich immer mehr in die Art dieser Leute ein. Ich fragte um meinen
Zitherspiellehrer, weil ich Klotilden diesen Mann zeigen wollte und
weil ich auch wuenschte, dass sie sein ausserordentliches Spiel mit
eigenen Ohren hoeren moechte. Wir hatten zu diesem Zwecke unsere beiden
Zithern in unserm Gepaecke mitgenommen. Man sagte mir aber, dass seit
der Zeit, als ich ihnen erzaehlt habe, dass er von meinen Arbeiten
fortgegangen sei, kein Mensch, weder in den naehern noch in den
ferneren Taelern, etwas von ihm gehoert habe. Ich sagte also Klotilden,
dass sie keinen andern als die gewoehnlichen einheimischen Zitherspieler
werde hoeren koennen, wie sie dieselben auch bereits gehoert habe und
wie sie ihr anziehender erschienen seien als die Kunstspieler in der
Stadt und als ich, der ich wahrscheinlich ein Zwitter zwischen einem
Kunstspieler und einem Spieler des Gebirges sei. Wir richteten uns in
unserem Zimmer ein und begannen ungefaehr so zu leben, wie wir in der
Umgebung des Seehauses gelebt hatten. Ich fuehrte Klotilden in das
Echertal zu dem Meister, welcher unsere Zithern verfertiget hatte. Er
besass noch immer die dritte Zither, welche mit meiner und Klotildens
ganz gleich war. Er sagte, es seien zwar Kaeufer von Zithern gekommen,
die diese gepriesen haetten; aber das seien Gebirgsleute gewesen, die
nicht so viel Geld haben, sich eine solche Zither kaufen zu koennen.
Die Andern, welche die Mittel besaessen, vorzueglich Reisende, ziehen
Zithern vor, welche eine schoene Ausschmueckung haben, wenn sie auch
teurer sind, und lassen die stehen, deren Tugenden sie nicht zu
schaetzen wissen. Er spielte ein wenig auf ihr, er spielte mit einer
grossen Fertigkeit; aber in jener wilden und weichen Weise, mit
welcher mein schweifender Jaegersmann spielte und welche gerade diesem
Musikgeraete so zusagte, vermochte weder er zu spielen noch hatte ich
jemanden so spielen gehoert. Ich sagte dem alten Manne, dass das Maedchen
meine Schwester sei und dass sie auch eine von den drei Zithern
besitze, von denen er sage, dass sie die besten seien, die er in seinem
Leben gemacht habe. Er hatte seine Freude darueber, gab Klotilden ein
Buendel Saiten und sagte: "Es sind meine besten Zithern und werden wohl
auch meine besten bleiben."
Wir besuchten die Taeler und einige Berge um das Ahornhaus, und Kaspar
oder ein Anderer waren zuweilen unsere Begleiter und Traeger.
Ich fuehrte Klotilden auch in das Haeuschen, in welchem ich die
Pfeilerverkleidungen fuer den Vater gekauft hatte, ich fuehrte sie
in das steinerne Schloss, in welchen sie urspruenglich gewesen sein
mochten, und ich fuehrte sie auch in das Rothmoor, wo sie das Arbeiten
in Marmor betrachten konnte.
Wir blieben laenger in dem Ahornhause, als wir im Seehause
gewesen waren, und alle Menschen waren hier noch freundlicher,
zutraulicher und hilfreicher als dort. Die Wirtin war unermuedet
in Dienstanerbietungen gegen meine Schwester. Zu Ende unseres
Aufenthaltes traten hier kuehle und regnerische Tage ein. Wir
verbrachten sie still in der heitern Wohnlichkeit des Hauses. Aber
aus der Beschaffenheit des Laubes an den Baeumen und dem Aussehen der
Herbstpflanzen auf den Matten, aus dem Verhalten der Tiere und aus der
Beschaffenheit des Pelzes derselben erkannte ich, dass die dauernde
kalte und unfreundliche Zeit noch nicht gekommen sei und dass noch
warme und klare Tage eintreten muessen. Als daher das Wetter sich
wieder aufheiterte, verliess ich mit Klotilden das Ahornhaus und schlug
den Weg in das Kargrat ein.
Ich hatte mich in meinen Voraussetzungen nicht getaeuscht. Nachdem
zwei halb heitere und kuehle Tage gewesen waren, die wir mit Fahren
zugebracht hatten, zog wieder ein ganz heiterer, zwar am Morgen
kalter, in seinem Verlaufe aber sich schnell erwaermender Tag ueber die
beschneiten Gipfel herauf, dem eine Reihe schoener und warmer Tage
folgte, die den Schnee auf den Hoehen und den, welcher das Eis der
Gletscher bedeckt hatte, wieder weg nahmen und das letztere so weit
sichtbar machten, als es in diesem Sommer ueberhaupt sichtbar gewesen
war. Wir hatten am zweiten dieser schoenen Tage das Kargrat erreicht.
Die Reise war darum von so langer Dauer gewesen, weil wir kleine
Tagefahrten gemacht hatten und weil wir die Berge hinan und hinab
recht langsam gefahren waren. Wir zogen in die Aermlichkeit unserer
Wohnung, die durch die Groesse und Oede der Gegend, von welcher sie
umgeben war, noch mehr herabgedrueckt wurde, ein. Am zweiten Tage nach
unserer Ankunft, da alles vorbereitet worden war, folgte mir Klotilde
auf das Simmieis. Es waren Fuehrer, Traeger von Lebensmitteln und von
Allem, was auf einer solchen Wanderung notwendig oder nuetzlich sein
konnte, und endlich auch solche, die eine Saenfte hatten, mitgegangen.
Wir waren am ersten Tage bis zur Karzuflucht gekommen. Dort waren wir
in dem aus Holzbloecken fuer die Besteiger der Karspitze gezimmerten
Haeuschen ueber Nacht geblieben, hatten aus mitgebrachtem Holze Feuer
gemacht und uns unser Abendessen bereitet.
Mit Anbruch des naechsten Tages gingen wir weiter und kamen im Glanze
des Vormittages auf die Woelbung des Gletschers. Dass an eine Besteigung
der Karspitze nicht gedacht werden konnte, war natuerlich.
Wir betrachteten hier nun, was zu betrachten war, und als sich Kaelte
in den Gliedern einstellen wollte, traten wir den Rueckweg an. In der
Zuflucht wurden wieder Speisen bereitet, und dann gingen wir vollends
hinab. Als wir zurueckgekehrt waren, sank mir Klotilde fast erschoepft
an das Herz.
Ich legte am andern Tage Klotilden mehrere Zeichnungen, die
ich von Gletschern, ihren Einfassungen, Woelbungen, Spaltungen,
Zusammenschiebungen und dergleichen gemacht hatte, vor, damit sie in
der frischen Erinnerung das Gesehene mit dem Abgebildeten vergleichen
konnte. Ich machte auf Vieles aufmerksam, fuehrte Manches in ihr
Gedaechtnis zurueck und erwaehnte hier auch als an der geeignetsten
Stelle, wie sehr die Abbildung hinter der Wirklichkeit zurueck bleibe.
In den naechsten zwei Tagen besuchten wir noch verschiedene Stellen,
von denen wir das Eis und die Schneegestaltungen dieser Berge
betrachten konnten. Auch einen Wassersturz von einer steilrechten Wand
zeigte ich Klotilden. Hierauf aber begann ich auf unsere Rueckreise zu
den Eltern zu denken. Die Zeit war nach und nach so vorgerueckt, dass
ein Aufenthalt in diesen hochgelegenen Raeumen, besonders fuer ein der
Stadt gewohntes Maedchen, nicht mehr erspriesslich war. Ich schlug daher
Klotilden vor, nun auf dem naechsten Wege durch das ebenere Land unsere
Heimat zu gewinnen zu suchen. Sie war damit einverstanden. Von dem
naechsten groesseren Orte her wurde ein Fuhrwerk bestellt, welches uns
auf die erste Post bringen sollte. Wir nahmen von unserer Wirtin
und ihrem Manne so wie von unsern Traegern und Fuehrern, die noch zum
Empfange eines kleinen Geschenkes herbei gekommen waren, Abschied; wir
verabschiedeten uns von dem Pfarrer, der uns zuweilen besucht und uns
auf Schoenheiten, von seinem kleinen Gesichtskreise aus, aufmerksam
gemacht hatte, und fuhren auf unserem Karren, der nur mit einem Pferde
bespannt war, auf dem schmalen Wege von dem Kargrat hinab. Das Letzte,
was wir von dem kleinen Oertchen sahen, war die mit Schindeln bedeckte
Wand des Pfarrhofes und die gleichfalls mit Schindeln bedeckte
Wand der schmalen Seite der Kirche. Ich sagte Klotilden, dass diese
Bedeckungen notwendig seien, um die in diesen Hoehen stark wirkende
Gewalt des Regens und des Schnees von dem Mauerwerke abzuhalten. Wir
konnten nur noch einen Blick auf die zwei Gebaeude tun, dann trat eine
Hoehe zwischen unsere Augen und sie. Wir glitten mit unserem Fuhrwerke
sehr schnell abwaerts, wilde Gruende umgaben uns, und endlich empfing
uns der Wald, der die Niederungen suchte, in ihnen dahin zog und schon
wohnlicher und waermer war. Wir kamen unter Wiegen und Aechzen unseres
Waegleins immer tiefer und tiefer, Fahrgeleise von Holzwegen, die den
Wald durchstrichen, muendeten in unsere Strasse, diese wurde fester und
breiter, und wir fuhren zuweilen schon eben und behaglich dahin.
Als wir den Ort erreicht hatten, an welchem sich die naechste Post
befand, lohnte ich den Fuehrer meines Waegleins ab, sendete ihn zurueck
und nahm Postpferde. Wir fuhren in gerader Richtung auf dem kuerzesten
Wege aus dem Gebirge gegen das flachere Land, um die Heerstrasse zu
gewinnen, die nach unserer Heimat fuehrte. Immer mehr und mehr sanken
die Berge hinter uns zurueck, die milde Herbstsonne, die sie beschien,
faerbte sie immer blauer und blauer, die Hoehen, die uns jetzt
begegneten, wurden stets kleiner und kleiner, bis wir in das Land
hinaus kamen, dessen Gefilde mit lauter dem Menschen nutzbarem Grunde
bedeckt waren. Dort trafen wir auf die grosse Strasse. Bisher waren wir
gegen Norden gefahren, jetzt aenderten wir die Richtung und fuhren dem
Osten zu. Wir hatten auch bessere Waegen.
Da wir einen Tag auf dieser Strasse gefahren waren, liess ich an einem
Orte halten und beschloss, einen Tag an demselben zu bleiben; den Abend
und die Nacht brachten wir in Ruhe zu. Am andern Tage gegen Mittag
fuehrte ich die Schwester auf einen maessig hoben Huegel. Der Tag war ein
sehr schoener Herbsttag, der Schleier, welcher im Vormittage so Huegel
als Gruende zart umwebt hatte, war einer voelligen Klarheit gewichen.
Ich befestigte mittelst Schrauben mein Fernrohr an dem Stamme einer
Eiche und richtete es. Dann hiess ich Klotilden durchsehen und fragte
sie, was sie saehe.
"Ein hohes, dunkles Dach", sagte sie, "aus welchem mehrere breite
und maechtige Rauchfaenge empor ragen. Unter dem Dache ist ein Gemaeuer
von ebenfalls dunkler Farbe, in welchem grosse Fenster in gemaessen
Entfernungen stehen. Das Gebaeude scheint ein Viereck zu sein."
"Und was siehst du weiter, Klotilde, wenn du das Rohr in die
Umgebungen des Gebaeudes richtest?" fragte ich.
"Baeume, die hinter dem Hause stehen, gleichsam wie ein Garten",
antwortete sie. "Die Mauern des Gebaeudes sind dort licht wie die
unserer Haeuser. Dann sehe ich Felder, in ihnen wieder Baeume, hie und
da ein Haus und endlich wolkenartige Spitzen, die wie das Hochgebirge
sind, das wir verlassen haben."
"Es ist das Hochgebirge", antwortete ich.
"Ist das etwa - -?" fragte sie, den Kopf von dem Fernrohre wegwendend
und mich ansehend.
"Ja, Klotilde, das Gebaeude ist der Sternenhof", antwortete ich.
"Wo Natalie wohnt?" fragte sie.
"Wo Natalie wohnt, wo die edle Mathilde verweilt, wo so treffliche
Menschen ein und aus gehen, wohin meine Gedanken sich mit Empfindung
wenden, wo sanfte Gegenstaende der Kunst thronen und wo ein liebes Land
um all die Mauern herum liegt", antwortete ich.
"Das ist der Sternenhof!" sagte Klotilde, blickte wieder in das
Fernrohr und sah lange durch dasselbe.
"Ich habe dich mit Freude auf diesen Huegel gefuehrt, Klotilde", sagte
ich, "um dir diesen Ort zu zeigen, in dem mein warmes Herz schlaegt und
ein tiefer Teil von meinem Wesen wohnt."
"Ach lieber, teurer Bruder", antwortete sie, "wie oft gehen meine
Gedanken an den Ort und wie oft weilt mein Gemuet in seinen mir noch
unbekannten Mauern!"
"Du begreifst aber", sagte ich, "dass wir jetzt nicht hingehen koennen
und dass die Angelegenheit ihre naturgemaesse Entwickelung haben muss."
"Ich begreife es", antwortete sie.
"Du wirst sie sehen, an deinem Herzen halten und sie lieben", sagte
ich.
Klotilde sah wieder in das Rohr, sie sah sehr lange in dasselbe und
betrachtete alles genau. Ich lenkte ihren Blick auf die Teile, die mir
wichtig schienen, erklaerte ihr alles und erzaehlte von dem Schlosse und
von denen, die in demselben sind.
Es war indessen der Mittag gekommen, wir loesten das Fernrohr ab und
gingen langsam unserer Wohnung zu.
"Kann man hier nicht auch das Rosenhaus deines Freundes sehen?" fragte
sie im Heimgehen.
"Hier nicht", erwiderte ich, "hier ist nicht einmal der hoechste Teil
der Rosenhausgegend zu erblicken, weil der Kronwald, den du gegen
Norden siehst, sie deckt. Im Weiterfahren werden wir auf einen Huegel
kommen, von dem aus ich dir die Anhoehe zeigen kann, auf welcher
das Haus liegt und von dem aus du mit dem Fernrohre das Haus sehen
kannst."
Wir gingen in unsere Wohnung, und am naechsten Tage fuhren wir weiter.
Als wir an die Stelle gekommen waren, von welcher man die Hoehe des
Asperhofes sehen konnte, liess ich halten, wir stiegen aus, ich zeigte
Klotilden den Huegel, auf welchem das Haus meines Gastfreundes liegt,
richtete das Fernrohr und liess sie durch dasselbe das Haus erblicken.
Wir waren aber hier so weit von dem Asperhofe entfernt, dass man selbst
durch das Fernrohr das Haus nur als ein weisses Sternchen sehen konnte.
Nach dessen Betrachtung fuhren wir wieder weiter.
Als nach diesem Tage der dritte vergangen war, fuhren wir gegen Abend
durch den Torweg des Vorstadthauses unserer Eltern ein.
"Mutter", rief ich, da uns diese und der Vater, der unsere Ankunft
gewusst hatte und daher zu Hause geblieben war, entgegen kamen, "ich
bringe sie dir gesund und bluehend zurueck."
Wirklich war Klotilde, wie es dem Vater auf seiner kleinen Reise
ergangen war, durch die Luft und die Bewegung kraeftiger, heiterer und
in ihrem Angesichte reicher an Farbe geworden, als sie es je in der
Stadt gewesen war.
Sie sprang von dem Wagen in die Arme der Mutter und begruesste diese und
dann auch den Vater freudenvoll; denn es war das erste Mal gewesen,
dass sie die Eltern verlassen hatte und auf laengere Zeit in ziemlicher
Entfernung von ihnen gewesen war. Man fuehrte sie die Treppe hinan
und dann in ihr Zimmer. Dort musste sie erzaehlen, erzaehlte gerne und
unterbrach sich oefter, indem sie das inzwischen heraufgebrachte Gepaeck
aufschloss und die mannigfaltigen Dinge heraus nahm, die sie in den
verschiedenen Ortschaften zu Geschenken und Erinnerungen gekauft oder
an mancherlei Wanderstellen gesammelt hatte. Ich war ebenfalls mit in
ihr Zimmer gegangen, und als wir geraume Weile bei ihr gewesen waren,
entfernten wir uns und ueberliessen sie einer notwendigen Ruhe.
Nun folgte fuer Klotilden fast eine Zeit der Betaeubung, sie beschrieb,
sie erzaehlte wieder, sie setzte sich vor Zeichnungen hin, blaetterte
in ihnen oder zeichnete selber und suchte in der Erinnerung Gesehenes
nachzubilden.
Aber auch fuer mich war diese Reise nicht ohne Erfolg gewesen. Was ich
halb im Scherze, halb im Ernste gesagt hatte, dass ich durch diese
Reise zu einer groesseren Ruhe kommen werde, ist in Wirklichkeit
eingetroffen. Klotilde, welche alle die Gegenstaende, die mir laengst
bekannt waren, mit neuen Augen angeschaut, welche alles so frisch, so
klar und so tief in ihr Gemuet aufgenommen hatte, hatte meine Gedanken
auf sich gelenkt, hatte mir selber etwas Frisches und Urspruengliches
gegeben und mir Freude ueber ihre Freude mitgeteilt, so dass ich
gleichsam gestaerkter und befestigter ueber meine Beziehungen nachdenken
und sie mir gewissermassen vor mir selber zurecht legen konnte.
Ich hatte mit Natalien keinen Briefwechsel verabredet, ich hatte
nicht daran gedacht, sie wahrscheinlich auch nicht. Unser Verhaeltnis
erschien mir so hoch, dass es mir kleiner vorgekommen waere, wenn wir
uns gegenseitig Briefe geschickt haetten. Wir mussten in der Festigkeit
der Ueberzeugung der Liebe des Andern ruhen, durften uns nicht durch
Ungeduld vermindern und mussten warten, wie sich alles entwickeln
werde. So konnte ich mit dem Gefuehle von Seligkeit von Natalien fern
sein, konnte mich freuen, dass alles so ist, wie es ist, und konnte
dessen harren, was meine Eltern und Nataliens Angehoerige beginnen
werden.
Klotilden, welche ihren Bergen, Lueften, Seen und Waeldern die Farbe
geben wollte, die sie gesehen hatte, suchte ich beizustehen und zeigte
ihr, worin sie fehle und wie sie es immer besser machen koenne. Wir
wussten es jetzt, dass man die zarte Kraft, wie sie uns in der Wesenheit
der Hochgebirge entgegen tritt, nicht darstellen koenne und die Kunst
des grossen Meisters nur in der besten Annaeherung bestehe. Auch in
ihrem Bestreben, die Art, wie sie im Gebirge die Zither spielen gehoert
hatte und die eigentuemlichen Toene, die ihr dort vorgekommen waren,
nachzuahmen, suchte ich ihr zu helfen. Wir konnten wohl beide unsere
Vorbilder nicht voellig erreichen, freuten uns aber doch unserer
Versuche.
Bei einigen Freunden machte ich gelegentlich zwei oder drei Besuche.
So war der Winter gekommen. Ich fasste, weil ich schon nach dem Rate
des Vaters beschlossen hatte, im Winter meinen Gastfreund zu besuchen,
zugleich auch den Entschluss, einmal im Winter in das Hochgebirge
zu gehen und, wenn dies moeglich sein sollte, einen hohen Berg zu
besteigen und auf dem Eise eines Gletschers zu verweilen. Ich
bestimmte hierzu den Januar als den bestaendigsten und meistens auch
klarsten Monat des Winters. Gleich nach seinem Beginne fuhr ich von
dem Hause meiner Eltern ab und fuhr in dem flimmernden Schnee und in
der blendenden Huelle, die alle Fluren deckte, im Schlitten der Gegend
zu, in welcher meine Freunde lebten. Das Wetter war schon durch zehn
Tage bestaendig und maessig kalt gewesen, der Schnee war reichlich, und
auf der Bahn glitten die Fahrzeuge wie in den Lueften dahin. Wie ich
sonst nie anders als im offenen Wagen fuhr, so fuhr ich auch jetzt,
mit guten Pelzen versehen, im offenen Schlitten und freute mich der
weichen Huelle, die um meinen Koerper war, und auch der, die ueberall und
allueberall lag, freute mich der schweigenden bereiften Waelder, der
ruhenden Obstbaeume, die ihre weissen Gitter ausstreckten, der Haeuser,
von denen der wohnliche Rauch aufstieg, und der Unzahl der Sterne, die
Nachts in dem kalten und finsteren Himmel feuriger funkelten als je
sonst im Sommer. Ich hatte vor, zuerst die Gebirge und dann meinen
Gastfreund zu besuchen.
Ich fuhr bis in die Naehe des Lauterthales. Da ich die Strasse verlassen
sollte, mietete ich einen einspaennigen Schlitten, weil in den
Seitenwegen, auf denen man immer im Winter nur mit einem Pferde faehrt,
die Bahn zu enge ist, als dass zwei Pferde sicher neben einander gehen
koennten, und fuhr in das Tal und in das Ahornwirtshaus. Die Ahorne
streckten ungeheure, abenteuerlich gestaltete, entblaetterte und mit
feinen Zweigen wie mit Baerten versehene Arme der winterlichen Luft
entgegen, das fensterreiche Wirtshaus war in seiner braunen Farbe
gegen die Schneedecke auf seinem Dache und gegen den Schnee, der
ueberall ringsum lag, noch brauner als sonst, und die Fichtentische
vor dem Hause waren abgebrochen und in Aufbewahrung getan worden. Die
Wirtin empfing mich mit Erstaunen und mit Freude, dass ich in einer
solchen Jahreszeit komme, und gab mir das beste Versprechen, dass meine
Stube so warm und heimlich sein solle, als wehe kein einziges Lueftchen
hinein, und so licht, als schiene die Sonne, wenn sie ueberhaupt
scheint, sonst nirgends hin als auf meine Fenster. Ich liess meine
Geraetschaften in die Stube bringen, und bald loderte auch ein lustiges
Feuer in dem Ofen derselben, der ausnahmsweise, wie es sonst in den
Gebirgen fast gar nicht vorkoemmt, von Innen zu heizen war. Die Wirtin
hatte es so einrichten lassen, weil von Aussen der Zugang zu dem Ofen
so schwer gewesen war. Als ich mich ein wenig erwaermt und meine
Hauptsachen in Ordnung gebracht hatte, ging ich in die allgemeine
Gaststube hinunter. In ihr waren verschiedene Leute anwesend, die der
Weg vorbei fuehrte oder die eine kleine Erquickung und ein Gespraech
suchten. Bei den vielen und sehr nahe stehenden Fenstern drang ein
reichliches Licht herein, so dass die Sonnenstrahlen des Wintertages
um die Tische spielten, was um so wohltaetiger war, da auch eine
behagliche Waerme von den in dem grossen Ofen brennenden Kloetzen das
Zimmer erfuellte. Ich fragte wieder um meinen Zitherspiellehrer, es
hatte niemand etwas von ihm gehoert. Ich fragte um den alten Kaspar, er
war gesund, und es wurde auf meine Bitte um ihn gesendet. Ich sagte,
dass ich im Sinne haette, von dem Lautersee in die Eisfelder der Echern
hinaufzusteigen. Ich haette Anfangs Lust gehabt, das Simmieis an der
Karspitze zu besuchen; aber der Zugang ins Kargrat sei mir im Winter
sehr unangenehm, und wenn die Echern auch etwas tiefer liegen als
die Simmen, so seien sie doch schoener und von unvergleichlich
wohlgebildeten Felsen eingefasst. Alle rieten mir von meinem
Unternehmen ab, es sei im Winter nicht durchzudringen, und die Kaelte
sei auf den Bergen so gross, dass sie kein Mensch zu ertragen vermoege.
Ich widerlegte die Einwuerfe vorerst dadurch, dass ich sagte, es
sei eben im Winter niemand auf den Echern gewesen, wie sie selber
berichten, und dass man daher nichts Sicheres wissen koenne.
"Aber man kann es sich denken", erwiderten viele.
"Erfahrung ist noch besser", sagte ich.
Indessen kam der alte Kaspar. Die Sache wurde ihm gleich von den
Anwesenden erzaehlt, und er riet auch entschieden von dem Unternehmen
ab. Ich sagte, dass viele Forscher in Naturdingen im Winter schon auf
hohen Bergen gewesen seien, auf hoeheren als den Echern, dass sie dort
Naechte und zuweilen auch eine Reihe von Tagen und Naechten zugebracht
haben. Man wendete immer ein, das seien andere Berge gewesen, und in
den hiesigen gehe es durchaus nicht. Der alte Kaspar verstand sich
endlich ganz allein dazu, mich, wenn ich durchaus wolle, zu begleiten.
Aber das Wetter, meinte er, muessten wir uns sorgsam dazu auslesen. Ich
erwiderte ihm, dass ich Geraete bei mir haette, die mir anzeigen, wenn
eine schoene Zeit bevorstehe, dass ich mich auch ein wenig auf die
Zeichen an dem Himmel verstehe und dass ich selber auf den Hoehen nicht
gar gerne in einen Schneesturm oder in einen langedauernden Nebel
geraten moechte. Alle andern Leute, welche mir sonst gerne bei meinen
Bergarbeiten geholfen hatten und welche ich ebenfalls ins Wirtshaus
hatte rufen lassen, lehnten es durchaus ab, mich im Winter in die
Echern zu begleiten. Dem Kaspar sagte ich, er muesse sich vorbereiten.
Ich haette selber verschiedene Dinge bei mir, von denen er sich die
aussuchen koenne, von welchen er glaube, dass er sie auf unserer
Wanderung mitnehmen moege. Den Tag, an welchem wir zum See hinunter
gehen werden, wuerde ich ihm dann schon sagen. Ich ging unter den
lebhaftesten Gespraechen der Anwesenden ueber diesen Gegenstand in meine
Stube zurueck und brachte den Abend in derselben zu. Ich wusste, dass sie
nun tief in die Nacht hinein ueber die Sache sprechen wuerden und dass in
den naechsten Tagen fuer das ganze Tal diese Unternehmung den Stoff der
Unterredungen bilden wurde.
Es meldete sich nun auch wirklich keiner mehr, um mich und Kaspar zu
begleiten.
Die Zeit bis zum Beginne unsers Unternehmens brachte ich damit zu, dass
ich Wanderungen in der Umgegend machte. Ich betrachtete die Waelder,
die in Ruhe und Pracht dastanden, ich betrachtete die Hoehen, auf
welchen die unermesslichen Schneemengen lagen, ich betrachtete die
Echernwand, von der eine Last von Eiszapfen niederhing, deren manche
die Dicke von Baeumen hatten, zuweilen losbrachen und mit Krachen und
Klingen in den Schnee niederstuerzten, ich ging auf Berge und schaute
in die stille, gleichsam verdichtete Winterluft und auf alle die
weissen Gebilde, die durch dunkle Waelder, durch Felsen und durch das
sanfte Blau der fernen Bergzuege geschnitten waren.
Gegen die Mitte des Januars, zu welcher Zeit gewoehnlich das Wetter
am ausdauerndsten zu sein pflegt, stellten sich die Zeichen ein, dass
laengere Zeit schoene Tage sein werden. Ein etwas weicher Luftzug der
vorigen Tage hatte sich verloren, die graue Decke am Himmel war
verschwunden und den verwaschenen Federwolken war eine tiefe Blaeue
gefolgt. Die Luft zog aus Osten, die Kaelte mehrte sich, der Schnee
flimmerte und Abends zeigte sich der feine blauliche Duft in den
Gruenden, der heitere Morgen und immer groessere Kaelte versprach. Meine
Werkzeuge gaben starken Luftdruck und grosse Trockenheit an.
Ich sagte dem alten Kaspar, dass wir nunmehr aufbrechen wuerden. Wir
nahmen an Alpenstoecken, Steigeisen, Stricken, Schneereifen, Decken,
Kleidern, was wir noetig erachteten, eine Schaufel, eine Axt,
Kochgeschirr und Lebensmittel auf mehrere Tage. So bepackt gingen wir
zu dem See. Dort teilten wir unsere Dinge in zwei bequeme Lasten,
dass jeder mit der seinigen so leicht als moeglich gehen koenne, und
erwarteten den naechsten Morgen.
Beim Grauen des Lichtes machten wir uns auf den Weg und stiegen mit
unseren sehr hohen Stiefeln, die ich eigens zu diesem Zwecke hatte
machen lassen, in den tiefen Schnee der Wege, die zu den Hoehen, auf
die wir wollten, fuehrten, die aber nur im Sommer betreten wurden, die
jetzt keine Spur zeigten und die wir nur fanden, weil wir der Gegend
sehr kundig waren. Wir gingen mehrere Stunden in diesem tiefen Schnee,
dann kamen Waelder, in denen er niederer lag und durch welche das
Fortkommen leichter war. Viele Geroelle und schiefliegende Waende, die
nun folgten, zeigten ebenfalls weniger Schnee als die Tiefe, und
es war ueber sie im Winter leichter zu gehen, als ich es im Sommer
gefunden hatte, da die Unebenheiten und die kleinen scharfen Riffe
und Steine mit einer Schneedecke ueberhuellt waren. Als wir die ersten
Vorberge ueberwunden hatten und auf die Hochebene der Echern gekommen
waren, von der man wieder den blauen See recht tief und dunkel in der
weissen Umgebung unten liegen sah, machten wir ein wenig Halt. Die
Oberflaeche der Echern oder die Hochebene, wie man sie auch gerne
nennt, ist aber nichts weniger als eine Ebene, sie ist es nur im
Vergleiche mit den steilen Abhaengen, welche ihre Seitenwaende gegen
den See bilden. Sie besteht aus einer grossen Anzahl von Gipfeln, die
hinter und neben einander stehen, verschieden an Groesse und Gestalt
sind, tiefe Rinnen zwischen sich haben und bald in einer Spitze sich
erheben, bald breitgedehnte Flaechen darstellen. Diese sind mit kurzem
Grase und hie und da mit Kniefoehren bedeckt, und unzaehlige Felsbloecke
ragen aus ihnen empor. Es ist hier am schwersten durchzukommen. Selbst
im Sommer ist es schwierig, die rechte Richtung zu behalten, weil
die Gestaltungen einander so aehnlich sind und ein ausgetretener Pfad
begreiflicher Weise nicht da ist: wie viel mehr im Winter, in welchem
die Gestalten durch Schneeverhuellungen ueberdeckt und entstellt sind,
und selbst da, wo sie hervorragen, ein ungewohntes und fremdartiges
Ansehen haben. Es sind mehrere Alpenhuetten in diesem Gebiete
zerstreut, und es befinden sich im Sommer Herden hier oben, die aber,
wie zahlreich sie auch sind, in der grossen Ausdehnung verschwinden und
sich gegenseitig oft Monate lang nicht sehen. Wir wuenschten noch beim
Lichte des Tages ueber diese Erdbildungen hinueber zu kommen und hatten
vor, zur Einhaltung der Richtung uns gegenseitig in unserer Kenntnis
der Riffe und der Huegelgestaltungen zu unterstuetzen und uns die
entscheidenden Bildungen wechselseitig zu nennen und zu beschreiben.
Am oberen Ende der Hochebene, wo wieder die groesseren Felsenbildungen
beginnen und das Verirren weit weniger moeglich ist, steht im Bereiche
grosser Kalksteinbloecke eine Sennhuette, die Ziegenalpe genannt, welche
das Ziel unserer heutigen Wanderung war. Am Rande der Bergansteigung
und dem Anfange der Hochebene, wo wir jetzt waren, setzten wir uns
nieder. Es liegt da ein grosser Stein, der beinahe ganz schwarz ist.
Er ist nicht nur dieser Farbe willen an sich merkwuerdig, sondern
besonders darum, weil er durch eben diese Farbe, dann durch seine
Groesse und seine seltsame Gestalt von Weitem gesehen werden kann und
denen, die von der Ziegenalpe durch die Hochebene abwaerts kommen,
zum Zeichen, und wenn sie bei ihm angelangt sind, zur Beruhigung des
richtig zurueckgelegten Weges dient. Weil Vielen, die auf der Hochebene
sind, Sennen, Alpenwanderern, Jaegern, der Stein ein Versammlungsort
ist, so findet sich von ihm ab schon ein merkbar ausgetretener
Pfad und man kann die Richtung zu dem See hinab nicht mehr leicht
verfehlen. Auch ist die gegen Sonnenaufgang ueberhaengende Gestalt des
Felsens geeignet, vor Regen und heftigen Westwinden zu schuetzen. Als
wir bei ihm angelangt waren, sahen wir freilich keine Spur eines
Menschen rings um ihn; denn unberuehrter Schnee lag bis zu seinen
Waenden hinzu, und er stand noch einmal so schwarz aus dieser Umgebung
hervor. Wir fanden aber auf kleineren Steinen, die unter seinem
Ueberdache lagen, und auf die der Schnee nicht hereingefallen war, Raum
zum Sitzen und folgten dieser Einladung willig, da sich schon Ermuedung
eingestellt hatte. Kaspar schnallte die Umhuellungen der Decken
auseinander und holte zwei leichte, aber waermende Pelze und andere
Pelzsachen hervor, die ich dazu bestimmt hatte, unsere Koerper und
Fuesse, die im Wandern sich sehr erwaermt hatten, in der Ruhe vor
Verkuehlung zu schuetzen. Als wir diese Pelzdinge umgetan hatten,
schritten wir dazu, uns durch Speise und Trank zu erquicken. Etwas
Wein und Brod reichte zu dem Zwecke hin. Ich betrachtete, nachdem
unser Mahl vollendet war, den Waermemesser, welchen ich gleich
nach unserer Ankunft an einer freien Stelle auf meinen Alpenstock
aufgehaengt hatte, und zeigte meinem Begleiter Kaspar, dass die Waerme
hier oben groesser sei, als wir sie gestern zu gleicher Tageszeit unten
in der Ebene des Sees gehabt hatten. Die Sonne schien sehr kraeftig auf
den Schnee, es wehte kein Lueftchen, an dem gruenlich blaulichen Himmel
lagerten nur ein paar sehr duenne weissliche Streifen. Auch konnte man
von dem Steinvorsprunge, von dem aus der See zu erblicken war, fast
deutlich wahrnehmen, dass unten nicht nur die dichtere, sondern auch
kaeltere Luft liege. Denn so deutlich und klar der See zu erblicken
war, so zog sich doch an den weissen oder weissgesprenkelten Waenden
desselben ein feiner blaulich schillernder Dunst hin zum Zeichen, dass
dort unsere obere, waermere Luft mit der unteren, schon seit laengerer
Zeit ueber dem See stehenden kaelteren zusammengrenze und sich
da ein sanfter Beschlag bilde. Ich schaute nur noch auf den
Feuchtigkeitsmesser und den des Luftdruckes, dann packte Kaspar unsere
Decken und Pelze, ich meine Geraete ein, und wir gingen unsers Weges
weiter.
Mit grosser Vorsicht suchten wir die Richtung, die uns nottat, zu
bestimmen. Auf jeder Stelle, die eine groessere Umsicht gewaehrte,
hielten wir etwas an und suchten uns die Gestalt der Umgebung
zu vergegenwaertigen und uns des Raumes, auf dem wir standen, zu
vergewissern. Ich zog zum Ueberflusse auch noch die Magnetnadel zu
Rate. In den Niederungen und Mulden zwischen einzelnen Hoehen mussten
wir uns der Schneereife bedienen. Gegen den spaeten Nachmittag stiegen
uns die hoeheren und dunkleren Zacken der Echern aus dem Schnee
entgegen. Als die Sonne fast nur mehr um ihre eigene Breite von dem
Rande des Gesichtskreises entfernt war, kamen wir in der Ziegenalpe
an. Hier hatten wir einen eigentuemlichen Anblick. Es ist da eine
Stelle, von welcher aus man nicht mehr zu dem See oder zu seiner
Umgebung zuruecksehen kann, dafuer oeffnet sich gegen Sonnenuntergang ein
weiter Blick in die Lichtung des Lauterthales, besonders aber in das
Echertal, in welchem der Mann wohnt, welcher meine und Klotildens
Zither gemacht hatte. In diese Ferne wollte ich noch einen Blick tun,
ehe wir in die Huette gingen. Aber ich konnte die Taeler nicht sehen.
Die Wirkung, welche sich aus dem Aneinandergrenzen der oberen,
waermeren Luft und der unteren, kaelteren, wie ich schon am schwarzen
Steine bemerkt hatte, ergab, war noch staerker geworden, und ein
einfaches, wagrechtes, weisslichgraues Nebelmeer war zu meinen Fuessen
ausgespannt. Es schien riesig gross zu sein und ich ueber ihm in der
Luft zu schweben.
Einzelne schwarze Knollen von Felsen ragten ueber dasselbe empor, dann
dehnte es sich weithin, ein truebblauer Strich entfernter Gebirge zog
an seinem Rande, und dann war der gesaettigte, goldgelbe, ganz reine
Himmel, an dem eine grelle, fast strahlenlose Sonne stand, zu ihrem
Untergange bereitet. Das Bild war von unbeschreiblicher Groesse. Kaspar,
welcher neben mir stand, sagte: "Verehrter Herr, der Winter ist doch
auch recht schoen."
"Ja, Kaspar", sagte ich, "er ist schoen, er ist sehr schoen."
Wir blieben stehen, bis die Sonne untergegangen war. Die Farbe des
Himmels wurde fuer einen Augenblick noch hoeher und flammender, dann
begann alles nach und nach zu erbleichen und schmolz zuletzt in ein
farbloses Ganzes zusammen. Nur die gewaltigen Erhebungen, die gegen
Sueden standen und die das Eis, das wir besuchen wollten, enthielten,
glommen noch von einem unsichern Lichte, waehrend mancher Stern ueber
ihnen erschien. Wir gingen nun in dem beinahe finster gewordenen
und ziemlich unwegsamen Raume zur Huette, um in derselben unsere
Vorbereitungen zum Uebernachten zu treffen. Die Huette war, wie es im
Winter immer ist, wo sie leer steht, nicht gesperrt. Ein Holzriegel,
der sehr leicht zu beseitigen war, schloss die Tuer. Wir traten ein,
steckten eine Kerze in unsern Handleuchter und machten Licht. Wir
suchten das Gemach der Sennerinnen und liessen uns dort nieder. In den
Schlafstellen war etwas Heu, ein grober Brettertisch stand in der
Mitte des Gemaches, eine Bank lief an der Wand hin und eine bewegliche
stand an dem Tische. Wir hatten vor, hier erst unser eigentliches
warmes Tagesmahl zu bereiten. Aber, worauf wir kaum gefasst waren, es
zeigte sich nirgends auch nicht der geringste Vorrat von Holz. Ich
hatte fuer den Fall Weingeist bei mir, um einige Schnitten Braten in
einer flachen Pfanne roesten zu koennen; aber wir zogen es vorzueglich
wegen der Erwaermung des Koerpers vor, ein Stueck Bank zu verbrennen und
dem Eigentuemer Ersatz zu leisten. Kaspar machte sich mit der Axt an
die Arbeit, und bald loderte ein lustiges Feuer auf dem Herde. Ein
Abendessen wurde bereitet, wie wir es oft bei unsern Gebirgsarbeiten
bereitet hatten, aus dem Heu der Schlafstellen, den Decken und den
Pelzen wurden Betten zurecht gemacht, und nachdem ich noch meine
Messwerkzeuge, die im Freien vor der Huette aufgehaengt waren, betrachtet
hatte, begaben wir uns zur Ruhe. Auch jetzt am spaeten Abende war bei
ganz heiterem, sternenvollem Himmel eine viel mindere Kaelte in dieser
Hoehe als ich vermutet hatte.
Ehe der Tag graute, standen wir auf, machten Licht, kleideten uns
vollstaendig an, richteten all unsere Dinge zurecht, bereiteten ein
Fruehmahl, verzehrten es und traten unsern Weg an. Die Echernspitze
stand fast schwarz im Sueden, wir konnten sie deutlich in die blasse
Luft ueber dem Haustein, der uns noch unsere Eisfelder deckte, empor
ragen sehen. Der Tag war wieder ganz heiter. Obgleich es noch nicht
licht war, durften wir eine Verirrung nicht fuerchten, denn wir mussten
geraume Zeit zwischen Felsen empor gehen, die unsere Richtung von
beiden Seiten begrenzten und uns nicht abweichen liessen. Wir legten,
weil der Schnee in diesen Rinnen sich angehaeuft hatte, unsere
Schneereife an und gingen in der ungewissen Daemmerung vorwaerts. Nach
etwas mehr als einer Stunde Wanderung kamen wir auf die Hoehe hinaus,
wo die Gegend sich wieder oeffnet und gegen Osten weite Felder
hinziehen. Diese biegen, nachdem sie sich ziemlich hoch erhoben, gegen
Sueden um einen Fels herum und lassen dann den Eisstock erblicken, zu
dem wir wollten. Dieser drueckt mit grosser Macht von Sueden gegen Norden
herab und hat zu seiner suedlichen Begrenzung die Echernspitze. Auf den
erklommenen Feldern war es schon ganz licht; allein die Berge, welche
wir am oestlichen Rande derselben unter uns und weit draussen erblicken
sollten, waren nicht zu sehen, sondern am Rande der mit Schnee
bedeckten Felder setzte sich eine Farbe, die nur ein klein wenig von
der Schneefarbe verschieden war, fast ins Unermessliche fort, die
des Nebels. Er hatte seit gestern noch mehr ueberhand genommen und
begrenzte unsere Hoehe als Insel. Kaspar wollte erschrecken. Ich aber
machte ihn aufmerksam, dass der Himmel ueber uns ganz heiter sei, dass
dieser Nebel von jenem sehr verschieden sei, der bei dem Beginne des
Regen- oder Schneewetters zuerst die Spitzen der Berge in Gestalt von
Wolken einhuellt, sich dann immer tiefer, oft bis zur Haelfte der Berge,
hinabzieht und den Wanderern so fuerchterlich ist; unser Nebel sei kein
Hochnebel, sondern ein Tiefnebel, der die Bergspitzen, auf denen das
Verirren so schrecklich sei, freilasse und der beim Hoehersteigen der
Sonne verschwinden werde. Im schlimmsten Falle, wenn er auch bliebe,
sei er nur eine wagrechte Schichte, die nicht hoeher stehe, als wo
der schwarze Stein liegt. Von dort hinab aber ist uns der Weg sehr
bekannt, wir muessen unsere eigenen Fussstapfen finden und koennen an
ihnen abwaerts gehen.
Kaspar, welcher mit dem Gebirgsleben sehr vertraut war, sah meine
Gruende ein und war beruhigt.
Waehrend wir standen und sprachen, fing sich an einer Stelle der Nebel
im Osten zu lichten an, die Schneefelder verfaerbten sich zu einer
schoeneren und anmutigeren Farbe, als das Bleigrau war, mit dem sie
bisher bedeckt gewesen waren, und in der lichten Stelle des Nebels
begann ein Punkt zu gluehen, der immer groesser wurde und endlich in
der Groesse eines Tellers schweben blieb, zwar truebrot, aber so innig
glimmend wie der feurigste Rubin. Die Sonne war es, die die niederen
Berge ueberwunden hatte und den Nebel durchbrannte. Immer roetlicher
wurde der Schnee, immer deutlicher, fast gruenlich seine Schatten, die
hohen Felsen zu unserer Rechten, die im Westen standen, spuerten auch
die sich naehernde Leuchte und roeteten sich. Sonst war nichts zu sehen
als der ungeheure, dunkle, ganz heitere Himmel ueber uns, und in der
einfachen grossen Flaeche, die die Natur hieher gelegt hatte, standen
nur die zwei Menschen, die da winzig genug sein mussten. Der Nebel fing
endlich an seiner aeussersten Grenze zu leuchten an wie geschmolzenes
Metall, der Himmel lichtete sich und die Sonne quoll wie blitzendes
Erz aus ihrer Umhuellung empor. Die Lichter schossen ploetzlich ueber den
Schnee zu unsern Fuessen und fingen sich an den Felsen. Der freudige Tag
war da.
Wir banden uns die Stricke um den Leib und liessen ein ziemlich langes
Stueck von der Leibbinde des einen zu der des andern gehen, damit, wenn
einer, da wir jetzt ueber eine sehr schiefe Flaeche zu gehen hatten,
gleiten sollte, er durch den andern gehalten wuerde. Im Sommer war
diese Flaeche mit vielen kleinen und scharfen Steinen bedeckt, daher
der Uebergang ueber sie viel leichter. Im Winter kannte man den Boden
nicht, und der Schnee konnte ins Gleiten geraten. Ohne Hilfe der
Schneereife, die hier, weil sie unbehilflich machten, nur gefaehrlich
werden konnten, gelangten wir mit angewandter Vorsicht gluecklich
hinueber, loesten die Stricke, bogen nach einer darauf erfolgten
mehrstuendigen Wanderung um die Felsen und standen an dem Gletscher und
auf dem ewigen Schnee.
Auf dem Eise, da wir nach uns sehr bekannten Richtungen auf demselben
vorschritten, zeigte sich beinahe mit Ruecksicht auf den Sommer gar
keine Veraenderung. Da auch im Sommer fast jeder Regen des Tales die
Hoehen entweder gar nicht trifft oder auf ihnen Schnee ist, so war es
jetzt auf dem Gletscher wie im Sommer, und wir schritten auf bekannten
Gebieten vorwaerts. Wo die Eismengen geborsten und zertruemmert
waren, hatte sie an ihren Oberflaechen der Schnee bedeckt, mit den
Seitenflaechen sahen sie gruenlich oder blaulich schillernd aus dem
allgemeinen Weiss hervor, weiter aufwaerts, wo die Gletscherwoelbung rein
dalag, war sie mit Schnee bedeckt. Der einzige Unterschied bestand,
dass jetzt keine einzige breite oder lange Eisstelle blossgelegt
in ihrer gruenlichen Farbe da stand, was doch zuweilen im Sommer
geschieht. Wir verweilten einige Zeit auf dem Eise und nahmen auf
demselben auch unser Mittagmahl, in Wein und Brod bestehend, ein.
Unter uns hatte sich aber indessen eine Veraenderung vorbereitet. Der
Nebel war nach und nach geschwunden, ein Teil der fernen oder der
naeheren Berge war nach dem andern sichtbar geworden, verschwunden,
wieder sichtbar geworden, und endlich stand Alles im Sonnenglanze ohne
ein Floeckchen Nebel, der wie ausgetilgt war, in sanfter Blaeue oder
wie in goldigem Schimmer oder wie im fernen, matten Silberglanze, in
tiefem Schweigen und unbeweglich da. Die Sonne strahlte einsam ohne
einer geselligen Wolke an dem Himmel. Die Kaelte war auch hier nicht
gross, geringer als ich sie im Tale beobachtet hatte, und nicht viel
groesser als sie auch zu Sommerszeiten auf diesen Hoehen ist.
Nachdem wir uns eine geraume Weile auf dem Eise aufgehalten hatten,
traten wir den Rueckweg an. Wir gelangten leicht an den gewoehnlichen
Ausgang des Gletschers, von wo aus man das Hinabgehen ueber die Berge
einleitet. Wir fanden unsere Fussstapfen, die in der ungetruebten
Oberflaeche des Schnees, da hierauf selten auch Tiere kommen, sehr
deutlich erkennbar waren, und gingen nach ihnen fort. Wir kamen
gluecklich ueber die schiefe Flaeche und langten gegen Abend in der
Ziegenalpe an. Es war hier schon zu dunkel, um noch etwas von der
Umgebung sehen zu koennen. Wir hielten in der Huette wieder unser warm
zubereitetes Abendmahl, waermten uns am Reste der Bank und erquickten
uns durch Schlaf. Der naechste Morgen war abermals klar, in den Taelern
lag wieder der Nebel. Da auch die Nacht vollkommen windstill gewesen
war, so hatten wir uns jetzt in Hinsicht unsers Rueckweges ueber die
Hochebene nicht zu sorgen. Unsere Fussstapfen standen vollkommen
unverwischt da, und ihnen konnten wir uns anvertrauen. Selbst da, wo
wir ratend gestanden waren und etwa den Alpenstock seitwaerts unseres
Standortes in den Schnee gestossen hatten, war die Spur noch voellig
sichtbar. Wir kamen frueher als wir gedacht hatten an dem schwarzen
Steine an. Dort hielten wir wieder unser Mittagmahl und gingen dann
unter dem sich immer mehr und mehr lichtenden Nebel, der uns aber hier
kein wesentliches Hindernis mehr machte, die steile Senkung der Berge
hinunter. Der an ihrem Fusse beobachtete Waermemesser zeigte wirklich
eine groessere Kaelte, als wir auf den Bergen gehabt hatten.
Am Nachmittage waren wir wieder in dem Seewirtshause.
Am andern Tage gingen wir in das Ahornhaus im Lauterthale. Alles
umringte uns und wollte unsere Erlebnisse wissen. Sie wunderten sich,
dass die Unternehmung so einfach gewesen sei, besonders aber, dass die
Kaelte, die schon im Sommer gegen die Waerme der Taeler so abstehe, im
Winter nicht ganz fuerchterlich soll gewesen sein. Kaspar war ein
wichtiger Mann geworden.
Ich aber war von dem, was ich oben gesehen und gefunden hatte,
vollkommen erfuellt. Die tiefe Empfindung, welche jetzt immer in meinem
Herzen war und welche mich angetrieben hatte, im Winter die Hoehen der
Berge zu suchen, hatte mich nicht getaeuscht. Ein erhabenes Gefuehl war
in meine Seele gekommen, fast so erhaben wie meine Liebe zu Natalien.
Ja, diese Liebe wurde durch das Gefuehl noch gehoben und veredelt, und
mit Andacht gegen Gott, den Herrn, der so viel Schoenes geschaffen
und uns so gluecklich gemacht hat, entschlief ich, als ich wieder zum
ersten Male in meinem Bette in der wohnlichen Stube des Ahornhauses
ruhte.
Es hat mich nicht gereut, dass ich noch die Weihe dieser Unternehmung
auf mich genommen hatte, ehe ich zu meinem Gastfreunde ging, um ihm
meinen Winterbesuch zu machen.
Ich hielt mich nur noch so lange in dem Lauterthale auf, um noch die
bedeutendsten Stellen desselben im Winterschmucke zu sehen und um die
Einleitung zu treffen, dass dem Eigentuemer der Ziegenalpe die Bank, die
wir verbrannt hatten, ersetzt wuerde. Dann fuhr ich in einem Schlitten
in der Richtung nach dem Asperhofe hinaus. Kaspar hatte recht herzlich
von mir Abschied genommen, er war mir durch diese Unternehmung noch
mehr befreundet geworden, als er es frueher gewesen war.
Die groessere Waerme in den oberen Teilen der Luft, welche nur ein
Verbote des beginnenden Suedwindes gewesen war, hatte sich nun voellig
geltend gemacht, der Suedwind war in den Hoehen eingetreten, obwohl es
in der Tiefe noch kalt war, Wolken hatten die Berge umhuellt, zogen
ueber die Laender hinaus und schuettelten Regen herab, der in Gestalt von
Eiskoernern unten ankam und mir um das Haupt und die Wangen prasselte,
als ich in dem Asperhofe eintraf.
Die Pferde und der Schlitten wurden in den Meierhof gebracht, ich ging
zu meinem Gastfreunde. Er sass in seinem Arbeitszimmer und ordnete
Pergamentblaetter, von denen er einen grossen Stoss vor sich hatte. Ich
begruesste ihn, und er empfing mich wie immer gleich freundlich.
Ich sagte ihm, dass ich seit meiner letzten Anwesenheit im Asperhofe
fast immer gereist sei. Erst haette ich noch das Kargrat besucht,
weil ich dort zu ordnen gehabt haette, dann sei ich zu meinen Eltern
gegangen, hierauf habe ich mit meinem Vater einen Besuch in seiner
Heimat gemacht, dann sei ich mit meiner Schwester auf eine Zeit,
um ihr ein Vergnuegen zu bereiten, in das Hochgebirge gefahren, als
hierauf der Winter gekommen sei, habe ich die Echerngletscher besucht,
und nun sei ich hier.
"Ihr seid wie immer herzlich willkommen", sagte er, "bleibt bei uns,
so lange es euch gefaellt, und seht unser Haus wie das eurer Eltern
an."
"Ich danke euch, ich danke euch sehr", erwiderte ich.
Er zog an der Klingel zu seinen Fuessen, und die alte Katharina kam
herauf. Er befahl ihr, meine Zimmer zu heizen, dass ich sie sehr bald
benutzen koenne.
"Es ist schon geschehen", antwortete sie. "Als wir den jungen Herrn
hereinfahren sahen, liess ich durch Ludmilla gleich heizen, es brennt
schon; aber ein wenig gelueftet muss noch werden, neue Ueberzuege muessen
kommen, der Staub muss abgewischt werden, ihr muesst euch schon ein wenig
gedulden."
"Es ist gut und recht", sagte mein Gastfreund, "sorge nur, dass alles
wohnlich sei."
"Es wird schon werden", antwortete Katharina und verliess das Zimmer.
"Ihr koennt, wenn ihr wollt", sagte er dann zu mir, "indessen, bis eure
Wohnung in Ordnung ist, mit mir zu Eustach hinueber gehen und sehen,
was eben gearbeitet wird. Wir koennen hiebei auch bei Gustav anklopfen
und ihm sagen, dass ihr gekommen seid."
Ich nahm den Vorschlag an. Er zog eine Art Ueberrock ueber seine
Kleider, die beinahe wie im Sommer waren, an, und wir gingen aus dem
Zimmer. Wir begaben uns zuerst zu Gustav, und ich begruesste ihn. Er
flog an mein Herz, und sein Ziehvater sagte ihm, er duerfe uns in
das Schreinerhaus begleiten. Er nahm gar kein Ueberkleid, sondern
verwechselte nur seinen Zimmerrock mit einem etwas waermeren und war
bereit, uns zu folgen. Wir gingen ueber die gemeinschaftliche Treppe
hinab, und als wir unten angekommen waren, sah ich, dass mein
Gastfreund auch heute an dem unfreundlichen Wintertage barhaeuptig
ging. Gustav hatte eine ganz leichte Kappe auf dem Haupte. Wir gingen
ueber den Sandplatz dem Gebuesche zu. Die Eiskoerner, welche eine
bereifte, weisse und rauhe Gestalt hatten, mischten sich mit den weissen
Haaren meines Freundes und sprangen auf seinem zwar nicht leichten,
aber noch nicht fuer eine strenge Winterkaelte eingerichteten Ueberrocke.
Die Baeume des Gartens, die uns nahe standen, seufzten in dem Winde,
der von den Hoehen immer mehr gegen die Niederungen herab kam und
an Heftigkeit mit jeder Stunde wuchs. So gelangten wir gegen das
Schreinerhaus. Wie bei meiner ersten Annaeherung stieg auch heute ein
leichter Rauch aus demselben empor, aber er ging nicht wie damals in
einer geraden luftigen Saeule in die Hoehe, sondern wie er die Mauern
des Schornsteins verliess, wurde er von dem Winde genommen, in
Flatterzeug verwandelt und nach verschiedenen Richtungen gerissen.
Auch waren nicht die gruenen Wipfel da, an denen er damals empor
gestiegen war, sondern die nackten Aeste mit den feinen Ruten der
Zweige standen empor und neigten sich im Winde ueber das Haus herueber.
Auf dem Dache desselben lag der Schnee. Von Toenen konnten wir bei
dieser Annaeherung aus dem Innern nichts hoeren, weil aussen das Sausen
des Windes um uns war.
Da wir eingetreten waren, kam uns Eustach entgegen, und er gruesste mich
noch freundlicher und herzlicher, als er es sonst immer getan hatte.
Ich bemerkte, dass um zwei Arbeiter mehr als gewoehnlich in dem Hause
beschaeftigt waren. Es musste also viele oder dringende Arbeit geben.
Die Waerme gegen den Wind draussen empfing uns angenehm und wohnlich
im Hause. Eustach geleitete uns durch die Werkstube in sein Gemach.
Ich sagte ihm, dass ich gekommen sei, um auch einen kleinen Teil des
Winters in dem Asperhofe zu bleiben, den ich in demselben nie gesehen
und den ich nur meistens in der Stadt verlebt habe, wo seine Wesenheit
durch die vielen Haeuser und durch die vielen Anstalten gegen ihn
gebrochen werde.
"Bei uns koennt ihr ihn in seiner voelligen Gestalt sehen", sagte
Eustach, "und er ist immer schoen, selbst dann noch, wann er seine Art
so weit verleugnet, dass er mit warmen Winden, blaugeballten Wolken und
Regenguessen ueber die schneelose Gegend daher faehrt. So weit vergisst er
sich bei uns nie, dass er in ein Afterbild des Sommers, wie zuweilen in
suedlichen Laendern, verfaellt und warme Sommertage und allerlei Gruen zum
Vorschein bringt. Dann waere er freilich nicht auszuhalten."
Ich erzaehlte ihm von meinem Besuche auf dem Echerngletscher und sagte,
dass ich doch auch schon manchen schoenen und stuermischen Wintertag im
Freien und ferne von der grossen Stadt zugebracht habe.
Hierauf zeigte er mir Zeichnungen, welche zu den frueheren neu hinzu
gekommen waren, und zeigte mir Grund- und Aufrisse und andere Plaene
zu den Werken, an denen eben gearbeitet werde. Unter den Zeichnungen
befanden sich schon einige, die nach Gegenstaenden in der Kirche von
Klam genommen worden waren, und unter den Plaenen befanden sich viele,
die zu den Ausbesserungen gehoerten, die mein Gastfreund in der Kirche
vornehmen liess, welche ich mit ihm besucht hatte.
Nach einer Weile gingen wir auch in die Arbeitsstube und besahen die
Dinge, die da gemacht wurden. Meistens betrafen sie Gegenstaende,
welche fuer die Kirche, fuer die eben gearbeitet wurde, gehoerten. Dann
sah ich ein Zimmerungswerk aus feinen Eichen- und Laerchenbohlen,
welches wie der Hintergrund zu Schnitzwerken von Vertaeflungen aussah,
auch erblickte ich Simse, wie zu Vertaeflungen gehoerend. Von Geraeten
war ein Schrein in Arbeit, der aus den verschiedensten Hoelzern, ja
mitunter aus seltsamen, die man sonst gar nicht zu Schreinerarbeiten
nimmt, bestehen sollte. Er schien mir sehr gross werden zu wollen; aber
seinen Zweck und seine Gestalt konnte ich aus den Anfaengen, die zu
erblicken waren, nicht erraten. Ich fragte auch nicht darnach, und man
berichtete mir nichts darueber.
Als wir uns eine Zeit in dem Schreinerhause aufgehalten und auch ueber
andere Gegenstaende gesprochen hatten, als sich in demselben befanden
oder mit demselben in Beziehung standen, entfernten wir uns wieder,
und mein Freund und Gustav geleiteten mich in das Wohnhaus zurueck und
dort in meine Zimmer. In ihnen war es bereits warm, ein lebhaftes
Feuer musste den Toenen nach, die zu hoeren waren, in dem Ofen brennen,
alles war gefegt und gereinigt, weisse Fenstervorhaenge und weisse
Ueberzuege glaenzten an dem Bette und an jenen Geraeten, fuer die sie
gehoerten, und alle meine Reisesachen, welche ich in dem Schlitten
gefuehrt hatte, waren bereits in meiner Wohnung vorhanden. Mein
Gastfreund sagte, ich moege mich hier nun zurecht finden und
einrichten, und er verliess mich dann mit Gustav.
Ich packte nun die Gegenstaende, welche ich in meinen Reisebehaeltnissen
hatte, aus und verteilte sie so, dass die beiden Gemaecher, welche mir
zur Verfuegung standen, recht winterlich behaglich, wozu die Waerme, die
in den Zimmern herrschte, einlud, ausgestattet waren. Ich wollte es so
tun, ich mochte mich nun lange oder kurz in diesen Raeumen aufzuhalten
haben, was von den Umstaenden abhing, die nicht in meiner Berechnung
lagen. Besonders richtete ich mir meine Buecher, meine Schreibdinge
und auch Vorbereitungen zu gelegentlichem Zeichnen so her, dass alles
dies meinen Wuenschen, so weit ich das jetzt einsah, auf das Beste
entsprach. Nachdem ich mit allem fertig war, kleidete ich mich auch
um, damit die Reisekleider mit bequemeren und haeuslichen vertauscht
waeren.
Hierauf machte ich einen Spaziergang. Ich ging in dem Garten meinen
gewoehnlichen Weg zu dem grossen Kirschbaume hinauf. Aus dem in dem
Schnee wohl ausgetretenen Pfade sah ich, dass hier haeufig gegangen
werde und dass der Garten im Winter nicht verwaist ist, wie es bei so
vielen Gaerten geschieht und wie es aber auch bei meinen Eltern nicht
geduldet wird, denen der Garten auch im Winter ein Freund ist. Selbst
die Nebenpfade waren gut ausgetreten, und an manchen Stellen sah ich,
dass man nach dauerndem Schneefalle auch die Schaufel angewendet habe.
Die zarteren Baeumchen und Gewaechse waren mit Stroh verwahrt, alles,
was hinter Glas stehen sollte, war wohl geschlossen und durch
Verdaemmungen geschuetzt, und alle Beete und alle Raeume, die in ihrer
Schneehuelle dalagen, waren durch die um sie gefuehrten Wege gleichsam
eingerahmt und geordnet. Die Zweige der Baeume waren von ihrem Reife
befreit, der Schnee, der in kleinen Kuegelchen daher jagte, konnte auf
ihnen nicht haften, und sie standen desto dunkler und beinahe schwarz
von dem umgebenden Schnee ab. Sie beugten sich im Winde und sausten
dort, wo sie in maechtigen Abteilungen einem grossen Baume angehoerten
und in ihrer Dichtheit gleichsam eine Menge darstellten. In den
entlaubten Aesten konnte ich desto deutlicher und haeufiger die
Nestbehaelter sehen, welche auf den Baeumen angebracht waren. Von den
gefiederten Bewohnern des Gartens war aber nichts zu sehen und zu
hoeren. Waren wenige oder keine da, konnte man sie in dem Sturme nicht
bemerken oder haben sie sich in Schlupfwinkel, namentlich in ihre
Haeuschen, zurueckgezogen? In den Zweigen des grossen Kirschbaumes
herrschte der Wind ganz besonders. Ich stellte mich unter den Baum
neben die an seinem Stamme befindliche Bank und sah gegen Sueden. Das
dunkle Baumgitter lag unter mir, wie schwarze, regellose Gewebe auf
den Schnee gezeichnet, weiter war das Haus mit seinem weissen Dache,
und weiter war nichts; denn die fernere Gegend war kaum zu erblicken.
Bleiche Stellen oder dunklere Ballen schimmerten durch, je nachdem
das Auge sich auf Schneeflaechen oder Waelder richtete, aber nichts war
deutlich zu erkennen, und in langen Streifen, gleichsam in nebligen
Faeden, aus denen ein Gewebe zu verfertigen ist, hing der fallende
Schnee von dem Himmel herunter. Von dem Kirschbaume konnte ich nicht
in das Freie hinausgehen; denn das Pfoertchen war geschlossen. Ich
wendete mich daher um und ging auf einem anderen Wege wieder in das
Haus zurueck.
An demselben Tage erfuhr ich auch, dass Roland anwesend sei. Mein
Gastfreund holte mich ab, mich zu ihm zu begleiten. Man hatte ihm in
dem Wohnhause ein grosses Zimmer zurecht gerichtet. In demselben malte
er eben eine Landschaft in Oelfarben. Als wir eintraten, sahen wir ihn
vor seiner Staffelei stehen, die zwar nicht mitten in dem Zimmer, doch
weiter von dem Fenster entfernt war, als dies sonst gewoehnlich der
Fall zu sein pflegt. Das zweite der Fenster war mit einem Vorhange
bedeckt. Er hatte ein leinenes Ueberkleid an seinem Oberkoerper an und
hielt gerade das Malerbrett und den Stab in der Hand. Er legte beides
auf den nahestehenden Tisch, da er uns kommen sah, und ging uns
entgegen. Mein Gastfreund sagte, dass er mich zu dem Besuche bei ihm
aufgefordert habe und dass Roland wohl nichts dagegen haben werde.
"Der Besuch ist mir sehr erfreulich", sagte er, "aber gegen mein Bild
wird wohl viel einzuwenden sein."
"Wer weiss das?" sagte mein Gastfreund.
"Ich wende viel ein", antwortete Roland, "und Andere, die sich des
Gegenstandes bemaechtigen, werden auch wohl viel einzuwenden haben."
Wir waren waehrend dieser Worte vor das Bild getreten.
Ich hatte nie etwas Aehnliches gesehen. Nicht, dass ich gemeint
haette, dass das Bild so vortrefflich sei, das konnte man noch nicht
beurteilen, da sich Vieles in den ersten Anfaengen befand, auch glaubte
ich zu bemerken, dass Manches wohl kaum wuerde gemeistert werden
koennen. Aber in der Anlage und in dem Gedanken erschien mir das
Bild merkwuerdig. Es war sehr gross, es war groesser als man gewoehnlich
landschaftliche Gegenstaende behandelt sieht, und wenn es nicht gerollt
wird, so kann es aus dem Zimmer, in welchem es entsteht, gar nicht
gebracht werden. Auf diesem wuesten Raume waren nicht Berge oder
Wasserfluten oder Ebenen oder Waelder oder die glatte See mit schoenen
Schiffen dargestellt, sondern es waren starre Felsen da, die nicht als
geordnete Gebilde empor standen, sondern, wie zufaellig, als Bloecke und
selbst hie und da schief in der Erde staken, gleichsam als Fremdlinge,
die wie jene Normannen auf dem Boden der Insel, die ihnen nicht
gehoerte, sich sesshaft gemacht hatten. Aber der Boden war nicht wie der
jener Insel oder vielmehr, er war so, wo er nicht von den im Altertume
beruehmten Kornfeldern bekleidet oder von den dunkeln, fruchtbringenden
Baeumen bedeckt ist, sondern wo er zerrissen und vielgestaltig ohne
Baum und Strauch mit den duerren Graesern, den weiss leuchtenden Furchen,
in denen ein aus unzaehligen Steinen bestehender Quarz angehaeuft ist
und mit dem Geroelle und mit dem Truemmerwerke, das ueberall ausgesaet
ist, der doerrenden Sonne entgegenschaut. So war Rolands Boden, so
bedeckte er die ungeheure Flaeche, und so war er in sehr grossen und
einfachen Abteilungen gehalten, und ueber ihm waren Wolken, welche
einzeln und vielzaehlig schimmernd und Schatten werfend in einem Himmel
standen, welcher tief und heiss und suedlich war.
Wir standen eine Weile vor dem Bilde und betrachteten es. Roland
stand hinter uns, und da ich mich einmal wendete, sah ich, dass er die
Leinwand mit glaenzenden Augen betrachtete. Wir sprachen wenig oder
beinahe nichts.
"Er hat sich die Aufgabe eines Gegenstandes gestellt, den er noch
nicht gesehen hat", sagte mein Gastfreund, "er haelt sich ihn nur in
seiner Einbildungskraft vor Augen. Wir werden sehen, wie weit er
gelingt. Ich habe wohl solche Dinge oder vielmehr ihnen Aehnliches weit
unten im Sueden gesehen."
"Ich bin nicht auf irgend etwas Besonderes ausgegangen", antwortete
Roland, "sondern habe nur so Gestaltungen, wie sie sich in dem Gemuete
finden, entfaltet. Ich will auch Versuche in Oelfarben machen, welche
mich immer mehr gereizt haben als meine Wasserfarben und in denen sich
Gewaltiges und Feuriges darstellen lassen muss."
Ich bemerkte, als ich seine Geraete naeher betrachtete, dass er Pinsel
mit ungewoehnlich langen Stielen habe, dass er also sehr aus der Ferne
arbeiten muesse, was bei einer so grossen Leinwandflaeche wohl auch nicht
anders sein kann und was ich auch aus der Behandlung ersah. Seine
Pinsel waren ziemlich gross, und ich sah auch lange, feine Staebe,
an deren Spitzen Zeichnungskohlen angebunden waren, mit welchen er
entworfen haben musste. Die Farben waren in starken Mengen auf der
Palette vorhanden.
"Der Herr dieses Hauses ist so guetig", sagte Roland, "und laesst mich
hier wirtschaften, waehrend ich verbunden waere, Zeichnungen zu machen,
welche wir eben brauchen, und waehrend ich an Entwuerfen arbeiten
sollte, die zu den Dingen notwendig sind, die eben ausgefuehrt werden."
"Das wird sich alles finden", antwortete mein Gastfreund, "ihr habt
mir schon Entwuerfe gemacht, die mir gefallen. Arbeitet und waehlt nach
eurem Gutduenken, euer Geist wird euch schon leiten."
Um Roland, der hier vor seinem Werke stand und dessen ganze Umgebung,
wie sie in dem Zimmer ausgebreitet war, auf Ausfuehrung dieses Werkes
hinzielte, nicht laenger zu stoeren, da die Wintertage ohnehin so kurz
waren, entfernten wir uns.
Da wir den Gang entlang gingen, sagte mein Gastfreund: "Er sollte
reisen."
Als es dunkel geworden war, versammelten wir uns in dem Arbeitszimmer
meines Gastfreundes bei dem wohlgeheizten Ofen. Es war Eustach,
Roland, Gustav und ich zugegen. Es wurde von den verschiedensten
Dingen gesprochen, am meisten aber von der Kunst und von den
Gegenstaenden, welche eben in der Ausfuehrung begriffen waren. Es mochte
wohl Vieles vorkommen, was Gustav nicht verstand, er sprach auch sehr
wenig mit; aber es mochte doch das Gespraech ihn mannigfaltig foerdern,
und selbst das Unverstandene mochte Ahnungen erregen, die weiter
fuehren oder die aufbewahrt werden und in Zukunft geeignet sind, feste
Gestaltungen, die sich fuegen wollen, einleiten zu helfen. Ich wusste
das sehr wohl aus meiner eigenen Jugend und selbst auch aus der
jetzigen Zeit.
Da ich in mein Schlafgemach zurueckgekehrt war, fuehlte ich es recht
angenehm, dass die Scheite aus dem Buchenwalde meines Gastfreundes, der
ein Teil des Alizwaldes war, in dem Ofen brennen. Ich beschaeftigte
mich noch eine Zeit mit Lesen und teilweise auch mit Schreiben.
Am anderen Morgen war Regen. Er fiel in Stroemen aus blaulich
gefaerbten, gleichartigen, ueber den Himmel dahin jagenden Wolken herab.
Der Wind hatte zu solcher Heftigkeit zugenommen, dass er um das ganze
Haus heulte. Da er aus Suedwesten kam, schlug der Regen an meine
Fenster und rann an dem Glase in waesserigen Flaechen nieder. Aber da
das Haus sehr gut gebaut war, so hatte Regen und Wind keine anderen
Folgen als dass man sich recht geborgen in dem schuetzenden Zimmer fand.
Auch ist es nicht zu leugnen, dass der Sturm, wenn er eine gewisse
Groesse erreicht, etwas Erhabenes hat und das Gemuet zu staerken im Stande
ist. Ich hatte die ersten Morgenstunden bei Licht in Waerme damit
hingebracht, dem Vater und der Mutter einen Brief zu schreiben, worin
ich ihnen anzeigte, dass ich auf dem Echerneise gewesen sei, dass ich
alle Vorsicht beim Hinaufsteigen und Heruntergehen angewendet habe,
dass uns nicht der geringste Unfall zugestossen sei und dass ich mich
seit gestern bei meinem Freunde im Rosenhause befinde. An Klotilden
legte ich ein besonderes Blatt bei, worin ich, auf ihre teilweise
Kenntnis des Gebirges, die sie sich auf der mit mir gemachten Reise
erworben hatte, bauend, eine kleine Beschreibung des winterlichen
Hochgebirgbesuches gab. Als es dann heller geworden und die Stunde zum
Fruehmahle gekommen war, ging ich in das Speisezimmer hinunter. Ich
erfuhr nun hier, dass es im Winter der Gebrauch sei, dass Eustach und
Roland, deren gestrige Anwesenheit bei dem Abendessen ich fuer zufaellig
gehalten hatte, mit meinem Gastfreunde und Gustav an einem Tische
speisen. Es sollte auch im Sommer so sein; allein da oft in dieser
Jahreszeit in dem Schreinerhause lange vor Sonnenaufgang aufgestanden
und zu einer Arbeit geschritten wird, so veraendern sich die Stunden,
an denen eine Erquickung des Koerpers notwendig wird, und Eustach
hat selber gebeten, dass ihm dann die Zeit und Art seines Essens zu
eigener Wahl ueberlassen werde. Roland ist ohnehin zu jener Jahreszeit
meistens von dem Hause abwesend. Ich war nie so spaet im Winter in dem
Rosenhause gewesen, dass ich diese Einrichtung haette kennen lernen
koennen. Mein Gastfreund, Eustach, Roland, Gustav und ich sassen also
beim Fruehmahltische. Das Gespraech drehte sich hauptsaechlich um das
Wetter, welches so stuermisch herein gebrochen war, und es wurde
erlaeutert, wie es hatte kommen muessen, wie es sich erklaeren lasse, wie
es ganz natuerlich sei, wie jedes Hauswesen sich auf solche Wintertage
in der Verfassung halten muesse und wie, wenn das der Fall sei, man
dann derlei Ereignisse mit Geduld ertragen, ja darin eine nicht
unangenehme Abwechslung finden koenne. Nach dem Fruehmahle begab sich
jedes an seine Arbeit. Mein Gastfreund ging in sein Zimmer, um dort im
Ordnen der Pergamente, das er angefangen hatte, fortzufahren, Eustach
ging in die Schreinerei, Roland, fuer den die Zeit trotz des trueben
Tages doch endlich auch hell genug zum Malen geworden war, begab sich
zu seinem Bilde, Gustav setzte sein Lernen fort und ich ging wieder in
meine Zimmer. Da ich dort eine Zeit mit Lesen und Schreiben zugebracht
hatte und da der Sturm, statt sich zu mildern, in den Vormittagstunden
nur noch heftiger geworden war, beschloss ich doch, wie es meine
Gewohnheit war, auf eine Zeit in das Freie zu gehen. Ich waehlte
eine zweckmaessige Fussbekleidung, nahm meinen Wachsmantel, der eine
Wachshaube hatte, die man ueber den Kopf ziehen konnte, und ging ueber
die gemeinschaftliche Treppe hinab. Ich schlug den Weg durch das
Gittertor auf den Sandplatz vor dem Hause ein. Dort konnte der
Suedwestwind recht an meine Person fallen, und er trieb mir die
Tropfen, welche fuer einen Winterregen bedeutend gross waren, mit
Prasseln auf meinen Ueberwurf, in das Angesicht, in die Augen und auf
die Haende. Ich blieb auf dem Platze ein wenig stehen und betrachtete
die Rosen, welche an der Wand des Hauses gezogen wurden. Manche
Staemmchen waren durch Stroh geschuetzt, bei manchen war stellenweise
die Erde ueber den Wurzeln mit einer schuetzenden Decke bekleidet,
andere waren bloss fest gebunden, bei allen aber sah ich, dass man
ausserordentliche Schutzmittel nicht angewendet habe und dass alle nur
gegen Verletzungen von aeusserlicher Gewalt gesichert waren.
Der Schnee konnte sie ueberhuellen, wie ich noch die Spuren sah, der
Regen konnte sie begiessen, wie ich heute erfuhr, aber nirgends konnte
der Wind ein Staemmchen oder einen Zweig lostrennen und mit ihm spielen
oder ihn zerren. Die ganze Wand des Hauses war auch im Uebrigen
unversehrt, und der Regen, der gegen dieselbe anschlug, konnte ihr
nichts anhaben. Ich ging von dem Sandplatze ueber den Huegel hinunter.
Der Schnee hatte schon die Gewalt des Regens verspuert, welcher
ziemlich warm war. Die weiche, sanfte und flaumige Gestalt war
verloren gegangen, etwas Glattes und Eisiges hatte sich eingestellt,
und hie und da standen gezackte Eistruemmer gleichsam wie zerfressen
da. Das Wasser rann in Schneefurchen, die es gewaehlt hatte, nieder,
und an offenen Stellen, wo es durch die loecherichte Beschaffenheit des
Schnees nicht verschluckt wurde, rieselte es ueber die Graeser hinab.
Ich ging, ohne auf einen Weg zu achten, durch den waesserigen Schnee
fort. In der Tiefe des Tales lenkte ich gegen Osten. Ich ging eine
Strecke fort, ging dort ueber die Wiesen und liess das Schauspiel auf
mich wirken. Es war fast herrlich, wie der Wind, welcher den Schnee
nicht mehr heben konnte, den Regen auf ihn nieder jagte, wie schon
Stellen bloss lagen, wie die grauen Schleier gleichsam baenderweise
nieder rollten und wie die trueben Wolken ueber dem bleichen Gefilde
unbekuemmert um Menschentun und Menschenwerke dahin zogen.
Ich richtete endlich in der Tiefe der Wiesen meinen Weg nordwaerts
gegen den Meierhof hinauf. Als ich dort anbelangt war, erfuhr ich, dass
der Herr, wie man hier meinen Gastfreund kurzweg nannte, heute auch
schon da gewesen, aber bereits wieder fortgegangen sei. Er hatte
Mehreres besichtigt und Mehreres angeordnet. Ich fragte, ob er heute
auch barhaeuptig gewesen sei, und es wurde bejaht. Da ich den Meierhof
besehen hatte und in verschiedenen Raeumen desselben herum gegangen
war, sah ich erst recht, was ein wohleingerichtetes Haus sei. Der
Regen fiel auf dasselbe nieder wie auf einen Stein, in den er nicht
eindringen und von dem er aeusserlich nur in Jahrhunderten etwas herab
waschen koenne. Keine Ritze zeigte sich fuer das Einlassen des Wassers
bereit, und kein Teilchen der Bekleidung schickte sich zur Losloesung
an. Im Innern wurden die Arbeiten getan wie an jedem Tage. Die Knechte
reinigten Getreide mit der sogenannten Getreideputzmuehle, schaufelten
es seitwaerts und massen es in Saecke, damit es auf den Schuettboden
gebracht werde. Der Meier war dabei beschaeftigt, ordnete an und pruefte
die Reinheit. Ein Teil der Maegde war in den Staellen beschaeftigt, ein
Teil richtete auf der Futtertenne das Futter zurecht, ein Teil spann,
und die Frau des Meiers ordnete in der Milchkammer. Ich sprach mit
allen, und sie zeigten Freude, dass ich sogar in dieser Jahreszeit
einmal gekommen sei.
Von dem Meierhofe ging ich ueber den mit Obstbaeumen bepflanzten Raum
gegen den Garten hinueber. Das Pfoertchen an dieser Seite war unter Tags
selbst im Winter nicht gesperrt. Ich ging durch dasselbe ein und begab
mich in die Wohnung des Gaertners. Dort legte ich meinen Wachsmantel,
durch dessen Falten das Wasser rann, ab und setzte mich auf die reine,
weisse Bank vor dem Ofen. Der alte Mann und seine Frau empfingen mich
recht freundlich. In ihrem ganzen Wesen war etwas sehr Aufrichtiges.
Seit geraumer Zeit war bei diesen alten Leuten beinahe etwas
Elternhaftes gegen mich gewesen. Die Gaertnersfrau Clara sah mich immer
wieder gleichsam verstohlen von der Seite an. Wahrscheinlich dachte
sie an Natalien. Der alte Simon fragte mich, ob ich denn nicht in die
Gewaechshaeuser gehen und die Pflanzen auch im Winter besehen wolle.
Das sei ausser dem Besuche, den ich ihm und seiner Gattin machen
wollte, meine Nebenabsicht gewesen, erwiderte ich.
Er nahm einen anderen Rock um und geleitete mich in die Gewaechshaeuser,
welche an seine Wohnung stiessen. Ich nahm wirklich grossen Anteil an
den Pflanzen selber, da ich mich ja in frueherer Zeit viel mit Pflanzen
beschaeftigt hatte, und nahm Anteil an dem Zustande derselben. Wir
gingen in alle Raeume des nicht unbetraechtlich grossen Kalthauses und
begaben uns dann in das Warmhaus. Nicht bloss, dass ich die Pflanzen
nach meiner Absicht betrachtete, nahm ich mir auch die Zeit,
freundlich anzuhoeren, was mein Begleiter ueber die einzelnen sagte, und
hoerte zu, wie er sich ueber Lieblinge ziemlich weit verbreitete. Diese
Hingabe an seine Rede und die Teilnahme an seinen Pfleglingen, die ich
ihm stets bewiesen hatte, mochten nebst dem Anteile, den er mir an der
Erwerbung des Cereus peruvianus zuschrieb, Ursache sein, dass er eine
gewisse Anhaenglichkeit gegen mich hegte. Als wir an dem Ausgange der
Gewaechshaeuser waren, welcher seiner Wohnung entgegengesetzt lag,
fragte er mich, ob ich auch in das Cactushaus gehen wolle, er werde
zu diesem Behufe, da wir einen freien Raum zu ueberschreiten haetten,
meinen Wachsmantel holen. Ich sagte ihm aber, dass dies nicht noetig
sei, da er ja auch ohne Schutz herueber gehe, dass mein Gastfreund heute
schon barhaeuptig in dem Meierhofe gewesen sei, und dass es mir nicht
schaden werde, wenn ich auch einmal eine kurze Strecke im Regen ohne
Kopfbedeckung gehe.
"Ja der Herr, der ist Alles gewohnt", antwortete er.
"Ich bin zwar nicht Alles, aber Vieles gewohnt", erwiderte ich, "und
wir gehen schon so hinueber."
Er liess sich von seinem Vorhaben endlich abbringen, und wir gingen in
das Cactushaus. Er zeigte mir alle Gewaechse dieser Art, besonders den
Peruvianus, welcher wirklich eine prachtvolle Pflanze geworden war,
er verbreitete sich ueber die Behandlung dieser Gewaechse waehrend des
Winters, sagte, dass mancher schon im Hornung blueht, dass nicht alle
eine gewisse Kaelte vertragen, sondern in der waermeren Abteilung des
Hauses stehen muessen, besonders verlangen dieses viele Cereusarten,
und er ging dann auf die Einrichtung des Hauses selbst ueber und hob
es als eine Vorzueglichkeit heraus, dass der Herr fuer jene Stellen, an
denen die Glaeser ueber einander liegen, ein so treffliches Bindemittel
gefunden habe, durch welches das Hereinziehen des Wassers an den
uebereinandergelegten Stellen des Glases unmoeglich sei und das diesen
Pflanzen so nachteilige Herabfallen von Wassertropfen vermieden werde.
Dadurch kann es auch allein geschehen, dass an Regentagen und an Tagen,
an welchen Schnee schmilzt, das Haus nicht mit Brettern gedeckt werden
muesse, was finster macht und den Pflanzen schaedlich ist. Ich koenne
das ja heute sehen, wie bei einem Regen so heftiger Art nicht ein
Troepflein herein dringen kann oder vom Winde hereingeschlagen wird.
Bretter wuerden ueberhaupt ueber dieses Haus nicht gelegt. Gegen den
Hagel sei es durch dickes Glas und den Panzer geschuetzt, und wenn
kalte Naechte zu erwarten sind, werde eine Strohdecke angewendet, und
der Schnee werde durch Besen entfernt. Mir war wirklich der Umstand
merkwuerdig und wichtig, dass hier kein Herabtropfen von dem Glasdache
statt finde, was meinem Vater so unangenehm ist. Ich nahm mir vor,
meinen Gastfreund um Eroeffnung des Verfahrens zu ersuchen, um dasselbe
dem Vater mitzuteilen. Als wir auf dem Rueckwege durch die anderen
Gewaechshaeuser gingen, sah ich, dass auch hier kein Herabtropfen
vorhanden sei, und mein Begleiter bestaetigte es.
Da ich noch ein Weilchen in der Wohnung der Gaertnerleute geblieben
war und mit der Gaertnerfrau gesprochen hatte, machte ich Anstalt zum
Heimwege. Die Gaertnerfrau hatte meinen Wachsmantel in der Zeit, in
der ich mit ihrem Manne in den Gewaechshaeusern gewesen war, an seiner
Aussenflaeche von allem Wasser befreit und ihn ueberhaupt handlich
und angenehm hergerichtet. Ich dankte ihr, sagte, dass er wohl bald
wieder verknittert sein wuerde, empfahl mich freundlich, nahm die
anderseitigen freundlichen Empfehlungen in Empfang und ging dann in
meine Zimmer.
Dort kleidete ich mich sorgfaeltig um und ging dann zu meinem
Gastfreunde. Er war eben mit Gustav beschaeftigt, der ihm Rechenschaft
von seinen Morgenarbeiten ablegte. Ich fragte, ob es mir erlaubt waere,
in das Bildergemach oder in aehnliche zu gehen.
"Das Lesezimmer und das Bilderzimmer so wie das mit den Kupferstichen
sind ordnungsgemaess geheizt", antwortete mein Gastfreund, "der
Buechersaal, der Marmorsaal und die Marmortreppe werden leidlich warm
sein. Verschlossen ist keiner der Raeume. Bedient euch derselben, wie
ihr es zu Hause tun wuerdet."
Ich dankte und entfernte mich. Nach meiner Kenntnis der Tageinteilung
wusste ich, dass er seine Beschaeftigung mit Gustav fortsetzte.
Ich ging zuerst auf die Marmortreppe. Ich suchte sie von oben zu
gewinnen. Als ich von dem gemeinschaftlichen Gange in den oberen Teil
des Marmorganges eingetreten war, zog ich, wie es hier vorgeschrieben
war, Filzschuhe, welche immer in Bereitschaft standen, an und ging die
glatte, schoene Treppe hinunter.
Als ich in die Mitte derselben gekommen war, wo sich der breite
Absatz befindet, hielt ich an; denn das war das Ziel meiner Wanderung
gewesen. Ich wollte die altertuemliche Marmorgestalt betrachten. Selbst
heute in dem bleiernen Lichte, das durch die Glaswoelbung, welche noch
dazu durch das auf ihr rinnende Wasser getruebt war, gleichsam traege
nieder fiel, war die Erscheinung eine gewaltige und erhebende. Die
hehre Jungfrau, sonst immer sanft und hoch, stand heute in den
fluessigen Schleiern des dumpferen Lichtes zwar trueb, aber mild da, und
der Ernst des Tages legte sich auch als Ernst auf ihre unaussprechlich
anmutigen Glieder. Ich sah die Gestalt lange an, sie war mir, wie bei
jedem erneuerten Anblicke, wieder neu. Wie sehr mir auch die blendend
weisse Gestalt der Brunnennymphe im Sternenhofe nach der juengsten
Vergangenheit als liebes Bild in die Seele gepraegt worden war, so war
sie doch ein Bild aus unserer Zeit und war mit unseren Kraeften zu
fassen: hier stand das Altertum in seiner Groesse und Herrlichkeit. Was
ist der Mensch, und wie hoch wird er, wenn er in solcher Umgebung, und
zwar in solcher Umgebung von groesserer Fuelle weilen darf!
Ich ging langsam die Treppe wieder hinan und ging in den Marmorsaal.
Seine Groesse, seine Leerheit, der, wenn ein solches Wort erlaubt ist,
dunkle Glanz, der von dem dunkeln und mit ungewissen und zweideutigen
Lichtern wechselnden Tage auf seinen Waenden lag und wechselte, liess
sich nach dem Anblicke der Gestalt des Altertums tragen und ertragen.
Ja, der Saal erschien mir in dem finstern Tage noch groesser und ernster
als sonst, und ich weilte gerne in ihm, fast so gerne wie an jenem
Abende, an welchem ich mit meinem Gastfreunde unter dem sanften
Blitzen eines Gewitterhimmels in ihm auf und ab gegangen war.
Ich ging auch jetzt wieder in demselben hin und wider und liess den
Sturm draussen mit seinen trueben Lichtern, die Waende hier innen mit
ihrem matten Glanze und die Erinnerung der eben gesehenen Gestalt in
mir wirken.
Nach einer Zeit trat ich durch die Tuer, welche in das Bilderzimmer
fuehrt. Die Bilder hingen in dem duesteren Glanze des Tages da und
konnten selbst dort, wo der Kuenstler die kraftvollsten Mittel des
Lichtes und Schattens angewendet hatte, nicht zur vollen Wirksamkeit
gelangen, weil das, was die Bilder erst recht malen hilft, fehlte, die
Macht eines sonnigen und heiteren Tages. Selbst als ich zu einigen,
die ich besonders liebte, naeher getreten war, selbst als ich vor einem
Guido, der auf der Staffelei stand, die nahe an das Fenster und in
das beste Licht gerueckt worden war, niedersass, um ihn zu betrachten,
konnte die Empfindung, die sonst diese Werke in mir erregten, nicht
emporkeimen. Ich erkannte bald die Ursache, welche darin bestand, dass
ohnehin eine viel hoehere in meinem Gemuete wartete, welche durch die
Gestalt des Altertums in mir hervorgerufen worden war. Die Gemaelde
erschienen mir beinahe klein. Ich ging in das Buecherzimmer, nahm mir
Odysseus aus seinem Schreine, begab mich in das Lesezimmer, in welchem
die gesellige Flamme, die Freundin des Menschen, die ihm in der
Finsternis Licht und im Winter des Nordens Waerme gibt, hinter dem
feinen Gitter eines Kamines freundlich loderte, und in welchem alles
auf das Reinlichste geordnet war, setzte mich in einiger Entfernung
von dem Fenster in einen weichen Sitz und begann unter dem Prasseln
des Regens an den Fenstern von der ersten Zeile an zu lesen. Die
fremden Worte, die als lebendig gesprochen einer fernen Zeit
angehoerten, die Gestalten, welche durch diese Worte in unsere Zeit mit
all ihrer ihnen einstens angehoerigen Eigentuemlichkeit heraufgefuehrt
wurden, schlossen sich an die Jungfrau an, welche ich auf der Treppe
hatte stehen gesehen. Als Nausikae kam, war es mir wieder, wie es mir
bei der ersten richtigen Betrachtung der Marmorgestalt gewesen war,
die Gewaender des harten Stoffes loeseten sich zu leichter Milde, die
Glieder bewegten sich, das Angesicht erhielt wandelbares Leben, und
die Gestalt trat als Nausikae zu mir. Es war auch die Erinnerung jenes
Abends gewesen, die heute meine Hand, als ich von der Treppe in den
Marmorsaal und in das Bilderzimmer herauf gekommen war und in diesen
keine Befriedigung gefunden hatte, zu den Worten Homers im Odysseus
greifen liess. Als die Helden das Mahl in dem Saale genossen hatten,
als der Saenger gerufen worden war, als die Worte jenes Liedes
vernommen worden waren, dessen Ruhm damals bis zu dem Himmel reichte,
als Odysseus das Haupt verhuellt hatte, damit man die Traenen nicht
saehe, welche ihm aus den Augen flossen, als endlich Nausikae schlicht
und mit tiefem Gefuehle an den Saeulen der Pforte des Saales stand: da
gesellte sich auch laechelnd das schoene Bild Nataliens zu mir; sie war
die Nausikae von jetzt, so wahr, so einfach, nicht prunkend mit ihrem
Gefuehle und es nicht verhehlend. Beide Gestalten verschmolzen in
einander, und ich las und dachte zugleich, und bald las ich und bald
dachte ich, und als ich endlich sehr lange bloss allein gedacht hatte,
nahm ich das Buch, das vor mir auf dem Tische lag, wieder auf, trug es
in das Buecherzimmer auf seinen Platz und ging durch den Marmorsaal und
den Gang der Gastzimmer in meine Wohnung zurueck.
Das Werk des Vormittages war abgetan.
Am Mittagtische fanden sich wieder dieselben Personen ein, welche
bei dem Fruehmahle versammelt gewesen waren. Nach dem Genusse eines
einfachen, aber fuer Gedeihen und Gesundheit sehr wohl zubereiteten
Mahles, wie es immer in dem Rosenhause sein musste, nach manchem
freundlichen und erheiternden Gespraeche stand man auf, um wieder zu
seinen Geschaeften zu gehen, die jedem ernst und wichtig genug waren,
mochten sie nun im Erwerben von Kenntnissen bestehen, wie fast
ausschliesslich bei Gustav, oder mochten sie im Vorwaertsdringen in der
Kunst oder auf wissenschaftlichem Felde oder in einer richtigeren
Gestaltung der eigenen Lebenslage enthalten sein.
Fuer den heutigen Nachmittag war ein besonderes Geschaeft vorbehalten
worden, zu welchem auch Roland kommen und deshalb seine heutige
Arbeit an seinem Bilde abbrechen musste. Es war eine Sammlung von
Kupferstichen eingelangt, welche zum Kaufe angeboten waren, und deren
Besichtigung man auf den heutigen Nachmittag anberaumt hatte. Mein
Gastfreund lud mich zu der Sache ein. Die Kupferstiche lagen in zwei
Mappen in dem Zimmer meines Gastfreundes. Wir gingen ueber die Treppe,
die fuer die Dienerschaft bestimmt war, in sein Zimmer empor und
rueckten den Tisch, auf welchem die Mappen lagen, naeher an ein Fenster,
damit wir die Blaetter besser betrachten konnten. Die Mappen wurden
geoeffnet, und bald sah man, dass der Sammler der in denselben
enthaltenen Stuecke kein Mann gewesen sei, der von der Tiefe der Kunst,
von ihrem Ernste und von ihrer Bedeutung fuer das menschliche Leben
eine Vorstellung gehabt habe. Er war eben ein Sammler gewoehnlicher Art
gewesen, der die Menge und die Mannigfaltigkeit der Stuecke vor Augen
gehabt hatte. Jetzt lag er im Grabe, und seine Erben mussten weder fuer
die Verhaeltnisse der Kunst zum menschlichen Leben noch fuer Sammeln
von was immer fuer einer Art einen Sinn gehabt haben, daher sie alle
Hefte meinem Gastfreunde, von dem sie gehoert hatten, dass er solche
Merkwuerdigkeiten suche, zum Verkaufe anboten. Neben ganz wertlosen
Erzeugnissen des Grabstichels nach heutiger unbedeutender Weise, wie
sie in Buechern und Bilderwerken zum Behufe des Gelderwerbes vorkommen,
neben Steinzeichnungen mit der Feder und der Kreide befanden sich auch
bessere Werke von jetzt und besonders einige Stuecke aus aelterer Zeit
von grossem Werte. Mein Gastfreund und seine zwei Gehilfen sprachen
bei dieser Gelegenheit Manches ueber Kupferstiche, was mir neu war und
woran ich die Bedeutung dieses Kunstzweiges mehr kennen lernte, als
ich sie frueher kannte. Da er die Uebersetzung der Werke der grossen
Meister aller Zeiten vermitteln kann, da er ein Bild, das nur einmal
da ist, das fuer viele Menschen an fernen und ihnen nie erreichbaren
Orten sich befindet, oder das als Eigentum eines einzelnen Mannes
nicht einmal allen denen, die denselben Ort mit ihm bewohnen,
zugaenglich ist, vervielfaeltiget und zur Anschauung in viele Orte
und in ferne Zeiten bringen kann, so sollte man ihm wohl die groesste
Aufmerksamkeit schenken. Wenn er nicht einer gewissen, zu bestimmten
Zeiten in Schwung kommenden Art huldigt, sondern strebt, die Seele des
Meisters, wie sie sich in dem Bilde darstellt, wieder zu geben, wenn
er nicht bloss die Stoffe, wie sie sich in dem Bilde befinden, von
der Zartheit des menschlichen Angesichtes und der menschlichen Haende
angefangen durch den Glanz der Seide und die Glaette des Metalles bis
zu der Rauhigkeit der Felsen und Teppiche herab, sondern auch sogar
die Farben, die der Maler angewendet hat, durch verschiedene, aber
immer klare, leicht gefuehrte und schoengeschwungene Linien, die niemals
unbedeutend, niemals durch Absonderlichkeit auffallend sein, niemals
einen blossen Fleck bilden duerfen und die er zur Bemeisterung jedes
neuen Gegenstandes neu erfinden kann, darstellt: dann kann er zwar
nicht der Malerei in ihren Wirkungen an die Seite gesetzt werden,
die sie auf ihre Beschauer geradehin ausuebt, aber er kann ihr an
Kunstwirkung ueberhaupt als ebenbuertig erkannt werden, weil er auf eine
groessere Zahl von Menschen wirkt und bei denen, welche die nachgeahmten
Gemaelde nicht sehen koennen, eine desto tiefere und vollere
Kunstwirkung hervorbringt, je tiefer und edler er selber ist. Dies
habe ich bei meinem Gastfreunde in der Zeit, als ich mit ihm in
Verbindung war, immer mehr kennen gelernt, und dies ist mir wieder
besonders klar geworden, als die Kupferstiche durchgesehen wurden
und als man ueber ihren Wert und ueber Mittel, Wege und Wirkung der
Kupferstecherkunst ueberhaupt sprach. Es wurde, da man die Einzelheiten
der guten Blaetter genau untersucht und ihre Vorzuege und ihre Maengel
sorglich besprochen hatte, festgesetzt, dass man der guten Stuecke
willen die ganze Sammlung kaufen wolle, wenn ihr Preis einen gewissen
Betrag, den man anbot und den man gerechter und billiger Weise geben
konnte, nicht ueberstiege. Die schlechten Blaetter wollte man dann
vernichten, weil sie durch ihr Dasein eine gute Wirkung nicht nur
nicht hervorbringen, sondern das Gefuehl dessen, der nichts Besseres
sieht, statt es zu heben, in eine rohere und verbildetere Richtung
lenken, als es naehme, wenn ihm nichts als die Gegenstaende der
Natur geboten wuerden. Den Geist des Menschen, sagten die Maenner,
verunreinigte falsche Kunst mehr als die Unberuehrtheit von jeder
Kunst. Da es daemmerte, wurden die Kupferstiche in ihre Behaeltnisse
getan, der Tisch wurde wieder an seine Stelle gerueckt, und wir
trennten uns.
Der Sturm hatte eher zu als ab genommen, und der Regen schlug in
Stroemen an die Fenster.
Abends waren wir wieder in dem Arbeitszimmer meines Gastfreundes
vereinigt, nur Gustav fehlte, weil er sich in seinem Zimmer noch mit
seiner Tagesaufgabe beschaeftigte. Ehe wir zu dem Abendessen gingen,
zeichnete mein Gastfreund noch den Stand der naturwissenschaftlichen
Geraete, welche sich auf Luftdruck, Feuchtigkeit, Waerme, Electricitaet
und dergleichen bezogen, in seine Buecher, und dann ging er durch
das ganze Haus und besah den Verhalt der Dinge in demselben, die
gefoerderten Arbeiten der Hausleute, ihr jetziges Tun und den
allfaelligen Einfluss des heutigen stuermischen Wetters.
Bei dem Abendessen wurde, nachdem man die Nahrungsbeduerfnisse in
kurzer Zeit gestillt und heitere Gespraeche gefuehrt hatte, noch aus
einem Buche vorgelesen, das damal neu war. Es betraf groesstenteils
die Geschichte des Seidenbaues und der Seidenweberei, und besonders
wurde der Abschnitt behandelt, wie dieses Gewerbe aus dem fernsten
Morgenlande nach Syrien, nach Arabien, Egypten, Byzanz, dem
Peloponnes, nach Sicilien, Spanien, Italien und Frankreich gekommen
sei. Mein Gastfreund behauptete, dass in der Anfertigung von jenen
Prachtstoffen, die aus Seide und Gold oder Silber bestanden, was die
Feinheit und Zartheit des Gewebes, was dessen Weichheit, verbunden
mit mildem Glanze, gegen den die heutigen Stoffe dieser Art, in ihrer
Steifheit und in ihrem harten Schimmer stark abstehen, und was endlich
den Schwung, die feine Zierlichkeit und die reiche Einbildungskraft
in den Zeichnungen betrifft, die Zeit des dreizehnten und vierzehnten
Jahrhunderts den spaeteren Zeiten und besonders der unsrigen weit
vorzuziehen sei. Er habe zu spaet angefangen, diesem Zweige des
Altertumes, der beinahe ein Zweig der Kunst sei, seine Aufmerksamkeit
zu widmen. Eine Sammlung solcher Stoffe muesste merkwuerdig sein, er
koenne aber keine mehr anlegen, da sie Reisen durch ganz Europa, ja
durch nicht unbedeutende Teile von Asien und Afrika voraussetze
und wahrscheinlich die Kraefte eines einzelnen Mannes ueberschreite.
Gesellschaften oder der Staat koennten solche Sammlungen zur
Vergleichung, zur Belehrung, ja zur Bereicherung der Geschichte
selber zu Stande bringen. In reichen Abteien, in den Kleiderschreinen
alter beruehmter Kirchen, in Schatzkammern und andern Behaeltnissen
koeniglicher Burgen und groesserer Schloesser duerfte sich Vieles finden,
was dort zu entbehren waere und in einer Sammlung Sprache und Bedeutung
gewaenne. Wie viel muesste nach den Kreuzzuegen aus dem Morgenlande nach
Europa gekommen sein, da selbst einfache Ritter mit dort gewonnener
Beute an Gold und kostbaren Stoffen in die Heimat zurueckgekehrt seien
und sich Prunk ausser bei kirchlichen Feierlichkeiten, Kroenungen,
Aufzuegen, Kampfspielen auch im gewoehnlichen Verkehre mehr eingefunden
hatte, als er frueher gewesen war. Wie muesste dieser Zweig auch ein
Licht auf die mit seinem Bluehen ganz gleich laufende Zeit werfen,
in welcher jene merkwuerdigen Kirchen gebaut wurden, deren erhabene
Ueberbleibsel noch heute unsere Bewunderung erregen, wie muesste er
auch eine Beziehung eroeffnen zur Verzierungskunst jener Zeit in
Steinmetzarbeit, in Elfenbein- und Holzschnitzerei, ja zum Beginne der
spaeter bluehenden grossen Malerschulen in dem Norden und Sueden Europas,
und wie muesste er sogar auf Gedanken ueber Anschauungsweise der Voelker,
ihre Verbindungen und ihre Handelswege leiten. Tun das ja auch Muenzen,
tun es Siegel und andere, diesen untergeordnete Dinge. Roland sagte,
er wolle nun solche Stoffe zu sammeln suchen.
Wir gingen an jenem Abende spaeter auseinander als gewoehnlich.
Am anderen Morgen, als ich aufgestanden war und das beginnende Licht
einen Ausblick durch die Fenster gestattete, sah ich frischen Schnee
ueber alle Gefilde ausgebreitet, und in dichten Flocken, die um das
Glas der Fenster spielten, fiel er noch immer von dem Himmel herunter.
Der Wind hatte etwas nachgelassen, die Kaelte musste gestiegen sein.
Wir machten an diesem Tage alle zusammen einen ziemlich grossen
Spaziergang. Im Garten wurde herumgegangen, ob etwas zu richten sei,
die Gewaechshaeuser wurden besucht, in dem Meierhofe wurde nachgesehen
und Abends wurde in dem Buche, welches von der Seidenweberei handelte,
weiter gelesen. Der Schneefall hatte bis in die Daemmerung gedauert,
dann kamen heitere Stellen an dem Himmel zum Vorscheine.
Wie diese zwei Tage vergangen waren, so vergingen nun mehrere,
und mein Gastfreund begann nicht, seine Mitteilungen, welche er
versprochen hatte, zu machen. Wir hatten ausser der Zeit, die jeder in
seiner Wohnung bei seinen Arbeiten zubrachte, manche Gaenge durch die
Gegend gemacht, was um so angenehmer war, als nach den stuermischen
Tagen bei meiner Ankunft sich heiteres, stilles und kaltes Wetter
eingestellt hatte. Ich war zu mancher Zeit in der Gesellschaft meines
Gastfreundes, ich sah ihm zu, wenn er seine Voegel vor dem Fenster
fuetterte oder wenn er fuer Ernaehrung der Hasen ausserhalb der Grenze
seines Gartens sorgte, was des tiefen Schnees willen, der gefallen
war, doppelt notwendig wurde, wir hatten weitere Fahrten in dem
Schlitten gemacht, um Nachbarn zu besuchen, Manches zu besprechen oder
die freie Luft und die Bewegung zu geniessen, einmal war ich mit meinem
Gastfreunde zu einer Bruecke gefahren, die er mit mehreren Maennern
beschauen sollte, weil man vorhatte, sie im Fruehlinge neu zu bauen -
man hatte meinen Gastfreund nicht verschont und ihn mit Gemeindeaemtern
betraut -, mehrere Male waren wir in verschiedenen Teilen der Waelder
gewesen, um bei dem Faellen der Hoelzer nachzusehen, welche zum Bauen
und zur Verarbeitung in dem Schreinerhause verwendet werden sollten,
welche Faellung in dieser Jahreszeit vor sich gehen musste; wir waren
auch einmal im Inghofe gewesen und hatten die dortigen Gewaechshaeuser
besehen. Der Hausverwalter und der Gaertner hatten uns bereitwillig
und freundlich herum gefuehrt. Der Herr des Besitztums war mit seiner
Familie in der Stadt.
Eines Tages kam mein Gastfreund in meine Wohnung, was er oefter tat,
teils um mich zu besuchen, teils um nach zu sehen, ob es mir nicht an
etwas Notwendigem gebreche. Nachdem das Gespraech ueber verschiedene
Dinge eine Weile gedauert hatte, sagte er: "Ihr werdet wohl wissen,
dass ich der Freiherr von Risach bin."
"Lange wusste ich es nicht", antwortete ich, "jetzt weiss ich es schon
eine geraume Zeit."
"Habt ihr nie gefragt?"
"Ich habe nach der ersten Nacht, die ich in eurem Hause zugebracht
habe, einen Bauersmann gefragt, welcher mir die Antwort gab, ihr
seiet der Aspermeier. An demselben Tage forschte ich auch in weiterer
Entfernung, ohne etwas Genaues zu erfahren. Spaeter habe ich nie mehr
gefragt."
"Und warum habt ihr denn nie gefragt?"
"Ihr habt euch mir nicht genannt; daraus schloss ich, dass ihr nicht fuer
noetig hieltet, mir euren Namen zu sagen, und daraus zog ich fuer mich
die Massregel, dass ich euch nicht fragen duerfe, und wenn ich euch nicht
fragen durfte, durfte ich es auch einen andern nicht."
"Man nennt mich hier in der ganzen Gegend den Asperherrn", antwortete
er, "weil es bei uns gebraeuchlich ist, den Besitzer eines Gutes nach
dem Gute, nicht nach seiner Familie zu benennen. Jener Name erbt in
Hinsicht aller Besitzer bei dem Volke fort, dieser aendert sich bei
einer Aenderung des Besitzstandes, und da musste das Volk stets wieder
einen neuen Namen erlernen, wozu es viel zu beharrend ist. Einige
Landleute nennen mich auch den Aspermeier, wie mein Vorgaenger geheissen
hat."
"Ich habe einmal zufaellig euren richtigen Namen nennen gehoert", sagte
ich.
"Ihr werdet dann auch wissen, dass ich in Staatsdiensten gestanden
bin", erwiderte er.
"Ich weiss es", sagte ich.
"Ich war fuer dieselben nicht geeignet", antwortete er.
"Dann sagt ihr etwas, dem alle Leute, die ich bisher ueber euch gehoert
habe, widersprechen. Sie loben eure Staatslaufbahn insgesammt",
erwiderte ich.
"Sie sehen vielleicht auf einige einzelne Ergebnisse", antwortete er,
"aber sie wissen nicht, mit welchem Ungemache des Entstehens diese aus
meinem Herzen gekommen sind. Sie koennen auch nicht wissen, wie die
Ergebnisse geworden waeren, wenn ein Anderer von gleicher Begabung,
aber von groesserer Gemuetseignung fuer den Staatsdienst, oder wenn gar
einer von auch noch groesserer Begabung sie gefoerdert haette."
"Das kann man von jedem Dinge sagen", erwiderte ich.
"Man kann es", antwortete er, "dann soll man aber das, was nicht
gerade misslungen ist, auch nicht sogleich loben. Hoert mich an. Der
Staatsdienst oder der Dienst des allgemeinen Wesens ueberhaupt, wie er
sich bis heute entwickelt hat, umfasst eine grosse Zahl von Personen. Zu
diesem Dienste wird auch von den Gesetzen eine gewisse Ausbildung und
ein gewisser Stufengang in Erlangung dieser Ausbildung gefordert und
muss gefordert werden. Je nachdem nun die Hoffnung vorhanden ist,
dass einer nach Vollendung der geforderten Ausbildung und ihres
Stufenganges sogleich im Staatsdienste Beschaeftigung finden und dass
er in einer entsprechenden Zeit in jene hoeheren Stellen empor ruecken
werde, welche einer Familie einen anstaendigen Unterhalt gewaehren,
widmen sich mehr oder wenigere Juenglinge der Staatslaufbahn. Aus der
Zahl derer, welche mit gutem Erfolge den vorgeschriebenen Bildungsweg
zurueckgelegt haben, waehlt der Staat seine Diener und muss sie im Ganzen
daraus waehlen. Es ist wohl kein Zweifel, dass auch ausserhalb dieses
Kreises Maenner von Begabung fuer den Staatsdienst sind, von grosser
Begabung, ja von ausserordentlicher Begabung; aber der Staat kann
sie, jene ungewoehnlichen Faelle abgerechnet, wo ihre Begabung durch
besondere Zufaelle zur Erscheinung gelangt und mit dem Staate in
Wechselwirkung geraet, nicht waehlen, weil er sie nicht kennt und weil
das Waehlen ohne naehere Kenntnis und ohne die vorliegende Gewaehr der
erlangten vorgeschriebenen Ausbildung Gefahr drohte und Verwirrung und
Missleitung in die Geschaefte bringen koennte.
Wie nun diejenigen, welche die Vorbereitungsjahre zurueckgelegt haben,
beschaffen sind, so muss sie der Staat nehmen. Oft sind selbst grosse
Begabungen in groesserer Zahl darunter, oft sind sie in geringerer,
oft ist im Durchschnitte nur Gewoehnlichkeit vorhanden. Auf diese
Beschaffenheit seines Personenstoffes musste nun der Staat die
Einrichtung seines Dienstes gruenden. Der Sachstoff dieses Dienstes
musste eine Fassung bekommen, die es moeglich macht, dass die zur
Erreichung des Staatszweckes noetigen Geschaefte fortgehen und keinen
Abbruch und keine wesentliche Schwaechung erleiden, wenn bessere oder
geringere einzelne Kraefte abwechselnd auf die einzelnen Stellen
gelangen, in denen sie taetig sind. Ich koennte ein Beispiel gebrauchen
und sagen, jene Uhr waere die vortrefflichste, welche so gebaut
waere, dass sie richtig ginge, wenn auch ihre Teile veraendert wuerden,
schlechtere an die Stelle besserer, bessere an die Stelle schlechterer
kaemen. Aber eine solche Uhr duerfte kaum moeglich sein. Der Staatsdienst
musste sich aber so moeglich machen oder sich nach der Entwicklung,
die er heute erlangt hat, aufgeben. Es ist nun einleuchtend, dass die
Fassung des Dienstes eine strenge sein muss, dass es nicht erlaubt sein
koenne, dass ein Einzelner den Dienstesinhalt in einer andern Fassung
als in der vorgeschriebenen anstrebe, ja dass sogar mit Ruecksicht auf
die Zusammenhaltung des Ganzen ein Einzelnes minder gut verrichtet
werden muss, als man es, von seinem Standpunkte allein betrachtet, tun
koennte. Die Eignung zum Staatsdienste von Seite des Gemuetes, abgesehen
von den andern Faehigkeiten, besteht nun auch in wesentlichen Teilen
darin, dass man entweder das Einzelne mit Eifer zu tun im Stande ist,
ohne dessen Zusammenhang mit dem grossen Ganzen zu kennen, oder dass man
Scharfsinn genug hat, den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen
zum Wohle und Zwecke des Allgemeinen einzusehen und dass man dann
dieses Einzelne mit Lust und Begeisterung vollfuehrt. Das letztere
tut der eigentliche Staatsmann, das erste der sogenannte gute
Staatsdiener. Ich war keins von beiden. Ich hatte von Kindheit an,
freilich ohne es damals oder in den Jugendjahren zu wissen, zwei
Eigenschaften, die dem Gesagten geradezu entgegen standen. Ich war
erstens gerne der Herr meiner Handlungen. Ich entwarf gerne das Bild
dessen, was ich tun sollte, selbst und vollfuehrte es auch gerne mit
meiner alleinigen Kraft. Daraus folgte, dass ich schon als Kind, wie
meine Mutter erzaehlte, eine Speise, ein Spielzeug und dergleichen
lieber nahm als mir geben liess, dass ich gegen Hilfe widerspenstig
war, dass man mich als Knaben und Juengling ungehorsam und eigensinnig
nannte, und dass man in meinen Maennerjahren mir Starrsinn vorwarf. Das
hinderte aber nicht, dass ich dort, wo mir ein Fremdes durch Gruende und
hohe Triebfedern unterstuetzt gegeben wurde, dasselbe als mein Eigenes
aufnahm und mit der tiefsten Begeisterung durchfuehrte. Das habe ich
einmal in meinem Leben gegen meine staerkste Neigung, die ich hatte,
getan, um der Ehre und der Pflicht zu genuegen. Ich werde es euch
spaeter erzaehlen. Daraus folgt, dass ich eigensinnig in der Bedeutung
des Wortes, wie man es gewoehnlich nimmt, nicht gewesen bin und es auch
im Alter, in dem man ueberhaupt immer milder wird, gewiss nicht bin.
Eine zweite Eigenschaft von mir war, dass ich sehr gerne die Erfolge
meiner Handlungen abgesondert von jedem Fremdartigen vor mir haben
wollte, um klar den Zusammenhang des Gewollten und Gewirkten
ueberschauen und mein Tun fuer die Zukunft regeln zu koennen. Eine
Handlung, die nur gesetzt wird, um einer Vorschrift zu genuegen oder
eine Fassung zu vollenden, konnte mir Pein erregen. Daraus folgte, dass
ich Taten, deren letzter Zweck ferne lag oder mir nicht deutlich war,
nur laessig zu vollfuehren geneigt war, waehrend ich Handlungen, wenn ihr
Ziel auch sehr schwer und nur durch viele Mittelglieder zu erreichen
war, mit Eifer und Lust zu Ende fuehrte, sobald ich mir nur den
Hauptzweck und die Mittelzwecke deutlich machen und mir aneignen
konnte. Im ersten Falle vermochte ich es mir nur durch die
Vorstellung, dass der Zweck wenn auch dunkel, doch ein hoher sei,
abzuringen, dass ich mit aller Kraft an das Werk ging, wobei ich aber
immer zum Eilen geneigt war, weshalb man mich auch ungeduldig schalt:
im zweiten Falle gingen die Kraefte von selber an das Werk, und es
wurde mit der groessten Ausdauer und mit Verwendung aller gegebenen Zeit
zu Stande gebracht, weshalb man mich auch wieder hartnaeckig nannte.
Ihr werdet in diesem Hause Dinge gesehen haben, aus denen euch klar
geworden ist, dass ich Zwecke auch mit grosser Geduld verfolgen kann.
Sonderbar ist es ueberhaupt und duerfte von groesserer Bedeutung sein, als
man ahnt, dass mit dem zunehmenden Alter die Weitaussichtigkeit der
Plaene waechst, man denkt an Dinge, die unabsehliche Strecken jenseits
alles Lebenszieles liegen, was man in der Jugend nicht tut, und das
Alter setzt mehr Baeume und baut mehr Haeuser als die Jugend. Ihr seht,
dass mir zwei Hauptdinge zum Staatsdiener fehlen, das Geschick zum
Gehorchen, was eine Grundbedingung jeder Gliederung von Personen und
Sachen ist, und das Geschick zu einer taetigen Einreihung in ein Ganzes
und kraeftiger Arbeit fuer Zwecke, die ausser dem Gesichtskreise liegen,
was nicht minder eine Grundbedingung fuer jede Gliederung ist. Ich
wollte immer am Grundsaetzlichen aendern und die Pfeiler verbessern,
statt in einem Gegebenen nach Kraeften vorzugehen, ich wollte die
Zwecke allein entwerfen und wollte jede Sache so tun, wie sie fuer sich
am besten ist, ohne auf das Ganze zu sehen und ohne zu beachten, ob
nicht durch mein Vorgehen anderswo eine Luecke gerissen werde, die mehr
schadet als mein Erfolg nuetzt. Ich wurde, da ich noch kaum mehr als
ein Knabe war, in meine Laufbahn gefuehrt, ohne dass ich sie und mich
kannte, und ich ging in derselben fort, so weit ich konnte, weil ich
einmal in ihr war und mich schaemte, meine Pflicht nicht zu tun. Wenn
einiges Gute durch mich zu Stande kam, so ruehrt es daher, dass ich
einerseits in Betrachtung meines Amtes und seiner Gebote meinen
Kraeften eine moegliche Taetigkeit abrang und dass andererseits die
Zeitereignisse solche Aufgaben herbei fuehrten, bei denen ich die Plaene
des Handelns entwerfen und selber durchfuehren konnte. Wie tief aber
mein Wesen litt, wenn ich in Arten des Handelns, die seiner Natur
entgegengesetzt sind, begriffen war, das kann ich euch jetzt kaum
ausdruecken, noch waere ich damals im Stande gewesen, es auszudruecken.
Mir fiel in jener Zeit immer und unabweislich die Vergleichung ein,
wenn etwas, das Flossen hat, fliegen, und etwas, das Fluegel hat,
schwimmen muss. Ich legte deshalb in einem gewissen Lebensalter meine
Aemter nieder. Wenn ihr fragt, ob es denn notwendig sei, dass sich in
der Gliederung des Staatsdienstes eine so grosse Anzahl von Personen
befinde, und ob man nicht einen Teil der allgemeinen Geschaefte, wie
sie jetzt sind, zu besonderen Geschaeften machen und sie besonderen
Koerperschaften oder Personen, die sie hauptsaechlich angehen,
ueberlassen koennte, wodurch eine groessere Uebersicht in den Staatsdienst
kaeme und wodurch es moeglich wuerde, dass sich hervorragende Begabungen
mehr im Entwerfen und Vollfuehren von Plaenen zu allgemeinem Besten
geltend machen koennten: so antworte ich: diese Frage ist allerdings
eine wichtige und ihre richtige Beantwortung von der groessten
Bedeutung; aber eben die richtige Beantwortung in allen ihren
Einzelnheiten duerfte eine der schwersten Aufgaben sein, und ich
getraue mir nicht, von mir zu behaupten, dass ich diese richtige
Beantwortung zu geben im Stande waere. Auch liegt dieser Gegenstand
unserem heutigen Gespraeche zu ferne, und wir koennen ein anderes Mal
von ihm reden, so weit wir im Urteile ueber ihn zu kommen vermoegen.
Das ist gewiss: wenn auch im gegenwaertigen Staatsdienste Veraenderungen
notwendig sein sollten, und wenn die Veraenderungen in dem frueher
angefuehrten Sinne vor sich gehen werden, so hat der gegenwaertige
Zustand doch in den allgemeinen Umwandlungen, denen der Staat so wie
jedes menschliche Ding und die Erde selbst unterworfen ist, sein
Recht, er ist ein Glied der Kette und wird seinem Nachfolger so
weichen, wie er selber aus seinem Vorlaeufer hervor gegangen ist. Wir
haben schon vielmal ueber Lebensberuf gesprochen, und dass es so schwer
ist, seine Kraefte zu einer Zeit zu kennen, in welcher man ihnen ihre
Richtung vorzeichnen, das heisst, einen Lebensweg waehlen muss. Wir
hatten bei unsern Gespraechen hauptsaechlich die Kunst im Auge, aber
auch von jeder andern Lebensbeschaeftigung gilt dasselbe. Selten sind
die Kraefte so gross, dass sie sich der Betrachtung aufdraengen und
die Angehoerigen eines jungen Menschen zur Ergreifung des rechten
Gegenstandes fuer ihn fuehren, oder dass sie selber mit grosser Gewalt
ihren Gegenstand ergreifen. Ich hatte ausser den Eigenschaften meines
Geistes, die ich euch eben darlegte, noch eine besondere, deren
Wesenheit ich erst sehr spaet erkannte. Von Kindheit an hatte ich einen
Trieb zur Hervorbringung von Dingen, die sinnlich wahrnehmbar sind.
Blosse Beziehungen und Verhaeltnisse sowie die Abziehung von Begriffen
hatten fuer mich wenig Wert, ich konnte sie in die Versammlung der
Wesen meines Hauptes nicht einreihen. Da ich noch klein war, legte ich
allerlei Dinge aneinander und gab dem so Entstandenen den Namen einer
Ortschaft, den ich etwa zufaellig oefter gehoert hatte, oder ich bog eine
Gerte, einen Blumenstengel und dergleichen zu einer Gestalt und gab
ihr einen Namen, oder ich machte aus einem Fleckchen Tuch den Vetter,
die Muhme; ja sogar jenen abgezogenen Begriffen und Verhaeltnissen,
von denen ich sprach, gab ich Gestalten und konnte sie mir merken.
So erinnere ich mich noch jetzt, dass ich als Kind oefter das Wort
Kriegswerbung hoerte. Wir bekamen damals einen neuen Ahorntisch, dessen
Plattenteile durch dunkelfarbige Holzkeile an einander gehalten
wurden. Der Querschnitt dieser Keile kam als eine dunkle Gestalt an
der Dicke der Platte quer ueber die Fuge zum Vorscheine, und diese
Gestalt hiess ich die Kriegswerbung. Diese sinnliche Regung, die wohl
alle Kinder haben, wurde bei mir, da ich heran wuchs, immer deutlicher
und staerker. Ich hatte Freude an allem, was als Wahrnehmbares
hervorgebracht wurde, an dem Keimen des ersten Graesleins, an dem
Knospen der Gestraeuche, an dem Bluehen der Gewaechse, an dem ersten
Reife, der ersten Schneeflocke, an dem Sausen des Windes, dem Rauschen
des Regens, ja an dem Blitze und Donner, obwohl ich beide fuerchtete.
Ich ging zusehen, wenn die Zimmerleute Holz aushauten, wenn eine
Huette gezimmert, ein Brett angenagelt wurde. Ja, die Worte, die einen
Gegenstand sinnlich vorstellbar bezeichneten, waren mir weit lieber
als die, welche ihn nur allgemein angaben. So zum Beispiele traf
es mich viel maechtiger, wenn jemand sagte: der Graf reitet auf dem
Schecken, als: er reitet auf einem Pferde. Ich zeichnete mit einem
Rotstifte Hirsche, Reiter, Hunde, Blumen, mit Vorliebe aber Staedte,
von denen ich ganz wunderbare Gestalten zusammensetzte. Ich machte aus
feuchtem Lehm Pallaeste, aus Holzrinde Altaere und Kirchen. Ich nenne
diesen Trieb Schaffungslust. Er ist bei vielen Menschen mehr oder
minder vorhanden. Eine noch groessere Zahl aber hat die Bewahrungslust,
von der der Geiz eine haessliche Abart ist. Selbst in spaeteren Jahren
trat diese Lust nicht zurueck. Da ich einmal an unserem schoenen Strome
zu wohnen kam und im ersten Winter zum ersten Male das Treibeis sah,
konnte ich mich nicht satt sehen an dem Entstehen desselben und
an dem gegenseitigen Anstossen und Abreiben der mehr oder minder
runden Kuchen. Selbst in den naechstfolgenden Wintern stand ich oft
stundenlange an dem Ufer und sah den Eisbildungen zu, besonders der
Entstehung des Standeises. Das, was Vielen so unangenehm ist, das
Verlassen einer Wohnung und das Beziehen einer andern, machte mir
Lust. Mich freute das Einpacken, das Auspacken und die Instandsetzung
der neuen Raeume. In den Juenglingsjahren trat eine weitere Seite dieses
Triebes hervor. Ich liebte nicht bloss Gestalten, sondern ich liebte
schoene Gestalten. Dies war wohl auch schon in dem Kindertriebe
vorhanden. Rote Farben, sternartige oder vielverschlungene Dinge
sprachen mich mehr an als andere. Es kam aber diese Eigenschaft damals
weniger zum Bewusstsein. Als Juengling begehrte ich die Gestalten wie
sie als Koerper aus der Bildhauerei und Baukunst hervor gehen, als
Flaechen, Linien und Farben aus der Malerei, als Folge der Gefuehle in
der Musik, der menschlich sittlichen und der irdisch merkwuerdigen
Zustaende in der Dichtkunst. Ich gab mich diesen Gestalten mit
Waerme hin und verlangte Gebilde, die ihnen aehnlich sind im Leben.
Felsen, Berge, Wolken, Baeume, die ihnen glichen, liebte ich, die
entgegengesetzten verachtete ich. Menschen, menschliche Handlungen und
Verhaeltnisse, die ihnen entsprachen, zogen mich an, die andern stiessen
mich ab. Es war, ich erkannte es spaet, im Grunde die Wesenheit eines
Kuenstlers, die sich in mir offenbarte und ihre Erfuellung heischte. Ob
ich ein guter oder ein mittelmaessiger Kuenstler geworden waere, weiss ich
nicht. Ein grosser aber wahrscheinlich nicht, weil dann nach allem
Vermuten doch die Begabung durchgebrochen waere und ihren Gegenstand
ergriffen haette. Vielleicht irre ich mich auch darin, und es war mehr
bloss die Anlage des Kunstverstaendnisses, was sich offenbarte, als die
der Kunstgestaltung. Wie das aber auch ist: in jedem Falle waren die
Kraefte, die sich in mir regten, dem Wirken eines Staatsdieners eher
hinderlich als foerderlich. Sie verlangten Gestalten und bewegten
sich um Gestalten. So wie aber der Staat selber die Ordnung der
gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen ist, also nicht eine
Gestalt, sondern eine Fassung: so beziehen sich die Ergebnisse der
Arbeiten der Staatsmaenner meist auf Beziehungen und Verhaeltnisse der
Staatsglieder oder der Staaten, sie liefern daher Fassungen, nicht
Gestalten. So wie ich in der Kindheit oft den abgezogenen Begriffen
eine Gestalt leihen musste, um sie halten zu koennen, so habe ich oft in
gereiften Jahren im Staatsdienste, wenn es sich um Staatsbeziehungen,
um Forderungen anderer Staaten an uns oder unseres Staates an andere
handelte, mir die Staaten als einen Koerper und eine Gestalt gedacht
und ihre Beziehungen dann an ihre Gestalten angeknuepft. Auch habe ich
nie vermocht, die blossen eigenen Beziehungen oder den Nutzen unseres
Staates allein als das hoechste Gesetz und die Richtschnur meiner
Handlungen zu betrachten. Die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an
sich sind, war bei mir so gross, dass ich bei Verwicklungen, streitigen
Anspruechen und bei der Notwendigkeit, manche Sachen zu ordnen, nicht
auf unsern Nutzen sah, sondern auf das, was die Dinge nur fuer sich
forderten und was ihrer Wesenheit gemaess war, damit sie das wieder
werden, was sie waren, und das, was ihnen genommen wurde, erhalten,
ohne welchem sie nicht sein koennen, was sie sind. Diese meine
Eigenschaft hat mir manchen Kummer bereitet, sie hat mir hohen Tadel
zugezogen; aber sie hat mir auch Achtung und Anerkennung eingebracht.
Wenn meine Meinung angenommen und ins Werk gesetzt worden war, so
hatte die neue Ordnung der Dinge, weil sie auf das Wesentliche ihrer
Natur gegruendet war, Bestand, sie brachte in so ferne, weil wir
vor erneuerten Unordnungen, also vor wiederholter Kraftanstrengung
geschuetzt waren, unserem Staate einen groesseren Nutzen, als wenn
wir frueher den einseitigen angestrebt haetten, und ich erhielt
Ehrenzeichen, Lob und Befoerderung. Wenn ich in jenen Tagen der
schweren Arbeit eine Ruhezeit hatte und auf einer kleinen Reise die
erhabene Gestalt eines Berges sah oder eine Huegelreihe sich tuermender
Wolken oder die blauen Augen eines freundlichen Landmaedchens oder den
schlanken Koerper eines Juenglings auf einem schoenen Pferde - oder wenn
ich auch nur in meinem Zimmer vor meinen Gemaelden stand, deren ich
damals schon manche sammelte, oder vor einer kleinen Bildsaeule, so
verbreitete sich eine Ruhe und ein Wohlbehagen ueber mein Inneres,
als waere es in seine Ordnung gerueckt worden. Wenn ein kuenstlerisches
Gestaltungsvermoegen in mir war, so war es das eines Baumeisters oder
eines Bildhauers oder auch noch das eines Malers, gewiss aber nicht das
eines Dichters oder gar eines Tonsetzers. Die ersteren Gegenstaende
zogen mich immer mehr an, die letzteren standen mir ferner. Wenn es
aber mehr eine Kunstliebe war, was sich in mir aeusserte, nicht eine
Schoepfungskraft, so war es immerhin auch ein Vermoegen der Gestalten,
aber nur eines, die Gestalten aufzunehmen. Wenn diese Art von
Eigentuemlichkeit den Besitzer zunaechst beglueckt, wie ja jede Kraft,
selbst die Schaffungskraft, zuerst ihres Besitzers willen da ist,
so bezieht sie sich doch auch auf andere Menschen, wie in zweiter
Hinsicht jede Kraft, selbst die eigenste eines Menschen, nicht in ihm
verschlossen bleiben kann, sondern auf andere uebergeht. Es ist eine
sehr falsche Behauptung, die man aber oft hoert, dass jedes grosse
Kunstwerk auf seine Zeit eine grosse Wirkung hervorbringen muesse, dass
ferner das Werk, welches eine grosse Wirkung hervor bringt, auch ein
grosses Kunstwerk sei, und dass dort, wo bei einem Werke die Wirkung
ausbleibt, von einer Kunst nicht geredet werden kann. Wenn irgend ein
Teil der Menschheit, ein Volk, rein und gesund am Leibe und an der
Seele ist, wenn seine Kraefte gleichmaessig entwickelt, nicht aber nach
einer Seite unverhaeltnismaessig angespannt und taetig sind, so nimmt
dieses Volk ein reines und wahres Kunstwerk treu und warm in sein
Herz auf, wozu es keiner Gelehrsamkeit, sondern nur seiner schlichten
Kraefte bedarf, die das Werk als ein ihnen Gleichartiges aufnehmen und
hegen. Wenn aber die Begabungen eines Volkes, und seien sie noch so
hoch, nach einer Richtung hin in weiten Raeumen voraus eilen, wenn sie
gar auf blosse Sinneslust oder auf Laster gerichtet sind, so muessen
die Werke, welche eine grosse Wirkung hervor bringen sollen, auf jene
Richtung, in der die Kraefte vorzugsweise taetig sind, hinzielen, oder
sie muessen Sinneslust und Laster darstellen. Reine Werke sind einem
solchen Volke ein Fremdes, es wendet sich von ihnen. Daher ruehrt
die Erscheinung, dass edle Werke der Kunst ein Zeitalter ruehren und
begeistern koennen, und dass dann ein Volk koemmt, dem sie nicht mehr
sprechen. Sie verhuellen ihr Haupt und harren bis andere Geschlechter
an ihnen vorueber wandeln, die wieder reines Sinnes sind und zu ihnen
empor blicken. Diesen laecheln sie und von diesen werden sie wieder wie
heruebergerettete Heiligtuemer in Tempel gebracht. In entarteten Voelkern
blueht zuweilen, aber sehr selten, ein reines Werk wie ein vereinsamter
Strahl hervor, es wird nicht beachtet und wird spaeter von einem
Menschenforscher entdeckt, wie jener Gerechte in Sodoma. Damit aber
der Dienst der Kunst leichter werde, sind in jedem Zeitalter solche,
denen ein tieferer Sinn fuer Kunstwerke gegeben ward, sie sehen mit
klarerem Auge in ihre Teile, nehmen sie mit Waerme und Freude in
ihr Herz und uebergeben sie so ihren Mitmenschen. Wenn man die
Erschaffenden Goetter nennt, so sind jene die Priester dieser Goetter.
Sie verzoegern den Schritt des Unheiles, wenn der Kunstdienst zu
verfallen beginnt, und sie tragen, wenn es nach der Finsternis wieder
hell werden soll, die Leuchte voran. Wenn ich nun ein solcher war,
wenn ich bestimmt war, durch Anschauung hoher Gestalten der Kunst
und der Schoepfung, die mir ja immer mit freundlichen Augen zugewinkt
haben, Freude in mein Herz zu sammeln, und Freude, Erkenntnis und
Verehrung der Gestalten auf meine Mitmenschen zu uebertragen, so war
mir meine Staatslaufbahn in diesem Berufe wieder sehr hinderlich, und
duerftige Spaetblueten koennen den Sommer, dessen kraeftige Luefte und warme
Sonne unbenutzt vorueber gingen, nicht ersetzen. Es ist traurig, dass
man sich nicht so leicht den Weg, der der vorzueglichste in jedem Leben
sein soll, waehlen kann. Ich wiederhole, was wir oft gesagt haben und
womit euer ehrwuerdiger Vater auch uebereinstimmt, dass der Mensch seinen
Lebensweg seiner selbst willen zur vollstaendigen Erfuellung seiner
Kraefte waehlen soll. Dadurch dient er auch dem Ganzen am Besten, wie
er nur immer dienen kann. Es waere die schwerste Suende, seinen Weg nur
ausschliesslich dazu zu waehlen, wie man sich so oft ausdrueckt, der
Menschheit nuetzlich zu werden. Man gaebe sich selber auf und muesste in
den meisten Faellen im eigentlichen Sinne sein Pfund vergraben. Aber
was ist es mit der Wahl? Unsere gesellschaftlichen Verhaeltnisse sind
so geworden, dass zur Befriedigung unserer stofflichen Beduerfniese ein
sehr grosser Aufwand gehoert. Daher werden junge Leute, ehe sie sich
selber bewusst werden, in Laufbahnen gebracht, die ihnen den Erwerb
dessen, was sie zur Befriedigung der angefuehrten Beduerfnisse brauchen,
sichern. Von einem Berufe ist da nicht die Rede. Das ist schlimm,
sehr schlimm, und die Menschheit wird dadurch immer mehr eine Herde.
Wo noch eine Wahl moeglich ist, weil man nicht nach sogenanntem
Broderwerbe auszugehen braucht, dort sollte man sich seiner Kraefte
sehr klar bewusst werden, ehe man ihnen den Wirkungskreis zuteilt. Aber
muss man nicht in der Jugend waehlen, weil es sonst zu spaet ist? Und
kann man sich in der Jugend immer seiner Kraft bewusst werden? Es ist
schwierig, und moegen, die beteiligt sind, darueber wachen, dass weniger
leichtsinnig verfahren werde. Lasset uns ueber diesen Gegenstand
abbrechen. Ich wollte euch das, was ich gesagt habe, sagen, ehe ich
euch erzaehle, wie ich mit den Angehoerigen eurer kuenftigen Braut
zusammenhaenge. Ich sagte es euch, damit ihr ungefaehr den Stand
beurteilen koennt, auf dem ich nun stehe. Wir wollen zur Fortsetzung
eine andere Zeit bestimmen."
Nach diesen Worten ging das Gespraech auf andere Gegenstaende ueber, wir
machten dann auch einen Spaziergang, dem sich auch Gustav zugesellte.
Der Rueckblick
Ohne dass ich eine naehere oder entferntere Aufforderung oder Bitte
gemacht haette, fuhr mein Gastfreund nach Verlauf eines Tages in seinen
Mitteilungen fort. Er hatte gefragt, ob er eine Zeit in meinem Zimmer
zubringen duerfe, und ich hatte es begreiflicher Weise bejaht. Wir
sassen an einem angenehmen und stillen Feuer, das von sehr grossen und
dichten Buchenkloetzen unterhalten wurde, er lehnte sich in seinem
Polsterstuhle zurueck und sagte: "Ich moechte, wenn es euch genehm ist,
heute meine Mitteilungen an euch vollenden. Ich habe Sorge getragen,
dass wir nicht gestoert werden, ihr duerft nur sagen, ob ihr mich hoeren
wollt."
"Ihr wisst, dass es mir nicht nur angenehm, sondern auch meine Pflicht
ist", antwortete ich.
"Zuerst muss ich von mir erzaehlen", begann er, "es duerfte so notwendig
sein. Ich bin im Dorfe Dallkreuz in dem sogenannten Hinterwalde
geboren worden. Ihr wisst, dass der Name Hinterwald nicht mehr so viel
zu bedeuten hat, als er sagt. Einmal war er wie ueber die ganze Gegend,
welche von unserem Strome als ein Gebilde von Huegeln nordwaerts geht,
auch ueber die Gruende von Dallkreuz verbreitet. Dallkreuz war damals
nicht, und sein Entstehen mochte mit dem Aufschlagen von einigen
Holzarbeiterhuetten begonnen haben. Jetzt sind Felder, Wiesen und
Weiden ueber das ganze Huegelland gebreitet, und einige Reste der alten
Waldungen schauen ernst auf diese Gruende herab. Das Haus meines Vaters
stand ausserhalb des Ortes in der Naehe einiger anderer, war aber doch
frei genug, um auf Wiesen, Felder, Gaerten und im Sueden auf ein sehr
schoenes blaues Waldband zu sehen. Als ich ein Knabe von zehn Jahren
war, kannte ich alle Baeume und Gestraeuche der Gegend und konnte
sie nennen, ich kannte die vorzueglichsten Pflanzen und Gesteine,
ich kannte alle Wege, wusste, wohin sie fuehrten und war in allen
benachbarten Orten schon gewesen, die sie beruehren. Ich kannte
alle Hunde von Dallkreuz, wusste, welche Farben sie hatten, wie sie
hiessen und wem sie gehoerten. Ich liebte die Wiesen, die Felder, die
Gestraeuche, unser Haus ausserordentlich, und unsere Kirchenglocken
daeuchten mir das Lieblichste und Anmutigste, was es nur auf Erden
geben kann. Meine Eltern lebten in Frieden und Eintracht, ich hatte
noch eine Schwester, welche meine Knabenfahrten mit mir machen
musste. Zu unserem Hause, das nur ein Erdgeschoss hatte, welches aber
schneeweiss war und weithin in dem Gruen leuchtete, gehoerten Wiesen,
Felder und Waeldchen. Der Vater liess aber das durch Knechte verwalten,
er selber trieb einen Handel mit Flachs und Linnen, der ihn auf
vielfache Reisen fuehrte. Ich wurde, da ich noch ein Kind war, zu dem
Erben dieser Dinge bestimmt, sollte aber vorher auf einer Lehranstalt
die notwendige Ausbildung bekommen. Der Vater hatte, als dessen
Eltern, die ich nur wenig gekannt hatte, gestorben waren, keine
Verwandten mehr. Meine Mutter, die der Vater von ferne her geholt
hatte, hatte noch einen Bruder, der aber mit ihr, weil sie als von
einem wohlhabenden Hause stammend eine Verbindung unter ihrem Stande,
wie er sich ausdrueckte, geschlossen hatte, zerfallen war und durch
nichts versoehnt werden konnte. Wir wussten nichts von ihm, man vermied
es, seiner Erwaehnung zu tun, und oft in einem ganzen Jahre wurde sein
Name nicht genannt. Die Zustaende meines Vaters aber bluehten empor,
und er war fast der Angesehenste in der Gegend. In dem Jahre, nach
dessen Ende ich in die Lehranstalt abgehen sollte, trafen mehrere
Ungluecksfaelle ein. Hagelschaden verwuestete die Felder, ein Teil des
Gebaeudes brannte ab, und als das alles wieder hergestellt und in
das Geleise gebracht worden war, starb der Vater eines ploetzlichen,
unvorhergesehenen Todes. Ein laessiger Vormund, hinterlistige
Handelsfreunde, welche zweifelhafte Forderungen stellten, und ein
ungluecklicher Prozess, der daraus entsprang, brachten fuer die Mutter
eine Lage herbei, in welcher sie mit Sorgen fuer unsere Zukunft zu
kaempfen hatte. Sie war, da man endlich alles zur Ruhe gebracht hatte,
auf das Notduerftigste beschraenkt. Ich musste im Herbste das geliebte
Haus, das geliebte Tal und die geliebten Angehoerigen verlassen. Mit
aermlicher Ausstattung ging ich an der Hand eines groesseren Schuelers zu
Fuss den ziemlich weiten Weg in die Lehranstalt. Dort gehoerte ich zu
den Duerftigsten. Aber die Mutter sandte das, was sie senden konnte,
so genau und zu rechter Zeit, dass ich nie viel, aber doch das zum
Bestehen Noetige hatte. Es war an der Anstalt Sitte, dass die Knaben
in den hoeheren Abteilungen denen in den niedreren ausserordentlichen
Unterricht erteilten und dafuer ein Entgelt bekamen. Da ich einer der
besten Schueler war, so wurden mir in meinem vierten Lehrjahre schon
einige Knaben zum Unterrichten zugeteilt, und ich konnte der Mutter
die Auslagen fuer mich erleichtern. Nach zwei Jahren erwarb ich mir
bereits so viel, dass ich meinen ganzen Unterhalt selbst bestreiten
konnte. Jede Jahresferien brachte ich bei der Mutter und Schwester in
dem weissen Hause zu. Von dem Antreten des Hauses als Erbschaft war
nun keine Rede mehr. Ich dachte, ich werde mir durch meine Kenntnisse
eine Stellung verschaffen und das Haus und den Grundbesitz einmal als
Notpfennig der Schwester ueberlassen. So war die Zeit heran gekommen,
in welcher ich mich fuer einen Lebensberuf entscheiden musste. Die
damals uebliche Vorbereitungsschule, die ich eben zurueckgelegt hatte,
fuehrte nur zu einigen Lebensstellungen und machte zu andern eher
untauglich als tauglich. Ich entschloss mich fuer den Staatsdienst, weil
mir die andern Stufen, zu denen ich von meinen jetzigen Kenntnissen
emporsteigen konnte, noch weniger zusagten. Meine Mutter konnte mir
mit keinem Rate beistehen. Ich hatte mir ein kleines Suemmchen durch
ausserordentliche Sparsamkeit zusammengelegt. Mit diesem und tausend
Segenswuenschen der Mutter versehen und mit den Abschiedstraenen der
geliebten Schwester benetzt begab ich mich auf die Reise in die Stadt.
Zu Fusse wanderte ich durch unser Tal hinaus, und suchte durch allerlei
Betrachtungen die Traenen zu ersticken, welche mir immer in die Augen
steigen wollten. Als unsere Waeldergestalten hinter mir lagen, als
die Herbstsonne schon auf ganz andere Felder schien, als ich durch
meine Jugend hindurch gesehen hatte, wurde mein Gemuet nach und nach
leichter, und ich durfte nicht mehr fuerchten, dass mir jeder, der
mir begegnete, ansehen koenne, dass mir das Weinen so nahe sei. Die
Entschlossenheit, welche mir eingegeben hatte, in die grosse Stadt zu
gehen und dort mein Heil in dem Berufe eines Staatsdieners zu suchen,
liess mich immer fester und rascher meinen Weg verfolgen und tausend
glaenzende Schloesser in die Luft bauen. Als ich an jenem Rande
angekommen war, wo unser hoeheres Land in grossen Absaetzen gegen den
Strom hinabgeht und ganz andere Gestaltungen anfangen, sah ich
noch einmal um, segnete das Mutterherz, das nun beinahe schon eine
Tagereise weit hinter mir lag, streichelte gleichsam mit den Fingern
die schoenen, langwimperigen Augenlider der Schwester, die immer etwas
blass aussah, segnete unser weisses Haus mit dem roten Dache, segnete
all die Felder und Waeldchen, die hinter mir lagen und die ich
durchwandelt hatte, und stieg, nun wirklich schwere Traenen in den
Augen tragend, in den tiefen Weg hinunter, welcher damals unter
hohem Laubdache hingehend einen der Paesse ausmachte, die das rauhere
Oberland mit dem tiefen Stromlande verbinden. Ich konnte nun, nachdem
ich drei Schritte gemacht hatte, die Gestaltungen meines Geburtslandes
nicht mehr sehen, nur sein Rand war alles, was meine Augen erreichen
konnten und was mich noch lange begleiten wuerde. Ganz andere Bildungen
lagen vor mir. Es war mir, ich muesse umkehren, um nur noch einmal
zurueck schauen zu koennen. Ich tat es aber nicht, weil ich mich vor mir
selber schaemte, und ich ging beeiligten Schrittes den Weg hinunter
und immer tiefer hinunter. Ich durfte auch nichts verzoegern, wenn ich
vor Einbruch der Nacht noch zu dem Strome hinunter gelangen wollte,
auf dem mich am andern Morgen ein Schiff weiter tragen sollte. Die
herbstliche Abendsonne spielte durch die Zweige, manche Kohlmeise liess
einen Ruf erschallen, wie ihn die hatten erschallen lassen, welche
jetzt noch in meinen heimatlichen Bergwaeldchen verweilten, mancher
Fuhrmann, mancher Wanderer begegnete mir, ich ging mit ernstem Herzen
weiter, und als die Sonne untergegangen war, hoerte ich das Rauschen
des Stromes, der mir nun so wichtig geworden war, und sah sein
goldenes abendliches Glaenzen."
"Ich vergesse mich", unterbrach sich hier mein Gastfreund, "und
erzaehle euch Dinge, die nicht wichtig sind; aber es gibt Erinnerungen,
die, wie unbedeutende Gegenstaende sie auch fuer Andere betreffen, doch
fuer den Eigentuemer im hoechsten Alter so kraeftig dastehen, als ob sie
die groesste Schoenheit der Vergangenheit enthielten."
"Ich bitte euch", entgegnete ich, "fahret so fort und entzieht mir
nicht die Bilder, die euch aus frueheren Zeiten uebrig sind, sie gehen
schoener in das Gemuet und verbinden leichter, was verbunden werden
soll, als wenn von dem lebendigen Leben ein flacher Schatten gegeben
werden sollte. Auch ist meine Zeit, wenn anders die eurige nicht
strenger zugemessen ist, kein Hindernis, dass ihr mir irgend etwas
vorenthalten solltet."
"Meine Zeit", antwortete er, "ist entweder so gemessen, dass ich nichts
Anderes tun sollte, als auf mein Ende sehen, oder dass ich ueber sie
verfuegen kann, wie ich will; denn was sollte ein so alter Mann noch
Ausschliessliches zu tun haben? Er mag fuer die paar Stunden, die
ihm uebrig sind, noch Blumen zurecht legen, wie er will. Ich tue ja
eigentlich hier auf dieser Besitzung nichts anders. Auch duerfte das,
was ich euch sagen will, fuer euch nicht ganz unwichtig sein, wie sich
wohl in der Folge zeigen wird. Ich fahre daher fort, wie sich oben
unter den Worten die Erzaehlung gibt."
"Die Nacht verbrachte ich in gutem Schlummer, und der erste Morgen
sah mich auf einem jener rohen, kleinen Schiffe, wie sie damals mit
verschiedenen Guetern beladen unsern Strom abwaerts befuhren, und auch
Menschen mit sich nahmen. Mehrere junge Leute, die entweder ganz
gleichen oder aehnlichen Beruf mit mir verfolgten, standen auf dem
Verdecke und legten sogar manches Mal Hand an die Ruder, da unser
Schiff auf dem breiten, rauschenden Strome sich abwaerts bewegte und
die kleine Stadt, die uns Nachtherberge gegeben hatte, sich aus den
Morgennebeln ringend unsern Augen immer weiter und weiter zurueck trat.
Manches Lied, mancher Spruch, der aus der Schar meiner Begleiter
hervortrat, machte seine Wirkung auf mich, und ich wurde staerker und
entschlossener."
"Als am Abende des zweiten Tages unserer Wasserfahrt der hohe schlanke
Turm der Stadt, deren Miteinwohner ich nun werden sollte, gleichsam
luftig blau unter den Gebueschen der Ufer sichtbar wurde, als man sich
rief und das Zeichen sich zeigte, das man nun nach Verlauf von etwas
mehr als einer Stunde erreichen werde, wollte mir das Herz im Busen
wieder unruhiger pochen. Dieses Merkmal vergangener Menschenalter,
dachte ich, welches so viele grosse und gewaltige Schicksale gesehen
hatte, wird nun auch auf dein kleines Geschick herabsehen, es mag sich
nun gut oder uebel abspinnen, und wird, wenn es laengstens abgelaufen
ist, wieder auf Andere schauen. Wir fuhren rascher zu, weil alles
hoffnungsvoll die Ruder fuehrte, die Entschlossneren sangen ein Lied,
und ehe noch die Stunde um war, legte unser Schiff an der steinernen
Einfassung des Flusses im Angesichte sehr grosser Haeuser an. Ein
aelterer Schueler, der schon zwei Jahre in der Stadt zugebracht hatte
und jetzt von den bei seinen Eltern verlebten Ferien zurueckkehrte,
erbot sich, mir einen Gasthof zur Unterkunft zu zeigen und mir morgen
zur Auffindung eines Wohnzimmerchens fuer mich behilflich zu sein. Ich
nahm es dankbar an. Unter dem Torwege des Gasthofes, in den er mich
gefuehrt hatte, nahm er Abschied von mir und versprach, mich morgen
mit Tagesanbruch zu besuchen. Er hielt Wort, ehe ich angekleidet
war, stand er schon in meinem Zimmer, und ehe die Sonne den Mittag
erreichte, waren meine Sachen schon in einem Mietzimmerchen, das wir
fuer mich gefunden hatten, untergebracht. Er verabschiedete sich und
suchte seine wohlbekannten Kreise auf. Ich habe ihn spaeter selten
mehr gesehen, da uns nur die Schiffahrt zusammengebracht hatte und da
seine Laufbahn eine ganz andere war als die meine. Als ich von meinem
Stuebchen ausging, die Stadt zu betrachten, befiel mich wieder eine
sehr grosse Bangigkeit. Diese ungeheure Wildnis von Mauern und Daechern,
dieses unermessliche Gewimmel von Menschen, die sich alle fremd sind
und an einander voruebereilen, die Unmoeglichkeit, wenn ich einige
Gassen weit gegangen war, mich zurecht zu finden, und die
Notwendigkeit, wenn ich nach Hause wollte, mich Schritt fuer Schritt
durchfragen zu muessen, wirkte sehr niederdrueckend auf mich, der ich
bisher immer in einer Familie gelebt hatte und stets an Orten gewesen
war, in denen ich alle Haeuser und Menschen kannte. Ich ging zu dem
Vorstande der Rechtsschule, um mich fuer die Vorbereitungsjahre zum
Staatsdienste einschreiben zu lassen. Er nahm mich meiner trefflichen
Zeugnisse willen sehr gut auf und ermahnte mich, durch die grosse Stadt
mich von meinem Fleisse nicht abbringen zu lassen. Ach Gott, die grosse
Stadt war fuer mich bei meinen so kargen Mitteln nichts als ein Wald,
dessen Baeume auf mich keine Beziehung haben, und sie trieb mich durch
ihre Fremdartigkeit eher zum Fleisse an, als dass sie mich abgehalten
haette. Am Tage der Eroeffnung des Unterrichtes ging ich, der ich nun
doch schon einige auf mich bezuegliche Wege wusste, in die hohe Schule.
Dort wogte ein grosses Gewimmel durch einander. Alle Faecher wurden hier
gelehrt, und fuer alle Faecher fanden sich Schueler. Die meisten sahen
sehr begabt, gebildet und behende aus, so dass ich wieder im Glauben
an meine nur geringen Kraefte zu zagen anfing, hier gleichen Schritt
halten zu koennen. Ich begab mich in den Lehrsaal, in den ich gehoerte,
und setzte mich auf einen der mittleren Plaetze. Die Lehrstunde begann
und ging vorueber, so wie nun viele nach und nach begannen und vorueber
gingen. Sie und die ganze Stadt hatten noch immer etwas Ungewoehnliches
fuer mich. Das Liebste war mir, in meinem Stuebchen zu sitzen, an meine
Vergangenheit zu denken und sehr lange Briefe an meine Mutter zu
schreiben."
"Als einige Zeit verflossen war, wuchs mir Mut und Kraft im Herzen.
Unser Lehrer, ein wuerdiger Rat in der Rechtsversammlung der Schule,
lehrte fragend. Ich schrieb getreulich seine Lehren in meine Hefte.
Als schon eine grosse Zahl meiner Mitschueler gefragt worden war, als
endlich die Reihe auch mich getroffen hatte, erkannte ich, dass ich
Vielen, die mich an Kleidern und aeusserem Benehmen uebertrafen, in
unserem Lehrfache nicht nachstehe, sondern einer grossen Zahl vor
sei. Dies lehrte mich nach und nach die mir bisher fremd gebliebenen
Verhaeltnisse der Stadt wuerdigen, und sie wurden mir immer mehr und
mehr vertraut. Einige Schueler hatte ich schon frueher gekannt, da sie
vor mir von der nehmlichen Lehranstalt, in der ich bisher gewesen war,
hieher uebergetreten waren; andere lernte ich noch kennen. Als meine
Barschaft, mit der ich sehr strenge Haus hielt, sich schon sichtlich
zu verringern begann, wurde ich von einem meiner Mitschueler, der mein
Nachbar auf der Schulbank war und aus meinem Munde gehoert hatte, dass
ich frueher Unterricht gegeben habe, aufgefordert, seine zwei kleinen
Schwestern zu unterrichten. Wir hatten durch die taegliche Beruehrung
eine Art Freundschaft geschlossen und waren einander geneigt. Als er
daher zu Hause gehoert hatte, dass man fuer die zwei kleinen Maedchen
einen Lehrer suche, schlug er mich vor und erzaehlte mir auch von der
Sache. Die Eltern wollten mich sehen, er fuehrte mich zu ihnen und ich
wurde angenommen. Auch hatten die Schritte, welche ich selber nach
meiner Berechnung der Dinge getan hatte, um durch Erteilung von
Unterricht einen Erwerb zu bekommen, Erfolg. Sie hatten zwar keinen
bedeutenden, auf einen solchen hatte ich nicht gerechnet, aber sie
hatten doch einen. So war das in Erfuellung gegangen, was ich durch
meine Umsiedlung in die grosse Stadt angestrebt hatte. Ich lebte jetzt
sorgenfrei, hatte in dem Hause meines Freundes, in welches ich oefter
geladen wurde, eine Gattung Familienumgang und konnte mit allem Eifer
der Erlernung meines Faches mich widmen."
"In den ersten Ferien besuchte ich die Mutter und Schwester. Ich hatte
die besten Zeugnisse in meinem Koffer und konnte ihnen von meinen
sehr guten anderweitigen Erfolgen erzaehlen; denn gegen das Ende
des Schuljahres hatten sich diese sehr gebessert. Mit ganz anderem
Herzen als vor einem Jahre konnte ich nach dem Ende der Ferien das
muetterliche Haus verlassen, und die Reise in die Stadt antreten."
"Nach dem zweiten Jahre konnte ich die Meinigen nicht mehr besuchen.
Ich war in der Stadt bekannt geworden, die Art, wie ich Kinder
unterrichtete, sagte vielen Familien zu, man suchte mich und gab mir
auch einen groesseren Lohn. Ich konnte mir dadurch mehr erwerben, legte
mir stets etwas als Sparpfennig zurueck und hatte bei der Freudigkeit
meines Gemuetes ueber diesen Fortgang Kraft genug, neben meinem Fache
auch noch meine Lieblingswissenschaften Mathematik und Naturlehre zu
betreiben. Nur das Einzige war stoerend, dass die Familien, bei denen
ich Unterricht gab, nicht gerne sahen, dass ich durch eine Reise den
Unterricht unterbreche. Es war diese Forderung eine begreifliche, ich
blieb mit den Meinigen in einem lebhafteren Briefwechsel als frueher
und verabredete mit ihnen, dass ich nicht eher als nach Beendigung
meines Lehrganges sie wieder besuchen, dann aber einige Monate bei
ihnen bleiben wolle. Hiemit waren auch die, in deren Dienste ich
stand, zufrieden."
"Die Stadt, welche mir Anfangs so unheimlich gewesen war, wurde mir
immer lieber. Ich gewoehnte mich daran, immer fremde Menschen in den
Gassen und auf den Plaetzen zu sehen und darunter nur selten einem
Bekannten zu begegnen; es erschien mir dieses so weltbuergerlich,
und wie es frueher mein Gemuet niedergedrueckt hatte, so staehlte es
jetzt dasselbe. Einen schoenen Einfluss uebten auf mich die grossen
wissenschaftlichen und Kunsthilfsmittel, welche die Stadt besitzt.
Ich besuchte die Buechersammlungen, die der Gemaelde, ich ging gerne in
das Schauspiel und hoerte gute Musik. Es lebte von jeher ein grosser
Eifer fuer wissenschaftliche Bestrebungen in mir, und ich konnte
demselben jetzt bei der Heiterkeit meiner Lage Nahrung geben. Was ich
bedurfte und was ich durch meine Mittel mir nicht haette anschaffen
koennen, fand ich in den Sammlungen. Da ich den sogenannten
Vergnuegungen nicht nachging, sondern in meinen Bestrebungen mein
Vergnuegen fand, so hatte ich Zeit genug, und weil ich gesund und stark
war, reichte auch meine Kraft aus. In hohem Masse befriedigten mich
einige schoene Gebaeude, besonders Kirchen, dann Bildsaeulen und Gemaelde.
Ich brachte manchen Tag damit zu, mich in die Betrachtung der
kleinsten Teile dieser Dinge zu vertiefen. Auch hatte ich manche
Familien kennen gelernt, wurde bei ihnen aufgenommen und bildete nach
und nach meinen Umgang mit Menschen etwas mehr heraus."
"Da ich in dem zweiten Jahre meiner Lernzeit war, vermaehlte sich meine
Schwester. Ich hatte ihren jetzigen Gatten schon frueher gekannt. Er
war ein sehr guter Mann, hatte keine Leidenschaften, keine uebeln
Gewohnheiten, war haeuslich sogar auch taetig, hatte eine angenehme
Koerpererscheinung, war aber sonst nichts mehr. Diese Vermaehlung hatte
mir keine Freude und kein Leid gemacht. Da ich meine Schwester so
liebte, so war mir stets, dass sie nie einen andern Mann als den
allerherrlichsten bekommen solle. Dies war nun wohl nicht der Fall.
Die Mutter schrieb mir, dass mein Schwager seine Gattin sehr verehre,
dass er lange und treu um sie geworben und endlich ihr Herz gewonnen
habe. Sie wohnen in unserem Hause, und von da aus treibe er still und
emsig sein kleines Handelsgeschaeft, das sie naehre. Ich schrieb einen
Brief entgegen, worin ich den Vermaehlten Glueck und Segen wuenschte
und den Schwager bat, seine Gattin sehr zu lieben, zu schonen und zu
ehren; denn ich glaube, dass sie es verdiene. Die Antworten versprachen
alles, so wie die folgenden Briefe immer den Stempel eines stillen
haeuslichen Friedens trugen."
"In diesen Verhaeltnissen kam die Zeit heran, da ich mit den letzten
Pruefungen meine Vorbereitungsjahre beendigt hatte. Ich richtete eben
mein Reisegepaecke zusammen, um der Verabredung gemaess nach langer
Trennung die Meinigen wieder zu sehen, als ein Brief von der Hand der
Schwester kam, dessen Inneres haeufige Traenenspuren zeigte und der mir
sagte, dass unsere Mutter gestorben sei. Sie war vor einiger Zeit krank
geworden, man hielt das Uebel nicht fuer gefaehrlich, und da man mich in
der Vorbereitung zu meinen letzten Pruefungen wusste, so wollte man mir,
um mich nicht zu stoeren, keine Meldung von der Krankheit zukommen
lassen. So zog es sich durch zehn Tage hin, von wo es sich rasch
verschlimmerte, und ehe man es sich versah, mit dem Tode endigte. Man
konnte mir nur mehr diesen melden. Ich raffte sofort alles zusammen,
was zu einer Reise noetig schien, schrieb zwei Zeilen an einen
Freund, worin ich ihn bat, die Sache meinen Bekannten, die ich ihm
bezeichnete, zu melden und mich zu entschuldigen, dass ich ohne
Abschied abreise.
Hierauf ging ich auf die Post und liess mich einschreiben. Zwei Stunden
darnach sass ich schon in dem Wagen, und obwohl wir in der Nacht wie am
Tage fuhren, obwohl ich von der letzten Post aus, an der der Weg nach
meiner Heimat ablenkte, eigene Pferde nahm und mittelst Wechsels
derselben unaufhoerlich fortfuhr, so kam ich doch zu spaet, um die
irdische Huelle meiner Mutter noch einmal sehen zu koennen. Sie ruhte
bereits im Grabe. Nur in ihren Kleidern, in Geraeten, im Arbeitszeuge,
das auf ihrem Tischchen lag, sah ich die Spuren ihres Daseins. Ich
warf mich in eine Lehnbank und wollte in Traenen vergehen. Es war der
erste grosse Verlust, den ich erlitten hatte. Zur Zeit des Todes des
Vaters war ich zu jung gewesen, um ihn recht empfinden zu koennen.
Obwohl der erste Schmerz unsaeglich heiss gewesen war und ich geglaubt
hatte, ihn nicht ueberleben zu koennen, so verminderte er sich wider
meinen Willen von Tag zu Tag immer mehr, bis er zu einem Schatten
wurde und ich mir nach Verlauf von einigen Jahren keine Vorstellung
mehr von dem Vater machen konnte. Jetzt war es anders. Ich hatte mich
daran gewoehnt, die Mutter als das Bild der groessten haeuslichen Reinheit
zu betrachten, als das Bild des Duldens, der Sanftmut, des Ordnens und
des Bestehens. So war sie ein Mittelpunkt fuer unser Denken geworden,
und mir kam fast nicht zu Sinne, dass das je einmal anders werden
koenne. Jetzt wusste ich erst, wie sehr wir sie liebten. Sie, die nie
gefordert hatte, die nie auf sich irgend eine Beziehung gemacht hatte,
die geraeuschlos immer gegeben hatte, die jedes Schicksal als eine
Fuegung des Himmels empfangen hatte und die in ruhigem Glauben ihre
Kinder der Zukunft anvertraut hatte, war nicht mehr. Unter der
Decke der Schollen schlummerte ihr Herz, das dort vielleicht so
ergebungsvoll schlummerte, wie es sonst in der Kammer unter der Huelle
seiner weissen Decke geschlummert hatte. Die Schwester war wie ein
Schatten, sie wollte mich troesten, und ich wusste nicht, ob sie
des Trostes nicht noch beduerftiger waere als ich. Der Gatte meiner
Schwester war in einer gewissen Ergebung, er war stille und ging an
die Beschaeftigungen seines Berufes. Ich liess mir nach einer Zeit das
frische Grab der Mutter zeigen, weinte dort meine Seele aus und betete
fuer sie zu dem Herrn des Himmels. Da ich in das Haus zurueckgekehrt
war, besuchte ich alle Raeume, in denen sie zuletzt geweilt hatte,
besonders ihr eigenes Stuebchen, in welchem man alles gelassen hatte,
wie es bei ihrer Erkrankung gewesen war. Der Schwager und die
Schwester boten mir an und baten mich, eine Zeit bei ihnen zu
verweilen. Ich nahm es an. In dem hinteren Teile des Hauses, den
ich immer am meisten geliebt hatte, war schon vor der Erkrankung
der Mutter ein Zimmer fuer mich, groesstenteils durch ihre Haende,
hergerichtet worden. Dieses Zimmer bezog ich und packte darin meinen
Koffer aus. Seine zwei Fenster gingen in den Garten, die weissen
Fenstervorhaenge hatte noch die Mutter geordnet, und das Linnen des
Bettes war durch ihre vorsorglichen Finger gleichgestrichen worden.
Ich getraute mir kaum, etwas zu beruehren, um es nicht zu zerstoeren.
Ich blieb sehr lange unbeweglich in dem Zimmer sitzen. Dann ging ich
wieder durch das ganze Haus. Es schien mir gar nicht, als ob es das
waere, in welchem ich die Tage meiner Kindheit verlebt hatte. Es
erschien mir so gross und fremd. Die Wohnung, welche sich meine
Schwester und ihr Gatte darin eingerichtet hatten, war frueher nicht da
gewesen, dafuer war das Gemach fuer Vater und Mutter, das immer, auch
nach seinem Tode, noch bestanden war, verschwunden, ebenso fand ich
das Zimmer fuer uns Kinder nicht mehr, welches ich in allen Ferien,
die ich zu Hause zugebracht hatte, noch in dem Zustande aus unserer
frueheren Zeit her gesehen hatte. Es war eben eine neue Haushaltung in
dem Gebaeude eingerichtet worden. Unter dem Dache angekommen, sah ich,
dass man schadhafte Stellen des Daches ausgebessert hatte, dass man
neue Ziegel genommen hatte und dass an den Kanten, wo sich frueher die
Rundziegel befunden hatten, die neue Art der Verklebung durch Moertel
angewendet worden war. Dies alles tat mir wehe, obwohl es natuerlich
war, und obwohl ich es zu einer andern Zeit kaum beachtet haben wuerde.
Jetzt aber war mein Gemuet durch den Schmerz erregt, und jetzt schien
es mir, als ob man alles Alte, auch die Mutter, aus dem Hause hinaus
gedraengt haette."
"Ich lebte von jetzt an still in dem Zimmer, las, schrieb, ging
taeglich auf das Grab der Mutter, besuchte die Felder und manches
Waeldchen, hielt mich aber von den Menschen ferne, weil sie immer von
meinem Verluste redeten und mit den Worten in ihm stets wuehlten. Das
Haus war auch sehr stille. Die Vermaehlten hatten noch keine Kinder,
mein Schwager, dessen Wesen friedlich und einfach war, befand sich
groessten teils ausser Hause, die Schwester besorgte mit der einzigen
Magd, die sie hatte, die haeuslichen Geschaefte, und wenn die
Abenddaemmerung kam, wurde die Tuer, die gegen die Strasse ging, mit
den eisernen Stangen von Innen verriegelt, und nur die in den Garten
fuehrende blieb offen, bis die Stunde zum Schlafen kam, wo sie dann
auch die Schwester mit eigenen Haenden schloss. Das haeusliche Glueck der
zwei Ehegatten schien fest gegruendet zu sein, das war eine Linderung
fuer meine Wunde, und ich verzieh dem Schwager, dass er nicht ein
Mann war, der durch hohe Begabung und den Schwung seiner Seele die
Schwester zu einem himmlischen Gluecke emporgefuehrt hatte."
"So vergingen mehrere Wochen. Vor meiner Abreise ging ich noch in
unser Gerichtsamt, verzichtete dort fuer meine Schwester auf jeden
Erbanspruch des von unsern Eltern hinterlassenen Besitztumes und liess
meine Rechte auf die Schwester ueberschreiben. So war den beiden Gatten
das Dasein, so lange es ihnen der Himmel verlieh, gesichert; ich hatte
als Erbteil den Unterricht bekommen und hoffte durch das, was er mir
an Kenntnissen eingebracht hatte und was ich mir noch erwerben wollte,
den Unterhalt meines Lebens schon zu decken. Hierauf reiste ich,
von dem Danke und von den waermsten Wuenschen fuer mein Wohl von der
Schwester und dem Schwager begleitet, wieder in die Stadt ab."
"In derselben begann ich jetzt ein sehr zurueckgezogenes Leben zu
fuehren. Ich hatte mir so viel erspart, dass ich nur einen kleinen Teil
meiner Zeit zum Unterrichtgeben verwenden musste. Die uebrige wendete
ich fuer mich an und verlegte mich auf Naturwissenschaften, auf
Geschichte und Staatswissenschaften. Meinen eigentlichen Beruf
liess ich etwas ausser Acht. Die Wissenschaften und die Kunst, deren
Vergnuegen ich nie entsagte, fuellten mein Herz aus. Ich suchte jetzt
weniger als je die Gesellschaft von Menschen auf. Die Notwendigkeit,
die Zeit der Vorbereitung zu meinem Berufe recht zu benutzen und mir
ausserdem noch meinen Lebensunterhalt zu erwerben, hatte mich schon
in frueheren Jahren fast nur auf mich allein zurueckgewiesen, und ich
setzte jetzt dies Leben fort."
"Allein es dauerte nicht lange in dieser Art. Schon nach einem halben
Jahre, als ich das Grab der Mutter verlassen hatte kam mir von meinem
Schwager die Nachricht zu, dass zu den zwei Graebern des Vaters und der
Mutter auf unserer Familienbegraebnisstaette ein drittes Grab gekommen
sei, das meiner Schwester. Sie hatte sich seit dem Tode der Mutter
nicht recht erholt, und eine unversehene Verkuehlung raffte sie dahin.
Der Schwager schrieb mir, und wie ich sah, in aufrichtigem Kummer,
dass er nun ganz verlassen sei, dass er keine Freude mehr habe, dass er
einsam sein Leben zubringen wolle, dass er wohl von der Verewigten zum
Erben eingesetzt worden sei, dass er aber gerne mit mir teilen wolle,
er habe kein Kind, seine einzige Freude liege im Grabe, er achte nicht
mehr viel auf Besitzungen, sein Stueckchen Brod, welches fuer sein
einfaches Leben recht klein sein duerfe, werde er fuer die Zeit schon
finden, die er noch zubringen muesse, ehe er zu Kornelien gehen koenne.
Da der Mann meine Schwester sehr geliebt hatte, da ihre Briefe an mich
immer von ihrem Gluecke erzaehlten, goennte ich ihm das kleine Besitztum
und schrieb ihm zurueck, dass ich keine Ansprueche erhebe und dass er das
Hinterlassene ungeteilt geniessen moege. Er dankte mir, ich sah aber aus
seinem Briefe, dass er ueber das Geschenk eben keine sonderliche Freude
habe."
"Ich zog mich nun noch mehr zurueck, und mein Leben war sehr truebe.
Ich zeichnete viel, ich bildete zuweilen auch etwas in Ton und suchte
sogar manches in Farben darzustellen. Nach einiger Zeit kam mir
von befreundeter Hand der Antrag, dass ich bei einer gebildeten
und wohlhabenden Familie wohnen moechte, dass ich einen Teil des
Unterrichtes eines Knaben, der in der Familie sei, gegen vorteilhafte
Bedingungen uebernehmen moechte, worunter auch die war, dass ich nicht
gebunden sei, dass ich oefter abwesend sein und zum Teile sogar kleine
Reisen machen koenne. In der Veroedung, in der ich mich befand, hatte
die Aussicht auf ein Familienleben eine Art Anziehung fuer mich, und
ich nahm den Antrag unter der Bedingung an, dass ich die Freiheit haben
muesse, in jedem Augenblicke das Verhaeltnis wieder aufloesen zu koennen.
Die Bedingung wurde zugestanden, ich packte meine Sachen, und nach
drei Tagen fuhr ich in der Richtung nach dem Landsitze der Familie
ab. Dieser Sitz war ein angenehmes Haus in der Naehe grosser Meiereien,
die einem Grafen gehoerten. Das Haus war beinahe zwei Tagereisen von
der Stadt entfernt. Es war sehr geraeumig, hatte eine sonnige Lage,
liebliche Rasenplaetze um sich und hing mit einem grossen Garten
zusammen, in dem teils Gemuese, teils Obst, teils Blumen gezogen
wurden. Der Besitzer des Hauses war ein Mann, der von reichlichen
Renten lebte, sonst aber kein Amt noch irgend eine andere
Beschaeftigung zum Gelderwerb hatte. So war er mir geschildert worden,
mit dem Beifuegen, dass er ein sehr guter Mann sei, mit dem sich
jedermann vertrage, dass er eine treffliche, sorgsame Frau habe und dass
ausser dem Knaben nur noch ein halberwachsenes Maedchen da sei. Diese
Dinge waren es auch vorzueglich, welche mich zur Annahme bestimmt
hatten. Mein Name sei der Familie in einem Hause genannt worden, mit
dem sie in sehr inniger Beziehung stand, und ich sei sehr empfohlen
worden. Man hatte mir auf die letzte Post einen Wagen entgegen
gesandt. Es war ein schoener Nachmittag, als ich in Heinbach, das war
der Name des Hauses, einfuhr. Wir hielten unter einem hohen Torwege,
zwei Diener kamen die Treppe herab, um meine Sachen in Empfang zu
nehmen und mir mein Zimmer zu zeigen. Als ich noch im Wagen mit
Herausnehmen von ein paar Buechern und andern Kleinigkeiten beschaeftigt
war, kam auch der Herr des Hauses herunter, begruesste mich artig und
fuehrte mich selber in meine Wohnung, die aus zwei freundlichen Zimmern
bestand. Er sagte, ich moege mich hier zurecht richten, moege hiebei nur
meine Bequemlichkeit vor Augen haben, ein Diener sei angewiesen, meine
Befehle zu vollziehen, und wenn ich fertig sei und etwa heute noch
wuensche, mit seiner Gattin zu sprechen, so moege ich klingeln, der
Diener werde mich zu ihr fuehren. Hierauf verliess er mich unter
hoeflichem Abschiede. Der Mann gefiel mir sehr wohl. Ich entledigte
mich meiner staubigen Kleider, reinigte mich, legte nur das
Notwendigste in meinem Zimmer in Ordnung, kleidete mich dann
besuchsgemaess an und liess die Frau des Hauses fragen, ob ich bei ihr
erscheinen duerfe. Sie sendete eine bejahende Antwort. Ich wurde ueber
einen Gang gefuehrt, in welchem allerlei Bilder hingen, wir traten in
einen Vorsaal und von dem in das Zimmer der Frau. Es war ein grosses
Zimmer mit drei Fenstern, an welches ein niedliches Gemach stiess.
In diesem Zimmer waren heitere Geraete, einige Bilder, und die
Nachmittagssonne war durch sanfte Vorhaenge gedaempft. Die Frau sass an
einem grossen Tische, zu ihren Fuessen spielte ein Knabe, und seitwaerts
an einem kleinen Tischchen sass ein Maedchen und hatte ein Buch vor
sich. Es schien, es habe vorgelesen. Die Frau stand auf und ging mir
entgegen. Sie war sehr schoen, noch ziemlich jung, und was mir am
meisten auffiel war, dass sie sehr schoene braune Haare, aber tief
dunkle, grosse schwarze Augen hatte. Ich erschrak ein wenig, wusste aber
nicht warum. Mit einer Freundlichkeit, die mein Zutrauen gewann, hiess
sie mich einen Platz nehmen, und als ich dies getan hatte, nannte sie
meinen Vor- und Familiennamen, hiess mich beinahe herzlich willkommen
und sagte, dass sie sich schon sehr gesehnt habe, mich unter ihrem
Dache zu sehen."
">Alfred<, rief sie, >komm und kuesse diesem Herrn die Hand!<"
"Der Knabe, welcher bisher neben ihr gespielt hatte, stand auf, trat
vor mich, kuesste mir die Hand und sagte: >Sei willkommen!<"
">Sei auch du willkommen<, erwiderte ich und drueckte ein wenig das
Haendchen des Knaben. Er hatte ein sehr rosiges Angesicht, ebenfalls
braune Haare wie die Mutter, aber dunkelblaue Augen, wie ich sie an
dem Vater gesehen zu haben glaubte."
">Das ist das Kind, dessentwegen ich euch so sehr in unser Haus
gewuenscht habe<, sagte sie. >Ihr sollt dasselbe weniger unterrichten,
dazu sind Lehrer da, welche das Haus besuchen, sondern wir bitten
euch, dass ihr bei uns lebet, dass ihr dem Knaben oefter eure
Gesellschaft goennt, dass er ausser dem Umgange mit seinem Vater auch den
eines jungen Mannes hat, was auf ihn Einfluss nehmen moege. Erziehung
ist wohl nichts als Umgang, ein Knabe, selbst wenn er so klein ist,
muss nicht immer mit seiner Mutter oder wieder nur mit Knaben umgehen.
Der Unterricht ist viel leichter als die Erziehung. Zu ihm darf man
nur etwas wissen und es mitteilen koennen, zur Erziehung muss man etwas
sein. Wenn aber einmal jemand etwas ist, dann, glaube ich, erzieht er
auch leicht. Meine Freundin Adele, die Gattin des Kaufherrn, dessen
Warengewoelbe dem grossen Tore des Erzdomes gegenueber ist, hat mir von
euch erzaehlt. Wenn ihr es fuer gut findet, den Knaben auch in irgend
etwas zu unterrichten, so ist es eurem Ermessen ueberlassen, wie und
wie weit ihr es tut.<"
"Ich konnte auf diese Worte nichts antworten; ich war sehr erroetet."
">Mathilde<, sagte die Frau, >begruesse auch diesen Herrn, er wird jetzt
bei uns wohnen.<"
"Das Maedchen, welches immer bei seinem aufgeschlagenen Buche sitzen
geblieben war, stand jetzt auf und naeherte sich mir. Ich erstaunte,
dass das Maedchen schon so gross sei, ich hatte es mir kleiner gedacht.
Es war auf einem etwas niederen Stuhle gesessen. Da es in meine Naehe
gekommen war, stand ich auf, wir verneigten uns gegen einander,
Mathilde ging wieder zu ihrem Sitze, und ich nahm auch den meinigen
wieder ein. Die Frau hatte wohl diese Begruessung eingeleitet, um mein
Erroeten vorueber gehen zu machen. Es war auch zum grossen Teile vorueber
gegangen. Sie hatte eine Antwort auf ihre an mich gerichtete Rede
auch wahrscheinlich nicht erwartet. Sie fragte mich jetzt um mehrere
gleichgueltige Dinge, die ich beantwortete.
In meine naeheren Verhaeltnisse oder etwa gar in die meiner Familie ging
sie nicht ein. Nachdem die Unterredung eine Weile gedauert hatte,
verabschiedete sie mich, sagte, ich moechte von der Reise etwas
ausruhen, bei dem Abendessen wuerden wir uns wieder sehen. Der Knabe
hatte waehrend der ganzen Zeit meine Hand gehalten, war neben mir
stehen geblieben und hatte oefter zu meinem Angesichte heraufgeschaut.
Ich loeste jetzt meine Hand aus der seinen, gruesste ihn noch, verneigte
mich vor der Mutter und verliess das Zimmer."
"Als ich in meiner Wohnung angekommen war, setzte ich mich auf einen
der schoenen Stuehle nieder. Jetzt wusste ich, weshalb man mir so gute
Bedingungen gestellt hatte und wie schwer meine Aufgabe war. Ich
zagte. Das Benehmen der Frau hatte mir sehr gefallen, darum zagte ich
noch mehr. Als ich eine Zeit auf meinem Stuhle gesessen war, erhob
ich mich wieder, und es fiel mir ein, dass ich ja dem Herrn des Hauses
auch einen Besuch zu machen habe. Ich klingelte und verlangte von
dem eintretenden Diener, dass er mich zu dem Herrn fuehre. Der Diener
antwortete, der Herr sei in den Wald gegangen und werde erst Abends
zurueckkehren. Er hatte den Befehl hinterlassen, dass man mir sage,
ich moege nur meine Reisesachen auspacken, moege ausruhen und moege
mir seinethalben keine Pflichten auflegen, morgen koenne das Weitere
besprochen werden. Ich legte daher die Kleider, welche ich zu dem
Besuche bei der Frau genommen hatte, wieder ab, zog mich anders an
und brachte meine Sachen nun in meiner Wohnung in Ordnung. Bei dieser
Beschaeftigung ging mir nach und nach der ganze Rest des noch uebrigen
Tages dahin. Als ich fertig war, daemmerte es bereits. Nachdem ich mich
gereinigt und zum Abendessen angekleidet hatte, sagte mir mein Diener,
dass sich der Herr, der schon nach Hause zurueckgekehrt sei, zum Besuche
bei mir melde. Ich sagte zu, der Herr kam und fragte, ob man in meiner
Wohnung alles nach Gebuehr vorbereitet habe und ob ich nichts vermisse.
Ich antwortete, dass alles meine Erwartung uebertreffe und daher ein
weiteres Begehren die groesste Unbescheidenheit waere. Er sagte, dass er
nun wuensche, dass mein Eintritt in sein Haus gesegnet sei, dass mein
Aufenthalt darin erfreulich sein moege und dass ich es einst nicht mit
Reue und Schmerz verlasse. Hierauf lud er mich zum Abendessen ein. Wir
gingen in ein sehr heiteres Speisezimmer, in welchem ein einfaches
Abendmahl unter einfachen Gespraechen eingenommen wurde. Bei demselben
war der Herr, die Frau, die zwei Kinder und ich gegenwaertig."
"Am naechsten Vormittage liess ich anfragen, ob ich den Herrn besuchen
duerfe. Ich wurde dazu eingeladen, und mein Diener fuehrte mich zu ihm.
Ich war in denselben Besuchkleidern wie gestern bei der Frau. Der Herr
sass bei Papieren und Schriften, er erhob sich bei meinem Eintritte,
ging mir entgegen, gruesste mich auf das Ausgezeichnetste und fuehrte
mich zu einem Tische.
Er war schon voellig und sehr fein angekleidet. Als wir uns
niedergelassen hatten, sagte er: >Seid mir noch einmal in meinem Hause
willkommen. Ihr seid uns so empfohlen worden, dass wir uns gluecklich
schaetzen, dass ihr zu uns gekommen seid, dass ihr eine Zeit bei uns
wohnen wollt und dass ihr erlaubt, dass mein lieber Knabe, dem ich eine
glueckselige Zukunft wuensche, eure Gesellschaft geniesse. Ich glaube,
ihr werdet vielleicht in einiger Zeit sehen, dass wir eure Freunde
sind, und ihr werdet uns etwa auch eure Freundschaft schenken. Richtet
eure Beschaeftigungen ein, wie ihr wollt, verlegt euch auf das, was
euer kuenftiger Beruf fordert und betrachtet euch in allen Stuecken
wie in eurem eigenen Hause. Ihr werdet euch wohl hier an Einfachheit
gewoehnen muessen. Wir haben hier und in der Stadt wenig Besuch und
machen auch wenig. Mathilde wird von der Frau selber erzogen. Mit
Erzieherinnen hatten wir kein Glueck. Wir gaben es daher auf, fuer
Mathilden eine Gesellschafterin zu suchen. Sie ist bei der Mutter,
zuweilen sieht sie Maedchen ihres Alters, und manches Mal wohnt sie
Gespraechen und Spaziergaengen mit zwei aelteren guten und lieben Maedchen
bei. Sonst ist sie in ihrer Ausbildung begriffen und bringt ihre Zeit
mit Lernen zu. Wie es mit dem Knaben ist, werdet ihr wohl sehen. Man
hat uns gesagt, dass ihr in der Stadt sehr zurueckgezogen gelebt habt,
deshalb glaubten wir, dass ihr bei uns nicht gar sehr die menschliche
Gesellschaft vermissen werdet. Ich beschaeftige mich mit einigen
wissenschaftlichen Dingen, und wenn euch ein Gespraech hierin, falls
wir in den Gegenstaenden zusammentreffen, nicht unangenehm ist, so
betrachtet mich als euren aelteren Bruder, und zwar nicht bloss hierin,
sondern auch in allen an. deren Dingen.<"
">Ich bin durch eure Guete sehr beschaemt<, antwortete ich, >und sehe
jetzt erst, wie gross die Aufgabe ist, die ich in eurem Hause habe. Ich
weiss nicht, ob ich ihr auch nur in einem geringen Masse werde genuegen
koennen.<"
">Es wird vielleicht nicht schwer sein, zu genuegen<, erwiderte er."
">Wenn es aber doch nicht geschaehe?< fragte ich."
">Dann waeren wir so offen und sagten es euch, damit man darnach
handeln koennte<, antwortete er."
">Das erleichtert mir mein Herz sehr<, erwiderte ich; >denn auf diese
Weise wird nie Misstrauen aufkommen koennen. Ich habe bisher nur in zwei
Familien gelebt, in der meiner Mutter - denn mein Vater ist in meiner
fruehen Jugend gestorben - und in der eines wuerdigen alten Amtmannes,
in dessen Hause ich waehrend meiner lateinischen Schulen in Kost
und Wohnung war. Die erste Familie ist mir wie jedem Menschen
unvergesslich, und die zweite ist es mir auch.<"
">Vielleicht wird es auch die unsere<, sagte er, >jetzt lasst euch das
Haus und sein Zugehoer zeigen, dass ihr den Schauplatz kennt, auf dem
ihr ein Weilchen leben sollt. Oder wollt ihr etwas anders tun, so tut
es. Zu mir steht euch der Zutritt stets offen, lasst euch nicht ansagen
und klopft nicht an meine Tuer.<"
"Mit diesen Worten war unser Gespraech zu Ende, wir erhoben uns,
verabschiedeten uns, er reichte mir freundlich die Hand, und ich
verliess das Zimmer."
"Ich kleidete mich nun in meine gewoehnlichen Kleider und liess fragen,
ob Alfred Zeit habe, mich zu begleiten und mir etwas von dem Hause und
dem Garten zu zeigen. Man antwortete, dass Alfred gleich kommen werde
und dass er hinlaenglich Zeit habe. Die Mutter fuehrte den Knaben selbst
zu mir, und sie brachte auch einen Diener mit, welcher einen Bund
Schluessel trug und den Auftrag hatte, mir die Raeume des Hauses zu
zeigen. Der Diener war ein alter Mann und schien die Aufsicht ueber
die andern Dienstleute zu haben. Die Mutter entfernte sich sogleich
wieder. Ich sprach einige freundliche Worte mit dem Knaben, welcher
ueber sieben Jahre alt schien, er erwiderte diese Worte unbefangen und,
wie ich glaubte, zutraulich. Dann gingen wir, die Raeume des Hauses zu
betrachten. Das Haus war nicht alt, es war kein Schloss und mochte in
dem siebenzehnten Jahrhunderte gebaut worden sein. Es bestand aus
zwei Fluegeln, die einen rechten Winkel bildeten und einen Sandplatz
einschlossen. Die Zufahrt war aber von entgegengesetzter Seite, daher
der Sandplatz, welcher Blumenbeete hatte, mehr einem Garten und einem
Spielplatze fuer die Kinder als einer Anfahrt glich. Es waren auf
demselben, und zwar an den Mauern des Hauses, auch Linnendaecher zum
Aufspannen gegen die Sonne angebracht. Das Haus hatte ein Erdgeschoss
und ein Stockwerk. Durch beide lief der Laenge nach ein breiter Gang,
von dem aus man in die Zimmer gelangen konnte. Die Mauern des Ganges
waren schneeweiss, hatten Stuckarbeit, schoen vergitterte Fenster und
zeigten braune, wohlgebohnte Gemaechertueren. An vielen Stellen der
Gaenge hingen Gemaelde. Sie waren durchaus nicht vorzueglich, aber auch
bei Weitem nicht so schlecht, als solche Gang- und Treppengemaelde
gewoehnlich zu sein pflegen. Die Gegenstaende, welche auf ihnen
abgebildet waren, drehten sich in einem kleinen Kreise: Landschaften
mit Ansichten der Umgebung oder merkwuerdiger Gebaeude, Tiere -
vorzueglich Hunde mit Jagdgeraetschaften -, Kuechengeschirr oder Inneres
von Zimmern und anderen Gelassen. Der alte Diener schloss manche
Gemaecher auf, die im Gebrauche waren; denn das Haus hatte mehr, als
die jetzigen Bewohner benuetzten. Es war ein grosser, mit sehr schoenen
Geraeten versehener Saal da, in welchem, wenn es notwendig war,
Gesellschaften aufgenommen wurden, dann waren andere Zimmer zu
verschiedenem Gebrauche, darunter ein sehr grosses Buecherzimmer und
die Zimmer fuer Gaeste. Alles war sehr schoen eingerichtet und rein und
ordentlich gehalten. Als wir das Haus gesehen hatten, sagte Alfred,
Raimund, der alte Diener, sei nun nicht mehr vonnoeten, den Garten
werde er mir schon allein zeigen. Ich war damit einverstanden,
verabschiedete den alten Diener und ging mit Alfred ins Freie. Das
Erdgeschoss, worin sich die Kueche, die Gesindezimmer und dergleichen
befanden, hatten wir nicht besucht. Die Staelle und Wagenbehaelter
waren abseits des Hauses in eigenen Gebaeuden. Als wir in das Freie
gekommen waren, zeigte sich ein sehr schoener Rasenplatz, der von
mannigfaltigen, kuenstlich angelegten Wegen durchkreuzt war. Auf diesem
Rasenplatze standen in ziemlichen Entfernungen sehr grosse Baeume. Zu
jedem fuehrte ein Weg, und fast unter jedem stand ein Baenkchen oder
ein Sitz. Alfred fuehrte mich zu den meisten und nannte mir sie. Mich
erfreute dieses Zeichen des Gedaechtnisses und der Aufmerksamkeit. Er
erzaehlte mir auch, was sie bald unter diesem, bald unter jenem Baume
getan und wie sie gespielt haetten. Die Baeume waren Eichen, Linden,
Ulmen und eine Anzahl sehr grosser Birnbaeume. Diese Art von Wald hatte
etwas sehr Anmutiges."
">Ich darf allein nicht zu dem Teiche gehen<, sagte Alfred, >weil ich
leicht hinein fallen koennte, und ich gehe auch nicht hin; aber weil du
heute bei mir bist, so duerfen wir ihn besuchen. Komme mit, ich habe
Brot bei mir, um es den Enten und den Fischen zu geben.<"
"Er fasste mich bei der Hand, und ich liess mich von ihm fuehren. Er
geleitete mich durch ein kleines Gebuesch zu einem maessig grossen Teiche,
der das Merkwuerdige hatte, dass auf ihm hoelzerne Huettchen in geringen
Entfernungen angebracht waren, die die Bestimmung hatten, dass darin
Wildenten nisteten. Das geschah auch reichlich. Es war noch nicht
so weit im Sommer, und wir sahen noch manche Mutter mit ihren fast
erwachsenen, aber noch nicht flugfaehigen Jungen auf dem Wasser
herumschwimmen. An den Ufern waren an verschiedenen Stellen
Futterbrettchen angebracht. Im Wasser selber bewegte sich eine grosse
Zahl schwerfaelliger Karpfen. Alfred zog ein Weissbrot aus seiner
Tasche, zerbrach es in kleine Stueckchen, warf diese einzeln in das
Wasser und hatte seine Freude daran, wenn die Enten und auch manch
ungeschickter Mund eines Karpfen darnach haschten. Es schien, dass er
mich dieses Zweckes halber zu dem Teiche gefuehrt hatte. Als er mit
seinem Brote fertig war, gingen wir weiter. Er sagte: >Wenn du auch
den Garten sehen willst, so werde ich dich schon hinfuehren.<"
">Ja, wohl will ich ihn sehen<, antwortete ich."
"Er fuehrte mich nun aus dem Gebuesche, wir begaben uns auf die
entgegengesetzte Seite des Hauses, dort war ein mit einem Gitter
umgebener grosser Garten, und wir gingen durch das Tor desselben
hinein. Blumen, Gemuese, Zwerg- und Lattenobst empfingen uns. In der
Ferne sah ich die groesseren und wahrscheinlich sehr edlen Obstbaeume
stehen. Dass mir der Garten um viel mehr gefiel als der Teich, sagte
ich Alfred nicht, er mochte es auch nicht wissen. In sehr schoener Art
waren hier die Blumen gepflegt, die man gewoehnlich in Gaerten findet.
Sie hatten nicht bloss ihre ihnen zusagenden Plaetze, sondern sie waren
auch zu einem sehr schoenen Ganzen zusammengestellt. An Gemuesen glaubte
ich die besten Arten zu sehen, wie man sie nur immer in den Handlungen
der Stadt finden konnte. Zwischen ihnen stand das Zwergobst. Die
Gewaechshaeuser enthielten Blumen, aber auch Fruechte. Ein sehr langer
Gang, welcher mit Wein ueberwoelbt war, fuehrte uns in den Obstgarten.
Die Baeume standen in guten Entfernungen, waren gut gehalten, hatten
Grasboden unter sich, und es fuehrten auch hier wieder Wege von einem
zum andern. An seiner rechten Seite war dieser Gartenteil von dichtem
Haselnussgebuesche begrenzt. Ein Pfad fuehrte uns durch dasselbe
hindurch. Wir trafen jenseits einen freien Platz, auf welchem ein
ziemlich grosses Gartenhaus stand. Es war gemauert, hatte hohe Fenster,
ein Ziegeldach und seine Gestalt war ein Sechseck. Die Aussenseite
dieses Hauses war ganz mit Rosen ueberdeckt. Es waren Latten an dem
Mauerwerke angebracht und an diese Latten waren die Rosenzweige
gebunden. Sie standen in Erde vor dem Hause, hatten verschiedene Groesse
und waren so gebunden, dass die ganzen Mauern ueberdeckt waren. Da eben
die Zeit der Rosenbluete war und diese Rosen ausserordentlich reich
bluehten, so war es nicht anders, als staende ein Tempel von Rosen da
und es waeren Fenster in dieselben eingesetzt. Alle Farben, von dem
dunkelsten Rot, gleichsam Veilchenblau, durch das Rosenrot und Gelb
bis zu dem Weiss, waren vorhanden. Bis in eine grosse Entfernung
verbreitete sich der Duft. Ich stand lange vor diesem Hause, und
Alfred stand neben mir. Ausser den Rosen an dem Gartenhause waren
auf dem ganzen Platze Rosengestraeuche und Rosenbaeumchen in Beeten
zerstreut. Sie waren nach einem sinnvollen Plane geordnet, das zeigte
sich gleich bei dem ersten Blicke. Alle Staemmchen trugen Taefelchen mit
ihrem Namen."
">Das ist der Rosengarten<, sagte Alfred, >da sind viele Rosen, es
darf aber keine abgepflueckt werden.<"
">Wer pflanzt denn diese Rosen und wer pflegt sie?< fragte ich."
">Der Vater und die Mutter<, antwortete Alfred, >und der Gaertner muss
ihnen helfen.<"
"Ich ging zu allen Rosenbeeten, und ging dann um das ganze Haus herum.
Als ich alles betrachtet hatte, gingen wir auch in das Haus hinein.
Es war mit Marmor gepflastert, auf dem feine Rohrmatten lagen. In der
Mitte stand ein Tisch und an den Waenden Baenkchen, deren Sitze von Rohr
geflochten waren. Eine angenehme Kuehle wehte in dem Hause; denn die
Fenster, durch welche die Sonne herein scheinen konnte, waren durch
gegliederte Balken zu schuetzen. Da wir wieder aus dem Innern dieses
Gartenhauses getreten waren, besuchten wir noch einmal den Obstgarten
und gingen bis an sein Ende. Da wir an das Gartengitter gekommen
waren, sagte Alfred: >Hier ist der Garten zu Ende und wir muessen
wieder umkehren.<"
"Das taten wir auch, wir gingen wieder zu dem Eingangstore zurueck,
durchschritten es, begaben uns in das Haus, und ich fuehrte Alfred zu
seiner Mutter."
"Das war das Haus und der Garten in Heinbach, der Besitzung des Herrn
und der Frau Makloden."
"Der erste Tag verging sehr gut, so auch ein zweiter, ein dritter und
mehrere. Ich wohnte mich in meine zwei Zimmer ein, und die Stille des
Landes tat mir in meiner jetzigen Gemuetsverfassung sehr wohl. Fuer
den Unterricht Alfreds war in der Art gesorgt, dass der Graf, dessen
Meiereien in der Naehe von Heinbach lagen, und ein Herr von Heinbach,
wie man Makloden jetzt auch nannte, eine Summe stifteten und dem
Lehrer der Gemeinde Heinbach zulegten unter der Bedingung, dass ein
in gewissen Faechern gebildeter Mann stets diese Stelle bekleide,
welchen sie in Vorschlag zu bringen das Recht hatten und der die
Verbindlichkeit uebernahm, die Kinder des Hauses Heinbach und die des
Verwalters der Meiereien in ihren Wohnungen zu unterrichten, wofuer er
aber besonders bezahlt wurde. Die Schule und die Kirche Heinbach waren
eine kleine halbe Wegstunde von dem Herrenhause entfernt. Der Lehrer
kam jeden Nachmittag herueber und blieb eine Zeit bei Alfred. Mathilde
wurde nur mehr in seltenen Stunden noch von ihm unterrichtet. Fuer
Alfred sollte ich die Art der Lehrstunden einrichten, was ich auch
im Uebereinkommen mit dem Lehrer, der ein sehr bescheidener und nicht
ungebildeter junger Mann war, tat. Den Unterricht in gewissen Dingen,
jetzt vor allem den Sprachunterricht, behielt ich mir vor. So kam die
Sache in den Gang und so ging sie fort."
"Das Leben in Heinbach war wirklich sehr einfach.
Man stand mit der Morgensonne auf, versammelte sich in dem
Speisezimmer zum Fruehmahle, dem einiges Gespraech folgte, und ging dann
an seine Geschaefte. Die Kinder mussten ihre Aufgaben machen, von denen
Mathilde besonders von der Mutter manche in einigen Zweigen bekam. Der
Vater ging in seine Stube, las, schrieb oder er sah in dem Garten oder
in dem kleinen Grundbesitze nach, der zu dem Hause gehoerte. Ich war
teils in meiner Wohnung mit meinen Arbeiten, die ich in der Stadt
begonnen hatte und hier fortsetzte, beschaeftigt, teils war ich in
Alfreds Zimmer und ueberwachte und leitete, was er zu tun hatte. Die
Mutter stand mir hierin bei, und sie hielt es fuer ihre Pflicht, noch
mehr um Alfred zu sein als ich. Der Mittag versammelte uns wieder in
dem Speisezimmer, am Nachmittage waren Lehrstunden und der Rest des
Tages wurde zu Gespraechen, zu Spaziergaengen, zum Aufenthalte im Garten
oder, besonders wenn Regenwetter war, zum gemeinschaftlichen Lesen
eines Buches benutzt. Was man im Freien tun konnte, wurde lieber im
Freien als in Zimmern abgemacht. Besonders war hiezu der Aufenthalt
unter den Linnendaechern am Hause geeignet, den die Mutter sehr liebte.
Stundenlang war sie mit irgend einer weiblichen Arbeit und die Kinder
mit ihrem Schreibzeuge oder mit Buechern auf diesem Platze beschaeftigt.
Dies war besonders der Fall, wenn die Vormittagssonne die Luft
durchwuerzte und doch noch nicht so viel Kraft hatte, die Mauern zu
erhitzen und den Aufenthalt an ihnen zu verleiden. Auch wurden die
mannigfaltigen Baenkchen auf dem Rasenplatze, vor welche man Tischchen
stellte, und das Innere des Rosenhauses benuetzt. Zuweilen wurden
groessere Spaziergaenge verabredet. An solchen Tagen waren keine
Lehrstunden, man bestimmte die Zeit, in welcher fortgegangen
werden sollte, alle mussten geruestet sein, und mit dem betreffenden
Glockenschlage wurde aufgebrochen. Wir besuchten zuweilen einen Berg,
einen Wald oder gingen durch schoene, ansprechende Gruende. Manches Mal
war es auch eine Ortschaft, in welche wir uns begaben. Um das Haus
lagen in geringen Entfernungen Besitztuemer von Familien, mit denen
die Bewohner von Heinbach Umgang pflegten. Oefter fuhr ein Wagen vor
unserem Hause vor, oefter fuhr der unsere in die Nachbarschaft. Die
Kinder mischten sich zur Geselligkeit und aeltere traten zusammen. Die
Mutter Alfreds sah es gerne, wie sie mir sagte, wenn eine Freundin
Mathildens bei ihr durch laengere Zeit verweilte, sie aber konnte sich
nie entschliessen, ihre Tochter zu anderen Leuten auf Besuch zu geben.
Sie wollte nicht getrennt sein. Auch, meinte sie, wuerde sich Mathilde
fern von ihr nicht wohl fuehlen. Von Kuensten wurde bei wechselseitigen
Besuchen vorzueglich die Musik geuebt. Es war der Gesang, der gepflegt
wurde, das Clavier, und zu vierstimmigen Darstellungen die Geigen. Der
Vater Alfreds schien mir ein Meister auf der Geige zu sein. Wir hoerten
solchen Vorstellungen zu. Wir Unbeschaeftigten sahen aber auch sehr
gerne zu, wenn die Kinder auf dem Rasenplatze huepften und sich in
ihren Spielen ergoetzten. Bei alle dem besorgte die Mutter Alfreds
aber auch ihr ausgedehntes Hauswesen. Sie gab den Dienern und Maegden
hervor, was das Haus brauchte, sorgte fuer die richtige und zweckmaessige
Verwendung, leitete die Einkaeufe und ordnete die Arbeiten an. Die
Bekleidung des Herrn, der Frau und der Kinder war sehr ausgezeichnet,
aber auch sehr einfach und wohlbildend. Nach dem Abendessen sass man
oft noch eine geraume Weile in Gespraechen bei dem Tische, und dann
suchte jedes sein Zimmer."
"So war eine Zeit vergangen, und so kam nach und nach der Herbst. Ich
lebte mich immer mehr in das Haus ein und fuehlte mich mit jedem Tage
wohler. Man behandelte mich sehr guetig. Was ich bedurfte, war immer
da, ehe das Beduerfnis sich noch klar dargestellt hatte. Aber auch
nicht bloss das wurde hergestellt, was ich bedurfte, sondern auch das,
was zum Schmucke des Lebens geeignet ist. Blumen, die ich liebte,
wurden in Toepfen in meine Zimmer gestellt, ein Buch, ein neues
Zeichnungsgeraete fand sich von Zeit zu Zeit ein, und da ich einmal auf
mehrere Tage abwesend war, sah ich bei meiner Rueckkehr meine Wohnung
mit Farben bekleidet, die ich einmal bei einem Besuche in einem
Nachbarschlosse sehr gelobt hatte.
Bei Spaziergaengen gesellte sich der Vater Alfreds gerne zu mir, wir
gingen abgesondert von den Andern und fuehrten Gespraeche, die mir in
dem, was er sagte, sehr inhaltreich schienen. Ebenso war die Mutter
Alfreds nicht ungeneigt, sich mit mir zu besprechen. Wenn ich in
Alfreds Zimmer war, das an das ihrige grenzte, kam sie gerne herein
und sprach mit mir, oder sie liess mich in ihr Zimmer treten, wies mir
einen Sitz an und redete mit mir. Ich hatte ihr nach und nach alle
meine Familienverhaeltnisse erzaehlt, sie hatte teilnehmend zugehoert und
hatte manches Wort gesprochen, das hoechst wohltaetig in meine Seele
ging. Alfred war mir gleich in den ersten Tagen zugetan, und diese
Neigung wuchs. Sein Wesen war nicht verbildet. Er war koerperlich sehr
gesund, und dies wirkte auch auf seinen Geist, der nebstdem ueberall
von den Seinigen mit Mass und Ruhe umgeben war. Er lernte sehr genau
und lernte leicht und gut, er war folgsam und wahrhaftig. Ich wurde
ihm bald zugeneigt. Noch ehe der Winter kam, verlangte er, dass er
nicht mehr neben der Mutter, sondern neben mir wohnen solle, er sei ja
kein so kleiner Knabe mehr, dass er die Mutter immer brauche, und er
muesse nun bald neben den Maennern sein. Man willfahrte ihm auf meine
Bitte, er bekam ein Zimmer neben mir, und der Diener, der bis jetzt
nebst andern meine Auftraege zu besorgen gehabt hatte, wurde uns
gemeinschaftlich beigegeben. Sein Koerper entwickelte sich auch
ziemlich regsam, er war in dem Sommer gewachsen, sein Haupt war
regelmaessiger und sein Blick war staerker geworden."
"So endete der Herbst, und als bereits die Reife an jedem Morgen auf
den Wiesen lagen, zogen wir in die Stadt. Hier aenderte sich Manches.
Alfred und ich wohnten wohl wieder neben einander; aber statt des
Himmels und der Berge und der gruenen Baeume sahen Haeuser und Mauern in
unsere Fenster herein. Ich war es von frueherem Stadtleben gewohnt, und
Alfred achtete wenig darauf. Es wurden mehr Lehrer in mehr Faechern
genommen, und die Lehrstunden waren gedraengter als auf dem Lande. Auch
kamen wir mit viel mehr Menschen in Beruehrung und die Einwirkungen
vervielfaeltigten sich. Aber auch hier wurde ich nicht minder gut
behandelt als auf dem Lande. Ich wurde nach und nach zur Familie
gerechnet, und alles was ueberhaupt der Familie gemeinschaftlich
zukam, wurde auch mir zugeteilt. Die Mutter Alfreds sorgte fuer meine
haeuslichen Angelegenheiten, und nur die Anschaffung von Kleidern,
Buechern und dergleichen war meine Sache."
"Als kaum die ersten Fruehlingsluefte kamen, gingen wir wieder nach
Heinbach. Mathilde, Alfred und ich sassen in einem Wagen, der Vater
und die Mutter in einem anderen. Alfred wollte nicht von mir getrennt
sein, er wollte neben mir sitzen. Man musste es daher so einrichten,
dass Mathilde uns gegenueber sass. Sie war, als ich das Haus betreten
hatte, noch nicht voellig vierzehn Jahre alt. Jetzt ging sie gegen
fuenfzehn. Sie war in dem vergangenen Jahre bedeutend gewachsen, so
dass sie wohl so gross war wie ein vollendetes Maedchen. Ihr Koerper war
aeusserst schlank, aber sehr gefaellig gebildet. Man kleidete sie gerne
in dunkle Stoffe, die ihr wohl standen. Wenn sie in dem tiefen Blau
oder in dem Nelkenbraun oder in der Farbe des Veilchens ging und das
schoene Weiss das Kleid oben saeumte, so wurde eine Anmut sichtbar, die
gleichsam sagte, dass alles sei, wie es sein muss. Ihre Wangen waren
sehr frisch, sanft rot und wurden jetzt ein wenig laenglich, ihr Mund
war fast rosenrot, die grossen Augen waren sehr glaenzend schwarz, und
die reinen braunen Haare gingen von der sanften Stirne zurueck. Die
Mutter liebte sie sehr, sie liess sie fast gar nicht von sich, sprach
mit ihr, ging mit ihr spazieren, unterrichtete sie auf dem Lande
selber und wohnte in der Stadt jeder Unterrichtsstunde bei, die ein
fremder Lehrer erteilte. Nur mit mir und Alfred liess sie sie im
vergangenen Sommer oft im Garten auf dem Rasenplatze, ja sogar in
der Gegend herum gehen. Da ging ich mit beiden Kindern, fragte sie,
erzaehlte ihnen, liess mich selber fragen und liess mir erzaehlen. Alfred
hielt mich groesstenteils an der Hand oder suchte sich ueberhaupt
irgendwie an mich anzuhaengen, sei es selbst mit einem Hakenstaebchen,
das er sich von irgend einem Busche geschnitten hatte. Mathilde
wandelte neben uns. Ich hatte nur den Auftrag, zu sorgen, dass sie
keine heftigen Bewegungen mache, welche an sich fuer ein Maedchen nicht
anstaendig sind und ihrer Gesundheit schaden koennten, und dass sie nicht
in sumpfige oder unreine Gegenden komme und sich ihre Schuhe oder ihre
Kleider beschmutze; denn man hielt sie sehr rein. Ihre Kleider mussten
immer ohne Makel sein, ihre Zaehne, ihre Haende mussten sehr rein sein,
und ihr Haupt und ihre Haare wurden taeglich so vortrefflich geordnet,
dass kein Tadel entstehen konnte. Ich zeigte den Kindern die Berge,
die zu sehen waren, und nannte sie, ich lehrte sie die Baeume, die
Gestraeuche und selbst manche Wiesenpflanzen kennen, ich las ihnen
Steinchen, Schneckenhaeuschen, Muscheln auf und erzaehlte ihnen von dem
Haushalte der Tiere, selbst solcher, die gross und maechtig sind und in
entfernten Waeldern oder gar in Wuesten wohnen. Alfred liebte das Walten
und das Tun der Voegel sehr, besonders ihren Gesang. Er freute sich,
aus dem Fluge einen Vogel zu erraten, und wenn die Stimmen in dem
Gebuesche oder im Walde ertoenten, konnte er alle die Saenger herzaehlen,
von denen sie stroemten. Er lehrte dies ein wenig auch Mathilden
und fragte sie bei manchem Laute, woher er ruehre. Ich hatte die
Vorschriften der Mutter nie ueberschritten, und Mathilde gewann an
Schoenheit des Aussehens und an Gesundheit durch diese Spaziergaenge.
So wie die Mutter im Sommer und Herbste sie mit uns hatte herum gehen
lassen, so liess sie sie jetzt mit uns fahren. Sie sass zwei Tage uns
gegenueber. Es war am Morgen und Abende noch ziemlich kuehl. Ich hatte
einen Mantel, und Alfred war in einen warmen Ueberrock geknoepft.
Mathilde hatte ueber ihr dunkles Wollkleid, aus dem nicht einmal die
Spitzen ihrer Schuhe hervorsahen, ein Maentelchen, das ihren ganzen
Oberkoerper bis an das Kinn verhuellte, auf dem Haupte hatte sie
einen warmen, wohlgefuetterten Hut, dessen weite Fluegel sich wohl
anschmiegten, so dass nichts, als beinahe nur die Wangen, welche in
der Maerzluft noch roeter geworden waren, und die glaenzenden Augen
hervorsahen. Wir beredeten, was wir in dem naechsten Sommer vornehmen
wollten. Der Hauptinhalt unserer Gespraeche aber war, dass alles, was
uns auf unserem Wege oder in dessen Naehe begegnete, bemerkt wurde, dass
wir es nannten und darueber sprachen. So kamen wir endlich bei heiterem
und klarem Maerzwetter in Heinbach an. Die Baeume vor den Fenstern
hatten noch kein Laub, der Garten war oede und die Felder waren noch
nicht gruen, ausser dort, wo sie die Wintersaaten trugen."
"Obwohl es draussen sehr unwirtlich war, wenn man den aeusserst
freundlichen blauen Himmel abrechnet, so war es in dem Hause sehr
heimisch. Alles war auf das Reinlichste geputzt und zu dem Empfange
der Bewohner hergerichtet. Die Zimmer glaenzten, die Fenster
spiegelten, durch die Vorhaenge schien eine helle Maerzsonne herein und
in den Kaminen brannte ein behagliches Feuer. Meine zwei Gemaecher
waren um ein sehr liebliches Eckzimmerchen vermehrt worden, und man
hatte mir schoenere und bequemere Geraete in meine Wohnung gestellt.
Ich traf jetzt die Veranstaltung, dass die Tuer von meiner Wohnung in
Alfreds Zimmer immer offen war, dass beide Wohnungen eine bildeten und
dass ich gleichsam neben einem juengeren Bruder lebte. Hatte ich eine
Arbeit vor, bei der eine Stoerung hindernd gewesen waere, so ging ich in
mein Eckzimmer."
"Das Leben in dem Landhause begann jetzt wieder wie in dem vorigen
Sommer. Wenn auch noch kein Laub auf den Baeumen war, wenn sich das
Gruen der Wiesen noch duerftig zeigte und auf den Feldern fuer die
Sommerfrucht noch die nackte Scholle lag, so gingen wir doch schon
vielfach spazieren. Alfred und ich gingen taeglich, selbst wenn truebes
Wetter war, nur nicht, wenn heftiger Regen von dem Himmel stroemte.
Wenn nach einem klaren Morgen, an dem wir noch die Erde und die Daecher
weiss gesehen hatten, ein heiterer Tag kam und die Wege trocken waren,
ging Mathilde mit uns, und wir fuehrten sie auf Anhoehen oder Felder, wo
wir kurz vorher die schoensten Triller der Lerchen gehoert hatten. Diese
Saenger waren die einzigen, die mit uns schon die Gegend bevoelkerten."
"Nach und nach wurde das Weiss auf Feld und Wiesen seltener, die Sonne
schien kraeftiger, das Feuer in den Kaminen war nicht mehr noetig,
die Wiesen gewannen Gruen, die Baeume Knospen und an den Zweigen der
Lattenpfirsiche im Garten erschienen einzelne Blueten. Die Saenger
der Luft erschienen in verschiedenen Gestalten und Farben. Wenn ich
irgendwo Veilchen oder andere Fruehlingsblumen fand, welche Mathilde
nicht mit uns hatte pfluecken koennen, so brachte ich sie ihr in einem
Strausse fuer das Blumenglas ihres Tischchens nach Hause. Als Dank fuer
solche Aufmerksamkeiten erhielt ich zu meinem Geburtsfeste, welches in
die ersten Tage des Fruehlings fiel, von ihrer Hand gestickt ein rundes
Deckchen, worauf ein silberner Handleuchter, den mir Mathildens Mutter
gab, zu stehen bestimmt war."
"Der Fruehling war endlich mit voller Pracht gekommen. Im vergangenen
Jahre hatte ich ihn in dieser Gegend nicht gesehen, weil ich erst
spaeter angelangt war. Ueberhaupt hatte ich meines laengern Stadtlebens
willen schon lange nicht einen vollkommenen Fruehling in der Tiefe des
Landes erblickt. Nur an der Grenze des Landes, das heisst, wo es an die
Stadt reicht, hatte ich den einen oder andere Fruehlingstag zugebracht
oder irgend einen Sonnenblick erlauscht. Das teilt man aber mit
Vielen, die aus der Stadt hinaus kommen, und muss es im Gedraenge und
Staube geniessen. In Heinbach war Einsamkeit und Stille, die blaue Luft
schien unermesslich, und die Bluetenfuelle wollte die Baeume erdruecken.
Jeden Morgen stroemte neue Wuerze durch die geoeffneten Fenster. Man
fuehlte in Heinbach, wie sehr mich Ungewohnten dieser Reichtum
ueberrasche und freue, und man suchte mir diese Freude auf jede Weise
noch fuehlbarer zu machen und sie zu erhoehen. Jeden Tag wurden die
Blumen in meiner Wohnung durch neu aufgebluehte aus den Gewaechshaeusern
ersetzt. Wenn in dem freien Grunde sich etwas zeigte, sei es ein
Gestraeuch, sei es eine Blume, so machte man mich darauf aufmerksam,
man brachte den groessten Teil der Zeit im Freien zu, und machte weit
oefter und weit laengere Spaziergaenge als sonst. Mathilde erzaehlte
mir es, wenn sie den Gesang eines Vogels gehoert hatte, wenn Faltern
vorueber geflogen waren, wenn sich ein Becher in einem Gebuesche
geoeffnet hatte, ja sie gab mir zuweilen Blumen, um sie in meiner
Wohnung aufzubewahren."
"So verging der Fruehling, und der Sommer rueckte vor.
War mir das Leben im vergangenen Jahre in dieser Familie angenehm
gewesen, so war es mir in diesem noch angenehmer. Wir gewoehnten uns
immer mehr an einander, und mir war zuweilen, als haette ich wieder
eine unzerstoerbare Heimat. Der Herr des Hauses zeichnete mich aus, er
besuchte mich oft in meiner Wohnung und sprach lange mit mir, er lud
mich zu sich, zeigte mir seine Sammlungen, seine Arbeiten und sprach
ueber Gegenstaende, die bewiesen, dass er mich auch achte. Mathildens
Mutter war sehr liebreich, freundlich und guetig. Sie sorgte wie frueher
fuer mich; aber sie tat es einfacher und fast wie ein Ding, das sich
von selber verstehe. Wir waren oft alle in ihrem Zimmer und spielten
ein kindisches Spiel oder trieben Musik. Alfred hatte gleich Anfangs
schon viel Zutrauen zu mir gezeigt, dieses Zutrauen war immer
gewachsen und war dann unbedingt geworden. Er war ein vortrefflicher
Knabe, offen, klar, einfach, gutmuetig, lebendig, ohne doch einem
heftigen Zorne anheimzufallen, heiter, unschuldig und folgsam. Er war
jetzt gegen neun Jahre alt, entwickelte sich stets froehlicher und
gewann am Geiste sowie am Koerper. Mathilde wurde immer herrlicher,
sie war zuletzt feiner als die Rosen an dem Gartenhause, zu denen wir
sehr gerne gingen. Ich liebte beide Kinder unsaeglich. Wenn Alfred
Unterrichtsstunde hatte, war ich dabei und leitete und ueberwachte sie,
ich ueberwachte sein Lernen und fragte ihn immer um das Gelernte, damit
er sich bei dem Lehrer keine Bloesse gebe. Die Gegenstaende, die ich mit
ihm vornahm, vermehrte ich ansehnlich, ich suchte sie ihm recht gut
beizubringen, und er lernte sie auch besser als frueher bei andern
Lehrern. Vater und Mutter waren oft bei dem Unterrichte zugegen und
ueberzeugten sich von den Fortschritten. Mathilde nahm ich nicht nur
sehr gerne, sondern viel lieber als frueher zu unsern Spaziergaengen
mit. Ich sprach mit ihr, ich erzaehlte ihr, ich zeigte ihr Gegenstaende,
die an unserm Wege waren, hoerte ihre Fragen, ihre Erzaehlungen und
beantwortete sie. Bei rauhen Wegen oder wo Naesse zu befuerchten war,
zeigte ich ihr die besseren Stellen oder die Richtungen, auf denen man
trockenen Fusses gehen konnte. Zu Hause nahm ich an ihren Bestrebungen
Anteil. Ich sah oefter ihre Zeichnungen an und gab ihr einen Rat, den
sie sehr gerne verlangte und befolgte. Sie freute sich sehr, wenn das
Veraenderte dann viel besser aussah. Ich war dabei, wenn sie auf dem
Claviere spielte, und hoerte zu, so lange ihre Finger aus den Saiten
die Toene hervor zu locken suchten. Ich schrieb ihr in Hefte sehr
zierlich ab, wenn sie irgendwo einen Gesang hoerte und sich denselben
aus dem Gedaechtnisse in Musiknoten aufschrieb. Dies war besonders in
Hinsicht der Zither der Fall, die sie spielen zu lernen angefangen
hatte, die sie sehr liebte und auf der sie bedeutende Fortschritte
machte. Oft hoerte die Mutter Mathildens mit Aufmerksamkeit zu, wenn
sie anmutige Weisen aus den Metallsaiten hervorbrachte, und ich und
Alfred regten uns nicht und lauschten. Ich las ihr und der Mutter aus
ihren Buechern vor und bezeichnete schoene Stellen durch eingelegte
Zeichen. Auch Blumen, Waldfruechte und dergleichen brachte ich ihr,
wenn ich dachte, dass sie ihr Freude machen koennten."
"Der Sommer war beinahe vergangen und der Herbst stand bevor. Wir
hatten so viel getan, dass uns die Zeit sehr kurz schien. Wir waren uns
auch genug, um unsere Stunden zu erfuellen. Wenn fremde Kinder zugegen
waren, wenn Spiele veranstaltet waren und alle auf dem heiteren Rasen
huepften und sprangen, stand Mathilde seitwaerts und sah teilnahmslos
zu. Wir fuhren auch nicht so oft in die Nachbarschaft wie im
vergangenen Jahre, und verlangten es auch nicht."
"Eines Tages nachmittags standen wir drei an dem Ausgange des langen
Laubenweges, der mit Reben bekleidet ist und zu dem Obstgarten fuehrt.
Mathilde und ich standen ganz allein an der Muendung des Laubganges,
Alfred war unter den Baeumen damit beschaeftigt gewesen, einige
Taefelchen, die an den Staemmen hingen und schmutzig geworden waren, zu
reinigen, dann las er abgefallenes halbreifes Obst zusammen, legte
es in Haeufchen und sonderte das bessere von dem schlechteren ab. Ich
sagte zu Mathilden, dass der Sommer nun bald zu Ende sei, dass die Tage
mit immer groesserer Schnelligkeit kuerzer werden, dass bald die Abende
kuehl sein wuerden, dass dann dieses Laub sich gelb faerben, dass man die
Trauben ablesen und endlich in die Stadt zurueckkehren wuerde."
"Sie fragte mich, ob ich denn nicht gerne in die Stadt gehe."
"Ich sagte, dass ich nicht gerne gehe, dass es hier gar so schoen sei und
dass es mir vorkomme, in der Stadt werde alles anders werden."
">Es ist wirklich sehr schoen<, antwortete sie, >hier sind wir alle
viel mehr beisammen, in der Stadt kommen Fremde dazwischen, man wird
getrennt und es ist, als waere man in eine andere Ortschaft gereist. Es
ist doch das groesste Glueck, Jemanden recht zu lieben.<"
">Ich habe keinen Vater, keine Mutter und keine Geschwister mehr<,
erwiderte ich, >und ich weiss daher nicht, wie es ist.<"
">Man liebt den Vater, die Mutter, die Geschwister<, sagte sie, >und
andere Leute.<"
">Mathilde, liebst du denn auch mich?< erwiderte ich."
"Ich hatte sie nie du genannt, ich wusste auch nicht, wie mir die Worte
in den Mund kamen, es war, als waeren sie mir durch eine fremde Macht
hineingelegt worden. Kaum hatte ich sie gesagt, so rief sie: >Gustav,
Gustav, so ausserordentlich, wie es gar nicht auszusprechen ist.<"
"Mir brachen die heftigsten Traenen hervor."
"Da flog sie auf mich zu, drueckte die sanften Lippen auf meinen Mund
und schlang die jungen Arme um meinen Nacken. Ich umfasste sie auch und
drueckte die schlanke Gestalt so heftig an mich, dass ich meinte, sie
nicht loslassen zu koennen. Sie zitterte in meinen Armen und seufzte."
"Von jetzt an war mir in der ganzen Welt nichts teurer, als dieses
suesse Kind."
"Als wir uns losgelassen hatten, als sie vor mir stand, ergluehend
in unsaeglicher Scham, gestreift von den Lichtern und Schatten des
Weinlaubes, und als sich, da sie den suessen Atem zog, ihr Busen hob und
senkte, war ich wie bezaubert, kein Kind stand mehr vor mir, sondern
eine vollendete Jungfrau, der ich Ehrfurcht schuldig war. Ich fuehlte
mich beklommen."
"Nach einer Weile sagte ich: >Teure, teure Mathilde.<"
">Mein teurer, teurer Gustav<, antwortete sie."
"Ich reichte ihr die Hand und sagte: >Auf immer, Mathilde.<"
">Auf ewig<, antwortete sie, indem sie meine Hand fasste."
"In diesem Augenblicke kam Alfred auf uns herzu. Er bemerkte nichts.
Wir gingen schweigend neben ihm in dem Gange dahin. Er erzaehlte uns,
dass die Namen der Baeume, die auf weisse Blechtaefelchen geschrieben
sind, welche Taefelchen an Draht von dem untersten Aste jedes Baumes
hernieder haengen, von den Leuten oft sehr verunreinigt wuerden, dass man
sie alle putzen solle, und dass der Vater den Befehl erlassen sollte,
dass ein jeder, der einen Baum waescht, putzt oder dergleichen oder der
sonst eine Arbeit bei ihm verrichtet, sich sehr in Acht zu nehmen
habe, dass er das Taefelchen nicht bespritzt oder sonst eine
Unreinigkeit darauf bringt. Dann erzaehlte er uns, dass er schoene
Borsdorfer Aepfel gefunden habe, welche durch einen Insektenstich zu
einer frueheren, beinahe vollkommenen Reife gediehen seien. Er habe sie
am Stamme des Baumes zusammengelegt und werde den Vater bitten, sie zu
untersuchen, ob man sie nicht doch brauchen koenne. Dann seien viele
andere, welche vor der Zeit abfielen, weil die Baeume heuer mit zu viel
Obst beladen waeren und ihre Kraft nicht genug ist, alle zur Reife zu
bringen. Diese habe er auch zusammengelegt, so viele er in der ersten
Baumreihe habe finden koennen. Sie werden wohl zu gar nichts tauglich
sein. Er freue sich schon sehr auf den Herbst, wo man alles das
herabnehmen werde und wo auch die schoenen roten, blauen und goldgruenen
Trauben von diesem Ganggelaender heruntergelesen werden wuerden. Es sei
gar nicht mehr lange bis dahin."
"Wir sprachen nicht und gingen einige Male in dem Gange mit ihm hin
und wider."
"Die grosse Erregung hatte sich ein wenig gelegt, und wir gingen in das
Haus. Ich ging aber nicht mit Mathilden zu ihrer Mutter, wie ich sonst
immer getan hatte, sondern nachdem ich Alfred in sein Zimmer geschickt
hatte, schweifte ich durch die Buesche herum und ging immer wieder auf
den Platz, von welchem ich die Fenster sehen konnte, innerhalb welcher
die teuerste aller Gestalten verweilte. Ich meinte, ich muesse sie
durch mein Sehnen zu mir herausziehen koennen. Es war erst ein
Augenblick, seit wir uns getrennt hatten, und mir erschien es so
lange. Ich glaubte, ohne sie nicht bestehen zu koennen, ich glaubte,
jede Zeit sei ein verlornes Gut, in welcher ich das holde, schlanke
Maedchen nicht an mein Herz drueckte. Ich hatte frueher nie irgend
ein Maedchen bei der Hand gefasst als meine Schwester, ich hatte nie
mit einem ein liebes Wort geredet oder einen freundlichen Blick
gewechselt. Dieses Gefuehl war jetzt wie ein Sturmwind ueber mich
gekommen. Ich glaubte sie durch die Mauern in ihrem Zimmer gehen
sehen zu muessen mit dem langen kornblumenblauen Kleide, mit den
glanzvollen Augen und dem rosenherrlichen Munde. Es bewegte sich der
Fenstervorhang, aber sie war nicht an demselben; es schimmerte an dem
Glase wie von einem rosigen Angesichte, aber es war nur ein schiefes
Hereinleuchten der beginnenden Abendroete gewesen. Ich ging wieder
durch die Buesche, ich ging durch den Weinlaubengang in den Obstgarten,
der Weinlaubengang war mir jetzt ein fremdwichtiges Ding, wie
ein Pallast aus dem fernsten Morgenlande. Ich ging durch das
Haselnussgebuesch zu dem Rosenhause, es war, als bluehten und gluehten
alle Rosen um das Haus, obwohl nur die gruenen Blaetter und die Ranken
um dasselbe waren. Ich ging wieder zu unserem Wohnhause zurueck und
ging auf den Platz, von dem ich Mathildens Fenster sehen musste. Sie
beugte sich aus einem heraus und suchte mit den Augen. Als sie mich
erblickt hatte, fuhr sie zurueck. Auch mir war es gewesen, da ich die
holde Gestalt sah, als haette mich ein Wetterstrahl getroffen. Ich
ging wieder in die Buesche. Es waren Flieder in jener Gegend, die eine
Strecke Rasen saeumten und in ihrer Mitte eine Bank hatten, um im
Schatten ruhen zu koennen. Zu dieser Bank ging ich immer wieder zurueck.
Dann ging ich wieder auf ein Fleckchen Rasen und sah gegen die
Fenster. Sie beugte sich wieder heraus. Dies taten wir ungezaehlte
Male, bis der Flieder in dem Rot der Abendroete schwamm und die Fenster
wie Rubinen glaenzten. Es war zauberhaft, ein suesses Geheimnis mit
einander zu haben, sich seiner bewusst zu sein und es als Glut im
Herzen zu hegen. Ich trug es entzueckt in meine Wohnung."
"Als wir zum Abendessen zusammen kamen, fragte mich Mathildens Mutter:
>Warum seid ihr denn heute, da ihr mit den Kindern aus dem Garten
zurueckgekehrt waret, nicht mehr zu mir gegangen?<"
"Ich vermochte auf diese Frage nicht ein Wort zu antworten; es wurde
aber nicht beachtet."
"Ich schlief in der ganzen Nacht kaum einige Augenblicke. Ich freute
mich schon auf den Morgen, an dem ich sie wieder sehen wuerde. Wir
trafen alle in dem Speisesaale zu dem Fruehmahle zusammen. Ein Blick,
ein leichtes Erroeten sagte alles, sie sagten, dass wir uns besassen
und dass wir es wussten. Den ganzen Morgen brachte ich mit Alfred
im eifrigen Lernen zu. Gegen Mittag, als Graeser und Laubblaetter
getrocknet waren, gingen wir in den Garten. Mathilde flog mit einem
Buche, in dem sie eben gelesen hatte, aus dem Hause, sie eilte auf uns
zu, und wir tauschten den Blick der Einigung. Sie sah mich innig an,
und ich fuehlte, wie meine Empfindung aus meinen Augen stroemte. Wir
gingen durch den Blumengarten und durch den Gemuesegarten auf den
Weinlaubengang zu. Es war, als haetten wir uns verabredet, dorthin
zu gehn. Mathilde und ich sprachen gewoehnliche Dinge, und in den
gewoehnlichen Dingen lag ein Sinn, den wir verstanden. Sie gab mir ein
Weinblatt, und ich verbarg das Weinblatt an meinem Herzen. Ich reichte
ihr ein Bluemchen, und sie steckte das Bluemchen in ihren Busen. Ich
nahm ihr das Papierstreifchen, welches als Merkmal in ihrem Buche
steckte, und behielt es bei mir. Sie wollte es wieder haben, ich
gab es nicht, und sie laechelte und liess es mir. Wir kamen in das
Haselgebuesch, durchstreiften es und traten vor die Rosen des
Gartenhauses. Sie nahm einige welke Blaetter ab und reinigte dadurch
den Zweig. Ich tat das Nehmliche mit dem Nachbarzweige. Sie gab mir
ein gruenes Rosenblatt, ich knickte einen zarten Zweig, was eigentlich
nicht erlaubt war, und gab ihr den Zweig. Sie wendete sich einen
Augenblick ab, und da sie sich wieder uns zugewandt, hatte sie den
Rosenzweig bei sich verborgen. Wir gingen in das Gartenhaus, sie
stand an dem Tische und stuetzte sich mit ihrer Hand auf die Platte
desselben. Ich legte meine Hand auch auf die Platte, und nach einigen
Augenblicken hatten sich unsere Finger beruehrt. Sie stand wie eine
feurige Flamme da, und mein ganzes Wesen zitterte. Im vorigen Sommer
hatte ich ihr oft die Hand gereicht, um ihr ueber eine schwierige
Stelle zu helfen, um sie auf einem schwanken Stege zu stuetzen oder sie
auf schmalem Pfade zu geleiten. Jetzt fuerchteten wir, uns die Haende
zu geben, und die Beruehrung war von der groessten Wirkung. Es ist nicht
zu sagen, woher es kommt, dass vor einem Herzen die Erde, der Himmel,
die Sterne, die Sonne, das ganze Weltall verschwindet, und vor dem
Herzen eines Wesens, das nur ein Maedchen ist und das Andere noch ein
Kind heissen. Aber sie war wie der Stengel einer himmlischen Lilie
zaubervoll, anmutsvoll, unbegreiflich."
"Wir gingen wieder in das Haus, und wir gingen, ehe wir zu dem
Mittagessen gerufen wurden, zu der Mutter. Bei der Mutter waren
wir stiller und wortarmer als gewoehnlich. Mathilde suchte sich ein
Papierstreifchen und legte es wieder an jener Stelle in das Buch, wo
ich ihr das Merkzeichen herausgenommen hatte. Dann setzte sie sich zu
dem Claviere und rief einzelne Toene aus den Saiten. Alfred erzaehlte,
was wir in dem Garten getan hatten und berichtete der Mutter, dass wir
verdorrte und unbrauchbare Blaetter von den Rosenzweigen, die an den
Latten des Gartenhauses angebunden sind, herabgenommen haetten.
Hierauf wurden wir zu dem Mittagessen gerufen. Nachmittag war kein
Spaziergang. Die Eltern gingen nicht, und ich schlug Alfred und
Mathilden keinen vor. Ich nahm ein Buch eines Lieblingsdichters, las
sehr lange, und feurige Traenen wie heisse Tropfen kamen oefter in meine
Augen. Spaeter sass ich auf der Bank in dem Fliedergebuesche und schaute
zuweilen durch die Zweige auf die Wohnung Mathildens. Dort stand
manches Mal das Maedchen, das so schoen wie ein Engel war, an dem
Fenster. Gegen den Abend spielte Mathilde in dem Zimmer der Mutter auf
dem Claviere sehr ernst, sehr schoen und sehr ergreifend. Dann nahm sie
noch die Zither und spielte auf derselben ebenfalls. Die Saiten mussten
sie so ergriffen haben, dass sie nicht aufhoeren konnte. Sie spielte
immer fort, und die Toene wurden immer ruehrender und ihre Verbindung
immer natuerlicher. Die Mutter lobte sie sehr. Der Vater, welcher in
einem Geschaefte in der naechsten kleinen Stadt gewesen war, kam endlich
auch zur Mutter, und wir blieben in dem Zimmer derselben, bis wir zu
dem Abendessen gerufen wurden. Der Vater nahm Mathilden an den Arm und
fuehrte sie zaertlich in den Speisesaal."
"Es begann nun eine merkwuerdige Zeit. In meinem und Mathildens Leben
war ein Wendepunkt eingetreten. Wir hatten uns nicht verabredet, dass
wir unsere Gefuehle geheim halten wollen; dennoch hielten wir sie
geheim, wir hielten sie geheim vor dem Vater, vor der Mutter, vor
Alfred und vor allen Menschen. Nur in Zeichen, die sich von selber
gaben und die wie von selber auf die Lippen kamen, machten sie wir uns
gegenseitig kund. Tausend Faeden fanden sich, an denen unsere Seelen zu
einander hin und her gehen konnten.
Wenn wir in dem Besitze von diesen tausend Faeden waren, so fanden sich
wieder tausend und mehrten sich immer. Die Luefte, die Graeser, die
spaeten Blumen der Herbstwiese, die Fruechte, der Ruf der Voegel, die
Worte eines Buches, der Klang der Saiten, selbst das Schweigen waren
unsere Boten. Und je tiefer sich das Gefuehl verbergen musste, desto
gewaltiger war es, desto draengender loderte es in dem Innern. Auf
Spaziergaenge gingen wir drei, Mathilde, Alfred und ich, jetzt weniger
als sonst, es war, als scheuten wir uns vor der Anregung. Die Mutter
reichte oft den Sommerhut und munterte auf. Das war dann ein grosses,
ein namenloses Glueck. Die ganze Welt schwamm vor den Blicken, wir
gingen Seite an Seite, unsere Seelen waren verbunden, der Himmel, die
Wolken, die Berge laechelten uns an, unsere Worte konnten wir hoeren,
und wenn wir nicht sprachen, so konnten wir unsere Tritte vernehmen,
und wenn auch das nicht war, oder wenn wir stille standen, so wussten
wir, dass wir uns besassen, der Besitz war ein unermesslicher, und wenn
wir nach Hause kamen, war es, als sei er noch um ein Unsaegliches
vermehrt worden. Wenn wir in dem Hause waren, so wurde ein Buch
gereicht, in dem unsere Gefuehle standen, und das Andere erkannte die
Gefuehle, oder es wurden sprechende Musiktoene hervorgesucht, oder es
wurden Blumen in den Fenstern zusammengestellt, welche von unserer
Vergangenheit redeten, die so kurz und doch so lang war. Wenn wir
durch den Garten gingen, wenn Alfred um einen Busch bog, wenn er
in dem Gange des Weinlaubes vor uns lief, wenn er frueher aus dem
Haselgebuesche war als wir, wenn er uns in dem Innern des Gartenhauses
allein liess, konnten wir uns mit den Fingern beruehren, konnten uns
die Hand reichen oder konnten gar Herz an Herz fliegen, uns einen
Augenblick halten, die heissen Lippen an einander druecken und die Worte
stammeln: >Mathilde, dein auf immer und auf ewig, nur dein allein, und
nur dein, nur dein allein!<"
">O ewig dein, ewig, ewig, Gustav, dein, nur dein und nur dein
allein.<"
"Diese Augenblicke waren die allerglueckseligsten."
"So war der tiefe Herbst gekommen. Wir hatten in dem Reste des Sommers
ein Aeusseres nicht vermisst. Mathilde und Alfred hatten immer weniger
verlangt, in die Nachbarschaft zu fahren, und so war es gekommen, dass
auch die Eltern weniger fuhren und dass auch Fremde weniger zu uns
kamen. Wenn sie aber da waren, wenn auch Alfred an den Spielen und
Ergoetzungen der Kinder Teil nahm, so war Mathilde doch teilnahmloser
als je. Sie hielt sich ferne, wie eine, die nicht hieher gehoert. Auch
in ihrem koerperlichen Wesen war in dieser kurzen Zeit eine grosse
Veraenderung vorgegangen. Sie war staerker geworden, ihre Wangen waren
purpurner, ihre Augen glaenzender geworden.
Alfred liebte mich sehr. Neben seinen Eltern und seiner Schwester
liebte er vielleicht nichts so sehr als mich, und ich vergalt es ihm
mit ganzer Seele."
"Der spaete Herbst war endlich dem Beginne des Winters gewichen. Wie
wir sehr frueh von der Stadt auf das Land gingen, so blieben wir auch
sehr tief in die sinkende Jahreszeit hinein auf demselben. Alfreds
Erwartung war in Erfuellung gegangen. Das Obst und die Trauben waren
abgenommen worden. Auf den Zweigen der Baeume war kein Blatt mehr, und
der Nebel und der Frost zogen sich durch die Gruende des Tales. Da
gingen wir in die Stadt. Dort war Mathilde enger umgrenzt. Lehrer,
Erziehungsstunden, Unterricht, Arbeiten draengten sich an sie heran.
Ihr ganzes Wesen aber war begeisterter und getragener, und ich
erschien mir reich, um Vieles reicher als die Besitzer all der Haeuser,
der Pallaeste und des Glanzes der ungeheuren Stadt. Wir konnten uns nur
seltener sprechen; aber wenn sie mir auf dem Gange begegnete, wenn sie
mir in dem Zimmer der Mutter einige Worte sagen konnte, wenn in der
Menge das Geschick uns an einander vorueberfuehrte oder wenn uns ein
anderer geistiger Augenblick gegeben war, dann sagten mir ihre schoenen
Augen, dann sagten einige Worte, wie sehr wir uns liebten, wie
unveraenderlich diese Liebe sei und wie unbegrenzt unsere Seelen
einander beherrschten. Sie wurde jetzt auch von andern Leuten bemerkt,
und junge Maenner richteten ihre Augen auf sie; aber wenn man ihr
entgegen kam, wenn ihr gehuldigt wurde, wenn man sie in einer Familie
feierte, so war sie ganz ruhig gegen diese Dinge, setzte ihnen gar
keine Aeusserung entgegen, und ihr engelschoenes Wesen sagte mir, es
sagte es nur von mir verstanden, dass sie mit ihrer wundervollen
Gestalt, mit der Waerme ihrer Seele und dem Glanz ihres Aufbluehens nur
mich begluecke, und dass es ihr Wonne mache, mich begluecken zu koennen.
Oft, wenn ich von weiten Gaengen in der Stadt zurueckkehrte und zu dem
Hause kam, in welchem wir wohnten, blieb ich stehen und betrachtete
das Haus. Es war merkwuerdiger, es war gefeit worden vor den Haeusern
der Stadt, und mit Ruehrung sah ich auf die Mauern, innerhalb welcher
das Wesen wohnte, das von ueberirdischen Raeumen gekommen war, meine
Seele zu erfuellen. Mathilde sah die Vergoetterung, welche ich ihr
weihte, sie sah dieselbe genau auf den geheimen Wegen, auf denen ich
ihre Liebe erkannte, und Freude leuchtete darueber von ihrer Stirne,
welche gleichfalls nur von mir gesehen wurde. Die Eltern Mathildens
fingen auch an, sie in vorzueglichere Stoffe zu kleiden, als sie bisher
getan hatten, und wenn sie mit edlen Gewaendern angetan vor mir stand,
kam sie mir ferner und naeher, fremder und angehoeriger vor als sonst."
"Eines Tages, als ich ueber die Treppe unsers Hauses, welches nur von
unserer Familie allein bewohnt wurde, herabging, um einen Freund zu
besuchen, begegnete mir Mathilde. Sie war mit der Mutter an das Haus
gefahren, die Mutter war in dem Wagen sitzen geblieben, sie aber
sollte hinaufgehen, um irgend etwas zu holen. Sie war in schwarze
Seide gekleidet, ein seidenes Maentelchen war um ihre Schultern, und
aus dem Hute mit dem gruenen Flore sah das bluehende, durch die Kaelte
erfrischte Angesicht hervor. Da wir uns hinter einer Biegung der
Treppe begegneten, wurde sie dunkelgluehend. Ich erschrak und sagte
aber: >O Mathilde, Mathilde, du himmelvolles Wesen, alle streben sie
nach dir, wie wird das werden, o wie wird das werden?!<"
">Gustav, Gustav<, antwortete sie, >du bist der trefflichste von
allen, du bist ihr Koenig, du bist der Einzige, alles ist gut und
herrlich, und Millionen Kraefte sollen es nicht zerreissen koennen.<"
"Ich ergriff ihre Hand, ein gluehender Kuss, nur einen Augenblick
gegeben, aber mit fest aneinandergedrueckten Lippen, bekraeftigte die
Worte. Ich hoerte ihre Seide die Treppe emporrauschen, ich aber ging
die Stufen hinunter. Da ich unten die glaeserne Doppeltuer der Treppe
geoeffnet hatte, sah ich den Wagen stehen. Hinter den Fenstern
desselben sass freundlich die Mutter Mathildens und sah mich an. Ich
gruesste sie ehrerbietig und ging vorueber. Ich ging nun nicht mehr zu
dem Freunde, den ich hatte besuchen wollen."
"Mit Alfred betrieb ich das, was er zu lernen hatte, immer eifriger,
ich war immer sorgsamer, dass er es gut inne habe, und legte, wo ich
konnte, wie frueher und in noch groesserem Masse selber Hand an. Auch auf
den Gang seiner Entwickelung im Allgemeinen suchte ich so einzuwirken,
wie es mir nur moeglich war. Ich sprach sehr viel mit ihm und ging sehr
viel mit ihm um. Er schloss sich, da er es wohl wusste, dass ich ihn
liebe, immer inniger an mich an, ja er schloss sich auf das Innigste
und fast ausschliesslich an mich. Er wohnte wie auf dem Lande so auch
in der Stadt neben mir."
"Im ersten Fruehlinge fuhren wir wieder wie im vorigen Jahre nach
Heinbach. Es war wieder die Veranstaltung getroffen, dass Mathilde,
Alfred und ich in einem Wagen fuhren. Alfred sass wieder neben mir und
schmiegte sich an mich. Mathilde sass gegenueber. Und so konnten wir
uns zwei Tage mit den Augen der Liebe ungehindert ansehen und konnten
mit einander sprechen. Und wenn wir auch von gleichgueltigen Dingen
redeten, so hoerten wir doch unsere Stimme, und in gewoehnlichen Dingen
zitterte das tiefe Herz durch. Jene zwei Tage waren die glueckseligsten
meines Lebens."
"Auf dem Lande begann nun wieder ein Leben, wie es im vergangenen
Jahre gewesen war. Wir waren ungebunden und konnten leichter unsere
Seelen tauschen. Wir waren freier in dem Zimmer der Mutter oder in dem
des Vaters, wir konnten den Garten besuchen, wir konnten unter den
Baeumen des Rasenplatzes wandeln und wir konnten spazieren gehen. Am
liebsten wurde uns der Weinlaubengang. Er war ein Heiligtum geworden,
seine Zweige sahen uns vertraut an, seine Blaetter wurden unsere
Zeugen, und durch seine Verschlingungen bebte manches tiefe Wort und
wehte mancher Hauch der unergruendlichsten Glueckseligkeit. Fast ebenso
lieb war uns das Gartenhaus. Manchen Flug der Wonne deckte es mit
seinen schuetzenden Mauern, und es umgab uns wie ein stiller Tempel,
wenn wir alle drei eintraten und zwei Gemueter wallten. Wir gingen
oft an diese beiden Orte. Die Verbindungsfaeden wuchsen tausendfach,
Mathilde wurde stets noch herrlicher, sie wurde von Andern immer
heisser begehrt, aber ihre Seele schloss sich nur fester an die
meinige."
"Ich machte jetzt oft sehr grosse Wege allein. Wenn ich so weit war,
dass ich das Haus nicht mehr sehen konnte und wenn ich so dastand und
die weissen Wolken betrachtete, die ueber dem Hause stehen mussten, und
wenn ich auf den Wald sah, jenseits dessen das Haus sich befand, so
kam eine tiefe Bewegung in mich. Und wenn ich dann nach Hause eilte,
ins Innere der Mauern ging, sie da sah und an ihr die Freude des
Wiedersehens erkannte, so frohlockte gleichsam springend mir das Herz
in dem Busen ueber meinen unendlichen Besitz."
"Dennoch war allgemach etwas da, das wie ein Uebel in mein Glueck
bohrte. Es nagte der Gedanke an mir, dass wir die Eltern Mathildens
taeuschen. Sie ahnten nicht, was bestand, und wir sagten es ihnen
nicht. Immer drueckender wurde mir das Gefuehl und immer aengstender
lastete es auf meiner Seele. Es war wie das Unheil der Alten, welches
immer groesser wird, wenn man es beruehrt."
"Eines Tages, da eben die Rosenbluete war, sagte ich zu Mathilden, ich
wolle zur Mutter gehen, ihr alles entdecken und sie um ihr guetiges
Vorwort bei dem Vater bitten. Mathilde antwortete, das werde gut sein,
sie wuensche es, und unser Glueck muesse dadurch sich erst recht klaeren
und befestigen."
"Ich ging nun zur Mutter Mathildens und sagte ihr alles mit schlichten
Worten, aber mit zagender Stimme."
">Ich habe das von euch nicht erwartet und nicht geahnt<, erwiderte
sie, >ich kann euch auch einen Bescheid nicht geben. Ich muss erst mit
meinem Gatten sprechen. Kommt in einer Stunde in mein Zimmer, und ich
werde euch antworten.<"
"Ich verbeugte mich, verliess ihr Gemach und begab mich in mein
Eckzimmer."
"Als die Stunde vorueber war, ging ich in das Besuchzimmer der Mutter
Mathildens. Sie erwartete mich schon. Sie sass an ihrem Tische, um den
wir uns so oft versammelt hatten. Sie bot mir auch einen Stuhl an.
Nachdem ich mich gesetzt hatte, sagte sie: >Mein Gatte ist mit mir
gleicher Ansicht. Wir haben euch ein Vertrauen geschenkt, das so gross
war, dass wir es nicht verantworten koennen. Ihr gabet uns Grund zu
diesem Vertrauen. Wir wollen nicht weiter darueber rechten. Aber eins
muss gesprochen werden. Die Verbindung, welche ihr beide geschlossen
habt, ist ohne Ziel, wenigstens ist jetzt ein Ziel nicht abzusehen.
Ihr moegt wohl beide einen gleichen Anteil an der Schliessung dieses
Bundes haben. Aber beide durftet ihr vielleicht an seine Folgen nicht
gedacht haben, sonst koennten wir euch schwerer entschuldigen. Ihr habt
euch nur eurem Gefuehle hingegeben. Ich begreife das. Ich kann mir nur
nicht erklaeren, dass ich es nicht schon frueher begriffen habe. Ich habe
euch so - so sehr vertraut. Hoert mich aber jetzt an. Mathilde ist noch
ein Kind, es muss eine Reihe von Jahren vergehen, in denen sie noch
lernen muss, was ihr fuer ihren einstigen Beruf not tut, es muss noch
eine Reihe von Jahren vergehen, ehe sie nur begreift, was der Bund
ist, den sie eben geschlossen hat. Sie ist lebhaft, sie hat ein Gefuehl
von ihrer Seele Besitz nehmen lassen, welches ihr angenehm ist und
welches wahrscheinlich diese ihre ganze Seele erfuellt. Sollen wir sie
in diesem Gefuehle befangen sein lassen in der ganzen Zeit, in der sie
erst die wichtigsten Vorbereitungen zu ihrem kuenftigen Leben treffen
muss, oder soll sie ruhiger sein, um diese Vorbereitungen in dem
rechten Masse treffen zu koennen? Soll das Gefuehl nun fortdauern, immer
fort, bis wir sagen koennen, dass sie Braut sei? Wenn es fortdauert,
wird es nicht peinigende Stunden bringen, da es nicht so bald in
seinen natuerlichen Abschluss gelangen kann und Zweifel, Ungeduld,
Vorwaertstreiben, Unmut und Schmerz in seinem Gefolge fuehren? Wird es
da nicht jene schoenen, edlen, heitern, ruhigen Tage wegfressen, die
der aufbluehenden Jungfrau bestimmt sind, ehe sie den Brautkranz
in ihre Haare flicht? Sind nicht oft fruehzeitige, auf weite Ziele
gerichtete Neigungen die Zerstoererinnen des Lebensglueckes geworden?
Wenn ihr Mathilden liebt, wenn ihr sie mit wahrhafter Liebe eures
Herzens liebt, koennt ihr sie einer solchen Gefahr aussetzen
wollen? Graebt nicht tiefes Sehnen und heftiges Fuehlen, durch Jahre
fortgesetzt, alle Kraefte des Menschen an? Und wie, wenn die Neigung
des einen schwindet und das andere trostlos ist? Oder wenn sie in
beiden ermattet und eine Leere hinter sich laesst? Ihr werdet beide
sagen, das sei bei euch nicht moeglich. Ich weiss, dass ihr jetzt so
fuehlt, ich weiss, dass es bei euch vielleicht auch nicht moeglich
ist; allein ich habe oft gesehen, dass Neigungen aufhoerten und sich
aenderten, ja dass die staerksten Gefuehle, welche allen Gewalten
trotzten, dann, da sie keinen andern Widerstand mehr hatten als
die zaehe, immer dauernde, aufreibende Zeit, dieser stillen und
unscheinbaren Gewalt unterlegen sind. Soll Mathilde - ich will sagen
eure Mathilde - dieser Moeglichkeit anheimgegeben werden? Ist ihr das
Leben, in das sie jetzt mit frischer Seele hinein sieht, nicht zu
goennen? Es ist groessere Liebe, auf die eigene Seligkeit nicht achten,
ja die gegenwaertige Seligkeit des geliebten Gegenstandes auch nicht
achten, aber dafuer das ruhige, feste und dauernde Glueck desselben
begruenden. Das, glaube ich, ist eure und ist Mathildens Pflicht. Ihr
koennt nur nicht einwenden, dass dieses Glueck durch eine Verbindung,
die sogleich geschlossen wird, zu begruenden sei. Wenn auch Mathildens
Vermoegen so gross waere, dass daraus ein Familienbesitzstand gegruendet
werden koennte, wenn ihr es auch ueber euch vermoechtet, von dem
Vermoegen eurer Gattin wenigstens eine Zeit hindurch zu leben, was ich
bezweifle, so waere damit doch noch nichts gewonnen, da Mathilde, wie
ich sagte, die bei weitem groessere Zahl von Eigenschaften noch nicht
besitzt, welche eine Gattin und Mutter besitzen muss, da sie ferner
nach den Ansichten, die wir ueber das koerperliche Wohl unserer Kinder
fuer unsere Pflicht halten, wenigstens vor sechs oder sieben Jahren
sich nicht vermaehlen kann, und da also die Unsicherheit und Gefahr,
wie ich frueher sprach, auch bei dieser eurer Behauptung fuer sie und
euch vorhanden waeren. Da die Kinder in dem Alter Mathildens ihren
Eltern ohne Bedingung zu folgen haben, und da gute Kinder, wozu ich
Mathilden zaehle, auch wenn es ihrem Herzen Schmerz macht, gerne
folgen, weil sie der Liebe und der bessern Einsicht der Eltern
vertrauen; so haette ich nur sagen duerfen, mein Gatte und ich erkennen,
dass zum Wohle Mathildens das Band, das sie geschlungen hat, nicht
fortdauern duerfe und dass sie daher dasselbe abbrechen moege; allein
ich habe euch die Gruende unserer Ansicht entwickelt, weil ich euch
hochachte und weil ich auch gesehen habe, dass ihr mir zugetan seid,
wie ja auch euer Gestaendnis beweist, welches freilich etwas frueher
haette gemacht werden sollen. Erlaubt, dass ich nun auch von euch etwas
spreche. Ihr seid, wenn auch aelter als Mathilde, doch als Mann noch so
jung, dass ihr die Lage in der ihr seid, kaum zu beurteilen faehig sein
duerftet. Mein Gatte und ich sind der Ansicht, dass ihr, so weit wir
euch kennen, durch euer Gefuehl, das immer edel und warm ist, in
die Neigung zu Mathilden, der wir auch als Eltern immerhin einigen
Liebreiz zusprechen muessen, gestuerzt worden seid, dass sich euch das
Gefuehl als etwas Hohes und Erhabenes angekuendigt hat, das euch noch
dazu so beseligte, und dass ihr daher an keinen Widerstand gedacht
habt, der euch ja auch als Untreue an Mathilden erscheinen musste.
Allein eure Lage, in dieser Art genommen, darf nicht als die
gesetzmaessige bezeichnet werden. Ihr seid so jung, ihr habt euch in den
Anfang einer Laufbahn begeben. Ihr muesst nun in derselben fortfahren
oder, wenn ihr sie missbilligt, eine andere einschlagen. In ganz und
gar keiner kann ein Mann von eurer Begabung und eurem inneren Wesen
nicht bleiben. Welche lange Zeit liegt nun vor euch, die ihr benuetzen
muesst, euch in jene feste Lebenstaetigkeit zu bringen, die euch not tut,
und euch jene aeussere Unabhaengigkeit zu erwerben, die ihr braucht,
damit ihr Beides zur Errichtung eines dauernden Familienverhaeltnisses
anwenden koennt. Welche Unsicherheit in euren Bestrebungen, wenn ihr
eine verfruehte Neigung in dieselben hinein nehmt, und welche Gefahren
in dieser euch beherrschenden Neigung fuer euer Wesen und euer Herz!
Es wird euch beiden jetzt Schmerz machen, das geknuepfte Band zu loesen
oder wenigstens aufzuschieben, wir wissen es, wir fuehlen den Schmerz,
ihr beide dauert uns, und wir machen uns Vorwuerfe, dass wir die
entstandene Sachlage nicht zu verhindern gewusst haben; aber ihr werdet
beide ruhiger werden, Mathilde wird ihre Bildung vollenden koennen, ihr
werdet in eurem zukuenftigen Stande euch befestigst haben, und dann
kann wieder gesprochen werden. Ihr haettet auch ohne diese Neigung
nicht lange mehr in eurer gegenwaertigen Stellung bleiben koennen. Wir
verdanken euch sehr viel. Unser Alfred und auch Mathilde reiften an
euch sehr schoen empor. Aber eben deshalb haetten wir es nicht ueber
unser Gewissen bringen koennen, euch laenger zu unserem Vorteile von
eurer Zukunft abzuhalten, und mein Gatte hatte sich vorgenommen, mit
euch ueber diese Sache zu sprechen. Ueberdenkt, was ich euch sagte. Ich
verlange heute keine Antwort; aber gebt sie mir in diesen Tagen. Ich
habe noch einen Wunsch, ich kenne euch und ich will ihn euch deshalb
anvertrauen. Ihr habt eine sehr grosse Gewalt ueber Mathilden, wie
wir wohl immer gesehen haben, wie sie uns in ihrer Groesse aber nicht
erschienen ist, wendet, wenn meine Worte bei euch einen Eindruck
machten, diese Gewalt auf sie an, um sie von dem zu ueberzeugen, was
ich euch gesagt habe, und um das arme Kind zu beruhigen. Wenn es euch
gelingt, glaubt mir, so erweiset ihr Mathilden dadurch eine grosse
Liebe, ihr erweiset sie euch und auch uns. Geht dann mit dem Eifer,
der Begabung und der Ausdauer, wie ihr sie in unserem Hause bewiesen
habt, an euren Beruf. Wir waren euch alle sehr zugetan, ihr werdet
wieder Neigung und Anhaenglichkeit finden, ihr werdet ruhiger werden
und alles wird sich zum Guten wenden.<"
"Sie hatte ausgesprochen, legte ihre schoene, freundliche Hand auf den
Tisch und sah mich an."
">Ihr seid ja so blass wie eine getuenchte Wand<, sagte sie nach einem
Weilchen."
"In meine Augen drangen einzelne Traenen, und ich antwortete: >Jetzt
bin ich ganz allein. Mein Vater, meine Mutter, meine Schwester sind
gestorben.< Mehr konnte ich nicht sagen, meine Lippen bebten vor
unsaeglichem Schmerz."
"Sie stand auf, legte ihre Hand auf meinen Scheitel und sagte unter
Traenen mit ihrer lieblichen Stimme: >Gustav, mein Sohn! Du bist es ja
immer gewesen, und ich kann einen besseren nicht wuenschen. Geht jetzt
beide den Weg eurer Ausbildung, und wenn dann einst euer gereiftes
Wesen dasselbe sagt, was jetzt das wallende Herz sagt, dann kommt
beide, wir werden euch segnen. Stoert aber durch Fortspinnen, Steigern
und vielleicht Abarten eurer jetzigen heftigen Gefuehle nicht die euch
so noetige letzte Entwicklung.<"
"Es war das erste Mal gewesen, dass sie mich du genannt hatte."
"Sie verliess mich und ging einige Schritte im Zimmer hin und wieder."
">Verehrte Frau<, sagte ich nach einer Weile, >es ist nicht noetig,
dass ich euch morgen oder in diesen Tagen antworte; ich kann es jetzt
sogleich. Was ihr mir an Gruenden gesagt habt, wird sehr richtig sein,
ich glaube, dass es wirklich so ist, wie ihr sagt; allein mein ganzes
Innere kaempft dagegen, und wenn das Gesagte noch so wahr ist, so
vermag ich es nicht zu fassen. Erlaubt, dass eine Zeit hierueber vergehe
und dass ich dann noch einmal durchdenke, was ich jetzt nicht denken
kann. Aber eins ist es, was ich fasse. Ein Kind darf seinen Eltern
nicht ungehorsam sein, wenn es nicht auf ewig mit ihnen brechen, wenn
es nicht die Eltern oder sich selbst verwerfen soll. Mathilde kann
ihre guten Eltern nicht verwerfen, und sie ist selber so gut, dass sie
auch sich nicht verwerfen kann. Ihre Eltern verlangen, dass sie jetzt
das geschlossene Band aufloesen moege, und sie wird folgen. Ich will es
nicht versuchen, durch Bitten das Gebot der Eltern wenden zu wollen.
Die Gruende, welche ihr mir gesagt habt und welche in mein Wesen nicht
eindringen wollen, werden in dem eurigen fest haften, sonst haettet
ihr mir sie nicht so nachdruecklich gesagt, haettet sie mir nicht mit
solcher Guete und zuletzt nicht mit Traenen gesagt. Ihr werdet davon
nicht lassen koennen. Wir haben uns nicht vorzustellen vermocht, dass
das, was fuer uns ein so hohes Glueck war, fuer die Eltern ein Unheil
sein wird. Ihr habt es mir mit eurer tiefsten Ueberzeugung gesagt.
Selbst wenn ihr irrtet, selbst wenn unsere Bitten euch zu erweichen
vermoechten, so wuerde euer freudiger Wille, euer Herz und euer Segen
mit dem Bunde nicht sein, und ein Bund ohne der Freude der Eltern,
ein Bund mit der Trauer von Vater und Mutter muesste auch ein Bund
der Trauer sein, er waere ein ewiger Stachel, und euer ernstes oder
bekuemmertes Antlitz wuerde ein unvertilgbarer Vorwurf sein. Darum ist
der Bund, und waere er der berechtigteste, aus, er ist aus auf so
lange, als die Eltern ihm nicht beistimmen koennen. Eure ungehorsame
Tochter wuerde ich nicht so unaussprechlich lieben koennen, wie ich sie
jetzt liebe, eure gehorsame werde ich ehren und mit tiefster Seele,
wie fern ich auch sein mag, lieben, so lange ich lebe. Wir werden
daher das Band loesen, wie schmerzhaft die Loesung auch sein mag. - O
Mutter, Mutter! - lasst euch diesen Namen zum ersten und vielleicht
auch zum letzten Male geben -, der Schmerz ist so gross, dass ihn keine
Zunge aussprechen kann und dass ich mir seine Groesse nie vorzustellen
vermocht habe!<"
">Ich bekenne es<, antwortete sie, >und darum ist ja der Kummer, den
ich und mein Gatte empfinden, so gross, dass wir unserem teuren Kinde
und euch, den wir auch lieben, die Seelenkraenkung nicht ersparen
koennen.<"
">Ich werde morgen Mathilden sagen<, erwiderte ich, >dass sie ihrem
Vater und ihrer Mutter gehorchen muesse. Heute erlaubt mir, verehrte
Frau, dass ich meine Gedanken etwas ordne - und dass ich auch noch
andere Dinge ordne, die not tun.<"
"Die Traenen waren mir wieder in die Augen getreten."
">Sammelt euch, lieber Gustav<, sagte sie, >und tut, was ihr fuer gut
haltet, sprecht mit Mathilden oder sprecht auch nicht, ich schreibe
euch nichts vor. Es wird eine Zeit kommen, in der ihr einsehen werdet,
dass ich euch nicht so unrecht tue, als ihr jetzt vielleicht glauben
moeget.<"
"Ich kuesste ihr die Hand, die sie mir guetig gab, und verliess das
Zimmer."
"Am andern Tage bat ich Mathilden, mit mir einen Gang in den Garten
zu machen. Wir gingen durch den ersten Teil desselben, und wir gingen
durch den Weinlaubengang bis zu dem Gartenhause, an dem die Rosen
bluehten. Waehrend wir so wandelten, sprachen wir fast kein Wort,
ausser dass wir sagten, wie uns hie und da eine Blume gefalle, wie das
Weinlaub schoen sei und wie der Tag sich so ausgeheitert habe. Wir
waren zu gespannt auf das, was da kommen werde, Mathilde auf das, was
ich ihr mitzuteilen habe, und ich auf das, wie sie die Mitteilung
aufnehmen werde. In der Naehe des Gartenhauses war eine Bank, auf
welche von einem Rosengebuesche Schatten fiel. Ich lud sie ein, mit mir
auf der Bank Platz zu nehmen. Sie tat es. Es war das erste Mal, dass
wir ganz allein in den Garten gingen und dass wir allein bei einander
auf einer Bank sassen. Es war das Vorzeichen, dass uns dies in Zukunft
entweder ungestoert werde gestattet sein oder dass es das letzte Mal sei
und dass man darum ein unbedingtes Vertrauen in uns setze. Ich sah,
dass Mathilde das empfinde; denn in ihrem ganzen Wesen war die hoechste
Erwartung ausgepraegt. Dessohngeachtet rief sie mit keinem Worte den
Anfang der Mitteilungen hervor. Mein Wesen mochte sie in Angst gesetzt
haben; denn obwohl ich mir unzaehlige Male in der Nacht die Worte
zusammengestellt hatte, mit denen ich sie anreden wollte, so
konnte ich doch jetzt nicht sprechen, und obwohl ich suchte, meine
Empfindungen zu bemeistern, so mochte doch der Schmerz in meinem
Aeussern zu lesen gewesen sein. Da wir schon eine Weile gesessen, waren,
auf unsere Fussspitzen gesehen und, was zu verwundern war, uns nicht
an der Hand gefasst hatten, fing ich an, mit zitternder Stimme und mit
stockendem Atem zu sagen, was ihre Eltern meinen, und dass sie den
Wunsch hegen, dass wir wenigstens fuer die jetzige Zeit unser Band
aufloesen moegen. Ich ging auf die Gruende, welche die Mutter angegeben
hatte, nicht ein, und legte Mathilden nur dar, dass sie zu gehorchen
habe und dass unter Ungehorsam unser Bund nicht bestehen koenne."
"Als ich geendet hatte, war sie im hoechsten Masse erstaunt."
">Ich bitte dich, wiederholt mir nur in Kurzem, was du gesprochen hast
und was wir tun sollen<, sagte sie."
">Du musst den Willen deiner Eltern tun und das Band mit mir loesen<,
antwortete ich."
">Und das schlaegst du vor, und das hast du der Mutter versprochen, bei
mir auszuwirken?< fragte sie."
">Mathilde, nicht auszuwirken<, antwortete ich, >wir muessen gehorchen;
denn der Wille der Eltern ist das Gesetz der Kinder.<"
">Ich muss gehorchen<, rief sie, indem sie von der Bank aufsprang, >und
ich werde auch gehorchen; aber du musst nicht gehorchen, deine Eltern
sind sie nicht. Du musstest nicht hieher kommen und den Auftrag
uebernehmen, mit mir das Band der Liebe, das wir geschlossen hatten,
aufzuloesen. Du musstest sagen: Frau, eure Tochter wird euch gehorsam
sein, sagt ihr nur euren Willen; aber ich bin nicht verbunden, eure
Vorschriften zu befolgen, ich werde euer Kind lieben, so lange ein
Blutstropfen in mir ist, ich werde mit aller Kraft streben, einst in
ihren Besitz zu gelangen. Und da sie euch gehorsam ist, so wird sie
mit mir nicht mehr sprechen, sie wird mich nicht mehr ansehen, ich
werde weit von hier fortgehen; aber lieben werde ich sie doch, so
lange dieses Leben waehrt und das kuenftige, ich werde nie einer Andern
ein Teilchen von Neigung schenken und werde nie von ihr lassen.
So haettest da sprechen sollen, und wenn du von unserm Schlosse
fortgegangen waerest, so haette ich gewusst, dass du so gesprochen hast,
und tausend Millionen Ketten haetten mich nicht von dir gerissen,
und jubelnd haette ich einst in Erfuellung gebracht, was dir dieses
stuermische Herz gegeben. Du hast den Bund aufgeloeset, ehe du mit mir
hieher gegangen bist, ehe du mich zu dieser Bank gefuehrt hast, die ich
dir gutwillig folgte, weil ich nicht wusste, was du getan hast. Wenn
jetzt auch der Vater und die Mutter kaemen und sagten: Nehmet euch,
besitzet euch in Ewigkeit, so waere doch alles aus. Du hast die Treue
gebrochen, die ich fester gewaehnt habe als die Saeulen der Welt und die
Sterne an dem Baue des Himmels.<"
">Mathilde<, sagte ich, >was ich jetzt tue, ist unendlich schwerer,
als was du verlangtest.<"
">Schwer oder nicht schwer, von dem ist hier nicht die Rede<,
antwortete sie, >von dem, was sein muss, ist die Rede, von dem, dessen
Gegenteil ich fuer unmoeglich hielt. Gustav, Gustav, Gustav, wie
konntest du das tun?<"
"Sie ging einige Schritte von mir weg, kniete, gegen die Rosen, die
an dem Gartenhause bluehten, gewendet, in das Gras nieder, schlug die
beiden Haende zusammen und rief unter stroemenden Traenen: >Hoert es, ihr
tausend Blumen, die herabschauten, als er diese Lippen kuesste, hoere es
du, Weinlaub, das den fluesternden Schwur der ewigen Treue vernommen
hat, ich habe ihn geliebt, wie es mit keiner Zunge in keiner Sprache
ausgesprochen werden kann. Dieses Herz ist jung an Jahren, aber es
ist reich an Grossmut; alles, was in ihm lebte, habe ich dem Geliebten
hingegeben, es war kein Gedanke in mir als er, das ganze kuenftige
Leben, das noch viele Jahre umfassen konnte, haette ich wie einen Hauch
fuer ihn hingeopfert, jeden Tropfen Blut haette ich langsam aus den
Adern fliessen und jede Faser aus dem Leibe ziehen lassen - und ich
haette gejauchzt dazu. Ich habe gemeint, dass er das weiss, weil ich
gemeint habe, dass er es auch tun wuerde. Und nun fuehrt er mich heraus,
um mir zu sagen, was er sagte. Waeren was immer fuer Schmerzen von Aussen
gekommen, was immer fuer Kaempfe, Anstrengungen und Erduldungen; ich
haette sie ertragen, aber nun er - er -! Er macht es unmoeglich fuer
alle Zeiten, dass ich ihm noch angehoeren kann, weil er den Zauber
zerstoert hat, der alles band, den Zauber, der ein unzerreissbares
Aneinanderhalten in die Jahre der Zukunft und in die Ewigkeit malte.<"
"Ich ging zu ihr hinzu, um sie empor zu heben. Ich ergriff ihre Hand.
Ihre Hand war wie Glut. Sie stand auf, entzog mir die Hand, und ging
gegen das Gartenhaus, an dem die Rosen bluehten."
">Mathilde<, sagte ich, >es handelt sich nicht um den Bruch der Treue,
die Treue ist nicht gebrochen worden. Verwechsle die Dinge nicht. Wir
haben gegen die Eltern unrecht gehandelt, dass wir ihnen verbargen,
was wir getan haben, und dass wir in dem Verbergen beharrend geblieben
sind. Sie fuerchten Uebles fuer uns. Nicht die Zerstoerung unserer Gefuehle
verlangen sie, nur die Aufhebung des Aeusserlichen unseres Bundes auf
eine Zeit.<"
">Kannst du eine Zeit nicht mehr du sein?< erwiderte sie, >kannst du
eine Zeit dein Herz nicht schlagen lassen? Aeusseres, Inneres, das ist
alles eins, und alles ist die Liebe. Du hast nie geliebt, weil du es
nicht weisst.<"
">Mathilde<, antwortete ich, >du warst immer so gut, du warst edel,
rein, herrlich, dass ich dich mit allen Kraeften in meine Seele schloss:
heute bist du zum ersten Male ungerecht. Meine Liebe ist unendlich,
ist unzerstoerbar, und der Schmerz, dass ich dich lassen muss, ist
unsaeglich, ich habe nicht gewusst, dass es einen so grossen auf Erden
gibt; nur der ist groesser, von dir verkannt zu sein. Ich unterscheide
nicht, wer dir das Gebot der Eltern haette sagen sollen, es ist das
einerlei, sie sind die Eltern, das Gebot ist das Gebot, und das
Heiligste in uns sagt, dass die Eltern geehrt werden muessen, dass das
Band zwischen Eltern und Kind nicht zerstoert werden darf, wenn auch
das Herz bricht, So fuehlte ich, so handelte ich, und ich wollte dir
das Notwendige recht sanft und weich sagen, darum uebernahm ich die
Sendung; ich glaubte, es koenne dir niemand das Bittere so sanft und
weich sagen wie ich, darum kam ich. Aus Guete, aus Mitleid kam ich.
Die Pflicht leitete mich, in der Pflicht bricht mein Herz, und in dem
brechenden Herzen bist du.<"
">Ja, ja, das sind die Worte<, sagte sie, indem ihr Schluchzen immer
heftiger und fast krampfhaft wurde, >das sind die Worte, denen ich
sonst so gerne lauschte, die so suess in meine Seele gingen, die schon
suess waren, als du es noch nicht wusstest, denen ich glaubte wie der
ewigen Wahrheit. Du haettest es nicht unternehmen muessen, mich zur
Zerreissung unserer Liebe bewegen zu wollen, es soll, wenn hundertmal
Pflicht, dir nicht moeglich gewesen sein. Darum kann ich dir jetzt
nicht mehr glauben, deine Liebe ist nicht die, die ich dachte und die
die meinige ist. Ich habe den Vergleichpunkt verloren und weiss nicht,
wie alles ist. Wenn du einst gesagt haettest, der Himmel ist nicht der
Himmel, die Erde nicht die Erde, ich haette es dir geglaubt. Jetzt weiss
ich es nicht, ob ich dir glauben soll, was du sagst. Ich kann nicht
anders, ich weiss es nicht, und ich kann nicht machen, dass ich es weiss.
O Gott! dass es geworden ist, wie es ward, und dass zerstoerbar ist, was
ich fuer ewig hielt! Wie werde ich es ertragen koennen?<"
"Sie barg ihr Angesicht in den Rosen vor ihr, und ihre gluehende Wange
war auch jetzt noch schoener als die Rosen. Sie drueckte das Angesicht
ganz in die Blumen und weinte so, dass ich glaubte, ich fuehle das
Zittern ihres Koerpers oder es werde eine Ohnmacht ihren Schmerz
erschoepfen. Ich wollte sprechen, ich versuchte es mehrere Male; aber
ich konnte nicht, die Brust war mir zerpresst und die Werkzeuge des
Sprechens ohne Macht. Ich fasste nach ihrem Koerper, sie zuckte aber
weg, wenn sie es empfand. Dann stand ich unbeweglich neben ihr. Ich
griff mit der blossen Hand in die Zweige der Rosen, drueckte, dass mir
leichter wuerde, die Dornen derselben in die Hand und liess das Blut an
ihr nieder rinnen."
"Als das eine Zeit gedauert hatte, als sich ihr Weinen etwas gemildert
hatte, hob sie das Angesicht empor, trocknete mit dem Tuche, das sie
aus der Tasche genommen, die Traenen und sagte: >Es ist alles vorueber.
Weshalb wir noch laenger hier bleiben sollen, dazu ist kein Grund,
lasse uns wieder in das Haus gehen und das Weitere dieser Handlung
verfolgen. Wer uns begegnet, soll nicht sehen, dass ich so sehr geweint
habe.<"
"Sie trocknete neuerdings mit dem Tuche die Augen, liess neue Traenen
nicht mehr hervorquellen, richtete sich empor, strich sich die Haare
ein wenig zurecht und sagte: >Gehen wir in das Haus.<"
"Sie richtete sich mit diesen Worten zum Gehen gegen den
Weinlaubengang, und ich ging neben ihr. Das Blut an meiner Hand konnte
sie nicht sehen. Ich unternahm es nicht mehr, sie zu troesten, ich sah,
dass ihre Verfassung dafuer nicht empfaenglich war. Auch erkannte ich,
dass sie im Zorne gegen mich ihren Schmerz leichter ertrage, als wenn
dieser Zorn nicht gewesen waere. Wir gingen schweigend in das Haus.
Dort gingen wir in das Zimmer der Mutter. Mathilde warf sich ihrer
Mutter an das Herz. Ich kuesste der Frau die Hand und entfernte mich."
"Den ganzen uebrigen Teil des Tages verbrachte ich damit, meine Habe zu
packen, um morgen dieses Haus verlassen zu koennen. Mathildens Vater
besuchte mich einmal und sagte: >Kraenket euch nicht zu sehr, es wird
vielleicht noch alles gut.<"
"Im Uebrigen waren seine Gruende, die er freundlich und sanft sagte, die
nehmlichen wie die seiner Gattin. Auch Mathildens Mutter kam einmal zu
mir herueber, laechelte truebsinnig bei meinem Treiben und gab mir die
Hand. Meine Hoffnungen waren duesterer, als es die dieser zwei Menschen
zu sein schienen. Mathildens Glauben an mich war erschuettert. Da ich
meine Absicht, morgen abreisen zu wollen, erklaert hatte, und man
nichts mehr dagegen einwendete, was man Anfangs tat, rief ich Alfred
und sagte ihm, dass ich nicht etwa eine groessere Reise vor habe, wie er
glauben mochte, sondern dass ich auf lange, vielleicht auf immer dieses
Haus verlasse. Es seien Umstaende eingetreten, die dies notwendig
machten. Er fiel mir mit Schluchzen um den Hals, ich konnte ihn gar
nicht besaenftigen, ja ich weinte beinahe selber laut. Er wurde spaeter
zu beiden Eltern, die in der Schreibstube des Vaters waren, geholt,
damit sie ihn beruhigten. Sein Schlafzimmer war heute unter der
Aufsicht eines Dieners ein anderes. Als er in dasselbe gebracht worden
war, ging ich zu den Eltern und sagte ihnen den Dank fuer alles Gute,
das ich in ihrem Hause genossen habe. Sie dankten mir auch und liessen
mich Hoffnungen erblicken. Es ward verabredet, dass ich mit den Pferden
des Hauses auf die naechste Post gebracht werden solle. Mathilde
erschien nicht zum Abendessen."
"Am naechsten Morgen wurde der Wagen bepackt. Ich machte mich
reisefertig. Es war mir erlaubt worden, von Mathilden Abschied nehmen
zu duerfen. Sie weigerte sich aber, mich zu sehen. Ich ging daher in
meine Wohnung, reichte dem alten Raimund die Hand und sagte: >Lebe
wohl, Raimund.<"
">Lebt recht wohl, junger Herr<, antwortete er, >und seid recht
gluecklich.<"
">Du weisst nicht, Raimund!<"
">Ich weiss, ich weiss, junger Herr - es kann ja werden.<"
">Lebe wohl.<"
"Ich ging nun die Treppe hinab, er begleitete mich. Unten bei dem
Wagen stand der Herr und die Frau des Hauses und mehrere von den
Dienstleuten. Auch vom Meierhofe waren Leute herbei gekommen. Alfred,
der spaet entschlummert war, schlief noch; die Besitzer des Hauses
nahmen auf eine auszeichnende Weise von mir Abschied, die Umstehenden
beurlaubten sich auch, wuenschten mir Glueck und eine froehliche
Wiederkehr. Ich bestieg den Wagen und fuhr von Heinbach dahin."
"Der Besitzer dieses Hauses hatte mir einmal gesagt: >Vielleicht
verlasset ihr einst unser Haus nicht mit Reue und Schmerz.<"
"Ich verliess es nicht mit Reue, aber mit Schmerz."
"Er hatte auch die Vermutung ausgesprochen, dass mir etwa auch seine
Familie unvergesslich bleiben durfte. Sie blieb mir unvergesslich."
"Ich verabschiedete auf der Post den Wagen aus Heinbach, das letzte
Merkmal aus diesem Orte, und liess mich nach der Stadt einschreiben, wo
ich so lange gewesen war, wo ich meine Lernzeit vollendet hatte, von
wo ich nach Heinbach gegangen war, und wo sich das Haus von Mathildens
Eltern befand. Ich blieb aber nicht in der Stadt."
"In der Naehe meiner Heimat ist im Walde eine Felskuppe, von welcher
man sehr weit sieht. Sie geht mit ihrem noerdlichen Ruecken sanft ab und
traegt auf ihm sehr dunkle Tannen. Gegen Sueden stuerzt sie steil ab, ist
hoch und geklueftet und sieht auf einen duennbestandenen Wald, zwischen
dessen Staemmen Weidegrund ist. Jenseits des Waldes erblickt man Wiesen
und Feld, weiter ein blauliches Moor, dann ein dunkelblaues Waldband
und ueber diesem die fernen Hochgebirge. Ich ging von der Stadt in
meine Heimat und von der Heimat auf diese Felskuppe. Ich sass auf ihr
und weinte bitterlich. Jetzt war ich veroedet, wie ich frueher nie
veroedet gewesen war. Ich sah in das dunkle Innere der Schluende und
fragte, ob ich mich hinabwerfen solle. Das Bild meiner verstorbenen
Mutter mischte sich in diese unklare, schauerliche Vorstellung, und
wurde mir ein Liebes, an das ich denken musste. Ich ging taeglich auf
diese Kuppe und blieb oft mehrere Stunden auf ihr sitzen. Ich weiss
nicht, warum ich sie suchte. In meiner Jugend war ich oft auf ihr, und
wir machten uns das Vergnuegen, Steine ziemlicher Groesse von ihr hinab
zu werfen, um den Steinstaub aufwirbeln zu sehen, wenn der Geworfene
auf Klippen stiess, und um sein Gepolter in den Klippen und sein
Rasseln in dem am Fusse des Felsens befindlichen Geroelle zu hoeren. Von
dieser Kuppe war kein Einblick in jene Laender, in denen Mathildens
Wohnung lag, man sah nicht einmal Gebirgszuege, die an sie grenzten.
Ich ging auch nach und nach in anderen Teilen der Umgebung meines
Heimatortes herum. Mein Schwager war ein sanfter und stiller Mann,
und wir sprachen in meinem Geburtshause oft einen ganzen Tag hindurch
nicht mehr als einige Worte."
"Als eine geraume Zeit vergangen war, dachte ich auf meine Abreise und
auf meine Berufsarbeiten, die ich schon so lange vergessen hatte und
auf die ich, in dem Hause in Heinbach befangen, vielleicht noch laenger
nicht gedacht haben wuerde."
"Ich ging wieder in die Stadt, in der ich meine Habe gelassen hatte,
und widmete mich ernstlich der Laufbahn, zu welcher ich eigentlich
die Vorbereitungsschulen besucht hatte. Ich meldete mich zum
Staatsdienste, wurde eingereiht und arbeitete jetzt sehr fleissig in
dem Bereiche der unteren Stellen, in welchen ich war. Ich lebte noch
zurueckgezogener als sonst. Mein kleines Gehalt und das Ertraegnis
meines Ersparten reichten hin, meine Beduerfnisse zu decken. Ich
wohnte in einem Teile der Vorstadt, welcher von dem Hause der Eltern
Mathildens sehr weit entfernt war. Im Winter ging ich fast nirgends
hin als von meiner Wohnstube in meine Amtsstube, welcher Weg wohl sehr
lange war, und von der Amtsstube in meine Wohnstube. Meine Nahrung
nahm ich in einem kleinen Gasthause an meinem Wege ein. Freunde und
Genossen besuchte ich wenig, mir war alle Verbindung mit Menschen
verleidet. Als Erholung diente mir der Betrieb der Geschichte der
Staatswissenschaften und der Wissenschaften der Natur. Ein Gang auf
dem Walle der aeusseren Stadt oder eine Wanderung in einem einsamen Teil
der Umgebungen der Stadt gaben mir Luft und Bewegung. Mathilden sah
ich einmal. Sie fuhr mit ihrer Mutter in einem offenen Wagen in einer
der breiten Strassen der Vorstaedte, in einer Gegend, in welcher ich
sie nicht vermutet hatte. Ich blickte hin, erkannte sie und meinte
umsinken zu muessen. Ob sie mich gesehen hat, weiss ich nicht. Ich ging
dann in meine Amtsstube zu meinem Schreibtische. In der ersten Zeit
wurde ich von meinen Vorgesetzten wenig beachtet. Ich arbeitete mit
einem ausserordentlichen Fleisse, er war mir Arznei fuer eine Wunde
geworden, und ich fluechtete gern zu dieser Arznei. So lange alle diese
Verhaeltnisse, welche in meinen Amtsgeschaeften vorkamen, in meinem
Haupte waren, war nichts Anderes darin. Schmerzvoll waren nur die
Zwischenraeume. Auch die Wissenschaften leiteten nicht so sicher ab.
Mein Fleiss lenkte endlich die Aufmerksamkeit auf sich, man befoerderte
mich. Anfangs ging es langsamer, dann schneller. Nach dem Verlaufe
von mehreren Jahren war ich in einer der ehrenvolleren Stellungen des
Staatsdienstes, welche zu dem Verkehre mit dem gebildeteren Teile
der Stadteinwohnerschaft berechtigten, und ich hatte die gegruendete
Aussicht, noch weiter zu steigen. In solchen Verhaeltnissen werden
gewoehnlich die Ehen mit Maedchen aus ansehnlicheren Haeusern
geschlossen, welche dann zu gluecklichem und ehrenvollem Familienleben
fuehren. Mathilde musste jetzt ein und zwanzig oder zwei und zwanzig
Jahre alt sein. Irgend eine Annaeherung ihrer Eltern an mich hatte
nicht statt gefunden, auch konnte ich nicht die geringsten Merkmale
auffinden, wie unermuedlich ich auch suchte, dass sie sich nach mir
erkundigt haetten. Ich konnte also unmittelbare Schritte zur Annaeherung
an sie nicht tun. Ich leitete also solche mittelbar ein, welche
sie auf die gewisseste Art von der Unwandelbarkeit meiner Neigung
ueberzeugten. Ich erhielt die unzweideutigsten Beweise zurueck, dass mich
Mathilde verachte. Zu einer Verehelichung, wozu ihres Reichtums und
ihrer unbeschreiblichen Schoenheit willen sich die glaenzendsten Antraege
fanden, konnte sie nicht gebracht werden.
Mit tiefem, schwerem Ernste breitete ich nun das Bahrtuch der
Bestattung ueber die heiligsten Gefuehle meines Lebens."
"Ich will euch nicht mit dem behelligen, wie es mir weiter in meiner
Staatslaufbahn erging. Es gehoert nicht hieher und ist euch wohl im
Wesentlichen bekannt. Die Kriege brachen aus, ich wurde abwechselnd zu
verschiedenen Stellen versetzt, grosse, umfassende Arbeiten, Reisen,
Berichte, Vorschlaege wurden erfordert, ich wurde zu Sendungen
verwendet, kam mit den verschiedensten Menschen in Beruehrung, und der
Kaiser wurde, ich kann es wohl sagen, beinahe mein Freund. Als ich in
den Freiherrnrang erhoben wurde, kam mein alter Oheim Ferdinand aus
der Entfernung zu mir, um, wie er sagte, mir seine Aufwartung zu
machen. Obwohl er meine Mutter vernachlaessigt hatte, ja nach dem
Tode meines Vaters durch seine Zurueckhaltung beinahe hart gegen sie
gewesen war, so nahm ich ihn doch freundlich auf, weil er in meiner
Verlassenheit zuletzt der einzige Verwandte war, den ich noch hatte.
Wir blieben seit jener Zeit mit einander in Briefwechsel. Es kamen
wohl viele Menschen mit mir in Verbindung und ich lernte manche
Seiten der Gesellschaft kennen; aber teils waren die Verbindungen
Geschaeftsverbindungen, teils draengten sich Menschen an mich, die
durch mich zu steigen hofften, teils waren die Begegnungen ganz
gleichgueltig. Wie schwer mir aber meine Geschaefte wurden, wie sehr
ich im Grunde zu ihnen nicht geeignet war, davon habe ich euch schon
gesagt. Ich war nach und nach beinahe ein alter Mann geworden. Da
ich viel in der Entfernung lebte, wusste ich manche Beziehungen der
Hauptstadt nicht. Mathilde hatte sich in etwas vorgerueckteren Jahren
vermaehlt. Der Friede wurde dauernd hergestellt, ich blieb wieder
bestaendig in der Hauptstadt, und hier tat ich etwas, das mir ein
Vorwurf bis zu meinem Lebensende sein wird, weil es nicht nach den
reinen Gesetzen der Natur ist, obwohl es tausend Mal und tausend
Mal in der Welt geschieht. Ich heiratete ohne Liebe und Neigung. Es
war zwar keine Abneigung vorhanden, aber auch keine Neigung. Die
Hochachtung war gegenseitig gross. Man hatte mir viel davon gesagt, dass
es meine Pflicht sei, mir einen Familienstand zu gruenden, dass ich im
Alter von teuern Angehoerigen umgeben sein muesse, die mich lieben,
pflegen und schuetzen und auf die meine Ehren und mein Name uebergehen
koennen. Es sei auch Pflicht gegen die Menschheit und den Staat. Auf
meine Einwendung, dass ich eine Neigung gegen irgend ein weibliches
Wesen nicht habe, sagten sie, Neigungen fuehren oft zu ungluecklichen
Verbindungen, Kenntnis der gegenseitigen Beschaffenheit und
wechselseitige Hochachtung bauen dauerndes Glueck. Trotz meiner
gereifteren Jahre hatte ich in diesen Dingen noch immer sehr
wenige Kenntnisse. Meine Jugendneigung, die so heftig und beinahe
ausschweifend gewesen war, hatte kein Glueck gebracht. Ich heiratete
also ein Maedchen, welches nicht mehr jung war, eine angenehme Bildung
hatte, vom reinsten Wandel war und gegen mich tiefe Verehrung empfand.
Man sagte, ich haette reich geheiratet, weil mein Hauswesen ein
ansehnliches war; allein die Sache verhielt sich nicht so. Meine
Gattin hatte mir eine namhafte Mitgift gebracht, aber ich haette eine
groessere Gabe hinzulegen koennen. Da ich in meinem maessigen Leben beinahe
nichts brauchte, so hatte ich, besonders da ich einmal in hoeherer
Stellung war, bedeutende Ersparungen gemacht. Diese legte ich in den
damaligen Staatspapieren nieder, und da dieselben nach Beendigung des
Krieges ansehnlich stiegen, so war ich beinahe ein reicher Mann. Wir
lebten zwei Jahre in dieser Ehe, und in dieser wusste ich, was ich vor
der Schliessung derselben nicht gewusst hatte, dass nehmlich keine ohne
Neigung eingegangen werden soll. Wir lebten in Eintracht, wir lebten
in hoher Verehrung der gegenseitigen guten Eigenschaften, wir lebten
in wechselweisem Vertrauen und in wechselweiser Aufmerksamkeit, man
nannte unsere Ehe musterhaft; aber wir lebten bloss ohne Unglueck. Zu
dem Gluecke gehoert mehr als Verneinendes, es ist der Inbegriff der
Holdseligkeit des Wesens eines Andern, zu dem alle unsre Kraefte einzig
und froehlich hinziehen. Als Julie nach zwei Jahren gestorben war,
betrauerte ich sie redlich; aber Mathildens Bild war unberuehrt in
meinem Herzen stehen geblieben. Ich war jetzt wieder allein. Zur
Schliessung einer neuen Ehe war ich nicht mehr zu bewegen. Ich wusste
jetzt, was ich vorher nicht gewusst hatte. Liebe und Neigung, dachte
ich, ist ein Ding, das seinen Zug an meinem Herzen vorueber genommen
hatte."
"Ein Jahr nach dem Tode Juliens starb mein Oheim und setzte mich zu
dem Erben seines betraechtlichen Vermoegens ein."
"Meine Geschaefte wurden mir indessen von Tag zu Tag schwerer. So wie
ich in frueheren Zeiten schon gedacht hatte, dass der Staatsdienst
meiner Eigenheit nicht entspreche und dass ich besser taete, wenn ich
ihn verliesse: so wuchs dieser Gedanke bei genauerem Nachdenken und
schaerferem Selbstbeobachten zu immer groesserer Gewissheit, und ich
beschloss, meine Aemter niederzulegen. Meine Freunde suchten mich daran
zu verhindern, und Mancher, den ich als feste Saeule des Staates kennen
zu lernen Gelegenheit gehabt und mit dem ich in schwierigen Zeiten
manche harte Amtsstunde durchgemacht hatte, sagte eindringlich,
dass ich meine Taetigkeit nicht einstellen sollte. Aber ich blieb
unerschuettert. Ich zeigte meinen Austritt an. Der Kaiser nahm ihn
wohlwollend und mit uebersendeten Ehren an. Ich hatte die Absicht, mir
fuer die letzten Tage meines Lebens einen Landsitz zu gruenden und dort
einigen wissenschaftlichen Arbeiten, einigem Genusse der Kunst, so
weit ich dazu faehig waere, der Bewirtschaftung meiner Felder und Gaerten
und hie und da einer gemeinnuetzigen Massregel fuer die Umgebung zu
leben. Manches Mal koennte ich in die Stadt gehen, um meine alten
Freunde zu besuchen, und zuweilen koennte ich eine Reise in die
entfernteren Laender unternehmen. Ich ging in meine Heimat. Dort fand
ich meinen Schwager schon seit vier Jahren gestorben, das Haus in
fremden Haenden und voellig umgebaut. Ich reiste bald wieder ab. Nach
mehreren missglueckten Versuchen fand ich diesen Platz, auf dem ich
jetzt lebe, und setzte mich hier fest. Ich kaufte den Asperhof,
baute das Haus auf dem Huegel und gab nach und nach der Besitzung die
Gestalt, in der ihr sie jetzt sehet. Mir hatte das Land gefallen,
mir hatte diese reizende Stelle gefallen, ich kaufte noch mehrere
Wiesen, Waelder und Felder hinzu, besuchte alle Teile der Umgebung,
gewann meine Beschaeftigung lieb und machte mehrere Reisen in die
bedeutendsten Laender Europas. So bleichten sich meine Haare, und
Freude und Behagen schien sich bei mir einstellen zu wollen."
"Als ich schon ziemlich lange hier gewesen war, meldete man mir eines
Tages, dass eine Frau den Huegel herangefahren sei und dass sie jetzt
mit einem Knaben vor den Rosen, die sich an den Waenden des Hauses
befinden, stehe. Ich ging hinaus, sah den Wagen und sah auch die Frau
mit dem Knaben vor den Rosen stehen. Ich ging auf sie zu. Mathilde war
es, die einen Knaben an der Hand haltend und von stroemenden Traenen
ueberflutet die Rosen ansah. Ihr Angesicht war gealtert und ihre
Gestalt war die einer Frau mit zunehmenden Jahren."
">Gustav, Gustav<, rief sie, da sie mich angeblickt hatte, >ich kann
dich nicht anders nennen als: du. Ich bin gekommen, dich des schweren
Unrechtes willen, das ich dir zugefuegt habe, um Vergebung zu bitten.
Nimm mich einen Augenblick in dein Haus auf.<"
">Mathilde<, sagte ich, >sei gegruesst, sei auf diesem Boden, sei
tausend Mal gegruesst und halte dieses Haus fuer deines.<"
"Ich war mit diesen Worten zu ihr hinzugetreten, hatte ihre Hand
gefasst und hatte sie auf den Mund gekuesst."
"Sie liess meine Hand nicht los, drueckte sie stark, und ihr Schluchzen
wurde so heftig, dass ich meinte, ihre mir noch immer so teuere Brust
muesse zerspringen."
">Mathilde<, sagte ich sanft, >erhole dich.<"
">Fuehre mich in das Haus<, sprach sie leise."
"Ich rief erst durch mein Gloeckchen, welches ich immer bei mir
trage, meinen Hausverwalter herzu und befahl ihm, Wagen und Pferde
unterzubringen. Dann fasste ich Mathildens Arm und fuehrte sie in das
Haus. Als wir in dem Speisezimmer angelangt waren, sagte ich zu dem
Knaben: >Setze dich hier nieder und warte, bis ich mit deiner Mutter
gesprochen und die Traenen, die ihr jetzt so weh tun, gemildert habe.<"
"Der Knabe sah mich traulich an und gehorchte. Ich fuehrte Mathilde in
das Wartezimmer und bot ihr einen Sitz an. Als sie sich in die weichen
Kissen niedergelassen hatte, nahm ich ihr gegenueber auf einem Stuhle
Platz. Sie weinte fort, aber ihre Traenen wurden nach und nach linder.
Ich sprach nichts. Nachdem eine Zeit vergangen war, quollen ihre
Tropfen sparsamer und weniger aus den Augen, und endlich trocknete sie
die letzten mit ihrem Tuche ab. Wir sassen nun schweigend da und sahen
einander an. Sie mochte auf meine weissen Haare schauen, und ich
blickte in ihr Angesicht. Dasselbe war schon verblueht; aber auf den
Wangen und um den Mund lag der liebe Reiz und die sanfte Schwermut,
die an abgebluehten Frauen so ruehrend sind, wenn gleichsam ein Himmel
vergangener Schoenheit hinter ihnen liegt, der noch nachgespiegelt
wird. Ich erkannte in den Zuegen die einstige prangende Jugend."
">Gustav<, sagte sie, >so sehen wir uns wieder. Ich konnte das Unrecht
nicht mehr tragen, das ich dir angetan habe.<"
">Es ist kein Unrecht geschehen, Mathilde<, sagte ich."
">Ja, du bist immer gut gewesen<, antwortete sie, >das wusste ich,
darum bin ich gekommen. Du bist auch jetzt gut, das sagt dein liebes
Auge, das noch so schoen ist wie einst, da es meine Wonne war. O ich
bitte dich, Gustav, verzeihe mir.<"
">O teure Mathilde, ich habe dir nichts zu verzeihen, oder du hast es
mir auch<, antwortete ich. >Die Erklaerung liegt darin, dass du nicht zu
sehen vermochtest, was zu sehen war, und dass ich dann nicht naeher zu
treten vermochte, als ich haette naeher treten sollen. In der Liebe
liegt alles. Dein schmerzhaftes Zuernen war die Liebe, und mein
schmerzhaftes Zurueckhalten war auch die Liebe. In ihr liegt unser
Fehler und in ihr liegt unser Lohn.<"
">Ja, in der Liebe<, erwiderte sie, >die wir nicht ausrotten konnten.
Gustav, ich bin dir doch trotz allem treu geblieben und habe nur dich
allein geliebt. Viele haben mich begehrt, ich wies sie ab; man hat mir
einen Gatten gegeben, der gut, aber fremd neben mir lebte, ich kannte
nur dich, die Blume meiner Jugend, die nie verblueht ist. Und du liebst
mich auch, das sagen die tausend Rosen vor den Mauern deines Hauses,
und es ist ein Strafgericht fuer mich, dass ich gerade zu der Zeit ihrer
Bluete gekommen bin.<"
">Rede nicht von Strafgerichten, Mathilde<, erwiderte ich, >und weil
alles Andere so ist, so lasse die Vergangenheit und sage, welche deine
Lage jetzt ist. Kann ich dir in irgend etwas helfen?<"
">Nein, Gustav<, entgegnete sie, >die groesste Hilfe ist die, dass du da
bist. Meine Lage ist sehr einfach. Der Vater und die Mutter sind schon
laengst tot, der Gatte ist ebenfalls vor Langem gestorben und Alfred -
du hast ihn ja recht geliebt -<"
">Wie ich einen Sohn lieben wuerde<, antwortete ich."
">Er ist auch tot<, sagte sie, >er hat kein Weib, kein Kind
hinterlassen, das Haus in Heinbach und das in der Stadt hat er noch
bei seinen Lebzeiten verkauft. Ich bin im Besitze des Vermoegens der
Familie und lebe mit meinen Kindern einsam. Lieber Gustav, ich habe
dir den Knaben gebracht - wie wusstest du denn, dass er mein Sohn sei?<"
">Ich habe deine schwarzen Augen und deine braunen Locken an ihm
gesehen<, antwortete ich."
">Ich habe dir den Knaben gebracht<, sagte sie, >dass du saehest, dass er
ist wie dein Alfred - fast sein Ebenbild -, aber er hat niemanden, der
so lieb mit ihm umgeht, wie du mit Alfred umgegangen bist, der ihn so
liebt, wie du Alfred geliebt hast, und den er wieder so lieben koennte,
wie Alfred dich geliebt hat.<"
">Wie heisst der Knabe?< fragte ich."
">Gustav, wie du<, antwortete sie."
"Ich konnte meine Traenen nicht zurueckhalten."
">Mathilde<, sagte ich, >ich habe nicht Weib, nicht Kind, nicht
Anverwandte. Du warst das Einzige, was ich in meinem ganzen Leben
besass und behielt. Lasse mir den Knaben, lasse ihn bei mir, ich will
ihn lehren, ich will ihn erziehen.<"
">O mein Gustav<, rief sie mit den schmerzlichsten Toenen der Ruehrung,
>wie wahr ist mein Gefuehl, das mich an dich, den besten der Menschen,
wies, als ich ein Kind war, und das mich nicht verlassen hatte, so
lange ich lebte.<"
"Sie war aufgestanden, hatte ihr Haupt auf meine Schulter gelegt und
weinte auf das Innigste. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen,
meine Traenen flossen unaufhaltsam, ich schlang meine Arme um sie und
drueckte sie an mein Herz. Und ich weiss nicht, ob je der heisse Kuss der
Jugendliebe tiefer in die Seele gedrungen und zu groessrer Hoehe erhebend
gewesen ist als dieses verspaetete Umfassen der alten Leute, in denen
zwei Herzen zitterten, die von der tiefsten Liebe ueberquollen. Was
im Menschen rein und herrlich ist, bleibt unverwuestlich und ist ein
Kleinod in allen Zeiten."
"Als wir uns getrennt hatten, geleitete ich sie zu ihrem Sitze, nahm
den meinigen wieder ein, und fragte: >Hast du noch andere Kinder?<"
">Ein Maedchen, welches mehrere Jahre aelter ist als der Knabe<,
erwiderte sie, >ich werde dir dasselbe auch bringen, es hat ebenfalls
die schwarzen Augen und die braunen Haare wie ich. Das Maedchen behalte
ich, den Knaben lasse, weil du so guetig bist, um dich leben, so lange
du willst. Er moege werden wie du. O, ich hatte kaum geahnt, wie hier
alles werden wird.<"
">Mathilde, beruhige dich jetzt<, sagte ich, >ich werde den Knaben
holen, wir werden mit ihm freundlich sprechen.<"
"Ich tat es, trat mit dem Knaben an der Hand herein und wir sprachen
mit dem Kinde und abwechselnd unter uns noch eine geraume Weile.
Ich zeigte Mathilden hierauf das Haus, den Garten, den Meierhof und
alles Andere. Gegen Abend fuhr sie wieder fort, um in Rohrberg zu
uebernachten. Den Knaben sollte sie der Verabredung gemaess wieder
mit sich nehmen, ihn ausruesten und vorbereiten und ihn, wie sie es
fuer gelegen halte, bringen. Wir blieben von dem Augenblicke an in
Briefwechsel, und als eine Zeit vergangen war, brachte sie mir Gustav,
der noch bei mir ist, sie brachte mir auch Natalien, die damals im
ersten Aufbluehen begriffen war. Eine groessere Gleichheit als zwischen
diesem Kinde und dem Kinde Mathilde kann nicht mehr gedacht werden.
Ich erschrak, als ich das Maedchen sah. Ob in den Jahren, in denen
jetzt Natalie ist, Mathilde auch ihr gleich gewesen ist, kann ich
nicht sagen; denn da war ich von Mathilden schon getrennt."
"Es begann nun eine sehr liebliche Zeit. Mathilde kam mit Natalien
oefter, um uns zu besuchen. Ich machte ihr in den ersten Tagen den
Vorschlag, dass ich die Rosen, wenn sie ihr schmerzliche Erinnerungen
weckten, von dem Hause entfernen wolle. Sie liess es aber nicht zu,
sie sagte, sie seien ihr das Teuerste geworden und bilden den Schmuck
dieses Hauses. Sie hatte sich zu einer solchen Milde und Ruhe
gestimmt, wie ihr sie jetzt kennt, und diese Lage ihres Wesens
befestigte sich immer mehr, je mehr sich ihre aeusseren Verhaeltnisse
einer Gleichmaessigkeit zuneigten und je mehr ihr Inneres, ich darf es
wohl sagen, sich beglueckt fuehlte.
Ein freundlicher Verkehr hatte sich entwickelt, Gustav hatte sich an
mich gewoehnt, ich an ihn, und aus der Gewoehnung war Liebe entstanden.
Mathilde gab Rat in meinem Hauswesen, ich in der Verwaltung ihrer
Angelegenheiten. Nataliens Erziehung wurde oft zwischen uns
besprochen und Schritte getan, die wir verabredet hatten. Und in der
gegenseitigen Hilfleistung staerkte sich die Neigung, die wir gegen
einander hatten, die nie verschwunden war, die sich zu einem edlen,
tiefen freundlichen Gefuehle gebildet hatte und die nun offen und
rechtmaessig bestehen konnte. Ich hatte wieder Jemanden, den ich zu
lieben vermochte, und Mathilde konnte ihr Herz, das mir immer gehoert
hatte, unumwunden an mein Wohl und an mein Wesen wenden. Nach einer
Zeit wurde der Sternenhof verkaeuflich. Ich schlug Mathilden den Kauf
vor. Sie besah das Gut. Seiner Nachbarschaft mit mir willen und schon
seiner Linden willen, die sie an die grossen Baeume auf dem Rasenplatze
vor dem Hause in Heinbach erinnerten, war sie zu dem Kaufe geneigt.
Auch hatte der Sternenhof ueberhaupt grosse Aehnlichkeit mit dem Hause in
Heinbach, war an sich eine sehr angenehme Besitzung und gab Mathilden
fuer den Rest ihres Lebens einen festen Punkt und einige Abrundung
ihrer Verhaeltnisse. Also wurde er erworben. Um dieselbe Zeit liess ich
in meinem Hause die Wohnung fuer Mathilden und Natalien herrichten. In
dem Sternenhofe war viel Arbeit, bis alles zur gefaelligen Wohnlichkeit
geordnet war. Und auch nach dieser Zeit wurde bestaendig geaendert und
umgewandelt, bis das Haus so war, wie es jetzt ist. Und selber jetzt,
wie ihr wisst, wird dort wie hier gebaut, befestigt, verschoenert, und
es wird wohl immer so fortgehen. Die Rosen, dieses Merkmal unserer
Trennung und Vereinigung, sollten vorzugsweise auf dem Asperhofe
bleiben, weil es Mathilden lieb war, dass sie dieselben dort gefunden
hatte. Jede Rosenbluetezeit verlebte sie bei mir, sie liebte diese
Blumen ausserordentlich, pflegte sie und konnte sich freuen, wenn sie
mir eine Art, die ich noch nicht hatte, zubringen konnte. Dafuer liess
ich ihr in ihrem Schlosse die Geraete machen, die ihr so viel Vergnuegen
bereiten. Gustav wurde von Tag zu Tage trefflicher und versprach,
einmal ein Mann zu werden, woran seines Gleichen Freude haben sollten.
Natalie wurde nicht bloss schoen und herrlich, sondern sie wurde auch im
Umgange mit ihrer Mutter so rein und edel, wie Wenige sind. Sie hatte
das tiefe Gefuehl ihrer Mutter erhalten; aber teils durch ihr Wesen,
teils durch eine sehr sorgfaeltige Erziehung ist mehr Ruhe und
Stetigkeit in ihr Dasein gekommen. Zwischen Mathilden und mir war ein
eigenes Verhaeltnis. Es gibt eine eheliche Liebe, die nach den Tagen
der feurigen, gewitterartigen Liebe, die den Mann zu dem Weibe fuehrt,
als stille, durchaus aufrichtige suesse Freundschaft auftritt, die ueber
alles Lob und ueber allen Tadel erhaben ist, und die vielleicht das
Spiegelklarste ist, was menschliche Verhaeltnisse aufzuweisen haben.
Diese Liebe trat ein. Sie ist innig, ohne Selbstsucht, freut sich,
mit dem Andern zusammen zu sein, sucht seine Tage zu schmuecken und zu
verlaengern, ist zart und hat gleichsam keinen irdischen Ursprung an
sich.
Mathilde nimmt Anteil an meinen Bestrebungen. Sie geht mit in den
Raeumen meines Hauses herum, ist mit mir in dem Garten, betrachtet die
Blumen oder Gemuese, ist in dem Meierhofe und schaut seine Ertraegnisse
an, geht in das Schreinerhaus und betrachtet, was wir machen,
und sie beteiligt sich an unserer Kunst und selbst an unsern
wissenschaftlichen Bestrebungen. Ich sehe in ihrem Hause nach,
betrachte die Dinge im Schlosse, im Meierhofe, auf den Feldern, nehme
Teil an ihren Wuenschen und Meinungen und schloss die Erziehung und
die Zukunft ihrer Kinder in mein Herz. So leben wir in Glueck und
Stetigkeit gleichsam einen Nachsommer ohne vorhergegangenen Sommer.
Meine Sammlungen vervollstaendigen sich, die Baulichkeiten runden sich
immer mehr, ich habe Menschen an mich gezogen, ich habe hier mehr
gelernt als sonst in meinem ganzen Leben, die Spielereien gehen ihren
Gang, und etwas Weniges nuetze ich doch auch noch."
Er schwieg nach diesen Worten eine Weile, und ich auch. Dann fuhr er
wieder fort: "Ich habe das alles mitteilen muessen, damit ihr wisst, wie
ich mit der Familie in dem Sternenhofe zusammenhaenge, und damit in dem
Kreise, in welchen ihr nun auch tretet, fuer euch Klarheit ist. Die
Kinder wissen die Verhaeltnisse im Allgemeinen, ein naeheres Eingehen
war fuer sie nicht so noetig wie fuer euch. Ich wuensche nicht, dass ihr
gegen eure kuenftige Gattin Geheimnisse habt, ihr koennt Natalien
mitteilen, was ich euch sagte, ich konnte es, wie ihr begreifet,
nicht. Ueber Nataliens Zukunft sprach ich oft mit Mathilden. Sie sollte
einen Gatten bekommen, den sie aus tiefer Neigung nimmt. Es sollte die
gegenseitige groesste Hochachtung vorhanden sein. Durch Beides sollte
sie das Glueck finden, das ihre Mutter und ihren vaeterlichen Freund
gemieden hat. Mathilde hat in Begleitung des alten Raimund, der
seitdem gestorben ist, grosse Reisen gemacht. Sie hat auf denselben
dauerndere Ruhe gesucht und auch gefunden. Sie hat sie in der
Betrachtung der edelsten Kunstwerke des menschlichen Geschlechtes und
in der Anschauung mancher Voelker und ihres Treibens gefunden. Natalie
ist dadurch befestigt, veredelt und geglaettet worden. Manche junge
Maenner hat sie kennen gelernt, aber sie hat nie ein Zeichen einer
Neigung gegeben. Sogenannte sehr glaenzende Verbindungen sind auf diese
Weise fuer sie verloren gegangen. Ich haette auch grosse Sorge gehabt,
wenn ich unter unseren jungen Maennern haette waehlen muessen. Als ihr
zum ersten Male an dem Gitter meines Hauses standet und ich euch sah,
dachte ich: >Das ist vielleicht der Gatte fuer Natalien.< Warum ich es
dachte, weiss ich nicht. Spaeter dachte ich es wieder, wusste aber warum.
Natalie sah euch und liebte euch, so wie ihr sie. Wir kannten das
Keimen der gegenseitigen Neigung. Bei Natalien trat sie Anfangs in
einem hoeheren Schwunge ihres ganzen Wesens, spaeter in einer etwas
schmerzlichen Unruhe auf. In euch erschloss sie euer Herz zu einer
frueheren Bluete der Kunst und zu einem Eingehen in die tieferen Schaetze
der Wissenschaft. Wir warteten auf die Entwicklung. Zu groesserer
Sicherheit und zur Erpruefung der Dauer ihrer Gefuehle brachten wir
absichtlich Natalien zwei Winter nicht in die Stadt, dass sie von euch
getrennt sei, ja sie wurde von ihrer Mutter wieder auf groessere Reisen
und in groessere Gesellschaften gebracht. Ihre Gefuehle aber blieben
bestaendig und die Entwicklung trat ein. Wir geben euch mit Freuden das
Maedchen in eure Liebe und in euren Schutz, ihr werdet sie begluecken
und sie euch; denn ihr werdet euch nicht aendern, und sie wird sich
auch nicht aendern. Gustav wird einmal den Sternenhof und was dazu
gehoert erhalten; denn das Haus ist Mathilden so lieb geworden, dass
sie wuenscht, dass es ein Eigentum ihrer Familie bleibe und dass die
kommenden Geschlechter das ehren, was die erste Besitzerin darin
niedergelegt hat. Gustav wird es tun, das wissen wir schon, und seinen
Nachfolgern die gleiche Gesinnung einzupflanzen, wird wohl auch sein
Bestreben sein. Natalie erhaelt von mir den Asperhof mit allem, was in
ihm ist, nebst meinen Barschaften. Ihr werdet mein Andenken hier nicht
verunehren."
Mir traten die Traenen in die Augen, da er so sprach, und ich reichte
ihm meine Hand hinueber. Er nahm sie und druckte sie herzlich.
"Ihr koennt hier auf dem Asperhofe wohnen oder in dem Sternenhofe oder
bei euren Eltern. Ueberall wird Platz fuer euch zu machen sein. Ihr
koennt auch euern Aufenthalt abwechselnd zwischen uns teilen, und
das wird wohl wahrscheinlich der Fall sein, bis sich alle unsere
Verhaeltnisse dem neuen Ereignisse gemaess gerichtet haben. Die Schriften
bezueglich der Uebertragung meines Vermoegens an Natalien werden ihr nach
der Vermaehlung eingehaendigt werden. So lange ich lebe, erhaelt sie
einen Teil, den Rest nach meinem Tode. Wie ihr mit dem, was sie jetzt
empfaengt, gebaren sollt, darueber wird euer Vater die beste Belehrung
geben koennen. Er wird wohl mit mir auch darueber sprechen. Natalie
erhaelt auch nach ihrer Vermaehlung den Teil, der ihr aus dem Nachlasse
ihres Vaters Tarona gebuehrt."
"Ist Nataliens Name Tarona?" fragte ich.
"Habt ihr das nicht gewusst?" fragte er seinerseits.
"Ich habe Mathilden immer die Frau von Sternenhof nennen gehoert",
antwortete ich, "bin mit Mathilden und Natalien nirgends zusammen
gewesen als im Sternenhofe, Asperhofe und Inghofe, und da wurden beide
stets bei ihrem Vornamen genannt. Weitere Forschungen stellte ich gar
nie an."
"Mathilde liess geschehen, dass sie nach dem Sternenhofe geheissen wurde,
der Name war ihr lieber. So mag es wohl gekommen sein, dass ihr keinen
andern gehoert habt. Fuer Gustav wird die Erlaubnis zur Fuehrung dieses
Namens nachgesucht werden."
"Aber die Tarona, erzaehlte man mir, sei gerade in jenem Winter, an
welchem ich Natalien in der Loge gesehen habe, nicht in der Stadt
gewesen", sagte ich, und dachte an Preborn, welcher mir diese Tatsache
mitgeteilt hatte.
"Ganz richtig", erwiderte mein Gastfreund, "wir sind auch nur zur
Auffuehrung des Koenig Lear hingefahren. Ich war in der Loge hinter
Natalien, habe euch aber nicht gesehen."
"Ich euch auch nicht", antwortete ich.
"Natalie hat uns von dem jungen Manne erzaehlt, der ihr im
Schauspielhause aufgefallen sei", erwiderte er, "aber erst nach langer
Zeit konnte sie uns eroeffnen, dass ihr es gewesen seid."
"Habe ich euch nicht einmal im Winter in der Stadt nach der
Wiedergenesung des Kaisers, mit euren Ehrenzeichen geschmueckt, fahren
gesehen?" fragte ich.
"Das ist moeglich", antwortete er, "ich war in jener Zeit in der Stadt
und an dem Hofe."
"Nun mein sehr lieber junger Freund", sagte er nach einer Weile, "ich
habe euch von meinem Leben erzaehlt, da ihr einer der unseren werden
sollt, ich habe zu euch von meinem tiefsten Herzen geredet, und jetzt
enden wir dieses Gespraech."
"Ich bin euch Dank schuldig", antwortete ich, "allein all das Gehoerte
ist noch zu maechtig und neu in mir, als dass ich jetzt die Worte des
Dankes finden koennte. Nur eins beruehrt mich fast wie ein Schmerz, dass
ihr mit Mathilden nach eurer Wiedervereinigung nicht in einen naehern
Bund getreten seid."
Der Greis erroetete bei diesen Worten, er erroetete so tief und zugleich
so schoen, wie ich es nie an ihm gesehen hatte.
"Die Zeit war vorueber", antwortete er, "das Verhaeltnis waere nicht mehr
so schoen gewesen, und Mathilde hat es auch wohl nie gewuenscht."
Er war schon frueher aufgestanden, jetzt reichte er mir die Hand,
drueckte die meine herzlich und verliess das Zimmer.
Ich blieb eine geraume Weile stehen und suchte meine Gedanken zur
Sammlung zu bringen. Das waere mir nie zu Sinne gekommen, als ich zum
ersten Male zu diesem Hause heraufstieg und des andern Tages seinen
Inhalt sah, dass alles so kommen wuerde, wie es kam, und dass das alles
zu meinem Eigentume bestimmt sei. Auch begriff ich jetzt, weshalb
er meistens, wenn er von seinem Besitze sprach, das Wort "unser"
gebrauchte. Er bezog es schon auf Mathilden und ihre Kinder.
Nachdem ich noch eine Zeit in meiner Wohnung verweilt hatte, verliess
ich sie, um in frischer Luft einen Spaziergang zu machen und noch das
Gehoerte in mir ausklingen zu lassen.
Der Abschluss
Am naechsten Tage ging ich im Laufe des Vormittages zu einer Stunde, an
welcher ich meinen Gastfreund weniger beschaeftigt wusste, in gewaehltem
Anzuge in seine Stube und dankte ihm innig fuer das Vertrauen, welches
er mir geschenkt habe, und fuer die Achtung, welche er mir dadurch
erweise, dass er mich wuerdig erachte, Nataliens Gatte zu werden.
"Was das Vertrauen anbelangt", erwiderte er, "so ist es natuerlich,
dass man nicht jeden, der uns ferne steht, in unsere innersten
Angelegenheiten einweiht; aber eben so natuerlich ist es, dass
derjenige, der fuer die Zukunft einen Teil, ich moechte sagen unserer
Familie ausmachen wird, auch alles wisse, was diese Familie betrifft.
Ich habe euch das Wesentlichste gesagt, einzelne kleine Umstaende, die
der Vorstellungskraft nicht immer gegenwaertig sind, aendern wohl an der
Sachlage nichts. Was die Hochachtung anbelangt, die darin liegt, dass
ich euch zu Nataliens Gatten geeignet erachte, so habt ihr vor allen
Maennern dieser Erde den unermesslichen Vorzug, dass euch Natalie liebt
und euch und keinen andern will; aber auch trotz dieses Vorzuges
wuerden Mathilde und ich, dem man hierin ein Recht eingeraeumt hat,
nie eingewilligt haben, wenn uns euer Wesen nicht die Zuversicht
eingefloesst haette, dass da ein dauernd glueckliches Familienband geknuepft
werden koenne. Was die Hochachtung anbelangt, die ich euch, abgesehen
von dieser Angelegenheit, schuldig bin, so habe ich meiner Meinung
nach euch die Beweise derselben gegeben. Wenn ich auch gedacht habe,
ihr duerftet Nataliens kuenftiger Gatte sein, so war der Eintritt
dieses Ereignisses so unbestimmt, da es ja auf die Entstehung einer
gegenseitigen Neigung ankam, dass der Gedanke daran auf mein Benehmen
gegen euch keinen Einfluss haben konnte, ja im Verlaufe der Zeiten war
der Gedanke erst der Sohn meiner Meinung von euch."
"Ihr habt mir wirklich so viele Beweise eures Wohlwollens und eurer
Schonung gegeben", antwortete ich, "dass ich gar nicht weiss, wie ich
sie verdiene; denn Vorzuege von was immer fuer einer Art sind gar nicht
an mir."
"Das Urteil ueber den Grund, woraus Achtung und Neigung oder Missachtung
und Abneigung entsteht, muss immer Andern ueberlassen werden; denn wenn
man zuletzt auch annaehernd weiss, was man in einem Fache geleistet hat,
wenn man sich auch seines guten Willens im Wandel bewusst ist, so kennt
man doch alle Abschattungen seines Wesens nicht, in wie ferne sie
gegen Andere gerichtet sind, man kennt sie nur in der Richtung gegen
sich selbst, und beide Richtungen sind sehr verschieden. Uebrigens,
mein lieber Sohn, wenn es auch ganz in der Ordnung ist, dass man in
der Gesellschaft der Menschen einen gewissen Anstand und Abstand in
Kleidern und sonstigem Benehmen zeigt, so waere es in der eigenen
Familie eine Last. Komme also in Zukunft in deinen Alltagsgewaendern zu
mir. Und wenn ich auch kein Verwandter deiner Braut bin, so betrachte
mich als einen solchen, wie etwa als ihren Pflegevater. Es wird schon
alles recht werden, es wird schon alles gut werden."
Er hatte bei diesen Worten die Hand auf mein Haupt gelegt, sah mich
an, und in seinen Augen standen Traenen.
Ich hatte nie im Verkehre mit mir die Augen dieses Greises nass werden
gesehen; ich war daher sehr erschuettert und sagte: "So erlaubt mir,
dass ich in dieser ernsten Stunde auch meinen Dank fuer das ausspreche,
was ich in diesem Hause geworden bin; denn wenn ich irgend etwas bin,
so bin ich es hier geworden, und gewaehrt mir in dieser Stunde auch
eine Bitte, die mir sehr am Herzen liegt: erlaubt, dass ich eure
ehrwuerdige Hand kuesse."
"Nun, nur dieses eine Mal", erwiderte er, "oder hoechstens noch einmal,
wenn du mit Natalien, die ein Kleinod meines Herzens ist, von dem
Altare gehst."
Ich fasste seine Hand und drueckte sie an meine Lippen; er legte aber
die andere um meinen Nacken und drueckte mich an sein Herz. Ich konnte
vor Ruehrung nicht sprechen.
"Bleibe noch eine Weile in diesem Hause", sagte er spaeter, "dann gehe
zu den Deinigen und leiste ihnen Gesellschaft. Dein Vater bedarf
deiner Person auch."
"Darf ich den Meinigen eure Mitteilung erzaehlen?" fragte ich.
"Ihr muesst es sogar tun", antwortete er, "denn eure Eltern haben ein
Recht, zu wissen, in welche Gesellschaft ihr Sohn durch Schliessung
eines sehr heiligen Bundes tritt, und sie haben auch ein Recht, zu
wuenschen, dass ihr Sohn nicht Geheimnisse vor ihnen habe. Ich werde
uebrigens wohl selber mit eurem Vater ueber dieses und viele andere
Dinge sprechen."
Wir beurlaubten uns hierauf, und ich verliess das Zimmer.
Den Rest des Vormittages verbrachte ich mit Abfassung eines Briefes an
meine Eltern.
Am Nachmittage suchte ich Gustav auf, und er erhielt die Erlaubnis,
mit mir einen weiteren Weg in der Gegend zu machen. Wir kamen in der
Daemmerung zurueck, und er musste die Zeit, welche er am Tage verloren
hatte, bei der Lampe nachholen.
Unter Arbeiten in meinen Papieren, in welche ich einige Ordnung zu
bringen suchte, im Umgange mit meinem Gastfreunde, der mir leutselig
manche Zeit schenkte, unter manchem Besuche im Schreinerhause, wo
Eustach sehr beschaeftigt war, oder bei seinem Bruder Roland, der jeden
lichten Augenblick des Tages zu seinem Bilde benuetzte, und endlich
unter manchem weiten Gange in der Umgebung, da dieser Winter der erste
war, den ich so tief im Lande zubrachte, verging noch die Zeit bis
gegen die Mitte des Hornung. Ich nahm nun Abschied, sendete meine
Sachen auf die Post nach Rohrberg und ging zu Fusse nach, harrte dort
der Ankunft des Wagens aus dem Westen, erhielt, da er gekommen war,
einen Platz in ihm und fuhr meiner Heimat zu.
Ich wurde wie immer sehr freudig von den Meinigen gegruesst und musste
ihnen von der Winterreise im Hochgebirge erzaehlen. Ich tat es, und
erzaehlte ihnen in den ersten Tagen auch, was mir mein Gastfreund
mitgeteilt hatte. Es war ihnen bisher unbekannt gewesen.
"Ich habe Risach oft nennen gehoert", sagte mein Vater, "und stets war
der Ausdruck der Hochachtung mit der Nennung seines Namens verbunden.
Von der Familie, welche Heinbach besass, habe ich nur Alfred
fluechtig gekannt. Mit Tarona war ich einmal in einer entfernten
Geschaeftsverbindung gestanden."
Die Jugendbeziehungen meines Gastfreundes zu Mathilden mussten sehr
geheim gehalten worden sein, da weder je der Vater noch irgend jemand
aus seiner Bekanntschaft von dieser Sache etwas gehoert hatte, obwohl
ueber aehnliche Gegenstaende die Sprechlust am regesten zu sein pflegt.
Dass meine Mitteilungen an meine Angehoerigen nach dem Bunde mit
Natalien den groessten Eindruck machten, ist begreiflich. Dessohngeachtet
hatte ich doch auch dem Vater etwas gebracht, was ihn sehr freute. Ich
war in den letzten Tagen meines Aufenthaltes in dem Rosenhause noch
bei dem Gaertner gewesen und hatte ihn ersucht, mir die Vorschrift
zur Bereitung des Bindemittels an den Glaesern des Gewaechshauses zu
verschaffen, wodurch das Hineinziehen des Wassers zwischen die Glaeser
und das dadurch bewirkte Herabtropfen verhindert wird. Er hatte die
Vorschrift wohl nicht selber, ging aber zu meinem Gastfreunde, und
durch diesen erhielt ich sie. Ich erzaehlte meinem Vater von der Sache
und uebergab ihm die Anleitung zur Bereitung.
"Das wird das fuer die Pflanzen so schaedliche Herabtropfen des
Winterwassers in unserem hiesigen Gewaechshause also fuer die Zukunft
verhindern", sagte er, "noch mehr freue ich mich aber, es gleich neu
in den neuen Gewaechshaeusern anwenden zu koennen, welche neben dem
Landhause stehen werden, das ich bauen werde."
Die Mutter laechelte.
"Bereitet euch einstweilen auf die Reise in den Sternenhof und in das
Rosenhaus vor", sagte der Vater, "alles Andere ist geschehen, der
Schritt, der nun zu tun ist, liegt uns ob. In den ersten Tagen des
Fruehlings worden wir hinreisen, und ich werde fuer meinen Sohn werben.
Ihr Weiber bereitet euch gerne auf solche Dinge vor, tut es und beeilt
euch, ihr habt nicht lange Zeiten vor euch, zwei Monate und etwas
darueber. Was mir bis dahin obliegt, wird nicht auf sich warten
lassen."
Dass diese Massregel Beifall hatte, ging aus der Sachlage hervor; die
Zeit zur Vorbereitung aber wollte man etwas kurz nennen. Der Vater
sagte, es duerfe nicht das Geringste zugegeben werden, weil man es
sonst der Wichtigkeit des Verhaeltnisses naehme. Das war einleuchtend.
Es ging nun an ein Arbeiten und Bestellen, und kein Tag war, dem nicht
seine Last zugeteilt wurde. Die Mutter traf auch Vorbereitungen fuer
den Fall, dass die neuen Ehegatten in ihrem Hause wohnen wuerden. Der
Vater sagte ihr zwar, dass meiner Verbindung noch meine grosse Reise
vorangehen werde; allein sie widerlegte ihn mit der Bemerkung, dass es
keinen Schaden bringe, wenn Manches frueher fertig sei, als man es eben
brauche. Er liess sofort ihrem hausmuetterlichen Sinne seinen Lauf.
Zu Ende des Maerzes brachte der Vater einen sehr schoenen Wagen in das
Haus. Es war ein Reisewagen fuer vier Personen. Er hatte den Wagen nach
seinen eigenen Angaben machen lassen.
"Wir muessen unsere Freunde ehren", sagte er, "wir muessen uns selber
ehren, und wer kann wissen, ob wir den Wagen nicht noch oefter brauchen
werden."
Er verlangte, dass man ihn genau besehe und in Hinsicht seiner
Bequemlichkeit, besonders fuer Reisegegenstaende von Frauen, pruefe.
Es geschah, und man musste die Einrichtung des Wagens loben. Es war
Festigkeit mit Leichtigkeit verbunden, und bei einer gefaelligen
Gestalt bot er Raeumlichkeit fuer alle noetigen Dinge.
"Ich bin nun fertig", sachte er, "sorgt, dass eure Vorbereitungen nicht
zu lange dauern."
Aber auch die Frauen waren zu der rechten Zeit in Bereitschaft. Der
Vater hatte den Beginn der Baumbluete und des Blaetterknospens als
Reisezeit bestimmt, und zu dieser Zeit fuhren wir auch fort.
Ich fuhr nun einen Weg, den ich so oft allein oder mit Fremden in
einem Wagen zurueckgelegt hatte, mit allen meinen Angehoerigen. Wir
fuhren mit Pferden, die wir uns auf jeder Post geben liessen; allein
wir fuhren zur Bequemlichkeit der Mutter und Klotildens, weshalb wir
uns oft laenger an einem Orte aufhielten und kleine Tagereisen machten.
Ein sehr schoenes Wetter und eine Fuelle von weissen und rotschimmernden
Blueten begleitete uns.
Am vierten Tage vormittags fuhren wir in dem Sternenhofe ein. Mathilde
war von unserer Ankunft unterrichtet worden. Wir hatten das Wagendach
zurueckgelegt, und alle Blicke meiner Angehoerigen hafteten schon von
weiter Entfernung her auf dem Bluetenhuegel, auf dem das Schloss stand,
sie richteten sich jetzt auf die Gestalt des Bauwerkes, endlich auf
das Sternenschild ueber dem Tore, auf die Woelbung des Torweges und
zuletzt auf Mathilden und Natalien, die da standen, um uns zu
empfangen. Wir stiegen aus. Natalie wechselte die Farben zwischen Blass
und Purpurrot. Man wartete nicht weiter mit dem Grusse. Klotilde und
Natalie lagen sich an dem Halse und weinten. Meine ehrwuerdige Mutter
war von Mathilden umfasst und an das Herz gedrueckt. Dann wurde der
Vater von ihr anmutsvoll und herzlich gegruesst, sie reichte ihm beide
Haende und sah ihn mit ihren Augen, die noch immer so schoen waren, auf
das Innigste an. Natalie hatte indessen die Hand meiner Mutter gefasst
und sie gekuesst. Diese gab den Kuss auf die Stirne des schoenen Maedchens
zurueck. Der Vater wollte wahrscheinlich etwas Heiteres oder gar
Scherzhaftes zu Natalien sagen; aber als er sie naeher anblickte, wurde
er sehr ernst und beinahe scheu, er gruesste sie anstaendig und sehr
fein. Wahrscheinlich hatte ihn ihre Schoenheit ueberrascht oder er
erinnerte sich, wie es auch mir ergangen war, an die Pracht seiner
geschnittenen Steine. Klotilde wurde von Mathilden auch an das Herz
gedrueckt. Auf mich dachte beinahe niemand. Ob dieser Empfang der
strengen Umgangssitte oder irgend einer Rangordnung gemaess war, darnach
fragte niemand. Wir gingen unter einander gemischt die Treppe hinan
und wurden in Mathildens Gesellschaftszimmer gefuehrt. Dort lieh man
den Gruessen erst lebhaftere Worte und einen geregelten Ausdruck.
"So lange haben wir uns gekannt und erst jetzt sehen wir uns", sagte
Mathilde zu meinen Eltern, als sie dieselben zum Niedersitzen auf ihre
Plaetze veranlasst hatte.
"Es war ein Wunsch von vielen Jahren", entgegnete mein Vater, "dass wir
die Menschen saehen, die gegen meinen Sohn so wohlwollend waren und die
sein Wesen so sehr gehoben hatten."
"Das ist nun Natalie, meine teure Klotilde", sagte ich, indem ich
beide Maedchen einander vorstellte, "das ist Natalie, die ich so sehr
liebe, so sehr wie dich selbst."
"Nein, mehr als mich, und so ist es auch recht", erwiderte Klotilde.
"Sei meine Schwester", sagte Natalie, "ich werde dich lieben wie eine
Schwester, ich werde dich lieben, so sehr es nur mein Herz vermag."
"Ich nenne dich auch du", erwiderte Klotilde, "ich liebe meinen Bruder
wie mein eigenes Herz, und werde dich auch so lieben."
Die beiden Maedchen umarmten sich wieder und kuessten sich wieder.
Als wir uns um den Tisch gesetzt hatten, sagte ich zu Natalien: "Und
mich gruesst ihr beinahe gar nicht."
"Ihr wisst es ja doch", erwiderte sie, indem sie mich freundlich ansah.
Das Gespraech dauerte nun allgemeiner ueber denselben Gegenstand fort.
Die zwei Frauen konnten sich kaum genug betrachten und nahmen sich
immer wieder bei den Haenden.
Als man endlich auf andere Gegenstaende uebergegangen war und ueber die
Reise und ihre Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten gesprochen
hatte, sagte mein Vater, dass wir noch saemtlich in Reisekleidern seien,
dass wir ans verabschieden muessten, und er fragte, wann er die Ehre
haben koennte, sich Mathilden wieder vorstellen zu duerfen.
"Nicht Vorstellung", erwiderte sie, "Besuch, wann ihr immer wollt."
"Also in zwei Stunden", entgegnete mein Vater.
Wir gingen in unsere Zimmer, und mein Vater wies uns an, uns in
Festkleider zu kleiden. Nach zwei Stunden ging er allein mit der
Mutter, beide wie an einem hohen Festtage geschmueckt, zu Mathilden,
welche sie zu sprechen verlangten. Mathilde empfing sie in dem grossen
Gesellschaftszimmer, und mein Vater warb um die Hand Nataliens fuer
mich.
Nach wenigen Augenblicken wurden Natalie, Klotilde und ich
hineingerufen, und Mathilde sagte: "Der Herr und die Frau Drendorf
haben fuer ihren Sohn Heinrich um deine Hand geworben, Natalie."
Natalie, welche in einem so festlichen Kleide da stand, wie ich sie
nie gesehen hatte, weshalb sie mir beinahe fremd erschien, blickte
mich mit Traenen in den Augen an. Ich ging auf sie zu, fasste sie an der
Hand, fuehrte sie vor ihre Mutter, und wir sprachen einige Worte des
Dankes. Sie entgegnete sehr freundlich. Dann gingen wir zu meinen
Eltern und dankten ihnen gleichfalls, die gleichfalls freundlich
antworteten. Klotilde war in ihrem Festanzuge sehr befangen, was auch
fast bei allen Andern der Fall war. Mein Vater loeste die Stimmung,
indem er zu einem Tische schritt, auf welchem er ein Kaestchen
niedergestellt hatte. Er nahm das Kaestchen, naeherte sich Natalien und
sagte: "Liebe Braut und kuenftige Tochter, hier bringe ich ein kleines
Geschenk; aber es ist eine Bedingung daran geknuepft. Ihr seht, dass
ein Faden um das Schloss liegt und dass der Faden ein Siegel traegt.
Schneidet den Faden nicht eher ab als nach eurer Vermaehlung. Den Grund
meiner Bitte werdet ihr dann auch sehen. Wollt ihr sie freundlich
erfuellen?"
"Ich danke fuer eure Guete innig", antwortete Natalie, "und ich werde
die Bedingung erfuellen."
Sie empfing das Kaestchen aus der Hand des Vaters. Auch die Mutter und
Klotilde gaben ihr Geschenke, so wie Mathilde und Natalie Gegenstaende
aus den benachbarten Zimmern herbeiholten, um die Mutter, Klotilden
und den Vater zu beschenken. Natalie und ich gaben uns nichts. Dann
setzten wir uns um einen Tisch nieder, und es begannen herzliche
Gespraeche. Am Schlusse sagte Mathilde: "So waere denn der Bund, den die
Herzen unserer Kinder geschlossen haben, auch durch die Beistimmung
der Eltern bekraeftigt. Der Tag der ewigen Verbindung mag nach ihrem
Wunsche und unserer Meinung festgesetzt werden. Wir wollen darueber
jetzt nicht sprechen, sondern es der Beratung und Vereinbarung
anheimgeben."
Nach diesen Worten trennten wir uns und begaben uns in unsere Zimmer.
Die festlichen Kleider wurden nun abgelegt, und es begann das
Besuchsleben, wie es in aehnlichen Verhaeltnissen und namentlich, wenn
man in so nahe Beziehungen getreten ist, der Fall zu sein pflegt.
Mathilde fuehrte nach und nach den Vater und die Mutter in alle Teile
des Schlosses, des Gartens, des Meierhofes, der Felder, der Wiesen und
der Waelder. Sie zeigte ihnen alle Zimmer des Hauses: ihre Wohnzimmer,
die Zimmer mit den alten Geraeten, sie zeigte ihnen die Bilder und
was sich nur immer in dem Schlosse befand. Sie ging mit ihnen in den
Garten: zu den Linden, zu allen Obstbaeumen, zu den Blumenbeeten, in
die Grotte mit der Brunnennymphe, auf die Eppichwand und in jede
Anlage, die in dem Garten enthalten war. Ebenso wurde alles, was sich
auf die Landwirtschaft bezog, auf das Genaueste durchgenommen. Gegen
den Abend, wenn die Sonnenstrahlen milde auf die bluehende Erde
leuchteten, wurde ein gemeinschaftlicher Gang durch irgend einen
Teil der Gegend gemacht. Wiederholt gingen wir die ganze Laenge des
Beruehrweges durch, und die Eltern fanden Gefallen an dieser Bahn, die
eine freie und ruestige Bewegung in trueben Tagen so wie im Winter auf
eine angenehme Weise gestatte. Der Vater konnte ueber alles der Freude
und des Lobes kein Ende finden. Mathilde und die Mutter sprachen
oft lange und immer sehr freundlich mit einander, sie tauschten
wahrscheinlich ihre Ansichten ueber Haeuslichkeit und Verwaltung des
Zugehoerigen aus. Natalie und Klotilde waren fast unzertrennlich, sie
schlossen sich an einander an, bezeugten sich jede Innigkeit, und
oft, wenn wir alle in das Schloss zurueckgekehrt waren, gingen sie
noch auf einem einsamen Wege des Gartens oder auf einem Pfade des
naechstgelegenen Feldes herum.
"Siehst du, Klotilde", sagte ich, "ich konnte dir kein Bild von
Natalie bringen, weil keins da war, jetzt hast du sie selber."
"Um wie viel lieber als jedes Bild", antwortete sie, "aber ein Bild
muss doch ausgefuehrt werden, damit man spaeter wisse, wie sie in diesen
Jahren ausgesehen habe."
Acht Tage entliess uns Mathilde nicht von dem Sternenhofe, und jeder
Tag fand seine freundliche Beschaeftigung. Am neunten wurden die
Anstalten gemacht, dass wir alle in das Rosenhaus abreisen konnten.
Mathilde und die Eltern fuhren in unserem Reisewagen. Natalie,
Klotilde und ich in dem Wagen Mathildens.
Als wir den Huegel hinanfuhren, konnte mein Vater seine Neugierde
kaum mehr bemeistern. Ich sah ihn oefter in dem Wagen aufstehen und
herumblicken. Es war ein wolkig heiterer Tag, Strichregen gingen auf
entferntere Waelder nieder, Sonnenblicke schnitten goldne Bilder auf
den Huegeln und Ebenen aus, und das Haus meines Gastfreundes schaute
sanft von seiner Anhoehe hernieder. Obwohl, da wir von der Stadt
abfuhren, dort bereits alles in Bluete stand, war in der Umgebung des
Rosenhauses trotz der Zeit, die wir auf der Reise und in dem Hause
Mathildens zugebracht hatten, doch noch die Baumbluete nicht vorueber,
sondern sie war erst in ihrer vollen Entfaltung. Denn das Land
hier lag um ein Bedeutendes hoeher als die Stadt. Ein Teil des
Wintergetreides stand auf dem Huegel in ueppigstem Wuchse, ein Teil
schickte sich dazu an, das Sommergetreide keimte hie und da, und hie
und da war noch die braune Erde zu sehen.
Mein Gastfreund hatte durch Mathilden Nachricht von unserer Ankunft
erhalten. Als wir bei dem Gitter anfuhren, stand er mit Gustav,
Eustach, Roland, mit der Haushaelterin Katharine, mit dem
Hausverwalter, mit dem Gaertner und anderen Leuten auf dem Sandplatze
vor dem Gitter, um uns zu empfangen. Wir stiegen aus, und da standen
sich nun mein Vater und mein Gastfreund gegenueber. Der letztere
hatte schneeweisse Haare, mein Vater etwas minder weisse, aber liebe,
ehrwuerdige Maenner waren beide. Sie reichten sich die Hand, sahen sich
einen Augenblick an und schuettelten sich dann ihre Rechte herzlich.
"Seid mir gegruesst, seid mir tausendmal gegruesst an meiner Schwelle",
sagte mein Gastfreund, "selten ist hier einer eingegangen, der so
willkommen gewesen waere wie ihr, und selten habe ich mich nach
jemandem so gesehnt wie nach euch. Wir sind nun so lange in Verbindung
und ich habe euch schon so lange in der Liebe eures Sohnes geliebt."
"Ich euch in der Liebe eures jungen Freundes", erwiderte mein Vater,
"es ist einer meiner liebsten Tage, der mich unter dieses Dach bringt.
Ich komme in das Haus des Mannes, den ich durch meinen Sohn kenne,
obgleich ich auch den Staatsmann hochachten muss. Ich komme mit der
Schuld des Dankes belastet. Ihr habt mich ausgezeichnet, ehe ich es
nur im geringsten Masse um euch verdient hatte."
"Lasst das jetzt, es machte mir ja selber Freude", entgegnete mein
Gastfreund, "aber seht, so begeht man Fehler, wenn man von einer
Leidenschaft befangen ist, besonders, wenn zwei alte Altertumsfreunde
zusammentreffen. Ich habe versaeumt, eurer verehrtest Gattin meinen
ersten Gruss darzubringen, wie es Pflicht gewesen waere. Aber, teure
Frau, ihr werdet es, wenn auch nicht ganz entschuldigen, doch als ein
geringeres Vergehen ansehen, als eine andere Frau, da ihr euren Gatten
und seine Beziehungen zu seinen Schaetzen kennt. Seid mir gegruesst,
und wenn ich sage, dass ich euch nicht minder als euren Gatten hieher
gewuenscht habe, so sage ich die Wahrheit, und euer eigener Sohn ist
gegen euch Zeuge, wenn ihr meine Worte bezweifeln wolltet. Es freut
mich, euch in mein Haus fuehren zu koennen, erlaubt, dass ich eure Hand
fasse. Mathilde, Natalie, Heinrich, ihr muesset heute etwas Nebensache
sein, und dieses Fraeulein, das ich wohl schon als Klotilde kenne, wird
erlauben, dass ich sie auch ein wenig liebe und um Gegenneigung bitte.
Gustav, fuehre das Fraeulein."
"Goennt mir die Gnade, euch fuehren zu duerfen", sagte Gustav zu
Klotilden.
Sie sah den Juengling sanft an und sagte: "Ich bitte um die
Gefaelligkeit."
"Ehe wir gehen", sagte mein Gastfreund noch, "sehet noch hier meine
zwei ausgezeichneten Kuenstler Eustach und Roland, die mit mir in
unserem Besitze leben, den ich Sorgenfrei nennen wuerde, wenn er nicht
voll von Sorgen steckte. Sie wollen euch vor dem Hause begruessen. Seht
da auch meine Katharine, die das Haus zusammenhaelt, und dann meinen
Hausverwalter und Gaertner und Andere, welche die Lust des Empfanges
nicht missen wollten."
Mein Vater reichte jedem die Hand, und die Mutter und Klotilde
verbeugten sich auf das Artigste.
Hierauf nahm mein Gastfreund den Arm meiner Mutter, mein Vater den
Mathildens, ich Nataliens, Gustav Klotildens, und so gingen wir bei
dem Eisengitter in den Garten und in das Haus. Die Waegen fuhren in den
Meierhof. In dem Hause wurden wir gleich in unsere Zimmer gefuehrt.
Mathilde und Natalie gingen in ihre gewoehnliche Wohnung. Fuer meinen
Vater und fuer meine Mutter war ein Aufenthalt von drei Zimmern
eigens gerichtet worden. Sie hatten sehr schoene Wandbekleidungen und
vorzuegliche Geraete. Fuer alle und jede Bequemlichkeit war gesorgt.
Klotilde hatte ein zierliches blassblaues Zimmerchen daneben. Ich ging
von der Wohnung meiner Eltern in meine Zimmer, welche die gewoehnlichen
waren. Gustav besuchte mich hier in dem ersten Augenblicke, und
umschlang mich mit der groessten Freude und Liebe.
"Nun ist doch alles sicher und gewiss", sagte er.
"Sicher und gewiss", entgegnete ich, "wenn Gott sein Vollbringen gibt.
Jetzt bist du mein teurer, vielgeliebter Bruder in der Tat, wenn du es
auch der Fassung nach erst in einiger Zeit wirst."
"Darf ich auch du sagen?" fragte er.
"Von ganzem Herzen", erwiderte ich.
"Also du, mein geliebter, mein teurer Bruder", sagte er.
"Auf immer, so lange wir leben, was auch, sonst fuer Zwischenfaelle
kommen moegen", sagte ich.
"Auf immer", antwortete er, "aber jetzt kleide dich schnell um, damit
du nicht zu spaet kommst. Man wird in dem Besuchsaale zu ebener Erde
noch einmal zu einem Grusse zusammenkommen, ehe man zum Mittagessen
geht. Ich muss mich selber zurecht richten."
Es war so, wie Gustav gesagt hatte, und es war an alle die Einladung
ergangen. Er verliess mich, und ich kleidete mich um.
Wir versammelten uns in dem Besuchzimmer zu ebener Erde, in welchem
ich, da ich das erste Mal in diesem Hause war, allein gewartet hatte,
waehrend mein Gastfreund gegangen war, ein Mittagessen fuer mich zu
bestellen. Ich hatte damals den Gesang der Voegel hereingehoert.
Der eingelegte Fussboden war heute mit einem sehr schoenen Teppiche
ganz ueberspannt. Auch Eustach und Roland waren zu der Versammlung
eingeladen worden.
Als sich alle eingefunden hatten, stand mein Gastfreund, welcher so
festlich angezogen war wie wir, auf und sprach: "Ich richte noch
einmal an alle, welche gekomrnen sind, den Empfangsgruss innerhalb der
Waende dieses Hauses. Es ist ein schoener Tag.
Wenn gleich mancher liebe Freund und gewissermassen Schlachtkamerade,
den ich noch besitze, nicht hier ist, so kann eben nicht immer alles,
was man liebt, versammelt sein. Das Eigentliche ist hier, ist aus
einem lieben Anlasse hier, aus welchem ein noch schoenerer Tag fuer
Manche hervorgehen kann. Ihr, sehr hochgeehrte Frau, die Mutter des
jungen Mannes, welcher zu verschiedenen Malen unter dem Dache dieses
Hauses gewohnt hat, seid dem Hause willkommen. Es hat euren Namen oft
gehoert und die Namen eurer Tugenden, und wenn der Schall der Rede
oft auch ganz Anderes zu verkuenden schien, so gingen unbewusst eure
Eigenschaften daraus hervor, sammelten sich hier und erzeugten
Ehrerbietung und, erlaubt einem alten Manne das Wort, Liebe. Ihr, mein
edler Freund - goennt mir den Namen auch, den ich euch so gerne gebe
-, ein graues Haupt wie ich, aber ehrwuerdiger in der Verehrung seiner
Kinder und darum auch in der anderer Leute, ihr habt mit eurer Gattin
unsichtbar dieses Haus bewohnt und ehrt es, da es eure Gestalt nun
selber in seinen Raeumen sieht. Ihr, Klotilde, wandeltet mit euren
Eltern hier und seid gleichfalls in eurem Eigentume. Zu dir, Mathilde,
spreche ich erst jetzt, nachdem ich zu den Andern gesprochen habe,
die nicht so oft die Schwelle dieses Hauses betreten haben wie du. Du
bringst uns heute etwas, das allen lieb sein wird. Sei deshalb nicht
mehr gegruesst und willkommen, als du hier immer gegruesst und willkommen
gewesen bist. Sei willkommen, Natalie, und seid gegruesst, Heinrich.
Eustach, Roland, Gustav sind als Zeugen hier von dem, was da
geschieht."
Meine Mutter antwortete hierauf: "Ich habe immer gedacht, dass wir in
diesem Hause werden herzlich empfangen werden, es ist so, ich danke
sehr dafuer."
"Ich danke auch, und moege die gute Meinung von uns sich bewaehren",
sagte der Vater.
Klotilde verneigte sich nur.
Mathilde sprach: "Sei bedankt fuer deinen Gruss, Gustav, und wenn du
sagst, dass ich etwas bringe, das allen lieb sein wird, so berichte
ich, dass Heinrich Drendorf und Natalie vor neun Tagen im Sternenhofe
verlobt worden sind. Wir haben den Weg zu dir gemacht, um deine
Billigung zu dieser Vornahme zu erwirken. Du hast immer wie ein Vater
an Natalien gehandelt. Was sie ist, ist sie groesstenteils durch dich.
Daher koennte ein Band sie nie begluecken, das deinen vollen Segen nicht
haette."
"Natalie ist ein gutes, treffliches Maedchen", erwiderte mein
Gastfreund, "sie ist durch ihr innerstes Wesen und durch ihre
Erziehung das geworden, was sie ist. Ich mag ein Weniges beigetragen
haben, wie alle nicht boesen Menschen, mit denen wir umgehen, zu
unserem Wesen etwas Gutes beitragen. Du weisst, dass der geschlossene
Bund meine Billigung hat, und dass ich ihm alles Glueck wuensche. Weil du
mich aber Vater Nataliens nennst, so musst du erlauben, dass ich auch
als Vater handle. Natalie erhaelt als meine Erbin den Asperhof mit
allem Zubehoer und allem, was darin ist, sie erhaelt auch, da ich gar
keine Verwandten besitze, meine ganze uebrige Habe. Die Ausfolgung
geschieht in der Art, dass sie einen Teil des gesammten Vermoegens an
ihrem Vermaehlungstage empfaengt nebst den Papieren, welche ihr das
Anrecht auf den Rest zusprechen, der ihr an meinem Todestage anheim
faellt. Einige Geschenke an Freunde und Diener werden in den Papieren
enthalten sein, die sie gerne verabfolgen wird. Weil ich Vater bin,
so werde ich auch meine liebe Tochter ausstatten, von ihrer Mutter
kann sie nur Geschenke annehmen. Und einen Eigensinn muesst ihr mir
gestatten, dessen Bekaempfung von eurer Seite mich sehr schmerzen
wuerde. Die Vermaehlung soll auf dem Asperhofe gefeiert werden. Hieher
ist der Braeutigam vor mehreren Jahren zuerst gekommen, hier habt ihr
ihn kennen gelernt, hier ist vielleicht die Neigung gekeimt und hier
endlich wohnt ja der Vater, wie er eben genannt worden ist. Vom
Vermaehlungstage an wird im Asperhofe fuer die jungen Eheleute eine
Wohnung in Bereitschaft stehen, es wird aber an sie nicht die
Forderung gestellt werden, dass sie dieselbe benuetzen. Sie sollen nach
ihrer Wahl ihre Wohnung aufschlagen: entweder im Asperhofe oder im
Sternenhofe oder in der Stadt oder auch abwechslungsweise, wie es
ihnen gefaellt."
Mathilde war waehrend dieser ganzen Rede mit Wuerde und Anstand in ihrem
Sitze gesessen, wie ueberhaupt in der ganzen Versammlung ein tiefer
Ernst herrschte. Mathilde suchte ihre Haltung zu bewahren; allein
aus ihren Augen stuerzten Traenen, und ihr Mund zitterte vor starker
Bewegung. Sie stand auf und wollte reden; aber sie konnte nicht und
reichte nur ihre Hand an Risach. Dieser ging um den Tisch - denn eine
Ecke desselben trennte sie -, drueckte Mathilden sanft in ihren Sitz
nieder, kuesste sie sachte auf die Stirne und strich einmal mit seiner
Hand ueber ihre Haare, die sie glatt gescheitelt ueber der feinen Stirne
hatte.
Mein Vater nahm hierauf, da Risach wieder an seinem Platze war, das
Wort, und sprach: "Es ist noch ein Vater da, welcher auch einige Worte
reden und einige Bedingungen stellen moechte. Vor allem, Freiherr von
Risach, empfanget den innigsten Dank von mir im Namen meiner Familie,
dass ihr ein Mitglied derselben zu einem Mitgliede der eurigen
aufzunehmen fuer wuerdig erachtet habt. Unserer Familie ist dadurch
eine Ehre erzeigt worden, und mein Sohn Heinrich wird sich sicherlich
bestreben, sich alle jene Eigenschaften zu erwerben, welche ihm
zur Erfuellung seiner neuen Pflichten und zur Darstellung jener
Menschenwuerde ueberhaupt noetig sind, ohne welche man ein Teil der
besseren menschlichen Gesellschaft nicht sein kann. Ich hoffe, dass ich
hierin fuer meinen Sohn buergen kann, und ihr selber hofft es, da ihr
ihn in die Stellung aufgenommen habt, in der er ist. Mein Sohn wird in
die neue Haushaltung bringen, was nicht fuer unbillig erachtet worden
soll. In meinem Hause in der Stadt wird eine anstaendige Wohnung fuer
die Neuvermaehlten immer in Bereitschaft stehen, und wenn ich das
Landleben einmal vorziehen sollte, so werden sie auch in meiner neuen
Wohnung einen Platz finden. Ihr eigenes staendiges Haus moegen sie nach
Belieben aufschlagen.
Dass die Vermaehlung in dem Asperhofe sei, ist nach meiner Meinung
gerecht, und ich glaube, es wird niemand die Massregel bestreiten. Und
nun habe ich noch eine Bitte an euch, Freiherr von Risach, nehmt mich
alten Mann und meine alte Gattin nebst unsrer Tochter nicht ungerne
in euren Familienkreis auf. Wir sind buergerliche Leute und haben als
solche einfach gelebt; aber in jedem Verhaeltnisse unsere Ehre und
unsern guten Namen aufrecht zu erhalten gesucht."
"Ich kenne euch schon lange", antwortete Risach, "obwohl nicht
persoenlich, und habe euch schon lange hoch geachtet. Noch hoeher
achtete und liebte ich euch, als ich euren Sohn kennen gelernt hatte.
Wie sehr es mich freut, in eine naehere Umgangsverbindung mit euch zu
kommen, kann euch euer Sohn sagen und wird euch die Zukunft zeigen.
Was die Buergerlichkeit anlangt, so gehoerte ich zu diesem Stande.
Vergaengliche Handlungen, die man Verdienste nannte, haben mich
auf eine Zeit aus ihm gerueckt, ich kehre durch meine angenommene
Tochter wieder zu ihm zurueck, der mir allein gebuehrt. Ehrenvoller,
wuerdiger Mann einer stetigen Taetigkeit und eines wohlgegruendeten
Familienlebens, wenn ihr mich, der ich Beides nicht habe, fuer wert
erachtet, so kommt an mein Herz und lasst uns die letzten Lebenstage
freundlich mit einander gehen."
Beide Maenner verliessen ihre Plaetze, begegneten sich auf halbem Wege zu
einander, schlossen sich in die Arme und hielten sich einen Augenblick
fest. Wie erschuetternd das auf alle wirkte, zeigte die Tatsache, dass
es totenstill im Zimmer war und dass manche Augen feucht wurden.
Meine Mutter war, da Risach Mathilden verlassen hatte, zu ihr
gegangen, hatte sich neben sie gesetzt und hatte ihre beiden Haende
gefasst. Die Frauen kuessten sich und hielten sich noch immer beinahe
umfangen.
Ich und Natalie traten jetzt vor Risach und sagten, dass wir ihm fuer
alles Liebe und Gute gegen uns aufs Tiefste danken und dass unser
einziges Bestreben sein werde, seiner guten Meinung ueber uns immer
wuerdiger zu werden.
"Ihr seid lieb und freundlich und ehrlich", sagte er, "und alles wird
gut werden."
Wir gingen wieder an unsere Plaetze, und Eustach, Klotilde, Roland,
Gustav und selbst die Eltern wuenschten uns nun alles Glueck und allen
Segen.
Hierauf nahm das Gespraech eine Wendung auf einfachere und
gewoehnlichere Dinge. Man stand auch oefter auf und mischte sich
durcheinander. Meine Mutter hatte heute einige der schoensten
geschnittenen Steine meines Vaters als Schmuck an ihrem Koerper. Mein
Gastfreund hatte oefter darauf hingeblickt; allein jetzt konnten er und
Eustach dem Reize nicht mehr widerstehen, sie traten zu meiner Mutter,
betrachteten verwundert die Steine und sprachen ueber dieselben. Spaeter
kam auch Roland hinzu. Meinem Vater glaenzten die Augen vor Freude.
Als das Gespraech noch eine Weile gedauert hatte, trennte man sich und
bestellte sich auf einen Spaziergang, der noch vor dem Mittagessen
statt finden sollte. Auf dem Sandplatze vor dem Rosengitter an dem
Hause wollte man sich versammeln.
Wir kleideten uns in andere Kleider und kamen vor dem Hause zusammen.
Mein Vater, der wahrscheinlich sehr neugierig war, alles in diesem
Hause zu sehen, hatte sich zu Risach gesellt, sie standen vor den
Rosengewaechsen, und mein Gastfreund erklaerte dem Vater alles. Mathilde
war an der Seite meiner Mutter, Klotilde und Natalie hielten sich an
den Armen, und ich und Gustav so wie zu Zeiten auch Eustach und Roland
hielten uns in der Naehe der alten Maenner auf. Wir gingen von dem
Sandplatze in den Garten, damit die Meinigen zuerst diesen saehen. Mein
Gastfreund machte fuer meinen Vater den Fuehrer und zeigte und erklaerte
ihm alles. Wo meine Mutter und Klotilde an dem Gesehenen Anteil
nahmen, wurde es ihnen von ihren Begleiterinnen erlaeutert.
"Da sehe ich ja aber doch Faltern", sagte mein Vater, als wir eine
geraume Strecke in dem Garten vorwaerts gekommen waren.
"Es waere wohl kaum denkbar und moeglich, dass meine Voegel alle Keime
ausrotteten", antwortete mein Gastfreund, "sie hindern nur die
unmaessige Verbreitung. Einiges bleibt aber immer uebrig, was fuer das
naechste Jahr Nahrung liefert. Zudem kommen auch von der Ferne Faltern
hergeflogen. Sie waeren wohl auch die schoenste Zierde eines Gartens,
wenn ihre Raupen nicht so oft fuer unsere menschlichen Beduerfnisse so
schaedlich waeren."
"Bringen denn nicht aber auch die Voegel manchen Baumfruechten Schaden?"
fragte mein Vater.
"Ja, sie bringen Schaden", entgegnete mein Gastfreund, "er trifft
hauptsaechlich die Kirschenarten und andere weichere Obstgattungen;
aber im Verhaeltnisse zu dem Nutzen, den mir die Voegel bringen, ist
der Schaden sehr geringe, sie sollen von dem Ueberflusse, den sie mir
verschaffen, auch einen Teil geniessen, und endlich, da sie neben
ihrer natuerlichen Nahrung von mir noch ausserordentliche und mitunter
Leckerbissen bekommen, so ist dadurch der Anlass zu Angriffen auf mein
Obst geringer."
Wir gingen durch den ganzen Garten. Jedes Blumenbeet, jede einzelne
merkwuerdigere Blume, jeder Baum, jedes Gemuesebeet, der Lindengang,
die Bienenhuette, die Gewaechshaeuser, alles wurde genau betrachtet. Der
Tag hatte sich beinahe ganz ausgeheitert, und eine Fuelle von Blueten
lastete und duftete ueberall. Wir gingen bis zu dem grossen Kirschbaume
empor und sahen von ihm ueber den Garten zurueck. Der Vater fuehlte sich
ganz gluecklich, alles das sehen und betrachten zu koennen. Die Mutter
mochte wohl ihren Umgebungen nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt
haben wie der Vater, und sie mochte mit Mathilden mehr ueber das Wohl
und Wehe und ueber die Zukunft ihrer Kinder gesprochen haben. Auch
duerfte der Inhalt der Gespraeche zwischen Klotilden und Natalien nicht
vorherrschend der Garten gewesen sein. Sie konnten manche Faeden ueber
andere Dinge anzuknuepfen gehabt haben.
Von dem grossen Kirschbaume musste wieder in das Haus zurueckgegangen
werden, weil die Zeit, welche noch bis zu dem Mittagessen gegeben
gewesen war, ihren Ablauf genommen hatte. Man verfuegte sich einen
Augenblick in seine Zimmer und versammelte sich dann im Speisesaale.
Der Nachmittag war zur Besichtigung des Meierhofes, der Wiesen und
Felder bestimmt. Wir gingen von dem grossen Kirschbaume auf dem
Getreidehuegel hinaus und auf ihm fort bis zu der Felderrast. Wir
gingen genau den Weg, welchen ich an jenem Abende mit meinem
Gastfreunde gegangen war, als ich mich zum ersten Male in dem
Asperhofe befunden hatte. Wir sahen von der Felderrast ein wenig
herum. Die Esche hatte eben ihre ersten kleinen Blaetter angesetzt und
suchte sie auszubreiten. Wir konnten uns nicht niedersetzen, weil das
Baenkchen dazu viel zu klein war. Von der Felderrast gingen wir in den
Meierhof. Wir schlugen den Weg ein, welchen ich einmal mit Natalien
allein gewandelt war. Nach der Besichtigung des Meierhofes, in welchem
mein Gastfreund meinem Vater das Kleinste und Groesste zeigte, und
in welchem er ihm erklaerte, wie alles frueher ausgesehen hatte, was
daraus geworden war und was noch werden sollte, gingen wir durch
die Meierhofwiesen, durch die Felder am Abhange des Huegels des
Rosenhauses, dann den Huegel herum, endlich in das Gehoelze des Teiches
und von ihn am dem Erlenbache zurueck, so dass wir wieder zu dem grossen
Kirschbaume kamen und von ihm in das Haus zurueckkehrten. Es war
mittlerweile Abend geworden. Alles hatte die Bewunderung meines Vaters
erregt.
Der naechste Tag war dazu bestimmt, das Innere des Hauses, seine
Kunstschaetze und alles, was es sonst enthielt, zu besehen.
Mein Gastfreund fuehrte meinen Vater zuerst in alle Zimmer des
Erdgeschosses, dann ueber den Marmorgang die Treppe hinan zur
Marmorgestalt. Wir waren alle mit, ausser Eustach und Roland. Bei der
Marmorgestalt hielten wir uns sehr lange auf. Von ihr gingen wir
in den Marmorsaal, in welchem mein Gastfreund meinem Vater alle
Marmorarten nannte und ihm die Orte ihres Vorkommens bezeichnete. Dann
besuchten wir nach und nach die Wohnzimmer meines Gastfreundes, die
Zimmer mit den Bildern, Buechern, Kupferstichen, das Lesezimmer, das
Eckzimmer mit den Vogelbrettchen und endlich die Gastzimmer und die
Wohnung Mathildens. Auch Rolands Gemach wurde besehen, in welchem auf
einer Staffelei sein beinahe fertiges Bild stand. Den Beschluss machte
der Besuch des Schreinerhauses und die Besichtigung seiner Einrichtung
und alles dessen, was da eben gefoerdert wurde. War mein Vater schon
gestern voll Bewunderung gewesen, so war er heute beinahe ausser sich.
Die Marmorgestalt hatte seinen Beifall so sehr, dass er sagte, er
koenne sich von seinen Reisen her nicht auf Vieles erinnern, was von
altertuemlichen Werken besser waere als diese Gestalt. Sie wurde von
allen Seiten besehen und wieder besehen, dieser Teil und jener Teil
und das Ganze wurde besprochen. So etwas, sagte mein Vater, koenne er
nicht entfernt aufweisen, nur einige seiner alten geschnittenen Steine
koennten neben dieser Gestalt noch besehen werden. Der Marmorsaal
gefiel ihm sehr, und der Gedanke, ein solches Gemach zu bauen,
erschien ihm als ein aeusserst gluecklicher. Er pries die Geduld
meines Gastfreundes im Suchen des Marmors und lobte die, welche die
Zusammenstellung entworfen hatten, dass etwas so Reines und Grossartiges
zu Stande gekommen sei. Die alten Geraete, die Bilder, die Buecher, die
Kupferstiche beschaeftigten meinen Vater auf das Lebhafteste, er sah
alles genau an und sprach als Liebhaber und auch als Kenner ueber
Vieles. Mein Gastfreund verstaendigte sich leicht mit ihm, ihre
Ansichten trafen haeufig zusammen und ergaenzten sich haeufig, in so
ferne man ueberhaupt Ansichten in einer Gesellschaft, in welcher man
sich kurz fassen musste, aussprechen konnte. Meine Mutter freute
sich innig ueber die Freude des Vaters. So war es denn also doch in
Erfuellung gegangen, was sie so oft gewuenscht hatte, dass mein Vater das
Haus meines Gastfreundes besuchte, und es war auf eine liebe Art in
Erfuellung gegangen, die sie sich gewiss einstens nicht gedacht hatte.
Rolands Bild betrachtete der Vater sehr aufmerksam, er hielt es fuer
hoechst bedeutend, er sprach mit Risach ueber Verschiedenes in demselben
und aeusserte sich, dass, nach diesem Werke zu urteilen, Roland eine
hoffnungsvolle Zukunft vor sich haben duerfte. Dass es meinen Gastfreund
mit Vergnuegen erfuellte, dass seine Schoepfungen mit solcher Anerkennung
von einem Manne, aus dessen Worten die Berechtigung zu einem Urteile
hervorging, betrachtet werden, ist begreiflich. Die zwei Maenner
schlossen sich immer mehr an einander und vergassen zuweilen ein wenig
die uebrige Gesellschaft. In dem Schreinerhause, in welchem Eustach
den Fuehrer machte, wurden nicht nur alle Zeichnungen und Plaene
durchgesehen, sondern die ganze Einrichtung und die Art, wie hier
verfahren werde, sammt allen Werkzeugen, wurde einer genauen
Beobachtung unterzogen. Der Vater war voll der Billigung darueber. Mit
Besichtigung dieser Dinge war der ganze Tag verbraucht worden.
Am naechsten Tage fuhr man in den Alizwald, damit mein Gastfreund
meinen Eltern den Forst zeigen konnte, welcher zu dem Asperhofe
gehoerte.
Die folgenden Tage waren fuer die Gesellschaft schon weniger
vereinigend. Man zerstreute sich und ging dem nach, was eben die
meiste Anziehungskraft ausuebte. Zu mir und Natalien kamen nach und
nach alle Bewohner des Rosenhauses und des Meierhofes, um uns Glueck
und Segen zu unserer bevorstehenden Vereinigung zu wuenschen. Sie
hatten jetzt erst, nach geschehener Verlobung, die Gewissheit davon
erhalten, hatten es aber in frueherer Zeit aus den Vorgaengen, die sie
sahen, gemutmasst und geschlossen. Mein Vater holte Vieles wieder im
Einzelnen nach, was er im Allgemeinen gesehen hatte, er war bald hier,
bald dort und war viel mit dem Besitzer des Hauses beschaeftigt. Die
Frauen liessen sich das angelegen sein, was Sache des Hauswesens
ist, und verkehrten manche Weile mit Katharinen. Wir juengeren Leute
gingen viel in dem Garten herum, besuchten manche Stelle und machten
Spaziergaenge. Wir waren mehrere Male bei den Gaertnerleuten, sassen
einmal lange bei ihrem Tische und besahen einmal ausfuehrlich fuer
uns die Gewaechshaeuser und liessen uns das Vorhandene von dem Gaertner
erklaeren. Eines Tages waren wir auch alle im Inghofe, und die Bewohner
des Inghofes waren eines andern Tages im Asperhofe. Der Pfarrer von
Rohrberg und mehrere der angeseheneren Bewohner der Gegend waren von
nahe oder von ferne herzugekommen, um zu dem ihnen bekannt gewordenen
Ereignisse ihren Glueckwunsch darzubringen. Selbst Bauersleute der
Nachbarschaft und Andere, die mich und Natalien kannten, kamen zu
demselben Zwecke.
Wir mussten zwoelf Tage in dem Asperhofe zubringen, dann aber wurde
unser Reisewagen bepackt, und wir traten die Rueckreise in unsere
Vaterstadt an.
Da wir zu Hause angekommen waren, wurde sogleich daran gegangen,
Zimmer in Bereitschaft zu setzen, dass wir den Gegenbesuch, wenn er
eintreffen wuerde, anstandsvoll empfangen koennten. Ich ruestete mich
indessen auch noch zu etwas Anderem, was noch vor der Verbindung mit
Natalien statthaben musste, zu meiner grossen Reise. Ich suchte die
Anstalten so zu treffen, dass ich glaubte, nichts Wesentliches ausser
Acht gelassen zu haben. Die Notwendigkeit, mir durch diese Reise noch
Manches, was mir fehlte, anzueignen und in dieser Hinsicht nicht zu
weit hinter Natalien zurueckstehen zu muessen, war mir einleuchtend, und
eben so einleuchtend war es mir, dass ich eine groessere Reise allein
machen muesse, ehe ich in kuenftiger Zeit mit Natalien eine Reise
antreten koennte. Ich hatte auch vor, mich gleich nach der Zeit, in der
uns der Gegenbesuch abgestattet sein wuerde, auf die Reise zu begeben.
Der Gegenbesuch kam drei Wochen nach dem Tage, an welchem wir in
der Stadt angelangt waren. Ein Brief hatte ihn vorher angekuendigt.
Mathilde, Risach, Natalie und Gustav trafen in einem schoenen
Reisewagen ein. Sie wurden in die fuer sie in Bereitschaft gehaltenen
Zimmer gefuehrt. Nachdem sie sich umgekleidet hatten, kamen wir zum
Grusse in unserem Besuchzimmer zusammen. Der Empfang in unserem Hause
war so herzlich und innig, wie er nur immer in dem Sternenhofe und in
dem Hause meines Gastfreundes gewesen war. In allen Mienen war Freude,
und alle Worte setzten die begonnene Bekanntschaft und die sich
entwickelnde Freundschaft fort. Selbst bis auf die Dienerschaft
pflanzte sich das angenehme Gefuehl ueber. Aus einzelnen Worten und aus
den heitern Angesichtern entnahm man, wie sehr ihnen die wunderschoene
Braut gefalle. Was unser Haus und die Stadt fuer die Gaeste Angenehmes
bieten konnte, wurde ihnen zur Verfuegung gestellt. Wie auf den beiden
Landsitzen wurde auch hier alles gezeigt, was das Haus enthaelt.
Die Gaeste wurden in die Zimmer gefuehrt, besahen Bilder, Buecher,
alte Schreine und geschnittene Steine. Sie kamen in das glaeserne
Eckhaeuschen und in alle Teile des Gartens. In Hinsicht der Bilder
meines Vaters sprach sich mein Gastfreund dahin aus, dass sie als
Ganzes durchaus wertvoller seien als seine Sammlung, obwohl er auch
einzelne Stuecke besitze, welche dem Besten aus meines Vaters Sammlung
an die Seite gestellt werden koennten. Meinen Vater freute dieses
Urteil, und er sagte, er haette ungefaehr dasselbe gefaellt.
Die geschnittenen Steine, sagte mein Gastfreund, seien auserlesen, und
denen haette er nichts Gleiches entgegenzustellen, es muesste nur das
Marmorstandbild sein.
"Das ist es auch, und das ist das Hoechste, was in beiden
Kunstsammlungen besteht", erwiderte mein Vater.
Die Schnitzarbeiten im Glashaeuschen waren meinem Gastfreunde aus
meinen Abbildungen bekannt. Er beschaeftigte sich aber doch mit ihrer
genauen Besichtigung und erteilte ihnen mit Ruecksicht auf die Zeit
ihrer Entstehung viel Lob. Mein Einbeerblatt aus Marmor im Garten
wurde einer Anerkennung nicht fuer unwuerdig erachtet. Meinen Vater
erquickte die Wuerdigung seiner Schaetze von einem Manne, wie Risach
war, sehr, und ich glaube, er hatte keine angenehmeren Stunden gehabt,
seit er alle diese Dinge zusammen gebracht, als die Zeit, die Risach
bei ihm gewesen war. Selbst jenen Augenblick duerfte er kaum vorgezogen
haben, da sich zum ersten Male meine Augen fuer den Wert dessen
geoeffnet hatten, was er besass. Bei mir war es damals nur Gefuehl
gewesen, bei Risach war jetzt es Urteil.
Zum Vergnuegen ausser dem Hause geschahen zwei Theaterbesuche, drei
gemeinschaftliche Besuche in Kunstsammlungen und einige Fahrten in die
Umgebung.
Bei dieser Zusammenkunft wurde auch die Vermaehlungszeit besprochen.
Ich sollte meine angekuendigte Reise unternehmen und nach der
Zurueckkunft sollte kein Aufschub mehr stattfinden. Der Tag werde dann
festgestellt werden. Nach dieser Verabredung wurde Abschied genommen.
Der Abschied war dieses Mal sehr schwer, weil er auf laenger genommen
wurde und weil unglueckliche Zufaelle in der Abwesenheit nicht unmoeglich
sein konnten. Aber wir waren standhaft, wir scheuten uns, vor Zeugen,
selbst vor so lieben, einen Schmerz zu aeussern, sondern trennten uns
und versprachen, uns zu schreiben.
Als uns unsere Gaeste verlassen hatten, zeigten wir in Briefen an
einige uns sehr befreundete Familien meine Verlobung an. Zur Fuerstin
ging ich selbst, um ihr dieses Verhaeltnis zu eroeffnen. Sie laechelte
herzlich und sagte, dass sie sehr wohl bemerkt habe, dass ich einmal, da
sie des Namens Tarona Erwaehnung getan hatte, aeusserst heftig erroetet
sei.
Ich erwiderte, dass ich damals nur erroetet sei, weil sie mich auf einer
inneren Neigung betroffen habe, den Namen Tarona habe ich in jener
Zeit an Natalien noch gar nicht gekannt. Ich sprach auch von meiner
Reise, sie lobte diesen Entschluss sehr und erzaehlte mir von den
Verhaeltnissen verschiedener Hauptstaedte, in denen sie in frueheren
Jahren zeitweilig gewohnt hatte. Sie erwaehnte kurz auch Manches
ueber das aeussere Ansehen der Laender, da sie eine grosse Freundin
landschaftlicher Schoenheiten war. Sie hatte eben in dem Augenblicke
vor, wieder an den Gardasee zu gehen, den sie schon oefter besucht
hatte. Das war auch die Ursache, dass sie noch so spaet im Fruehlinge in
der Stadt war. Sie ersuchte mich, nach meiner Zurueckkunft wieder bei
ihr auf ein Weilchen zu erscheinen. Ich versprach es.
Meine Reise wurde nun keinen Augenblick mehr verzoegert. Ich nahm von
den Meinigen Abschied und fuhr eines Tages zu dem Tore unserer Stadt
hinaus.
Ich ging zuerst ueber die Schweiz nach Italien; nach Venedig, Florenz,
Rom, Neapel, Syrakus, Palermo, Malta. Von Malta schiffte ich mich nach
Spanien ein, das ich von Sueden nach Norden mit vielfachen Abweichungen
durchzog. Ich war in Gibraltar, Granada, Sevilla, Cordoba, Toledo,
Madrid und vielen anderen, minderen Staedten. Von Spanien ging ich nach
Frankreich, von dort nach England, Irland und Schottland und von dort
ueber die Niederlande und Deutschland in meine Heimat zurueck. Ich
war um einen und einen halben Monat weniger als zwei Jahre abwesend
gewesen. Wieder war es Fruehling, als ich zurueckkehrte, die maechtige
Welt der Alpen, der Feuerberge Neapels und Siciliens, der Schneeberge
des suedlichen Spaniens, der Pyrenaeen und der Nebelberge Schottlands
hatten auf mich gewirkt. Das Meer, vielleicht das Grossartigste,
was die Erde besitzt, nahm ich in meine Seele auf. Unendlich viel
Anmutiges und Merkwuerdiges umringte mich. Ich sah Voelker und lernte
sie in ihrer Heimat begreifen und oft lieben. Ich sah verschiedene
Gattungen von Menschen mit ihren Hoffnungen, Wuenschen und
Beduerfnissen, ich sah Manches von dem Betriebe des Verkehrs, und in
bedeutenden Staedten blieb ich lange und beschaeftigte mich mit ihren
Kunstanstalten, Buecherschaetzen, ihrem Verkehre, gesellschaftlichem und
wissenschaftlichem Leben und mit lieben Briefen, die aus der Heimat
kamen, und mit solchen, die dorthin abgingen.
Ich kam auf meiner Rueckreise frueher in die Gegend des Asperhofes und
des Sternenhofes als in meine Heimat. Ich sprach daher in beiden ein.
Alles war sehr wohl und gesund und fand mich sehr gebraeunt. Hier
erfuhr ich auch eine Veraenderung, die mit meinem Vater vorgegangen
war und die sie mir in den Briefen verschwiegen hatten, damit ich
ueberrascht wuerde. Alle seine Anspielungen, dass er ploetzlich einmal in
den Ruhestand treten werde, dass er sich, ehe man sichs versehe, auf
dem Lande befinden werde, dass sich Vieles ereignen werde, woran man
jetzt nicht denke, dass man nicht wisse, ob man nicht den Reisewagen
oefter brauchen koenne, waren in Erfuellung gegangen. Er hatte sein
Handelsgeschaeft abgetreten und hatte den auf einer sehr lieblichen
Stelle zwischen dem Asperhofe und Sternenhofe gelegenen, verkaeuflich
gewordenen Gusterhof gekauft, den er eben fuer sich einrichten lasse.
Man freute sich schon darauf, wie er sich in diesem neuen Besitztume
haeuslich und wohnlich niederlassen werde. Ich nahm mir nicht Zeit,
diesen Hof, den ich von Aussen kannte, zu besuchen, weil ich Natalien,
die mir wie ein Gut wieder gegeben worden war, nicht noch unnoetig
laenger von meiner Seite entfernt wissen wollte. Nach innigem Empfange
und Abschiede reiste ich zu meinen Eltern, und reiste Tag und Nacht,
um bald einzutreffen. Sie wussten von meiner Ankunft und empfingen mich
freudig. Ich richtete mich sogleich in meiner Wohnung ein. Es war mir
seltsam und wohltuend, den Vater jetzt immer zu Hause und ihn stets
mit Plaenen, Entwuerfen, Zeichnungen umringt zu sehen. Er war waehrend
meiner Abwesenheit fuenf Male in dem Gusterhofe und bei diesen
Gelegenheiten oefter bei Mathilde oder Risach als Gast gewesen. Die
Mutter und Klotilde hatten ihn zweimal begleitet. Er war in diesen
zwei Jahren um ein gut Teil juenger geworden. Auch die Bewohner des
Sternen- und Asperhofes hatten sich einmal im Winter bei meinen Eltern
als Gaeste eingefunden. Die Bande waren sehr schoen und lieb geflochten.
Gleich am ersten Tage meiner Anwesenheit im elterlichen Hause fuehrte
mich meine Mutter in die Zimmer, die fuer mich und Natalien als Wohnung
hergerichtet worden waren, wenn wir uns in der Stadt aufhalten
wollten. Ich hatte gar nicht gedacht, dass in dem Hause so viel Platz
sei, so geraeumig war die Wohnung. Sie war zugleich so schoen und edel
angeordnet, dass ich meine Freude daran hatte. Ich sprach bei dieser
Gelegenheit von dem Vermaehlungstage, und die Mutter antwortete, dass
der Vater glaube, es sei nun keine Ursache einer Saeumnis, und von uns,
als von der Seite des Braeutigams, muesse die Anregung ausgehen. Ich bat
um Beschleunigung, und am folgenden Tage gingen schon unsere Briefe in
den Sternenhof und zu Risach ab. In Kurzem kam die Antwort zurueck, und
der Tag war nach unsern Vorschlaegen festgesetzt. Der Sammelplatz war
der Asperhof.
Meinem Versprechen getreu stellte ich mich nun auch bei der Fuerstin.
Sie war schon auf ihren Landsitz abgereist. Ich schrieb ihr
daher einige Zeilen, dass ich zurueck sei, und zeigte ihr meinen
Vermaehlungstag an. In kurzer Zeit kam eine Antwort von ihr nebst einem
Paeckchen, welches ein Erinnerungszeichen an meine Vermaehlungsfeier von
ihr enthalte. Sie koenne es mir nicht persoenlich uebergeben, weil sie
seit einigen Wochen kraenklich sei und sich deshalb so frueh auf das
Land habe begeben muessen. Das Erinnerungszeichen liege schon seit
laenger in Bereitschaft. Ich oeffnete das Paeckchen. Es enthielt eine
einzige, aber sehr grosse und sehr schoene Perle. Die Fassung war fast
keine. Nur ein Stengel und ein Goldscheibchen hafteten an der Perle,
dass sie eingeknoepft werden konnte. Ich freute mich ausserordentlich
ueber die Gesinnung der edlen Fuerstin, ueber die Trefflichkeit des
Geschmackes und ueber dessen Sinnigkeit; denn eine Perle ist es ja in
meinen Augen, die ich mir als Geschenk an meine Brust zu heften im
Begriffe war. Ich schrieb eine innige Dankantwort zurueck.
Unsere Vorbereitungen waren bald gemacht, und wir reisten ab.
"Wir koennen ja unsere letzten Ruestungen in meinem Landhause machen",
sagte der Vater mit heiterem Laecheln.
Wir fuhren in den Gusterhof. Eine kleine, aber freundlich bestellte
Wohnung, die der Vater vorlaeufig fuer solche Gelegenheiten hatte
herrichten lassen, empfing uns. Es war ein liebliches Gefuehl, in
unserem eigenen, uns zugehoerigen Landsitze zu sein. Der Vater schien
dieses Gefuehl am tiefsten zu hegen, und die Mutter freute sich dessen
ungemein. Wir blieben hier so lange und vervollstaendigten unsere
Vorbereitungen, dass wir zwei Tage vor der Vermaehlung in dem Asperhofe
eintreffen konnten. Mathilde und Natalie waren schon anwesend, da
wir ankamen. Wir begruessten uns herzlich. Alles war in einer gewissen
Spannung der Vorbereitungen. Ich konnte Natalien oft nur auf einige
Augenblicke sehen. Klotilde wurde auch sofort hineingezogen.
Botschaften kamen und gingen ab, Gaeste und Trauzeugen trafen ein. Ich
selber war in einer Art Beklemmung.
Am Nachmittage des ersten Tages fand ich einmal Mathilden, meinen
Gastfreund und Gustav im Lindengange auf und ab wandeln. Ich gesellte
mich zu ihnen. Gustav verliess uns bald.
"Wir sprachen eben davon, dass mein Sohn sich nun bald von hier
entfernen und in die Welt gehen muesse", sagte Mathilde, "habt ihr ihn
nach eurer Reise nicht auch veraendert gefunden?"
"Er ist ein vollkommener Juengling geworden", erwiderte ich, "ich habe
auf meinen Reisen keinen gesehen, der ihm gleich waere. Er war ein sehr
kraftvoller Knabe und ist auch ein solcher Juengling geworden, aber,
wie ich glaube, gemilderter und sanfter. Ja, sogar in seinen Augen,
die noch glaenzender geworden sind, erscheint mir etwas, das beinahe
wie das Schmachten bei einem Maedchen ist."
"Es freut mich, dass ihr das auch bemerkt habt", sagte mein Gastfreund,
"es ist so, und es ist sehr gut, wenn auch gefaehrlich, dass es so ist.
Gerade bei sehr kraftvollen Juenglingen, deren Herz von keinem boesen
Rauche angeweht worden ist, tritt in gewissen Jahren ein Schmachten
ein, das noch holder wirkt als bei heranbluehenden Maedchen. Es ist dies
nicht Schwaeche, sondern gerade Ueberfuelle von Kraft, die so reizend
wirkt, wenn sie aus den meistens dunkeln, sanftschimmernden Augen
blickt und gleichsam wie ein Juwel an den unschuldigen Wimpern haengt.
Solche Juenglinge dulden aber auch, wenn boese Schicksalstage kommen,
mit einem Starkmute, der der Krone eines Maertyrers wert waere, und wenn
das Vaterland Opfer heischt, legen sie ihr junges Leben einfach und
gut auf den Altar. Sie koennen aber auch zu falscher Begeisterung
getrieben und missbraucht werden, und wenn ein solches Juenglingsauge
zu rechter Zeit in das rechte Maedchenauge schaut, so flammt die
ploetzlichste, heisseste, aber oft auch ungluecklichste Liebe empor,
weil der junge, unverfaelschte Mann sie fast unausrottbar in sein Herz
nimmt. Wir werden, wenn die jetzige Angelegenheit vorueber ist, weiter
von dem sprechen, was etwa not tut."
"Ich sehe ja das Gute und die Gefahr", sagte Mathilde.
Wir gingen bald in das Haus zurueck.
"Er muss in die Haerte der Welt, die wird ihn staehlen", sagte mein
Gastfreund auf dem Wege dahin.
Endlich war der Vermaehlungstag angebrochen. Die Trauung sollte am
Vormittage in der Kirche zu Rohrberg stattfinden, in welche der
Asperhof eingepfarrt war. Der Versammlungsort war der Marmorsaal,
dessen Fussboden zu diesem Zwecke mit feinem gruenen Tuche ueberspannt
worden war. Gleiches Tuch lag auf allen Treppen. Ich kleidete mich in
meinen Zimmern an, tat ein Gebet zu Gott und wurde von einem meiner
Trauzeugen in den Marmorsaal gefuehrt. Von unsern Angehoerigen waren
erst die Maenner dort. Die Zeugen und die meisten Gaeste waren zugegen.
Risach war im Staatskleide und mit allen seinen Ehren geschmueckt. Da
tat sich die Tuer, die von dem Gange hereinfuehrte, auf und Natalie mit
ihrer und meiner Mutter, mit Klotilden und mit noch andern Frauen und
Maedchen trat herein. Sie war prachtvoll gekleidet und mit Edelsteinen
gleichsam uebersaet; aber sie war sehr blass. Die Edelsteine waren in
mittelalterlicher Fassung, das sah ich wohl; aber ich hatte nicht die
Stimmung, auch nur einen Augenblick darauf zu achten. Ich ging ihr
entgegen und reichte ihr sanft die Hand zum Grusse. Sie zitterte sehr.
Mein Gastfreund sagte zu meinen Eltern: "Das Lieblingsgespraech eures
Sohnes waren bisher seine Eltern und seine Schwester, wer ein so guter
Sohn ist, wird auch ein guter Gatte werden."
"Die schoeneren Eigenschaften, die eine Zukunft gewaehren", sagte mein
Vater, "hat er von euch gebracht, wir haben es wohl gesehen und haben
ihn darum immer mehr geliebt, ihr habt ihn gebildet und veredelt."
"Ich muss antworten wie bei Natalien", erwiderte mein Gastfreund, "sein
Selbst hat sich entwickelt und aller Umgang, der ihm zu Teil geworden,
vorerst der eurige, hat geholfen."
Ich wollte etwas sprechen, konnte aber vor Bewegung nicht.
Gustav, der in der Naehe der Frauen stand, sah mich an, ich ihn auch.
Er war ebenfalls sehr blass.
Indessen hatten sich alle nach und nach eingefunden, die bei der
Trauung gegenwaertig sein sollten, die Stunde der Abfahrt war da und
der Hausverwalter meldete, dass alles in Bereitschaft sei.
Mathilde machte Natalien das Zeichen des Kreuzes auf die Stirne, den
Mund und die Brust, und diese beugte sich mit ihren Lippen auf die
Hand der Mutter nieder. Dann fassten die Maedchen den Schleier, der wie
ein Silbernebel von dem Haupte Nataliens bis zu ihren Fuessen reichte,
huellten sie in ihn, und Natalie ging, von ihren Maedchen umringt
und von den Frauen geleitet, die Treppe hinunter, auf welcher die
Marmorgestalt stand. Wir folgten. Mit mir waren meine Zeugen und
Risach und der Vater. Den ersten Teil der Wagenreihe nahmen die
Frauen, die Braut und die Maedchen ein, den letzten die Maenner und ich.
Wir stiegen ein, der Zug setzte sich in Bewegung. Es war viel Volk
gekommen, die Brautfahrt zu sehen. Darunter erblickte ich meinen
Zitherspiellehrer, welcher mir mit einem gruenen Hute, auf dem er
Federn hatte, winkte. Die Bewohner des Meierhofes und die Diener des
Hauses waren groesstenteils vorausgegangen und harrten unser in der
Kirche. Einige befanden sich auch in den Waegen. Der Zug fuhr langsam
den Huegel hinab.
In der Kirche erwartete uns der Pfarrer von Rohrberg, wir traten vor
den Altar, und die Trauung ward vollbracht.
Zum Zurueckfahren kamen Natalie und ich allein in einen Wagen. Sie
sprach nichts, der Schleier blieb zurueckgeschlagen und Tropfen nach
Tropfen floss aus ihren Augen.
Da wir wieder in dem Marmorsaale waren, wurden auf den langen Tisch,
den man heute hier aufgerichtet und mit vielen Stuehlen umgeben hatte,
von Risach und von meinem Vater die Papiere niedergelegt, die sich auf
unsere Vermaehlung und unser Vermoegen bezogen. Ich aber nahm indessen
Natalien an der Hand und fuehrte sie durch das Bilder- und Lesezimmer
in das Buecherzimmer, in welchem wir allein waren. Dort stellte ich
mich ihr gegenueber und breitete die Arme aus. Sie stuerzte an meine
Brust. Wir umschlangen uns fest und weinten beide beinahe laut.
"Meine teure, meine einzige Natalie!" sagte ich.
"O mein geliebter, mein teurer Gatte", antwortete sie, "dieses Herz
gehoert nun ewig dir, habe Nachsicht mit seinen Gebrechen und seiner
Schwaeche."
"O mein teures Weib", entgegnete ich, "ich werde dich ohne Ende ehren
und lieben, wie ich dich heute ehre und liebe. Habe auch du Geduld mit
mir."
"O Heinrich, du bist ja so gut", antwortete sie.
"Natalie, ich werde suchen, jeden Fehler dir zu Liebe abzulegen",
erwiderte ich, "und bis dahin werde ich jeden so verhuellen, dass er
dich nicht verwunde."
"Und ich werde bestrebt sein, dich nie zu kraenken", antwortete sie.
"Alles wird gut werden", sagte ich.
"Es wird alles gut werden, wie unser zweiter Vater gesagt hat",
antwortete sie.
Ich fuehrte sie naeher an das Fenster, und da standen wir und hielten
uns an den Haenden. Die Fruehlingssonne schien herein, und neben den
Diamanten glaenzten die Tropfen, die auf ihr schoenes Kleid gefallen
waren.
"Natalie, bist du gluecklich?" sagte ich nach einer Weile.
"Ich bin es in hohem Masse", antwortete sie, "moegest du es auch sein."
"Du bist mein Kleinod und mein hoechstes Gut auf dieser Erde",
erwiderte ich, "es ist mir noch wie im Traume, dass ich es errungen
habe, und ich will es erhalten, so lange ich lebe."
Ich kuesste sie auf den Mund, den sie freundlich bot. In ihre feinen
Wangen war das Rot zurueckgekehrt.
In diesem Augenblicke hoerten wir Tritte in dem Nebenzimmer, und
Mathilde, meine Mutter, Risach, mein Vater und Klotilde, die uns
gesucht hatten, traten ein.
"Mutter, teure Mutter", sagte ich zu Mathilden, indem ich allen
entgegen ging, Mathildens Hand fasste und sie zu kuessen strebte.
Mathilde hatte sich nie die Hand von irgend jemandem kuessen lassen.
Dieses Mal erlaubte sie, dass ich es tue, indem sie sanft sagte: "Nur
das eine Mal."
Dann kuesste sie mich auf die Stirne und sagte: "Sei so gluecklich, mein
Sohn, als du es verdienst und als es die wuenscht, die dir heute ihr
halbes Leben gegeben hat."
Risach sagte zu mir: "Mein Sohn, ich werde dich jetzt du nennen, und
du musst zu mir wie zu deinem ersten Vater auch dies Woertchen sagen -
mein Sohn, nach dem, was heute vorgefallen, ist deine erste Pflicht,
ein edles, reines, grundgeordnetes Familienleben zu errichten. Du hast
das Vorbild an deinen Eltern vor dir, werde, wie sie sind. Die Familie
ist es, die unsern Zeiten not tut, sie tut mehr not als Kunst und
Wissenschaft, als Verkehr, Handel, Aufschwung, Fortschritt oder wie
alles heisst, was begehrungswert erscheint. Auf der Familie ruht die
Kunst, die Wissenschaft, der menschliche Fortschritt, der Staat. Wenn
Ehen nicht begluecktes Familienleben werden, so bringst du vergeblich
das Hoechste in der Wissenschaft und Kunst hervor, du reichst es einem
Geschlechte, das sittlich verkommt, dem deine Gabe endlich nichts mehr
nuetzt und das zuletzt unterlaesst, solche Gueter hervor zu bringen. Wenn
du auf dem Boden der Familie einmal stehend - viele schliessen keine
Ehe und wirken doch Grosses -, wenn du aber auf dem Boden der Familie
einmal stehst, so bist du nur Mensch, wenn du ganz und rein auf ihm
stehst. Wirke dann auch fuer die Kunst oder fuer die Wissenschaft, und
wenn du Ungewoehnliches und Ausgezeichnetes leistest, so wirst du mit
Recht gepriesen, nuetze dann auch deinen Nachbarn in gemeinschaftlichen
Angelegenheiten und folge dem Rufe des Staates, wenn es not tut. Dann
hast du dir gelebt und allen Zeiten. Gehe nur den Weg deines Herzens
wie bisher und alles wird sich wohl gestalten."
Ich reichte ihm die Hand, er zog mich an sich und kuesste mich auf den
Mund.
Natalie war indessen in den Armen meiner Mutter, meines Vaters und
Klotildens gewesen.
"Er wird gewiss bleiben, wie er heute ist", sagte sie, wahrscheinlich
auf einen Wunsch fuer die Zukunft antwortend.
"Nein, mein teures Kind", sagte meine Mutter, "er wird nicht so
bleiben, das weisst du jetzt noch nicht: er wird mehr werden, und du
wirst mehr werden. Die Liebe wird eine andere, in vielen Jahren ist
sie eine ganz andere; aber in jedem Jahr ist sie eine groessere, und
wenn du sagst, jetzt lieben wir uns am meisten, so ist es in Kurzem
nicht mehr wahr, und wenn du statt des bluehenden Juenglings einst
einen welken Greis vor dir hast, so liebst du ihn anders, als du den
Juengling geliebt hast; aber du liebst ihn unsaeglich mehr, du liebst
ihn treuer, ernster und unzerreissbarer."
Mein Vater wandte sich ab und fuhr sich mit der Hand ueber die Augen.
Meine Mutter kuesste Natalien noch einmal und sagte: "Du liebe, gute,
teure Tochter."
Natalie gab den Kuss zurueck und schlang die Arme um den Hals meiner
Mutter.
"Kinder, jetzt muessen wir zu den Andern gehen", sagte Risach.
Wir gingen in den Saal. Dort gab Risach Papiere in die Haende
Nataliens. Sie legte sie in die meinigen. Mein Vater gab mir auch
Papiere. Alle Anwesenden wuenschten uns nun Glueck, vor allem Gustav,
den ich die letzte Zeit her gar nicht gesehen hatte. Er fiel der
Schwester um den Hals und auch mir. In seinen schoenen Augen perlten
Traenen. Dann beglueckwuenschten uns Eustach, Roland, die vom Inghofe,
der Pfarrer von Rohrberg, der mich auf unser erstes Zusammentreffen in
diesem Hause an jenem Gewitterabende erinnerte, und alle Andern.
Risach sagte, dass jetzt jedem zwei Stunden zur Verfuegung gegeben
seien, dann muesse sich alles in dem Marmorsaale zu einem kleinen Mahle
versammeln.
Natalie wurde von ihren Trauungsjungfrauen in die Gemaecher ihrer
Mutter gefuehrt, dass sie dort die Trauungsgewaender ablege. Ich ging in
meine Wohnung, kleidete mich um und verschloss die Papiere, ohne sie
anzusehen. Nach einer geraumen Zeit ging ich in das Vorzimmer zu
Mathildens Wohnung und fragte, ob Natalie schon in Bereitschaft
sei, ich liesse bitten, mit mir einen kurzen Gang durch den Garten
zu machen. Sie erschien in einem schoenen, aber sehr einfachen
Seidenkleide und ging mit mir die Treppe hinab. Sie reichte mir den
Arm und wir wandelten eine Zeit unter den grossen Linden und auf
anderen Gaengen des Garten herum.
Nachdem die zwei Stunden verflossen waren, wurde mit der Glocke das
Zeichen zum Mahle gegeben. Alles begab sich in den Saal und erhielt
dort seine Sitze angewiesen. Das Mahl war, wie gewoehnlich bei Risach,
einfach, aber vortrefflich. Fuer Kenner und Liebhaber standen sehr edle
Weine bereit. Es war nie in dem Saale ein Mahl abgehalten worden, und
der Ernst des Marmors, bemerkte mein gewesener Gastfreund, duerfe nur
in den Ernst des edelsten Weines nieder blicken. Trinksprueche wurden
ausgebracht und sogar Reime auf ewiges Wohl hergesagt.
"Habe ich es gut gemacht, Natta", sagte mein einstiger Gastfreund,
"dass ich dir den rechten Mann ausgesucht habe? Du meintest immer,
ich verstaende mich nicht auf diese Dinge, aber ich habe ihn auf den
ersten Blick erkannt. Nicht bloss die Liebe ist so schnell wie die
Electricitaet, sondern auch der Geschaeftsblick."
"Aber Vater", sagte Natalie erroetend, "wir haben ja ueber diesen
Gegenstand nie gestritten, und ich konnte dir die Faehigkeit nicht
absprechen."
"So hast du dir es gewiss gedacht", erwiderte er, "aber richtig habe
ich doch geurteilt: er war immer sehr bescheiden, hat nie vorlaut
geforscht und gedraengt und wird gewiss ein sanfter Mann werden."
"Und du, Heinrich", sagte er nach einer Weile, "werde darum nicht
stolz. Verdankst du mir nicht endlich ganz und gar Alles? Du
hast einmal, da du zum ersten Male in diesem Hause warst, in der
Schreinerei gesagt, dass der Wege sehr verschiedene sind und dass man
nicht wissen koenne, ob der, der dich eines Gewitters wegen zu mir
herauf gefuehrt hat, nicht ein sehr guter Weg gewesen ist, worauf ich
antwortete, dass du ein wahres Wort gesprochen habest und dass du es
erst recht einsehen werdest, wenn du aelter bist; denn in dem Alter,
dachte ich mir damals, uebersieht man erst die Wege, wie ich die
meinigen uebersehen habe. Wer haette aber damals geglaubt, dass mein Wort
die Bedeutung bekommen werde, die es heute hat? Und alles hing davon
ab, dass du hartnaeckig gemeint hast, ein Gewitter werde kommen, und dass
du meinen Gegenreden nicht geglaubt hast."
"Darum, Vater, war es Fuegung, und die Vorsicht selber hat mich zu
meinem Gluecke gefuehrt", sagte ich.
"Die alte Frau, die in dem dunkeln Stadthause unsere Wohnungsnachbarin
und zuweilen unser Gast war", sagte mein Vater, "hat dir, Heinrich,
die Weissagung gemacht, es werde recht viel aus dir werden: und nun
bist da bloss, wie du selber sagst, gluecklich geworden."
"Das Andere wird kommen", riefen mehrere Stimmen.
"Eine gute Eigenschaft habe ich an deiner Gattin zu ihren andern
Tugenden entdeckt", fuhr mein Vater fort, "sie ist nicht neugierig;
oder hast du, liebe Tochter, das Kaestchen schon eroeffnet, welches ich
dir gegeben habe?"
"Nein, Vater, ich wartete auf deinen Wink", antwortete Natalie.
"So lasse das Kaestchen bringen", entgegnete mein Vater.
Es geschah. Der Faden mit dem Siegel wurde entzwei geschnitten, das
Kaestchen geoeffnet, und auf weissem Sammt lag ein ausserordentlich
schoener Schmuck von Smaragden. Ein allgemeiner Ruf der Verwunderung
machte sich hoerbar. Nicht nur waren die Steine an sich, obwohl nicht
zu den groessten ihrer Art gehoerend, sehr schoen, sondern die Fassung,
die Steine nicht drueckend, war doch so leicht und so schoen, dass das
Ganze wie ein zusammengehoeriges, in einander gewachsenes Werk, wie ein
wirkliches Kunstwerk, erschien. Selbst Eustach und Roland sprachen
ihre Verwunderung aus, und vollends Risach. Sie versicherten, dass sie
keine neue Arbeit gesehen haetten, die dieser gliche.
"Dein Freund, mein Heinrich, hat diesen Schmuck fertigen lassen",
sagte mein Vater, "wir haben Smaragde gewaehlt, weil er eben sehr
schoene und in erforderlicher Anzahl hatte, weil Smaragde unter allen
farbigen Steinen den Ton des weiblichen Halses und Angesichtes am
sanftesten heben, und weil du tief gefaerbte und reine Smaragde so
liebst. Und alle hier sind tief und rein. Wir haben gesucht, nach
deinen Grundsaetzen die Steine fassen zu lassen. Es sind viele
Zeichnungen gemacht, gewaehlt, verworfen und wieder gewaehlt worden.
Es duerfte der beste Zeichner unserer Stadt sein, der endlich das
Vorliegende zusammen gestellt hat. Es wurde hierauf beinahe Tag und
Nacht gearbeitet, um zu rechter Zeit fertig zu sein. Geoeffnet sollte
das Kaestchen darum nicht werden, damit meine Tochter nicht etwa bloss
mir zu Liebe diesen Schmuck an ihrem Trauungstage nehmen und einen
schoeneren und kostbareren, den sie besitze, zu ihrem Leidwesen ruhen
lasse."
"Sie besitzt keinen schoeneren", erwiderte Risach, "wir haben
den, welchen sie heute trug, nach Zeichnungen, die wir aus
mittelalterlichen Gegenstaenden frei zusammen trugen, ebenfalls bei
Heinrichs Freunde verfertigen lassen. Mathilde, lass doch den Schmuck
herbei bringen, dass wir beide vergleichen."
Mathilde reichte an Natalien ein Schluesselchen, und diese holte selber
das Fach, in welchem der Schmuck lag. Er war eine Zusammensetzung von
Diamanten und Rubinen. Er sah so zart, rein und edel aus, wie ein in
Farben gesetztes mittelalterliches Kunstwerk. Ein wahrer Zauber lag
um diese Innigkeit von Wasserglanz und Rosenroete in die sinnigen
Gestalten verteilt, die nur aus den Gedanken unserer Vorfahren so
genommen werden koennen. Und dennoch stand nach einstimmigem Urteil der
Smaragdschmuck nicht zurueck. Der Kuenstler der Gegenwart kam zu Ehren.
"Es ist aber auch keiner in unserer Stadt und vielleicht in weiten
Kreisen, der so zeichnen kann", sagte mein Vater, "er huldigt keinem
Zeitgeschmacke, sondern nur der Wesenheit der Dinge, und hat ein so
tiefes Gemuet, dass der hoechste Ernst und die hoechste Schoenheit daraus
hervorblicken. Oft wehte es mich aus seinen Gestalten so an wie aus
den Nibelungen oder wie aus der Geschichte der Ottone. Wenn dieser
Mann nicht so bescheiden waere und statt den Dingen, womit man ihn
ueberhaeuft, lieber grosse Gemaelde machte, er wuerde seines Gleichen
jetzt nicht haben und nur mit den groessten Meistern der Vergangenheit
zusammengestellt werden koennen."
"Ein Schmuck in seinem Fache", sagte eine Stimme, "ist doch wie ein
Bild ohne Rahmen, oder noch mehr wie ein Rahmen ohne Bild."
"Freilich ist es so", entgegnete Risach, "man kann jedes Ding nur an
seinem Platze beurteilen, und da mein Freund als mein Nebenbuhler
aufgetreten ist, so waere es nicht zu verwerfen - Natta, bist du mein
liebes Kind?"
"Vater, wie gerne!" antwortete diese.
Sie stand von ihrem Stuhle auf, entfernte sich und kam so gekleidet
wieder, dass man ihr einen kostbaren Schmuck umlegen konnte. Es geschah
zuerst mit den Diamanten und Rubinen. Wie herrlich war Natalie, und
es bewaehrte sich, dass der Schmuck der Rahmen sei. Am Vormittage, in
beklemmenden und tieferen Gefuehlen befangen, konnte ich dem Schmucke
keine Aufmerksamkeit schenken. Jetzt sah ich die schoenen Gestaltungen
wie von einem sanften Scheine umgeben. Im Mittelpunkte aller Blicke
erroetete die junge Frau, und die Rosen ihrer Farbe gaben den Rubinen
erst die Seele und empfingen sie von ihnen. Der Ausdruck der
Bewunderung war allgemein. Hierauf wurde der Smaragdschmuck umgelegt.
Aber auch er war vollendet. Der dunkle, tiefe Stein gab der Oberflaeche
von Nataliens Bildungen etwas Ernstes, Feierliches, fremdartig
Schoenes. War der Diamantschmuck wie fromm erschienen, so erschien der
Smaragdschmuck wie heldenartig. Keiner erhielt den Preis. Risach und
der Vater stimmten selber ueberein. Natalie nahm ihn wieder ab, beide
Schmuckstuecke wurden in ihre Faecher gelegt, Natalie trug sie fort und
erschien nach einer Zeit wieder in ihrem frueheren Anzuge.
Bei dem Smaragdschmucke hatte sich etwas Auffaelliges ereignet. Von
ihm waren die Ohrgehaenge im Fache zurueckgeblieben. Der Diamantschmuck
enthielt keine Ohrgehaenge. Mathilde und Natalie trugen Ohrgehaenge
nicht, weil nach ihrer Meinung der Schmuck dem Koerper dienen soll.
Wenn aber der Koerper verwundet wird, um Schmuck in die Verletzung zu
haengen, werde er Diener des Schmuckes.
Als noch immer von den Steinen gesprochen wurde, was ihre Bestimmung
sei und wie sie sich auf dem Koerper ganz anders ansehen lassen als in
ihrem Fache, sagte Eustach etwas, das mir als sehr wahr erschien:
"Was die innere Bestimmung der Edelsteine ist", sprach er, "kann nach
meiner Meinung niemand wissen: fuer den Menschen sind sie als Schmuck
an seinem Koerper am schoensten, und zwar zuerst an den Teilen, die er
entbloesst traegt, dann aber an seinem Gewande und an allem, was sonst
mit ihm in Beruehrung kommt, wie Koenigskronen, Waffen. An blossen
Geraeten, wie wichtig sie sind, erscheinen die Steine als tot, und an
Tieren sind sie entwuerdigt."
Man sprach noch laenger ueber diesen Gegenstand und erlaeuterte ihn durch
Beispiele.
"Da heute unser Wettkampf unentschieden geblieben ist", sagte Risach
zu meinem Vater, "so wollen wir nun sehen, wer mit geringerem Aufwande
seinen Sitz zu einem groesseren Kunstwerke machen kann, du deinen
Drenhof, oder wenn du ihn lieber Gusterhof nennen willst, oder ich
meinen Asperhof."
"Du bist schon im Vorsprunge", entgegnete mein Vater, "und hast gute
Zeichner bei dir: ich fange erst an, und mein Zeichner liefert mir
wahrscheinlich keine Zeichnung mehr."
"Wenn es uns im Asperhofe an Arbeit fehlt, so worden wir in den
Drenhof hinueber geliehen", sagte Eustach.
"Auch dann, wenn wir hier Arbeit haben", erwiderte Risach, "ich will
dem Feinde Waffen liefern."
Der Nachmittag war ziemlich vorgerueckt und es fehlte nicht mehr viel
zum Abende. Das Mahl war schon laengst aus und man sass nur mehr, wie es
oefter geschieht, im Gespraeche um den Tisch.
Mir war schon laenger her das Benehmen des Gaertners Simon aufgefallen;
denn er, so wie die vorzueglicheren Diener des Hauses und Meierhofes,
war zu Tische geladen worden. Die Andern hatten in dem Meierhofe ein
Mahl. Ich hatte ihm am Morgen zur Erinnerung an den heutigen Tag eine
silberne Dose mit meinem Namen in dem Deckel gegeben. Diese Dose hatte
er bei sich auf dem Tische und sprach ihr unruhig zu. Manches Mal
fluesterte er mit seinem Weibe, das an seiner Seite sass, und oefter ging
er fort und kam wieder. Eben trat er nach einer solchen Entfernung
wieder in den Saal. Er setzte sich nicht und schien mit sich zu
kaempfen. Endlich trat er zu mir und sprach: "Alles Gute belohnt sich,
und euch erwartet heute noch eine grosse Freude."
Ich sah ihn befremdet an.
"Ihr habt den Cereus peruvianus vom Untergange gerettet", fuhr er
fort, "wenigstens haette er leicht untergehen koennen, und ihr seid
Ursache gewesen, dass er in dieses Haus gekommen ist, und heute noch
wird er bluehen. Ich habe ihn durch Kaelte zurueck zu halten gesucht,
selbst auf die Gefahr hin, dass er die Knospe abwerfe, damit er nicht
eher bluehe als heute. Es ist alles gut gegangen. Eine Knospe steht zum
Entfalten bereit. In mehreren Minuten kann sie offen sein. Wenn die
Gesellschaft dem Gewaechshause die Ehre antun wollte..."
"Ja, Simon, ja, wir gehen hin", sagte mein Gastfreund.
Sofort erhob man sich von dem Tische und ruestete sich zu dem Gange
in die Gewaechshaeuser. Simon hatte alles Andere um die Stelle des
Peruvianus, der in ein eigenes Glashaeuschen hinein ragte, entfernt
und Platz zum Betrachten der Pflanze gemacht. Die Blume war, da wir
hinkamen, bereits offen. Eine grosse, weisse, prachtvolle, fremdartige
Blume. Alles war einstimmig im Lobe derselben.
"So viele Menschen den Peruvianus haben", sagte Simon, "denn gar
selten ist er eben nicht, so maechtig gross sie auch seinen Stamm
ziehen, so selten bringen sie ihn zur Bluete. Wenige Menschen in Europa
haben diese weisse Blume gesehen. Jetzt oeffnet sie sich, morgen mit
Tagesanbruch ist sie hin. Sie ist kostbar mit ihrer Gegenwart. Mir ist
es geglueckt, sie bluehen zu machen - und gerade heute. - Es ist ein
Glueck, das die wahrste Freude hervorbringen muss."
Wir blieben ziemlich lange und erwarteten das voellige Entfalten.
"Es kommen auch nicht viele Blumen, wie bei gemeinen Gewaechsen,
hervor", sagte Simon wieder, "sondern stets nur eine, spaeter etwa
wieder eine."
Mein Gastfreund schien wirklich Freude an der Blume zu haben, ebenso
auch Mathilde. Natalie und ich dankten Simon besonders fuer seine
grosse Aufmerksamkeit und sagten, dass wir ihm diese Ueberraschung nie
vergessen werden. Dem alten Manne standen die Traenen in den Augen.
Er hatte Lampen um die Blume angebracht, die bei hereinbrechender
Daemmerung angezuendet worden sollten, wenn etwa jemand die Blume in
der Nacht betrachten wolle. Bei laengerem Anschauen gefiel uns die
Blume immer mehr. Es duerften in unsern Gaerten wenige sein, die
an Seltsamkeit, Vornehmheit und Schoenheit ihr gleichen. Von den
Anwesenden hatte sie nie einer gesehen. Wir gingen endlich fort, und
der eine und der andere versprach, im Laufe des Abends noch einmal zu
kommen.
Da wir auf dem Rueckwege waren und an dem Gebuesche, das sich in der
Naehe des Lindenganges befindet, vorbeigingen, ertoente dicht am Wege
in den Bueschen ein Zitherklang. Risach, welcher meine Mutter fuehrte,
blieb stehen, ebenso mein Vater und Mathilde und dann auch die Andern,
die sich eben in unserer Naehe befanden. Ich war mit Natalien mehr
gegen den Busch getreten; denn ich erkannte augenblicklich den Klang
meines Zitherspiellehrers. Er trug eine ihm eigentuemliche Weise vor,
dann hielt er inne, dann spielte er wieder, dann hielt er wieder inne,
und so fort. Es waren lauter Weisen, die er selber ersonnen hatte oder
die ihm vielleicht eben in dem Augenblicke in den Sinn gekommen waren.
Er spielte mit aller Kraft und Kunst, die ich an ihm so oft bewundert
hatte, ja er schien heute noch besser als je zu spielen. Es war, als
wenn er nichts auf Erden liebte als seine Zither. Alles, was sich in
der Naehe befand, lauschte unbeweglich, und nicht einmal ein Zeichen
eines Beifalles wurde laut. Nur Mathilde sah einmal auf Natalien hin,
und zwar so bedeutsam, als wollte sie sagen: das haben wir nicht
gehoert, und das vermoegen wir nicht hervorzubringen. Die Zither war ein
lebendiges Wesen, das in einer Sprache sprach, die allen fremd war und
die alle verstanden. Als die Toene endlich nicht mehr wieder beginnen
zu wollen schienen, trat ich mit Natalien ins Gebuesch, und da sass mein
Zitherspiellehrer an einem Tischchen und hatte seine Zither vor sich.
Sein Anzug war graues Tuch und sehr abgetragen, sein gruener Hut lag
neben der Zither auf dem Tische.
"Joseph, bist du wieder in der Gegend?" fragte ich ihn.
"So recht nicht", antwortete er, "ich bin gekommen, euch auf der
Hochzeit einmal gut aufzuspielen."
"Das hast du getan und das kann keiner so", sagte ich, "du sollst
dafuer eine Freude haben, und ich weiss dir eine zu verschaffen, welche
dir die groesste ist. Bessere Haende koennen das, was ich dir geben will,
nicht fassen als die deinen. Das Rechte muss zusammenkommen. Ich bin
dir ohnehin auch noch einen Dank schuldig fuer dein eifriges Lehren und
fuer deine Begleitung im Gebirge."
"Dafuer habt ihr mich bezahlt, und das Heutige tat ich freiwillig",
sagte er.
"Warte nur einige Tage hier, dann wirst du empfangen, was ich meine",
sprach ich.
"Ich warte gerne", erwiderte er.
"Du sollst gut gehalten sein", sagte ich.
Indessen waren alle Andern auch herbeigekommen und ueberschuetteten
den Mann mit Lob. Risach lud ihn ein, eine Weile in seinem Hause zu
bleiben. Er spielte noch einige Weisen, er vergass beinahe, dass ihm
jemand zuhoere, spielte sich hinein und hoerte endlich auf, ohne auf die
Umstehenden Ruecksicht zu nehmen, genau so, wie er es immer tat. Wir
entfernten uns dann.
Ich rief sogleich den Hausverwalter herbei, sagte ihm, er moege
mir einen Boten besorgen, welcher auf der Stelle in das Echerthal
abzugehen bereit sei. Der Hausverwalter versprach es. Ich schrieb
einige Zeilen an den Zithermacher, legte das noetige Geld bei,
versprach noch mehr zu senden, wenn es noetig sein sollte, und
verlangte, dass er die dritte Zither, welche die gleiche von der
meinigen und der meiner Schwester sei, in eine Kiste wohlverpackt dem
Boten mitgebe, der den Brief bringt. Der Bote erschien, ich gab ihm
das Schreiben und die noetigen Weisungen, und er versprach, die heutige
Nacht zu Hilfe zu nehmen und in kuerzester Frist zurueck zu sein. Ich
hielt mich nun fuer sicher, dass nicht etwa im letzten Augenblicke die
Zither wegkomme, wenn sie ueberhaupt noch da sei.
Indessen war es tief Abend geworden. Ich ging mit Natalien und
Klotilden noch einmal zu dem Cereus peruvianus, der im Lampenlicht
fast noch schoener war. Simon schien bei ihm wachen zu wollen. Immer
gingen Leute ab und zu. Joseph hoerten wir auch noch einmal spielen. Er
spielte in der grossen unteren Stube, wir traten ein, er hatte guten
Wein vor sich, den ihm Risach gesendet hatte. Das ganze Hausvolk war
um ihn versammelt. Wir hoerten lange zu, und Klotilde begriff jetzt,
warum ich im Gebirge so gestrebt habe, dass sie diesen Mann hoere.
Ein Teil der Gaeste hatte noch heute das Haus verlassen, ein anderer
wollte es bei Anbruch des naechsten Tages tun und einige wollten noch
bleiben.
Im Laufe des folgenden Vormittages, da sich die Zahl der Anwesenden
schon sehr gelichtet hatte, kamen noch einige Geschenke zum
Vorscheine. Risach fuehrte uns in das Vorratshaus, welches neben dem
Schreinerhause war. Dort hatte man einen Platz geschafft, auf welchem
mehrere mit Tuechern verhuellte Gegenstaende standen. Risach liess den
ersten enthuellen, es war ein kunstreich geschnittener Tisch und hatte
den Marmor als Platte, welchen ich einst meinem Gastfreunde gebracht
hatte, und ueber dessen Schicksal ich spaeter in Ungewissheit war.
"Die Platte ist schoener als tausende", sagte Risach, "darum gebe
ich das Geschenk meines einstigen Freundes in dieser Gestalt meinem
jetzigen Sohne. Keinen Dank, bis alles vorueber ist."
Nun wurde ein grosser, hoher Schrein enthuellt.
"Ein Scherz von Eustach an dich, mein Sohn", sagte Risach.
Der Schrein war von allen Hoelzern, welche unser Land aufzuweisen hat,
in eingelegter Arbeit verfertigt. Eustach hatte die Zusammenstellung
entworfen. Die Sache sah ausserordentlich reizend aus. Ich hatte bei
meinem Winterbesuche im Asperhofe an diesem Schreine arbeiten gesehen.
Ich hatte damals die Ansammlung von Hoelzern seltsam gefunden, auch
hatte ich den Zweck des Schreines nicht erkannt. Er war in mein
Arbeitszimmer fuer meine Mappen bestimmt.
Zuletzt wurden mehrere Gegenstaende enthuellt. Es waren die Ergaenzungen
zu meines Vaters Vertaeflungen. Das war gleich auf den ersten Blick
zu erkennen und erregte Freude; aber ob sie die rechten oder
nachgebildete seien, war nicht zu entscheiden. Risach klaerte alles
auf. Es waren nachgebildete. Zu diesem Behufe hatte man von mir
die Abbildungen der Vertaeflungen des Vaters verlangt. Roland hatte
vergeblich nach den echten geforscht. Er hatte Messungen nach den
vorhandenen Resten vorgenommen und nach Orten gesucht, auf welche
die Messungen passten. In einem abgelegenen Teile der Holzbauten
des steinernen Hauses hatte er endlich Bohlen gefunden, welche den
Messungen genau entsprachen. Die Bohlen waren teils vermorscht, teils
zerrissen und trugen die Verletzungen, wie man die Schnitzereien von
ihnen herab gerissen hatte. Es war nun fast gewiss, dass die Ergaenzungen
verloren gegangen seien. Man machte daher die Nachbildungen. In
demselben Winterbesuche hatte ich auch das Bohlenwerk zu diesen
Schnitzereien gesehen. Mein Vater erklaerte die Arbeit fuer
ausserordentlich schoen.
"Sie hat auch lange gedauert, mein lieber Freund", sagte Risach, "aber
wir haben sie fuer dich zu Stande gebracht, und sie wird genau in dein
Glashaeuschen passen oder leicht einzupassen sein; ausser du zoegest vor,
die Schnitzereien in den Drenhof bringen zu lassen."
"So wird es auch geschehen, mein Freund", sagte mein Vater.
Nun ging es erst an ein Danksagen und an ein Ausdruecken der Freude.
Die Geber lehnten jeden Dank von sich ab. Man beschloss, die
Gegenstaende in kurzer Zeit auf ihren Bestimmungsort zu bringen.
An diesem Tage und in den folgenden verliessen uns nach und nach
alle Fremden, und erst jetzt begann ein liebes Leben unter lauter
Angehoerigen. Risach hatte fuer mich und Natalien eine sehr schoene
Wohnung herrichten lassen. Sie konnte nicht gross sein, war aber sehr
zierlich. In den zwei Jahren meiner Abwesenheit waren ihre Waende
bekleidet und waren neue, ausgezeichnete Geraete fuer sie angeschafft
worden. Wir beschlossen aber, unsere regelmaessige Wohnung so lange in
dem Sternenhofe aufzuschlagen, bis ihn Gustav wuerde uebernehmen koennen,
damit Mathilde in der Zwischenzeit nicht zu vereinsamt waere. Dabei
wuerde ich oft in den Asperhof kommen, um mit Risach zu beratschlagen
oder zu arbeiten, oft wuerden auch die Andern kommen, und oft wuerden
wir uns da oder im Gusterhofe oder im Sternenhofe oder in der
Stadt besuchen und zeitweilig dort wohnen. Mit Natalien hatte ich
eine groessere Reise vor. Fuer den Fall, dass ich in was immer fuer
Angelegenheiten abwesend sein sollte, nahm jedes Haus das Recht in
Anspruch, Natalien beherbergen zu duerfen.
Der Zitherspieler spielte taeglich und oft ziemlich lange vor uns. Am
fuenften Tage kam die Zither. Ich ueberreichte sie ihm, und er, da er
sie erkannte, wurde fast blass vor Freude. Dieses Geschenk durfte das
beste fuer ihn genannt werden; von diesem Geschenke wird er sich nicht
trennen, waehrend es von jedem andern zweifelhaft waere, ob er es nicht
verschleudere. Als er die Zither gestimmt und auf ihr gespielt hatte,
sahen wir erst, wie trefflich sie sei. Er wollte fast gar nicht
aufhoeren zu spielen. Risach liess ihm noch ueber ihr Fach ein
wasserdichtes Lederbehaeltnis machen. Nach mehreren Tagen nahm er
Abschied und verliess uns.
Wir machten alle eine kleine Reise in das Ahornwirtshaus, und ich
stellte Kaspar und alle Andern, die mit mir in Verbindung gewesen
waren, Risach, Mathilden, meinen Eltern und Natalien vor. Wir blieben
sechs Tage in dem Ahornhause. Von da gingen wir in den Sternenhof. Die
Tuenche war nun ueberall von ihm weggenommen worden, und er stand in
seiner reinen, urspruenglichen Gestalt da. Auch hier wurden wir in die
Wohnung eingefuehrt, die waehrend meiner Abwesenheit fuer uns hergestellt
worden war. Sie konnte in dem weitlaeufigen Gebaeude viel groesser sein
als die im Asperhofe. Sie war zu einer vollstaendigen Haushaltung
hergerichtet.
Von dem Sternenhofe gingen wir in die Stadt. Dort machten wir alle
Besuche, welche in den Kreisen meiner Eltern und in denen Mathildens
notwendig waren. Risach stellte manchem Freunde seine angenommene und
neuvermaehlte Tochter nebst ihrem Gatten und ihrer Mutter vor. Ich
erfuhr, dass meine Vermaehlung mit Natalie Tarona Aufsehen errege; ich
erfuhr, dass insbesondere einige meiner Freunde - sie hatten sich
wenigstens immer so genannt - geaeussert haben, das sei unbegreiflich.
Nataliens Neigung zu mir war mir stets ein Geschenk und daher
unbegreiflich; da aber nun diese es aussprachen, begriff ich, dass
es nicht unbegreiflich sei. Ich besuchte meinen Juwelenfreund, der
wirklich ein Freund geblieben war. Er hatte die innigste Freude
ueber mein Glueck. Ich fuehrte ihn in unsere Familien ein. Bekannt
war er mit allen Teilen schon lange gewesen. Ich dankte ihm sehr
fuer die prachtvolle Fassung der Diamanten und Rubinen und des
Smaragdschmuckes. Er fuehlte sich ueber Risachs und meines Vaters Urteil
sehr beglueckt.
"Wenn wir solche Kunden in grosser Zahl haetten, wie diese zwei Maenner
sind, teurer Freund", sagte er, "dann wuerde unsere Beschaeftigung bald
an die Grenzen der Kunst gelangen, ja sich mit ihr vereinigen. Wir
wuerden freudig arbeiten, und die Kaeufer wuerden erkennen, dass die
geistige Arbeit auch einen Preis habe wie die Steine und das Gold."
Ich nahm bei ihm eine sehr wertvolle und mit Kunst verzierte Uhr als
Gegenscherz fuer Eustachs Mappenschrein. Klotilde hatte sie ausgewaehlt.
Fuer Roland liess ich einen Rubin in einen Ring fassen, dass er ihn zur
Erinnerung an mich trage und meine Dankbarkeit fuer seine Bemuehungen
zur Auffindung der Ergaenzungen der Pfeilerverkleidungen anerkenne.
"Er ist ohnehin ein Nebenbuhler von mir", sagte ich, "er hat Natalien
oft lange und bedeutend angesehen."
"Das hat einen sehr unschuldigen Grund", entgegnete mein Gastfreund,
"Roland erwarb sich ein Liebchen mit gleichen Augen und Haaren, wie
sie Natalie besitzt. Er hat uns das oefter gesagt. Das Maedchen ist die
Tochter eines Forstmeisters im Gebirge und ihm aeusserst zugetan. Da
nun der Arme ihren Anblick oft lange entbehren muss, so sah er zur
Erquickung Natalien an. Es hat Schwierigkeiten mit diesem jungen
Manne, ich wuensche sein Wohl. Er kann ein bedeutender Kuenstler werden
oder auch ein ungluecklicher Mensch, wenn sich nehmlich sein Feuer, das
der Kunst entgegen wallt, von seinem Gegenstande abwendet und sich
gegen das Innere des jungen Mannes richtet. Ich hoffe aber, dass ich
alles werde ins Gleiche bringen koennen."
Da alle notwendigen Dinge in der Stadt abgetan waren, wurde die
Rueckreise angetreten, und zwar in den Asperhof. Die Zeit der
Rosenbluete war herangerueckt, und heuer sollte sie von den vereinigten
Familien als ein Denkzeichen der Vergangenheit und aber auch als eins
der Zukunft zum ersten Male in dieser Vereinigung und mit besonderer
Festlichkeit begangen werden. Mein Vater sollte sehen, welche Gewalt
die Menge und die Mannigfaltigkeit auszuueben im Stande ist, wenn diese
Menge und Mannigfaltigkeit auch nur lauter Rosen sind. Nach Verlauf
der Rosenbluete sollte alles und jedes, das durch diese Vermaehlung
unterbrochen worden war, in das alte Geleise zurueckkehren.
Da wir in dem Asperhofe angekommen waren, gelangte ich erst zu einiger
Ruhe. Da sah ich auch gelegentlich die Papiere an, die uns Risach und
der Vater gegeben hatten, und erstaunte sehr. Beide enthielten fuer uns
viel mehr, als wir nur entfernt vermutet hatten. Risach wollte bis zu
seinem Tode das Haus in der Art wie bisher fort bewirtschaften, damit,
wie er sagte, er seinen Nachsommer bis zum Ende ausgeniessen koenne.
Unser Rat und unsere Hilfe in der Bewirtschaftung wird ihm Freude
machen. Einen namhaften Teil seiner Barschaft hatte er uns uebergeben.
Und weil oefter zwei Familien in dem Asperhofe sein koennen, so lagen
den Papieren Plaene bei, dass auf einem schoenen Platze zwischen dem
Rosenhause und dem Meierhofe, hart am Getreide, ein neues Haus
aufgefuehrt und sogleich zum Baue geschritten werden moege. Aber auch
das von dem Vater uns Uebergebene war der gesammten Habe Risachs
ebenbuertig und uebertraf weit meine Erwartungen. Als wir unsern Dank
abstatteten und ich mein Befremden ausdrueckte, sagte der Vater: "Du
kannst darueber ganz ruhig sein; ich tue mir und Klotilden keinen
Abbruch. Ich habe auch meine heimlichen Freuden und meine
Leidenschaften gehabt. Das geben verachtete buergerliche Gewerbe
eben, buergerlich und schlicht betrieben. Was unscheinbar ist,
hat auch seinen Stolz und seine Groesse. Jetzt aber will ich der
Schreibstubenleidenschaft, die sich nach und nach eingefunden,
Lebewohl sagen und nur meinen kleineren Spielereien leben, dass ich
auch einen Nachsommer habe wie dein Risach."
Als wir einige Zeit in dem Rosenhause verweilt hatten, traten eines
Tages Natalie und ich zu unserem neuen Vater und baten ihn, er moege
ein Versprechen von uns annehmen, dessen Annahme uns sehr freuen
wurde.
"Uns was ist das?" fragte er.
"Dass wir, wenn du uns dereinst in dieser Welt frueher verlassen
solltest als wir dich, keine Veraenderung in allem, wie es sich in dem
Hause und in der Besitzung vorfindet, machen wollen, damit dein teures
Andenken bestehe und forterbe", sagten wir.
"Da tut ihr zu viel", antwortete er, "ihr verspreche etwas, dessen
Groesse ihr nicht kennt. Diese Bande darf ich nicht um euren Willen und
eure Verhaeltnisse legen, sie koennten von den uebelsten Folgen sein.
Wollt ihr mein Gedaechtnis in mannigfachem Bestehenlassen ehren, tut es
und pflanzt auch euren Nachkommen diesen Sinn ein, sonst aendert, wir
ihr wuenscht und wie es not tut. Wir wollen, so lange ich lebe, selber
noch mit einander aendern, verschoenern, bauen; ich will noch eine
Freude haben, und mit euch zu aendern und zu wirken ist mir lieber, als
wenn ich es allein tue."
"Aber der Erlenbach muss als Denkmal der schoenen Geraete bestehen
bleiben."
"Setzt eine Urkunde auf, dass ihm nichts angetan werde von Geschlecht
zu Geschlecht, bis seine Reste vermodern oder ein Wolkenguss ihn von
seiner Stelle feget."
Er kuesste Natalien, wie er gerne tat, auf die Stirne, mir reichte er
die Hand.
Als die Rosenzeit wirklich recht innig und zum Staunen meiner
Angehoerigen, welche so etwas nie gesehen hatten, vorueber gegangen war,
nahmen wir Abschied, die Vereinigung, welche nun so lange bestanden
hatte, loeste sich und die Tage kehrten in ihren gewoehnlichen Abfluss
zurueck. Meine Eltern gingen mit Klotilden in den Gusterhof, wo sie bis
zum Winter bleiben wollten, und ich siedelte mit Natalien in unsere
staendige Wohnung in den Sternenhof ueber. Wir sollten nun die
eigentliche Familie desselben sein, Mathilde werde bei uns wohnen und
mit an unserem Tische speisen. Die Bewirtschaftung des Gutes sollte
ebenfalls ich leiten. Ich uebernahm die Pflicht und bat um Mathildens
Beihilfe, so ausgedehnt sie dieselbe leisten wolle. Sie sagte es zu.
So rueckte nun die Zeit in ihr altes Recht, und ein einfaches,
gleichmaessiges Leben ging Woche nach Woche dahin.
Nur im Herbste fand eine Abwechslung statt. Die Vettern aus dem
Geburtshause des Vaters besuchten meine Eltern in dem Gusterhofe. Wir
fuhren zu ihnen hinueber. Der Vater liess sie reichlich beschenkt in
einem Wagen in ihre Heimat zurueckfuehren.
Mit Beginn des Winters war Rolands Bild fertig. Es war seiner Groesse
willen zu rollen, hatte einen grossen Goldrahmen, der zu zerlegen war,
und wurde in dem Marmorsaale auf einer Staffelei aufgestellt. Wir
reisten alle in den Asperhof. Das Bild wurde vielfach betrachtet und
besprochen. Roland war in einer gehobenen, schwebenden Stimmung;
denn was auch die Meinung seiner Umgebung war, wie sehr sie auch das
Hervorgebrachte lobte und wohl auch Hindeutungen gab, was noch zu
verbessern waere: so mochte ihm sein Inneres versprechen, dass er einmal
vielleicht noch weit Hoeheres, ja ein ganz Grosses zu Stande zu bringen
vermoegen werde. Risach sagte ihm die Mittel zu, reisen zu koennen und
ordnete die Zubereitung zu einer baldigen Abreise nach Rom an. Gustav
musste noch den Winter im Asperhofe zubringen. Im Fruehlinge sollte er
endlich in die Welt gehen.
So waren nun mannigfaltige Beziehungen geordnet und geknoepft.
Mathilde hatte einmal, da ich sie im Sternenhofe besuchte, zu mir
gesagt, das Leben der Frauen sei ein beschraenktes und abhaengiges,
sie und Natalie haetten den Halt von Verwandten verloren, sie muessten
Manches aus sich schoepfen wie ein Mann und in dem Widerscheine ihrer
Freunde leben. Das sei ihre Lage, sie daure ihrer Natur nach fort und
gehe ihrer Entwicklung entgegen. Ich hatte mir die Worte gemerkt und
hatte sie tief ins Herz genommen.
Ein Teil dieser Entwicklung, glaubte ich nun, war gekommen, der zweite
wird mit Gustavs Ansiedlung eintreten. An mir hatten die Frauen wieder
einen Halt gewonnen, dass sich ein fester Kern ihres Daseins wieder
darstelle; ein neues Band war durch mich von ihnen zu den Meinigen
geschlungen, und selbst das Verhaeltnis zu Risach hatte an Rundung und
Festigkeit gewonnen. Den Abschluss der Familienzusammengehoerigkeit wird
dann Gustav bringen.
Was mich selber anbelangt, so hatte ich nach der gemeinschaftlichen
Reise in die hoeheren Lande die Frage an mich gestellt, ob ein Umgang
mit lieben Freunden, ob die Kunst, die Dichtung, die Wissenschaft das
Leben umschreibe und vollende oder ob es noch ein Ferneres gaebe, das
es umschliesse und es mit weit groesserem Glueck erfuelle. Dieses groessere
Glueck, ein Glueck, das unerschoepflich scheint, ist mir nun von einer
ganz anderen Seite gekommen als ich damals ahnte. Ob ich es nun in der
Wissenschaft, der ich nie abtruennig werden wollte, weit werde bringen
koennen, ob mir Gott die Gnade geben wird, unter den Grossen derselben
zu sein, das weiss ich nicht; aber eines ist gewiss, das reine
Familienleben, wie es Risach verlangt, ist gegruendet, es wird, wie
unsre Neigung und unsre Herzen verbuergen, in ungeminderter Fuelle
dauern, ich werde meine Habe verwalten, werde sonst noch nutzen, und
jedes, selbst das wissenschaftliche Bestreben, hat nun Einfachheit,
Halt und Bedeutung.
End of the Project Gutenberg EBook of Der Nachsommer, by Adalbert Stifter
*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER NACHSOMMER ***
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